Geometrische Grundbegriffe, Kongruenz

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Geometrische Grundbegriffe, Kongruenz
Inhaltsverzeichnis
1 Ebene, Gerade, Punkt
2
2 Kongruenz von Figuren
3
2.1
Operative Einführung des Kongruenzbegriffs
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2.2
Erste Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
3 Kreis, Winkel, Dreiecksungleichung
4
4 Achsenspiegelung, Orthogonalität, Grundkonstruktionen, Trichotomiesatz
5
4.1
Achsenspiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
4.2
Konstruktion von Bildpunkten mit dem Zirkel
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
4.3
Orthogonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
4.4
Winkelhalbierende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
4.5
Mittelpunkt einer Strecke, Mittelsenkrechte zweier Punkte . . . . . . . . . . . . .
7
4.6
Trichotomiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
5 Kongruenzsätze
8
6 Drehung
8
6.1
Einführungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
6.2
Operative Definition einer Drehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
7 Parallelität
9
7.1
Das Parallelenpostulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
7.2
Zur Geschichte des Parallelenpostulats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
7.3
Zur Hyperbolischen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
7.4
Didaktische Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
8 Euklidische Geometrie, Translation
18
8.1
Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
8.2
Weitere Sätze der Euklidischen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
1
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Fachdidaktik I
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9 Klassifikation der Kongruenzabbildungen
1
19
9.1
Längentreue Abbildungen sind Kongruenzabbildungen . . . . . . . . . . . . . . .
19
9.2
Klassifikationssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
9.3
Verkettungen von Translationen, Drehungen und Achsenspiegelungen . . . . . . .
21
Ebene, Gerade, Punkt
Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern
sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Die volle Klarheit über die Sachlage scheint
mir erst durch diejenige Richtung in der Mathematik Besitz der Allgemeinheit geworden zu sein, welche
unter dem Namen Axiomatik“ bekannt ist. Der von der Axiomatik erzielte Fortschritt besteht nämlich
”
darin, dass durch sie das Logisch-Formale vom sachlichen oder anschaulichen Gehalt sauber getrennt
wurde; nur das Logisch-Formale bildet gemäß der Axiomatik den Gegenstand der Mathematik, nicht aber
der mit dem Logisch-Formalen verknüpfte anschauliche oder sonstige Inhalt.
. . . Es ist klar, daß das Begriffssystem der axiomatischen Geometrie allein über das Verhalten derartiger Gegenstände der Wirklichkeit, die wir als praktisch-starre Körper bezeichnen wollen, keine Aussagen
liefern kann. Um derartige Aussagen liefern zu können, muß die Geometrie dadurch ihres nur logischformalen Charakters entkleidet werden, dass den leeren Begriffsschemen der axiomatischen Geometrie erlebbare Gegenstände der Wirklichkeit (Erlebnisse) zugeordnet werden. Um dies zu bewerkstelligen, braucht
man nur den Satz zuzufügen: Feste Körper verhalten sich bezüglich ihrer Lagerungsmöglichkeiten wie
Körper der euklidischen Geometrie von drei Dimensionen; dann enthalten die Sätze der euklidischen
Geometrie Aussagen über das Verhalten praktisch starrer Körper. Die so ergänzte Geometrie ist offenbar
eine Naturwissenschaft; wir können sie geradezu als den ältesten Zweig der Physik betrachten. Ihre Aussagen beruhen im wesentlichen auf Induktion aus der Erfahrung, nicht aber nur auf logischen Schlüssen.
Wir wollen die so ergänzte Geometrie praktische Geometrie“ nennen und sie im folgenden von der rein
”
”
axiomatischen Geometrie“ unterscheiden.
(A. Einstein: Geometrie und Erfahrung; Festvortrag 1921)
1. Was keine Teile hat, ist ein Punkt.
2. Eine Länge ohne Breite ist eine Linie.
3. Die Enden einer Linie sind Punkte.
4. Eine Linie ist gerade, wenn sie gegen die in ihr befindlichen Punkte auf einerlei Art gelegen
ist.
5. Was nur Länge und Breite hat, ist eine Fläche.
Euklids Beschreibungen von Objekten, die nach Platon letztlich nur dem Verstand“, nicht der
”
sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind, sind für Lernende wenig hilfreich. Auch Euklid benutzt
diese Beschreibungen weiter nicht. Es handelt sich im Grunde um undefinierte Grundbegriffe
einer axiomatischen Theorie. (Bemerkung: Aus 3. geht hervor, dass eine Linie bei Euklid ein
Strecke ist; Euklid verwendet nur Strecken, keine Geraden.)
Nach geometrischen Vorerfahrungen sollten auf der gymnasialen Sekundarstufe I Begriffe wie
Ebene, Punkt, Gerade, Strecke, Addition von Strecken etc. diskutiert werden. (Warum?)
Ebenso sollte geklärt werden, was denn eigentlich “wahr“ in der Geometrie bedeutet. (Warum?)
Aus lebensweltlichen Erfahrungen können durch Abstraktion (Klassenbildung, absehen von Eigenschaften) und Ideation (hineinsehen von Eigenschaften) Vorstellungen von geometrischen
2
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Grundbegriffen gewonnen werden([8], S.139 - 141, siehe auch Handout von H. Winter zu An”
schauung und Begriff“).
E. Wittmann beschreibt in [10] eine Möglichkeit zur Einführung der geometrischen Grundbegriffe Ebene, Punkt, Gerade. Wittmann greift eine Idee von H. Dingler (1881 - 1954) auf, die in
der Mitte des 20. Jh. u.a. von F. Gonseth (Professor an der ETH) und später von verschiedenen Mathematikdidaktikern weiterverfolgt wurde. Eine Idealisierung eines Herstellungsprozesses,
des sogenannten Dreiplattenschleifverfahrens, wird zur anschaulichen Verankerung der Begriffe
Ebene, Gerade, Punkt, sowie Halbebene und -gerade benutzt und Modellannahmen wie Homogenität etc. werden plausibel gemacht. (Das ist ein Beispiel für die sogenannte operative Genese
von Begriffen, mit der sich P. Bender u.a. ausführlich beschäftigt haben [2].)
