Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/ Gunter Gebauer/Robert Schmidt Aufs Spiel gesetzte Körper Eine Einführung in die Thematik Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird dem Körper in unserer Kultur große Aufmerksamkeit zuteil. Diese umtriebige Sorge um den Körper hat allem Anschein nach mit tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen zu tun: Der Wandel der Erwerbstätigenstrukturen in Richtung auf Dienstleistungen in einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie geht mit einer geradezu epochalen Verlagerung von der Hand- auf die Kopfarbeit einher – eine Verlagerung, die durch die Entwicklung der Mikroelektronik immer weiter vorangetrieben wird. Die technischen Innovationen in diesem Bereich führten in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer umfassenden »Informatisierung der Arbeitswelt« (Dostal 1995) und damit zu einer Erosion der körperlichen Prägekraft der Arbeitstätigkeiten. Während für den bis in die 1970er Jahre vorherrschenden »fordistischen« Gesellschaftstypus noch die Unterwerfung, Disziplinierung und Prägung der Körper in Arbeit, Erziehung und Sozialisation entscheidend war, und während sich im Rahmen dieses Gesellschaftstypus nicht nur in der Produktion, sondern auch im Bereich traditioneller Dienstleistungen, z.B. im Bankgewerbe oder in der Wissenschaft, klar konturierte Berufshabitus mit ihren je spezifischen Routinen des Körperverhaltens, der Haltung, Mimik und Gestik herausgebildet hatten, ist unsere heutige Kultur durch einen Rückbau all jener traditionellen Institutionen, Agenturen, Apparate und Vorrichtungen der Körperformierung gekennzeichnet, die ehemals die Einspannung des Körpers in die »Disziplinargesellschaft« sicherstellten. Insbesondere in den neuen traditionslosen, überdurchschnittlich stark wachsenden Tätigkeitsbereichen des Kommunikations-, Informations-, Gesundheits- und Bildungssektors, an Schreibtisch, Counter, Tresen und Computer, verschwinden »gewachsene«, körperlich ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 7 Th. Alkemeyer/B. Boschert/G. Gebauer/R. Schmidt erkennbare berufliche Habitus.1 Mittlerweile ist die Informatisierung bis in die industriellen Kernbereiche der Erwerbsarbeit eingedrungen und hat auch dort zu einem Wandel der Tätigkeitsformen geführt – mit einschneidenden Auswirkungen auf die Bedeutung von Beruflichkeit: Der berufliche Habitus, der bei einer langfristigen Integration in einen materiellen Arbeitsprozess wie bei einem physischen Trainingsprozess herausgebildet wird, verliert an Kontur. Unter den hochtechnologischen Produktionsbedingungen der Gegenwart werden Körperhaltungen und –rhythmen, Bewegungen und Gesten nicht mehr auf dieselbe Weise von außen geformt wie zuvor. Die Körper erscheinen in der neuen Arbeitswelt weitaus »unbeschäftigter« als in der traditionellen (vgl. Gebauer 2001). Im Gegenzug zu dieser schwindenden Bedeutung der traditionellen Instanzen der Habitusprägung wird die Formierung der Körper offenbar mehr und mehr von jenen Bereichen der Nichtarbeit übernommen, die in klassischen soziologischen Theorien vornehmlich in die Restkategorie »Freizeit« eingeordnet werden. Hier sind die Angebote zur Bildung und Formung des Körpers – und damit des Selbst – in den letzten Jahren explosionsartig angewachsen. Ein expandierender Markt für Hygieneund Schönheitsartikel, die vielfältigen Expertenkulturen für körperbezogene Fragen der Therapie, Ernährung, Wellness und Mode, neu entstehende Sportarten und Körper-Spiele, Bilder, Modellierungen und Präsentationsformen aus Werbung, Warenästhetik, Lifestyle-Zeitschriften, Fernsehen und Popkultur, all dies stellt ein breit gefächertes Angebot an Körperimages, Körperformen und populären