Begriffe wie auf gleicher Seite von“ oder zwischen“ werden als anschaulich gegeben angesehen.
”
”
Weitere Modellannahmen werden getroffen:
• durch 2 Punkte gibt es genau eine Gerade
• Punkte sind unteilbar
• durch eine Gerade g und einen Punkt P ausserhalb g gibt es genau eine Ebene
Aus diesen Annahmen folgen deduktiv (wie?) unter anderem die folgenden Aussagen:
Satz 1.1 Durch drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, gibt es genau eine Ebene.
Satz 1.2 Zwei Geraden schneiden sich höchstens in einem Punkt.
Diese Sätze widersprechen der Erfahrung nicht.
2
Kongruenz von Figuren
Euklid: Was sich deckt, ist einander gleich.“
”
2.1
Operative Einführung des Kongruenzbegriffs
Die Begriffe Strecken und Winkel lassen sich mit Hilfe der Begriffe aus dem vorangehenden
Abschnitt einführen. Empirische Erfahrung: Strecken und Winkel können mittels Bewegen von
starren Körpern der Grösse nach verglichen werden. Figuren, Körper können kopiert“ werden.
”
Dieser Beobachtung wird im Modell durch den Begriff der Kongruenz Rechnung getragen. In
der Schule könnte dieser Begriff nach Wittmann zunächst im Sinne des operativen Prinzips“
”
([9], [1]) eingeführt werden:
“Die Starrheit (Formstabilität) ebener Platten wird ausgenützt, um die Kongruenz (Deckungsgleichheit) ebener Figuren zu definieren. Mit Hilfe von Platten (einfacher starre“ Folien) kann
”
jede Figur an eine andere Stelle übertragen werden: Man nimmt von der Figur mit einer Platte
(Folie) einen Abdruck und bringt diesen an der gewünschten Stelle wieder auf. Original und Kopie heissen kongruent (deckungsgleich)“ ([10], S. 59). Die Folie darf auch gehoben und gewendet
werden.
Es ergibt sich also die operative Begriffsbildung ( Definition“):
”
Strecken, Winkel, Figuren“ heissen kongruent, wenn sie mit einer (gedachten, idealen) Folie zur
”
Deckung gebracht werden können.
3
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Dreiecke sind kongruent, wenn ihre Seiten und die entsprechenden Winkel kongruent sind.
Kongruente Strecken/Winkel heissen auch gleich lang/gleich gross. Mit der Möglichkeit des
Übertragens von Strecken und Winkel lassen sich auch grösser als, kleiner als für Strecken
und Winkel in naheliegender Weise definieren.
Statt einer Folie kann auch ein Stechzirkel zum Abtragen einer Strecke dienen.
Mit Hilfe des Übertragens kann operativ definiert“ werden, wie Strecken und Winkel addiert,
”
respektive subtrahiert werden.
Bemerkung (Übungsaufgabe)
Euklid verwendet nicht den heutigen Zirkel, der seine Öffnung beibehält, wenn man ihn im Raum
bewegt, sondern einen zusammenfallenden Zirkel“. Mit einem euklidischen Zirkel“ ist daher
”
”
das Übertragen von Strecken eine nicht ganz einfache Konstruktion, die Euklid im ersten Buch
unter I.2 und I.3 beschreibt:
I.2 Gegeben ist ein Punkt A und eine Strecke [BC]. Gesucht ist ein Punkt P , so dass [AP ] = [BC]
gilt.
I.3 Gegeben sind zwei verschieden lange Strecken. Auf der grösseren ist die kleinere abzutragen.
2.2
Erste Anwendungsbeispiele
Scheitelwinkelsatz
Empirisch unbestritten ist die Aussage, dass Scheitelwinkel gleich gross sind. Diese Aussage
lässt sich begründen mit einer speziellen Bewegung der Übertragungsfolie: Sie wird im Scheitel
festgehalten und um einen gestreckten Winkel gedreht.
Kongruenzsatz SWS
Der Kongruenzsatz SWS besagt: Dreiecke, bei denen zwei Seiten und ihr Zwischenwinkel kongruent sind, sind kongruent. Dieser Satz lässt sich mit einer passenden Bewegung einer Folie,
allenfalls mit Umwenden, begründen. Euklid beweist“ den Satz SWS im Grunde auf diese Weise
”
( Ebenso wenn man das Dreieck ABC auf das Dreieck DEF legen würde . . .“, [3])
”
Basiswinkelsatz
Der Basiswinkelsatz besagt, dass in einem Dreieck mit zwei gleichen Seiten die zugehörigen
Basiswinkel kongruent sind. Der Satz lässt sich mit einer geeigneten Umwendung einer Folie
begründen.
Übungsaufgabe Begründen Sie den Kongruenzsatz SSS deduktiv mit Hilfe von SWS und
dem Basiswinkelsatz.
3
Kreis, Winkel, Dreiecksungleichung
Kreis Der Begriff des Kreises kann operativ mit Hilfe einer spezielle Folienbewegung erklärt
werden: Eine kontinuierliche Drehung einer Strecke AB um den Endpunkt A bewegt den andern
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Endpunkt B auf einer Linie. Diese Linie wird Kreis genannt, alle Verbindungsstrecken von
Punkten des Kreises zum Mittelpunkt A, die Radien, sind kongruent. Ein Zirkel ersetzt die
Folie.
Orientierter Winkel Einen Winkel kann man sich aus einer Drehung eines Schenkels um den
Scheitel entstanden denken. Diese Vorstellung führt zum Begriff des orientierten Winkels.
Übertragen eines Winkels mit Zirkel und Lineal Worauf stützt sich das bekannte Verfahren? (Die Schüler kennen es aus der Primarschule, aber verstehen es oftmals nicht und sind
entsprechend unsicher.)
Dreiecksungleichung Die Summe zweier Seiten eines Dreiecks ist grösser als die dritte Seite.
Mit dem Zirkel lässt sich die Dreiecksungleichung operativ begründen.
4
4.1
Achsenspiegelung, Orthogonalität, Grundkonstruktionen, Trichotomiesatz
Achsenspiegelung
Die SuS haben bringen im Allgemeinen aus der Primarschule einige Vorerfahrungen mit, die
man zunächst aktivieren wird. Ausgangspunkt könnte das gleichschenklige Dreieck sein. Beim
Umwenden der Folie bei der Begründung des Basiswinkelsatzes kommen offenbar die Punkte der
Winkelhalbierenden des Winkels an der Spitze auf sich zu liegen, sie bleiben fix. Das Kopieren
von Punkten mittels Heben und Umwenden einer Folie, sodass die Punkte einer Geraden a auf
sich kopiert werden, heisst Achsenspiegelung an der Geraden a. Die Gerade a nennt man auch
Achse.
Die Achsenspiegelung ist eine Abbildung. Ist P ein Punkt, so nennt man seine Kopie auch
Bildpunkt und bezeichnet ihn oft mit P ′ . Ebenso spricht man vom Bild einer Strecke, vom Bild
eines Winkels, vom Bild einer Figur.
Die Achsenspiegelung kann auch durch Falten veranschaulicht werden.
Das Umwenden der Folie bei der Achsenspiegelung ist eine spezielle Bewegung der Folie. Daraus
folgen wichtige Eigenschaften der Achsenspiegelung:
(1) Strecken werden auf kongruente Strecken abgebildet.
(2) Kreise werden auf Kreise mit gleichem Radius abgebildet.
(3) Ein Kreis wird bei Spiegelung an einem Durchmesser auf sich abgebildet.
(4) (Orientierte) Winkel werden auf kongruente Winkel (mit entgegengesetzter Orientierung)
abgebildet.
(5) Für die Punkte P auf der Achse a gilt P = P ′ (Fixpunkte)
(6) Punkt und Bildpunkt sind von den Punkten der Achse gleich weit entfernt.
(7) Ist P ′ Bildpunkt eines Punktes P , dann ist der Bildpunkt von P ′ der Punkt P , kurz
P ′′ = P .
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(8) Das Bild einer Geraden g ist eine Gerade g′ . Schneidet g die Achse a, schliessen g und g′
mit der Achse a kongruente Winkel ein.
(9) Liegt P nicht auf a, dann gilt (P P ′ )′ = P P ′ (Fixgerade)
(10) Ein gleichschenkliges Dreieck wird bei der Spiegelung an der Winkelhalbierenden des Winkels an der Spitze auf sich abgebildet.
(11) Dreiecke werden auf kongruente Dreiecke mit entgegengesetzter Orientierung abgebildet.
Übungsaufgabe
Formulieren Sie die nötigen Begründungen.
Figuren, die bei Spiegelung an einer Achse a auf sich abgebildet werden, heissen achsensymmetrisch bezüglich der Achse a.
4.2
Konstruktion von Bildpunkten mit dem Zirkel
Grundkonstruktion Die Konstruktion eines Bildpunktes bei der Achsenspiegelung mit Hilfe
des Zirkels ergibt sich aus der Eigenschaft (3). Sei P ein Punkt ausserhalb der Achse a. Dann
ist P ′ der zweite Schnittpunkt zweier Kreise mit Mittelpunkten auf a durch den Punkt P .
Bemerkung
Aufgabe
Viereck?
Konstruktionen haben bei Euklid die Bedeutung von Existenzsätzen.
Ein Dreieck wird an einer Seite gespiegelt. Welche Eigenschaften hat das entstehende
Diese Aufgabe könnte zum Begriff Orthogonalität führen, siehe nächster Abschnitt.
4.3
Orthogonalität
Operative Einführung des Begriffs Orthogonalität mit Falten
0perative Einführung des Begriffs Orthogonalität mit der Konstruktion von Bildpunkten bei
der Achsenspiegelung (siehe Abschnitt 4.2): Wegen den Eigenschaften (4) und (6) betragen die
Winkel beim Schnittpunkt der Verbindungsgeraden Punkt-Bildpunkt P P ′ mit der Achse a die
Hälfte eines gestreckten Winkels.
Wir sagen, g = P P ′ und a stehen senkrecht aufeinander oder auch sie sind orthogonal zueinander.
Die Hälfte eines gestreckten Winkels ist ein rechter Winkel.
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Die folgenden Aussagen sind äquivalent:
(a) Zwei Geraden g und h stehen senkrecht aufeinander.
(b) g geht bei Spiegelung an h in sich über.
(c) h geht bei Spiegelung an g in sich über.
Grundkonstruktion Die obige Konstruktion von Bildpunkten liefert auch die zu einer gegebenen Geraden g senkrechte Gerade durch einen gegebenen Punkt P ausserhalb von g (Lot zu
g durch P ).
4.4
Winkelhalbierende
Grundkonstruktion Ist der Winkel kleiner als ein gestreckter Winkel, so ist die gesuchte
Winkelhalbierende die Symmetrieachse jedes gleichschenkligen Dreiecks, dessen Spitze der gegebene Winkel ist.
4.5
Mittelpunkt einer Strecke, Mittelsenkrechte zweier Punkte
Gegeben sind zwei voneinander verschiedene Punkte A und B. Gesucht ist eine Gerade m, so
dass B das Bild von A bei Spiegelung an m ist.
Grundkonstruktion Es genügt zwei Punkte P und Q zu konstruieren, die von A und B
gleich weit entfernt sind. Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass A bei der Spiegelung an
m = P Q auf B abgebildet wird, und dass m senkrecht auf AB steht und die Strecke AB halbiert.