Mythologien bereit, aus dem die Akteure auf der sozialen Basis ihres Geschmacks auswählen und sich in Eigenregie eine erkennbare körperliche Form – einen körperlichen Habitus – zulegen. Indem die Akteure in der »Freizeit« ihre Körper formen, bilden und gestalten, verleihen sie – mit Foucault zu reden – ihrem Leben einen Stil. Postkonventionelle, außerhalb der traditionellen Institutionen und Organisationsformen betriebene sportliche Praxen haben sich nicht nur auf immer weitere, bislang sportferne Bevölkerungsgruppen ausgedehnt, sondern sind auch neue Verbindungen mit anderen kulturellen Gattun1 8 Vester u.a. (2001) betrachten in ihren Forschungen zum sozialstrukturellen Wandel und zur Herausbildung neuer, traditionsloser sozialer Milieus auch die Transformation der Erwerbsarbeit. Sie identifizieren in diesem Zusammenhang überdurchschnittliche Wachstumsraten bei all jenen Beschäftigungen, die im weiteren Sinne mit Kommunikation, Information, Gesundheit und Bildung zu tun haben (ebd., S. 278ff) und bezeichnen diese neuen Tätigkeitsbereiche in Anlehnung an Bourdieus Analysen zur Sozialstruktur der französischen Gesellschaft als »neue Berufe« (ebd., S. 248). ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 Einleitung gen und stilistischen Ensembles aus Kleidungscodes, musikalischen Vorlieben, Drogengebrauch, populären Helden, sprachlichen Idiomen, Bewegungsstilen und Körpermodellierungen eingegangen. Längst haben Sport und Popkultur ihre klaren Konturen verloren und sich zu hybriden kulturellen Räumen vermischt. Die Akteure so genannter Trendsportarten wie Streetball, Skateboarding, Inlineskating oder Mountainbiking sind zugleich paradigmatische Praktiker des Prinzips Pop, das sich – nach den bekannten Analysen der in England entstandenen – aus der bewussten Suche nach Objekten entwickelt, durch die selbstbewusst neue Haltungen – ein Gesamtgestus der Lebensführung – vorgetragen werden können. Die Ausprägungen körperlicher Formen, Haltungen und Stile durch den sozialen Gebrauch von Körpermodellen, Zeichen und Gesten aus Sport und Popkultur gestatten es den Akteuren zum einen, sich in performativen Akten den modernen Mythos der Selbstbestimmung zu beglaubigen. Zum anderen versprechen sie den Anschluss an Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Mitglieder durch ähnliche Vorlieben, Attribute und Zeichen (virtuell) miteinander verbunden sind. Diese passageren Gemeinschaften bilden sich als mehr oder minder exklusive »Code-Communities«, als »Wahlverwandtschaften« (Bourdieu 1993, S. 373ff) des Geschmacks. Eben deshalb sind sie hinsichtlich der habituellen, stilistischen und wohl auch sozialen Merkmale ihrer Akteure zumeist recht homogen. Über die Zugehörigkeit zu ihnen entscheiden nicht formale Kriterien, sondern persönliche Attribute, Zeichen und Körpermerkmale. Von Sport-, Mode- und Kulturindustrie als »style packages« verbreitete Komplexe aus Zeichen, Gesten und ästhetischen Signaturen wirken als Kollektivsymbole mit Signalcharakter, um die sich distinktive Spezialkulturen als »Gemeinden der Gefühle« zusammenfinden (vgl. auch Soeffner 2000, S. 198ff). Gerade das Fehlen formaler Kriterien für die Aufnahme, »diese Lockerheit, dieses ›natürliche SichFinden‹ und Informelle« macht aus ihnen »exklusive Gemeinden« (Krais 2001), in denen die »Treue zum je angesagten Stilbild« als Inklusionskriterium im Grenzfall »sogar rigoroser gehandhabt« wird als beispielsweise die klassische Vereinsmitgliedschaft (Richter 2001). Kurzum, unter den Lebensbedingungen heutiger Gesellschaften erscheinen Biografie, persönliche Entwicklung, Zugehörigkeit und soziale Identität zunehmend als reflexive, von den Akteuren selbst zu entwerfende Projekte. Zwar ist das Körperliche eine