4.6
Trichotomiesatz
Satz 4.1 Gegeben sind zwei voneinander verschiedene Punkte A und B, m sei die Mittelsenkrechte von A und B.
Für die Lage eines dritten Punktes C in Bezug auf A und B gilt eine Trichotomie:
C liegt entweder in der Halbebene (m, A), oder in der Halbebene (m, B) oder auf m.
Im ersten Fall gilt [AC] < [BC] und ∠BAC > ∠ABC.
Im zweiten Fall gilt [AC] > [BC] und ∠BAC < ∠ABC.
Im dritten Fall gilt [AC] = [BC] und ∠BAC = ∠ABC.
Beweis Für eine Begründung der Aussagen über die Abstände und Winkel schneide man AC
resp. BC mit m und benütze die Dreiecksungleichung.
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Aus Satz 4.1 ergibt sich der folgende wichtige Satz:
Satz 4.2 In Dreiecken gilt für die Beziehungen der Längen zweier Seiten und dem Mass der
ihnen gegenüberliegenden Winkel:
(1) Gleich langen Seiten liegen gleich grosse Winkel gegenüber und umgekehrt.
(2) Der grösseren von zwei Seiten im Dreieck liegt der grössere Winkel gegenüber und umgekehrt.
Kongruenzsätze
5
Die Kongruenzsätze (SSS, SWS, WSW und SSW) spielen in der Geometrie Euklids eine wichtige
Rolle. Für Beweise sind sie auch heute ein nützliches und natürliches Werkzeug. Plausibel machen
resp. begründen lassen sie sich auf verschiedenen Abstraktionsstufen:
• Folienbewegungen, die Argumentation ist bei SWS einfach, bei SSS schon ziemlich subtil
• Empirische Erfahrung bei Dreieckskonstruktionen mit Zirkel und Lineal
• Deduktive Herleitung mit Hilfe von Achsenspiegelungen
• Setzt man einen Kongruenzsatz als bekannt voraus, können die übrigen mit Hilfe des
als gültig angenommenen Kongruenzsatzes hergeleitet werden. (Bemerkung: In der Hilbert’schen Axiomatik ist SWS, resp. eine Vorstufe von SWS ein Axiom.)
Übungsaufgabe
6
Zeigen Sie SSS mit Hilfe von Achsenspiegelungen.
Drehung
6.1
Einführungsaufgabe
a) Zeichne verschiedene mögliche Positionen einer in einem Punkt D drehbar gelagerten rechteckigen Tischplatte. Benütze zuerst eine Folie, konstruiere dann mit Zirkel und Lineal.
b) Es seien zwei verschiedene Positionen der Tischplatte gezeichnet. Gibt es einen oder mehrere Drehpunkte, so dass die Platte von der einen in die andere Position gedreht werden
kann? Experimentiere zuerst mit der Folie.
bc
D
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6.2
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Operative Definition einer Drehung
Gegeben ist ein Punkt D und ein orientierter Winkel ϕ. Eine Folie ist in D drehbar befestigt.
Ein Punkt P wird auf die Folie kopiert, diese um den Winkel ϕ gedreht und der gedrehte Punkt
auf die Ebene zurückkopiert. Der neue Punkt ist P ′ .
Dieses Verfahren beschreibt eine Drehung um den Punkt D mit dem Winkel ϕ. Auch die Drehung
ist eine Abbildung.
Eine Drehung um 180◦ heisst Punktspiegelung. Eine Figur, die bei einer Punktspiegelung auf
sich abgebildet wird, heisst punktsymmetrisch.
Aufgabe
1. Gegeben ist ein Punkt D und ein Winkel ϕ, sowie ein Punkt P . Finde den Bildpunkt P ′ .
(a) Mit Hilfe einer Folie
(b) Mit Hilfe von Zirkel und Lineal
2. Führe die vorangehende Aufgabe nicht mit einem Punkt P sondern mit verschiedenen
Strecken, mit verschiedenen Dreiecken und mit verschiedenen Kreisen aus.
3. Notiere wichtige Eigenschaften von Drehungen.
Übungsaufgabe
(a) Formulieren Sie eine Definition der Drehung ohne Zuhilfenahme von Folien.
(b) Zeigen Sie, dass bei einer Drehung Strecken auf kongruente Strecken abgebildet werden.
(c) Was lässt sich über den Winkel zwischen Strecke und Bildstrecke aussagen?
7
Parallelität
Aus der Erfahrungswelt sind abstandsgleiche Strecken bekannt (z.B. Rechtecke, Bahnschienen),
und man nennt solche Strecken parallel. Möchte man parallele Strecken in unserem Modell
konstruieren, stösst man auf eine interessante Frage: Konstruiert man ein Lot auf eine Gerade
und auf diesem Lot wieder eine Senkrechte, so ergeben sich zwei Geraden mit einem gemeinsamen
Lot. Ist nun ein weiteres Lot auf eine der beiden Geraden auch ein Lot auf die andere? Mit andern
Worten: Ergibt sich ein Rechteck? Man kann die Frage empirisch untersuchen. Es zeigt sich,
dass empirisch nichts gegen die Annahme eines Rechtecks spricht. Lässt sich deduktiv herleiten,
dass ein Rechteck entsteht? Die Antwort ist nein. Nach vielen vergeblichen Versuchen konnte
um 1830 gezeigt werden, dass mit den bisherigen Annahmen auch ein logisches System von
Sätzen gebildet werden kann, in welchem kein Rechteck existiert, die sogenannte hyperbolische
Geometrie. Für die Euklidische Geometrie muss eine weitere Annahme getroffen werden. Hierzu
gibt es verschiedene Möglichkeiten. Dies soll im folgenden - zuerst losgelöst von didaktischen
Überlegungen - untersucht werden.
7.1
Das Parallelenpostulat
Definition
Geraden, die keinen Schnittpunkt besitzen, heissen parallel.