fundamentale Dimension dieser Entwicklung, in den Sozialwissenschaften, die den Menschen nach wie vor zumeist auf ein theoretisches Abstraktum reduzieren, wird diese Dimension jedoch oft vernachlässigt. Die angedeutete Freisetzung Cul- tural Studies ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 9 Th. Alkemeyer/B. Boschert/G. Gebauer/R. Schmidt des Körpers aus traditionellen Disziplinar- und Prägeapparaturen hat durchaus ambivalente Folgen: Der Körper verliert seine institutionellen Kontroll- und Haltevorrichtungen, im Gegenzug wird er jedoch in einem historisch neuen Ausmaß zum Material wie zum Gegenstand von Selbstgestaltungen. An die Stelle einer von außen auf die Körper einwirkenden, gesellschaftlichen Formungs- und Bildungsarbeit treten der Tendenz nach Selbstbildungsaktivitäten, die ohne ein breites Spektrum an Körperformangeboten nicht denkbar sind. Es ist, als gerate der Körper in einen neuen sozialen Aggregatzustand: Die einst feste und träge Materie, die die Dauerhaftigkeit der in sie eingeschriebenen sozialen Strukturen garantierte, scheint sich in eine leichter modellierbare Masse zu verwandeln. Die neuartigen »körperthematischen« Praxisformen der Selbstgestaltung und Gemeinschaftsbildung in den Räumen des Sports und der populären Kultur lassen sich nicht nur als Reaktionen »postfordistischer« Gesellschaften auf den Abbau körperformierender Institutionen in den sogenannten Ernstbereichen des Lebens deuten. 2 Darüber hinaus zeigen das Auftreten neuer körperlicher Praxen in der »Freizeit«, ein Wandel der körperorientierten Spiele, die Veränderung von Spielvorlieben, auch einen sozialen Wandel in der Tiefe an. Dies ist die grundlegende Hypothese unserer Untersuchung mit dem Titel »Die Aufführung der Gesellschaft in Spielen«, ein Teilprojekt des Berliner Sonderforschungsbereichs 447 »Kulturen des Performativen«. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen der Veränderung der Spiele und einem allgemeinen gesellschaftlichen Strukturwandel an jenen boomenden Spielpraxen, in denen der eigene Körper riskiert wird. Die so genannten Risikosportarten, die seit einiger Zeit mit triumphierendem Getöse an das Licht der Öffentlichkeit drängen, sind in dieser Hinsicht nur die Spitze des Eisbergs. Während es im traditionellen Sport um Sieg, Einmaligkeit, Höchstleistung, Erstbesteigung geht, um die Eroberung eines Titels, einer Bergspitze, eines Rekords, setzen die neuen riskanten Sportarten den Körper aufs Spiel. Sie werfen ihn keineswegs fort, sondern setzen ihn aus und erobern ihn – nach vollbrachter Leistung – als ein beherrschtes und im Wert gesteigertes Gut zurück. Die Risikopraktiken charakterisiert mithin in zugespitzter Weise, was auch andere aktuelle Körperpraxen auszeichnet: die Stilgebung des eigenen Lebens, nur wird der Stil hier an den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten gewon2 10 Genauer zu diskutieren wäre der Zusammenhang unserer Thesen mit Bettes (1989) Diagnose einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Körperverdrängung und Körperaufwertung in modernen Gesellschaften. ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 Einleitung nen. Risikosportler wetten gewissermaßen mit sich selber, dass sie fähig sind, an die Grenze dessen zu gehen, was für sie selber oder Menschen überhaupt möglich ist: dass sie diese Situation auszuhalten, zu bewältigen und aus ihr wieder – gestärkt und erhöht – zurückzukehren vermögen. Wenn sie ihre Wette mit sich selber gewinnen, haben sie sich und ihren Zuschauern gezeigt, dass sie für ihr Leben einen Stil errungen haben, der von höherer Qualität ist, als alle bis dahin angenommen haben: Sie haben Macht über die Natur, die Natur ihres Körpers, gewonnen, sie haben ihr Leben