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Bemerkung Im Hinblick auf eine operative Einführung des Begriffs geben verschiedene Lehrbücher
eine andere Definition: Zwei Geraden heissen parallel, wenn sie ein gemeinsames Lot besitzen.
Definition Neutrale Geometrie, auch absolute Geometrie genannt, ist die Geometrie, in der
die euklidischen Axiome ausgenommen das Parallelenaxiom gelten.
In der Elementargeometrie“ wollen wir neutrale Geometrie“ oder absolute Geometrie“ so ver”
”
”
stehen, dass die Begriffe Ebene, Geraden, Punkte, Winkel, kongruent, Kongruenzabbildungen,
insbesondere Achsenspiegelungen, Orthogonalität und auch die Grundkonstruktionen mit Zirkel
und Lineal anschaulich“ erklärt sind.
”
In der neutralen Geometrie gibt es Aussagen, die zum Parallelenpostulat äquivalent sind. Von
einigen solchen Aussagen soll dies im Folgenden elementargeometrisch gezeigt werden. Zunächst
geht es aber um die Frage: Gibt es Parallelen in der neutralen Geometrie? Die Antwort ist ja:
Satz 7.1 In einer neutralen Geometrie gilt: Zwei Geraden, die ein gemeinsames Lot besitzen,
sind parallel.
Beweis Hätten die Geraden einen Schnittpunkt S, so wäre auch der bezüglich des Lotes zu S
symmetrische Punkt Schnittpunkt der beiden Geraden.
Allgemeiner gilt:
Satz 7.2 In einer neutralen Geometrie gilt: Zwei Geraden, die mit einer weiteren sie schneidenden Geraden gleiche Stufenwinkel einschliessen, sind zueinander parallel.
Erster Beweis Die zwei Geraden g und h werden von einer weiteren Geraden in den Punkten A
und B unter gleichen Stufenwinkeln geschnitten. Ist M der Mittelpunkt von A und B, so wird
bei der Punktspiegelung an M A auf B und wegen der Gleichheit der Stufenwinkel und der
Gleichheit von Scheitelwinkeln g auf h abgebildet. Hätten g und h einen Schnittpunkt S, wäre
sein Bild unter der Punktspiegelung ein von S verschiedener weiterer Schnittpunkt.
Satz 7.3 In einer neutralen Geometrie gilt: Zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt P gibt es mindestens eine Parallele zu g, die durch P geht.
Beweis Sei t eine Gerade durch P , die g in einem Punkt A schneidet. Sei α der Schnittwinkel.
Dann ist nach Satz 7.2 die Gerade h durch P , die t mit denselben Stufenwinkel α einschliesst,
eine Parallele zu g.
In der neutralen Geometrie gilt der Satz, dass die Winkelsumme in jedem Dreieck 180◦ beträgt,
nicht. Es gelten aber die folgenden Sätze über Winkel im Dreieck.
Satz 7.4 (Schwacher Aussenwinkelsatz) In einer neutralen Geometrie gilt: Jeder Innenwinkel eines Dreiecks ist kleiner als die nichtanliegenden Aussenwinkel.
Beweis Im Dreieck ABC sei M der Mittelpunkt der Strecke AB und C ′ das Bild von C bei der
Punktspiegelung an M . Der Winkel ABC ′ ist gleich dem Winkel BAC und dieser kleiner als
der Aussenwinkel bei B.
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b
A
b
b
b
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C
M
b
B
C′
Zweiter Beweis von Satz 7.2 (mit dem schwachen Aussenwinkelsatz) Hätten zwei Geraden g
und h, die von einer weiteren Geraden in den Punkten A und B geschnitten werden, einen
Schnittpunkt S, so könnten die Stufenwinkel wegen des schwachen Aussenwinkelsatzes (Dreieck
ABS) nicht gleich gross sein.
Satz 7.5 In einer neutralen Geometrie gilt: In jedem Dreieck ist die Summe zweier Innenwinkel
kleiner als 180◦ .
Beweis Mit den Bezeichnungen im Beweis des Schwachen Aussenwinkelsatzes gilt:
∠BAC + ∠CBA = ∠CBC ′ < 180◦
.
Satz 7.6 In einer neutralen Geometrie gilt: In jedem Dreieck ist die Innenwinkelsumme kleiner
oder gleich 180◦ .
(Ohne Beweis. Der Beweis ist nicht einfach.)
Satz 7.7 Die folgenden Aussagen sind in einer neutralen Geometrie zueinander äquivalent.
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(1) Wenn zwei Geraden parallel sind, dann sind die bei einem Schnitt mit einer weiteren
Geraden erzeugten Stufenwinkel gleich gross.
(2) Wenn eine Gerade beim Schnitt mit zwei Geraden g und h bewirkt, dass innen auf derselben
Seite entstehende Winkel zusammen kleiner sind als zwei rechte, dann schneiden sich die
Geraden g und h. (Parallelenpostulat von Euklid)
(3) Zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt P gibt es höchstens eine
Parallele zu g, die durch P verläuft. (Parallelenpostulat von Playfair)
(4) Haben zwei Geraden ein gemeinsames Lot, so ist jedes weitere Lot auf die eine Gerade
auch ein Lot auf die andere.
(5) In jedem Viereck, das drei rechte Winkel besitzt, ist der vierte ebenfalls ein rechter.
(6) Die Winkelsumme ist in jedem Dreieck gleich einem gestreckten Winkel (beträgt also 180◦ ).
Bemerkung zu (2): In der Formulierung von Euklid heisst es : . . . dann schneiden sich die Geraden
g und h bei der Verlängerung ins Unendliche auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die
zusammen kleiner als zwei rechte sind.
Der Beweis von Satz 7.7 folgt weiter unten.
Definition
Ein Viereck mit vier rechten Winkeln heisst ein Rechteck.
Satz 7.8 Mit den Sätzen der neutralen Geometrie und der Aussage (5) von Satz 7.7 folgt, dass
in einem Rechteck ABCD die Gegenseiten kongruent zueinander sind.
Beweis Sei ABCD ein Rechteck. Bei der Spiegelung an der Mittelsenkrechten m zu [AB] gehen
die Punkte A und B und die Geraden AD und BC wegen der rechten Winkel ineinander über.
Da m wegen Aussage (5) auch senkrecht zu CD ist, wird CD auf sich abgebildet. Daher wird C
als Schnittpunkt von BC und CD auf den Schnittpunkt von AD und CD, also auf D abgebildet.
Somit sind [AD] und [BC] kongruent. Ganz entsprechend kann man auch für das andere Paar
von Gegenseiten argumentieren.
Satz 7.9 Mit den Sätzen der neutralen Geometrie und der Aussage (5) von Satz 7.7 folgt, dass
für zwei parallele Geraden g und h die folgenden Aussagen gelten
1) Jedes Lot auf die eine Gerade ist auch ein Lot auf die andere.
2) Die Lotabschnitte zwischen g und h sind kongruent.
3) Die Mittelpunkte der Lotabschnitte liegen auf einer Geraden, die parallel ist zu g und h,
der sog. Mittelparallelen von g und h.
4) Jede Strecke AB mit A auf g und B auf h wird durch die Mittelparallele halbiert.
Für den Beweis von Satz 7.9 benötigen wir folgendes Lemma:
Lemma 7.1 Mit den Sätzen der neutralen Geometrie und der Aussage (5) folgt, dass parallele
Geraden ein gemeinsames Lot besitzen.
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Beweis von Lemma 7.1 (nach [10], S. 73) Es seien g und h zwei Geraden, die kein gemeinsames
Lot besitzen. Wir zeigen, dass sich g und h schneiden. Das Lot l in einem beliebigen Punkt Q
von h auf g schneidet g in einem Punkt P . g′ sei das Lot auf l in Q. Auf der Halbgeraden von
h, die mit der Strecke [QP ] einen spitzen Winkel einschliesst, wird ein Punkt Q1 gewählt. Wenn
Q und Q1 auf verschiedenen Seiten von g liegen, dann schneiden sich g und h.
Liegen Q und Q1 auf derselben Seite von g, so erhält man mit den Loten von Q1 auf l und h das
Rechteck A1 Q1 B1 Q. Wird dieses Rechteck an Q1 gespiegelt, erhält man ein weiteres Rechteck
mit einem Eckpunkt Q2 auf h. Das Lot von Q2 auf l schneidet l in einem Punkt A2 . Erneute
Spiegelung am Punkt Q2 führt auf Q3 usw. Die Lote von Qi auf l schneiden l in den Punkten Ai .
Nach Konstruktion und Satz 7.8 sind die Strecken Ai Ai+1 kongruent zu [QA1 ]. Deshalb gelangt
man nach endlich vielen Schritten zu einem Punkt An , der auf der andern Seite von g als Q
liegt. Der zugehörige Punkt Qn auf h liegt ebenfalls auf der andern Seite von g als Q. Somit
schneiden sich die Geraden g und h.
Q
B1
b
b
b
A1
b
g’
Q1
A2
b
b
Q2
h
b
P
g
l
Bemerkung: Hier wird das Archimedische Axiom (das schon bei Euklid vorkommt) verwendet:
Zu zwei Strecken a und b mit a > b gibt es eine natürliche Zahl n, so dass nb > a ist.
Beweis von Satz 7.9
1) folgt unter Verwendung von Lemma 7.1 aus Aussage (5).
2) folgt aus Satz 7.8.
3) folgt aus Satz 7.8.
4) Sei M der Schnittpunkt von AB mit der Mittelparallelen m. Das Lot zu g und h durch M
schneidet g und h in den Punkten P und Q. Bei der Spiegelung an M wird P auf Q abgebildet
und wegen der rechten Winkel bei P und Q auch g auf h. Die Gerade AB wird auf sich abgebildet.
Daher wird A nach B abgebildet und die Strecken AM und BM sind somit kongruent.
Beweis von Satz 7.7
1. Schritt (1) ⇔ (2):
Dies folgt aus der Tatsache, dass sich Nebenwinkel zu 180◦ ergänzen.
2. Schritt (1) ⇒ (3):
Gegeben seien eine Gerade g und ein Punkt P nicht auf g. t sei eine Gerade durch P , die
g schneidet. Der Schnittwinkel sei α. Dann ist die Gerade h, die mit t den Stufenwinkel α
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einschliesst nach Satz 7.2 parallel zu g. Jede Gerade h′ durch P mit h′ 6= h schliesst mit t einen
Stufenwinkel α′ mit α′ 6= α ein und ist damit wegen der Kontraposition von (1) nicht parallel
zu g.
3. Schritt (3) ⇒ (1):
Seien die Geraden g und h zueinander parallel und sei t eine Gerade, die g und h schneidet. g
schliesse mit t den Winkel α ein. P sei der Schnittpunkt von h und t. h′ sei die Gerade durch P ,
die mit t ebenfalls den Winkel α als Stufenwinkel einschliesst. Nach Satz 7.2 ist h′ parallel zu g.
Wegen 3 ist daher h = h′ . Also schliesst h mit t ebenfalls den Winkel α als Stufenwinkel ein.
4. Schritt (1) ⇒ (4):
Seien g und h zwei Geraden mit einem gemeinsamen Lot l. Nach Satz 7.1 sind g und h parallel.
Sei t ein Lot auf g mit t 6= l. Wegen (1) ist l auch ein Lot auf h.
5. Schritt (4) ⇔ (5): Dies ist klar.
6. Schritt (1) ⇒ (5): Dies folgt mit Schritt 4 und 5.
7. Schritt (5) ⇒ (1):
Seien g und h zwei parallele Geraden und t eine Gerade, die g und h in den Punkten A und B
unter den Stufenwinkeln α und α′ schneidet. ∠β sei der Scheitelwinkel zu ∠α′ . Wegen Satz 7.9
ist der Mittelpunkt M von [AB] auch der Mittelpunkt des gemeinsamen Lotes von g und h
durch M . Daher werden bei der Spiegelung an M A auf B und g auf h abgebildet. Deshalb
wird der Winkel α auf den Winkel β abgebildet. Somit sind ∠α und ∠β und damit auch die
Stufenwinkel α und α′ kongruent.