gesteigert und wertvoller gemacht. Aber auch viele andere Körperpraktiken, die in jüngerer Zeit populär geworden sind, sind von einer Haltung des Sich-Riskierens gekennzeichnet. Die Suche nach dem Risiko prägt viele Arten und Weisen, mit dem eigenen Körper umzugehen, ihn als Erzeuger und Empfänger von Spannung und Erregung zu benutzen, ihn zur Schau zu stellen, den Blicken einer Öffentlichkeit auszusetzen, ihm einen bühnenartigen Aufführungscharakter zu geben. In dieser Sichtweise ist das Korrelat von Risiko nicht das Abenteuer, nicht der Aufbruch nach fernen und finsteren Orten der Gefahr, sondern die Suche danach, seinem Leben einen Stil höherer Qualität zu verleihen. Man findet diese Suche in einer Arbeit, die die Grenzen des Gewöhnlichen verrückt, also nicht in der Wildnis, sondern am Rande des Alltagslebens. Wenn man ein solches Risiko eingeht, rüttelt man an den Gittern des Gewöhnlichen. Man durchdringt sie nicht, man bringt sie nicht zum Einsturz, aber man stellt sie anders auf. Das Risiko entsteht, wenn man erworbene Sicherheiten fallen lässt und Routinen irritiert, wenn man auf eine Bühne tritt und sich ohne die üblichen Geländer exponiert. Eine solche Haltestange, auf die man hier verzichtet, ist die Normalität, das Produkt von Erziehung, Einübung, Dressur, an dessen Herstellung viele Institutionen und Personengruppen mitwirken. Dass man sich nicht mehr von den ausgeprägten und erwarteten Normalitätsanforderungen führen lässt, sondern sich andere Normen gibt, die zu jenen im Widerspruch stehen, macht beispielsweise den Reiz von Subkulturen und »Szenen« aus, von Jugendkultur, Tangotanzen, Extremsport, von Boxen in einer befriedeten modernen Gesellschaft. Das Sich-Ausprobieren und -Riskieren ist die Voraussetzung für eine (Re-)Konstruktion neuer, sich vom »Normalen« absetzender körperlicher Haltungen; die Selbstgestaltung beginnt mit dem Abschütteln des Mitgebrachten. Von seiner Normalität kann man sich allerdings nie restlos lösen, man bleibt ihr verhaftet, oder anders ausgedrückt, sie bleibt an einem hängen: Sie durchdringt den Körper auch dann, wenn dieser aufs Spiel ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 11 Th. Alkemeyer/B. Boschert/G. Gebauer/R. Schmidt gesetzt wird und sich auf einer Bühne bewegt. Zu jeder körperlichen Aufführung gehört unablösbar das Geschlecht, das der aufführende Körper hat. Merkmal des performativen Körpergebrauchs – in Spielen von Kindern wie in der Mode – ist es auch, dass Geschlechtscharaktere erprobt und riskiert werden können. In den körperlichen Kulturen des Performativen geht es nicht um Wahrheit, aber darum sind sie noch nicht falsch. Austin (1972) hat bereits gezeigt, dass ein anderes Kategorienpaar als wahr/falsch für das Urteil über performative Ausdrücke verwendet werden muss: glücken/ misslingen. Genau in der Spannung zwischen beiden Begriffen liegt das Risiko: Die Arbeit an der Grenze gelingt oder man stürzt ab. In eine solche Situation gehängt, die man aushalten, bewältigen, aus der man sich retten muss, liegt eine Chance von Erkenntnis. Die Möglichkeit des Misslingens lässt die unmittelbare Gegenwart auf eine Weise erfahren und einsehen, wie man sie nirgendwo anders erfassen kann. Als ein Modus »körperlicher Erkenntnis« (Bourdieu) kann das Spiel mit einverleibten Schemata des Handelns, Wahrnehmens und Fühlens, das Austesten mitgebrachter, in die Körper eingelassener sozialer, kultureller und geschlechtsspezifischer (Bedeutungs-)Grenzen, auch eine Reaktion auf neue gesellschaftliche Anforderungen sein. Der vorliegende Band durchmisst den neuen hybriden kulturellen Raum der Angebote und Praxen zur Formung des Körpers in vier Dimensionen: Den Anfang bilden Beiträge, die auf die für die Innovationen im Bereich