8. Schritt (1) ⇒ (6):
In einem beliebigen Dreieck ABC sei g eine zu AB parallele Gerade durch C. Dann schliesst g
mit AC und BC Winkel ein, die wegen (1) kongruent zu den Innenwinkeln bei A resp. B sind.
Da der Innenwinkel bei C kongruent ist zu seinem Scheitelwinkel, folgt die Aussage (6).
9. Schritt (6) ⇒ (3) (nach [4], S. 150):
Es sei also vorausgesetzt, dass in jedem Dreieck die Winkelsumme gleich einem gestreckten Winkel ist, mit andern Worten 180◦ beträgt. Sei g eine Gerade und P ein Punkt ausserhalb von g.
Sei L der Schnittpunkt des Lotes von P auf g. Weiter sei g ′ das Lot auf P L durch P . Dann ist
g′ nach Satz 7.1 parallel zu g. h sei eine weitere Gerade durch P mit h 6= g′ und ϕ der spitze
Winkel, den h mit der Strecke P L einschliesst. Es ist zu zeigen, dass h die Gerade g schneidet.
Q1 sei der derjenige Punkt auf g im Winkelfeld von ϕ, für den die Strecken LQ1 und P L kongruent sind. Für i ∈ N, i > 1 seien Qi diejenigen Punkte auf g im Winkelfeld von ϕ, für die die
Strecken Qi−1 Qi und P Qi−1 kongruent sind.
180◦
In den gleichschenkligen Dreiecken P LQi betragen die Basiswinkel i+1 .
2
Denn auch in der neutralen Geometrie gilt der Satz, dass Basiswinkel in gleichschenkligen Dreiecken kongruent sind, und nach Voraussetzung beträgt die Winkelsumme in jedem Dreieck 180◦ .
Es gilt daher:
180◦
180◦
1
180◦
◦
− i+1 =
1− i
∠LP Qi = 180 −
2
2
2
2
◦
◦
◦
180
180
180
1
Da
für i → ∞ und ϕ <
ist, gibt es ein n mit ∠LP Qn > ϕ.
1− i →
2
2
2
2
Daraus folgt, dass die Gerade h die Gerade g zwischen L und Qn schneidet.
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P
ϕ
b
g’
h
b
L
b
Q1
b
Q2
g
10. Schritt: Wegen Schritt 3 gilt auch (6) ⇒ (1), und damit ist die Behauptung von Satz 7.7
gezeigt.
Bemerkung Es gibt zahlreiche weitere Aussagen, die in der neutralen Geometrie äquivalent
zum Parallelenaxiom sind.
7.2
Zur Geschichte des Parallelenpostulats
Das Parallelenpostulat in der Formulierung von Euklid (PE) Wenn eine gerade Linie
beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel
zusammen kleiner sind als zwei rechte, dann schneiden sich die beiden geraden Linien bei der
Verlängerung ins Unendliche auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als
zwei rechte sind.
Zwischen dem ersten Jahrhundert vor Christus und dem frühen 19. Jahrhundert wurde immer
wieder versucht, das Parallelenpostulat zu beweisen. In seiner Formulierung ist es im Vergleich zu
Euklids anderen Postulaten ungewöhnlich lang und umständlich, und es ist nicht gleichermassen
evident wie die anderen. Beispielsweise schreibt Proklos, der asymptotisches Verhalten von der
Hyperbel und der Konchoide (Muschelkurve) kannte im 5. Jh. n. Chr.: Wäre nun nicht bei
”
Geraden möglich, was bei jenen Linien vorkommt?“
Der erste, von dem überliefert ist, dass er eine Alternative zum PE suchte, ist der Philosoph,
Wissenschaftler und Historiker Poseidonios (ca. 135 -51). Proklos erwähnt, dass Poseidonios vorgeschlagen habe, die Euklidische Definition von parallel zu ersetzen und dann PE zu beweisen:
Poseidonios sagt aber, parallel sind die Geraden, die in einer Ebene sich weder nähern noch
”
entfernen, sondern alle Senkrechten gleichhaben, die von den Punkten der einen zur andern gezogen werden.“ Dabei macht Poseidonios jedoch eine andere unbewiesene Annahme, die heute das
Postulat des Poseidonios genannt wird: Zwei Geraden, die sich nicht schneiden, sind äquidistant.
John Wallis (1616 - 1703) beweist PE unter der folgenden Annahme: Zu jeder beliebigen Figur
gebe es eine andere ihr ähnliche von beliebiger Grösse. (Bemerkung: In der neutralen Geometrie
gilt der Satz: Falls zwei Dreiecke existieren, die in allen drei Winkelmassen übereinstimmen und
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nicht kongruent sind, so gilt das Parallelenaxiom, siehe zum Beispiel [4], S.159) Wallis schlug
vor, PE durch folgendes Postulat zu ersetzen: Es ist stets möglich, auf einer gegebenen geraden
Linie ein Dreieck zu konstruieren, das einem gegebenen Dreieck ähnlich ist.
Geronimo Saccheri (1667 - 1733): In seinem Buch Der von allen Zweifeln bereinigte Euklid“
”
möchte er PE mit Widerspruchsbeweis zeigen. Damit hat Saccheri, ohne sich dessen bewusst zu
sein, als erster Sätze der nichteuklidischen Geometrie bewiesen. Ausgangspunkt ist das Viereck
mit zwei rechten Winkeln an der Basis und zwei gleichlangen Schenkeln. Man kann zeigen, dass in
einem solchen Viereck die oberen Winkel gleich sein müssen. Saccheri stellt nun drei Hypothesen
auf, von denen er die erste und die letzte widerlegen möchte:
(a) Die oberen Winkel sind spitz.