der Spiele zentralen Motive des Abenteuers und des Risikos Bezug nehmen: thematisiert den zeitgenössischen Extremsport vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. Er weist mit Luhmann auf den Zusammenhang moderner Inklusionsdynamiken mit den Veränderungen im Verhältnis von Subjekt, Körper und Gesellschaft hin. untersucht am Beispiel von -Zeitschriften aus dem Freizeit- und Sportbereich sprachliche Konstruktionsformen von Heldenfiguren. Er zeigt, dass in diesen Konstruktionen Selbstkontrolle und Selbstdisziplin besonders hoch geschätzte Eigenschaften sind. schließlich analysiert den modernen Erlebnissport und die Suche nach immer neuen Erlebniskicks als Formen des Rausches, die suchtähnliche Züge annehmen können. Er spricht von einer Lustsucht in Gestalt einer Sportsucht, die asketisch kodiert und damit sozial positiv sanktioniert sei. Das Riskieren des Körpers kennzeichnet auch all jene kulturellen Praxen, in denen Personen sich selber modellieren und modifizieren, umarbeiten. Damit ist ein Zusammenhang von Körperformung und Selbsttechnologien angesprochen, der im Mittelpunkt der Beiträge des zweiten Karl-Heinrich Bette Martin Stern special interest Volker Caysa 12 ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 Einleitung Kapitels steht. Thomas Alkemeyer und Robert Schmidt machen mit Bezug auf Bourdieu und Foucault auf mikrologische Akte der Verflüssigung habitueller Prägungen in den neuen Spielen zwischen Sport und Popkultur aufmerksam und setzen diese Praxen in Beziehung zu neuen gesellschaftlichen Anforderungen im Zeichen neo-liberaler »Flexibilisierung«. Rainer Winter rückt unter Bezugnahme auf die Cultural Studies die kreative Rezeption und Aneignung kultureller Objekte und medialer Texte ins Zentrum der Betrachtung und setzt sich auf der Grundlage einer kritischen Analyse popkultureller Körperpraktiken mit den Arbeiten von Foucault, Bourdieu und de Certeau auseinander. Diedrich Diederichsen betrachtet die diversifizierten lifestyles spätkapitalistischer Subjekte und lotet angesichts kontrollgesellschaftlicher Selbstformungszwänge Möglichkeiten eines gegenwärtigen Nonkonformismus aus. Paula-Irene Villa schließlich dekonstruiert den Alltagsmythos des Argentinischen Tangos und betrachtet diese kulturelle Praxis als ein »Spiel«, in dem sich Körper-Wissen und Leib auf spezifische Art und Weise wechselseitig konstituieren. Wie verhalten sich die körperlichen Selbstgestaltungen zur Kategorie Geschlecht, die ihre Evidenz und Fraglosigkeit ja gerade auf Körperliches gründen muss? Dieser Frage widmen sich in unterschiedlicher Akzentuierung die Beiträge des dritten Kapitels. Beate Krais expliziert am Rollenbegriff von Parsons und Mead die Körpervergessenheit traditioneller soziologischer Handlungstheorien und zeigt in Auseinandersetzung mit der Geschlechterforschung, dass der Körper immer schon als ein Geschlechts-Körper existiert. Michael Meuser beschäftigt sich mit der seit dem 20. Jahrhundert wachsenden Aufmerksamkeit für den männlichen Körper und begreift diese als Indikator dafür, dass die traditionelle Position des Mannes in der Geschlechterordnung brüchig geworden ist. Helga Kelle beschreibt mit den Instrumenten der Ethnografie Praktiken der Geschlechterunterscheidung unter Schulkindern. Sie zeigt, dass insbesondere in den spontanen Territorienspielen der Kinder weniger Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu Tage treten als vielmehr Symmetrie und reversible Handhabungen der Spielrollen. Gertrud Lehnert schließlich untersucht an historischen Beispielen und Entwicklungen die Mode als eine Form des Spiels und stellt die performativen, inszenatorischen und theatralen Dimensionen heraus, in denen Körper und Geschlecht kulturell konstruiert werden. Körperliche Handlungen und Aufführungen, die in Sport und populärer Kultur von entscheidender Bedeutung sind, bergen Potenziale spezifisch körperlicher, nicht kognitivistisch verkürzter Formen von Erkenntnis. Dies wird in unterschiedlicher Weise in den Beiträgen des vierten Kapitels deutlich. Gunter Gebauer macht auf die grundlegende körperliche KonALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 13 Th. Alkemeyer/B. Boschert/G. Gebauer/R. Schmidt stituiertheit des Wissens und der Wissensformen aufmerksam. Er zeigt mit Wittgenstein, Bergson, Nietzsche und Heidegger, dass es ein Wissen des Körpers gibt, das sich dem bewussten Wollen entzieht und als Gewissheit in den Körper eingeschrieben ist. skizziert in Auseinandersetzung mit Bourdieu, unter welchen Bedingungen das habituell bestimmte Handeln auch als selbst-reflexives Handeln angesehen werden kann, ohne dass ein »sich immer schon bewegendes Subjekt« vorausgesetzt werden muss. legt dar, dass Boxen nicht nur körperlich die Wahrheit über den Zustand und das Können der Kontrahenten kommuniziert, sondern darüber hinaus auch spezifische körperliche Erkenntnischancen über die Gesellschaft bereithält, in der es praktiziert wird. beschäftigt sich zum Abschluss des Kapitels mit den körperthematischen, sozial-strukturellen und erkenntnistheoretischen Aspekten der performativen Wende in den Kulturwissenschaften. Elk Franke Wolf-Dietrich Junghanns Bernhard Boschert *** Der vorliegende Band ist aus der Tagung »Aufs Spiel gesetzte Körper« hervorgegangen. Die Tagung wurde von Thomas Alkemeyer, Bernhard Boschert und Robert Schmidt entworfen, geplant und vom 4. bis zum 6. Oktober 2001 in Berlin durchgeführt. Unverzichtbare Hilfe erhielt das Organisationsteam von unseren tatkräftigen studentischen Mitarbeiterinnen, Sylvja Kauric, Sandra Polchow, Vanessa Schwabe und Eva Vleugels sowie von Frau Brigitte Akkoyunlu, die das Sekretariat mit unerschütterlicher Freundlichkeit leitete. Mit wertvollen Hilfen wurde das Vorhaben von Gertrud Lehnert, der Geschäftsführerin unseres Sonderforschungsbereichs, und im Sfb-Sekretariat von Frau Sabine Lange unterstützt. Ihnen allen, wie auch dem Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« und der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), die die Tagung durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung ermöglichten, sagen wir als Herausgeber unseren herzlichen Dank. 14 ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 Einleitung Literatur Austin, J.L., 1972: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), bearbeitet von E. v. Savigny. Stuttgart. Bette, K.-H., 1989: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin, New York. Bourdieu, P., 1993: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. (6. Aufl.) Dostal, W., 1995: Die Informatisierung der Arbeitswelt. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Sonderdruck). Nürnberg. Gebauer, G., 2001: Der Held und sein Handy. Sport als Habitus und Erzählung. In: Merkur 621, S. 1-14. Krais, B., 2001: Die französische Perspektive auf Social Capital und Implikationen für die gesellschaftspolitische Praxis. Beitrag zum internationalen Workshop der Enquête-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« des 14. Deutschen Bundestages im Plenarbereich Reichstagsgebäude am 25. Juni 2001. Richter, N., 2001: Spiel und Agon vor dem Hintergrund der Anthropologie Helmuth Plessners. Unveröffentlichtes Manuskript. Soeffner, H.-G., 2000: Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist. Vester, M. u.a., 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt/M. ALKEMEYER, Aufs Spiel gesetzte Körper. ISBN 978-3-89669-764-6 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 15