(b) Die oberen Winkel sind rechte Winkel.
(c) Die oberen Winkel sind stumpf.
Er kommt jedoch nicht ohne weitere Annahmen aus. Auf Saccheri gehen folgenden die Ersatzpostulate für PE zurück:
Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180◦ .
Es existiert mindestens ein Dreieck mit Winkelsumme 180◦ .
Es existiert mindestens ein Rechteck.
Alexis-Claude Clairot und Johann Heinrich Lambert finden 1741, resp. 1766 das Ersatzpostulat:
In jedem Viereck, das drei rechte Winkel besitzt, ist der vierte ebenfalls ein rechter.
Auf Lambert geht auch das folgende Ersatzpostulat zurück: Es gibt keinen absoluten Längenmassstab.
Gegen Ende des 18. Jh. ersetzt der englische Pädagoge John Playfair in Schulbüchern PE durch
das Postulat: Zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt gibt es höchstens
eine Gerade, die durch P geht, und zu g parallel ist.
Andrien Marie Legendre (1752 - 1833) stellt den Satz über die Winkelsumme des Dreiecks in
den Mittelpunkt seiner Untersuchungen.
1. Satz von Legendre: Die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks kann in der Absoluten Geometrie zwei Rechte nicht übersteigen.
2. Satz von Legendre: Beträgt die Summe der Innenwinkel eines einzigen Dreiecks zwei Rechte,
so gilt diese Beziehung in jedem Dreieck.
Legendre versuchte auch einen 3. Satz, nämlich dass die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks
kann nicht kleiner sei als zwei Rechte, zu beweisen. Aber hier verwendete er eine Annahme,
die zu PE äquivalent ist. Legendre findet das Ersatzpostulat: Es ist immer möglich, durch drei
gegebene Punkte, die nicht auf einer geraden Linie liegen, einen Kreis zu zeichnen.
Carl Friedrich Gauss (1777 - 1855) gelangt zu der Einsicht, dass auch eine Geometrie denkbar
ist, in der PE nicht gilt. So schreibt er in einem Brief 1799 (nach [7], S.150):
Ich selbst bin in meinen Arbeiten darüber weit vorgerückt (. . . ); allein der Weg, den ich ein”
geschlagen habe, führt nicht so wohl zu dem Ziele, das man wünscht [nämlich PE zu beweisen]
(. . . ) als vielmehr dahin, die Wahrheit der Geometrie zweifelhaft zu machen. Zwar bin ich auf
manches gekommen, was bei den meisten schon für einen Beweis gelten würde, was aber in
meinen Augen sogut wie nichts beweiset. Z.B. wenn man beweisen könnte dass ein (. . . ) Dreieck
möglich sei, dessen Inhalt grösser wäre als eine jede gegebene Fläche so bin ich im Stande die
ganze Geometrie völlig streng zu beweisen. Die meisten würden nun wohl jenes Axiom gelten
lassen; ich nicht; es wäre ja wol möglich, dass so entfernt man auch die drei Endpunkte des
Dreiecks im Raume voneinander annähme, doch der Inhalt immer unter einer gegebenen Grenze
wäre.“ So hat auch Gauss ein Ersatzpostulat für PE gefunden: Es ist möglich, ein Dreieck zu
konstruieren, dessen Fläche grösser ist als jede gegebene Fläche.
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In einem Brief von 1824 schreibt Gauss ([5], S.187): Die Annahme, dass die Summe der drei
”
Winkel kleiner sei als 180◦ , führt auf eine eigene, von der unsrigen (Euklidischen) ganz verschiedenen Geometrie, die in sich selbst durchaus konsequent ist, und die ich für mich selbst ganz
befriedigend ausgebildet habe, . . . Die Sätze jener Geometrie scheinen zum Teil paradox und
dem Ungeübten ungereimt; bei genauerer ruhiger Überlegung findet man aber, dass sie an sich
durchaus nichts unmögliches enthalten. . . . Alle meine Bemühungen, einen Widerspruch, eine
Inconsequenz in dieser Nicht-Euklidischen Geometrie zu finden, sind fruchtlos gewesen, und das
einzige, was unserem Verstand darin widersteht, ist, dass es, wäre sie wahr, im Raume eine sich
bestimmte (obwohl uns unbekannte) Lineargrösse geben müsste. Aber mir deucht, wir wissen,
trotz der nichtssagenden Wort-Weisheit der Metaphysiker eigentlich zu wenig oder gar nichts
über das wahre Wesen des Raumes, als dass wir etwas uns unnatürlich vorkommendes mit absolut unmöglich verwechseln dürfen. Wäre die Nicht-Euklidische Geometrie die wahre, und jene
Konstante in einigem Verhältnis zu solchen Grössen, die im Bereich unserer Messungen auf der
Erde oder am Himmel liegen, so liesse sie sich a priori ausmitteln.“
Gauss vermied es aber, sich öffentlich zur nichteuklidischen Geometrie (der Ausdruck geht auf
Gauss zurück) zu äussern.
Die Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie haben auch Niklaus Lobatschewski (1793 1856) und Janos Bolay (1802 - 1860) erkannt und ihre Arbeiten im Gegensatz zu Gauss auch
veröffentlicht.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts werden erstmals geometrische Modelle einer Geometrie, in der das Parallelenpostulat nicht gilt, konstruiert. (Eugenio Beltrami: Geometrie auf der
Pseudosphäre; Henri Poincaré; Felix Klein)
7.3
Zur Hyperbolischen Geometrie
Die Negation des Playfair-Axioms lautet
Lobatschewskisches Parallelenaxiom Es gibt eine Gerade g und einen nicht auf g liegenden Punkt P , durch den mindestens zwei Geraden gehen, die g nicht schneiden.
Eine neutrale Geometrie in der zusätzlich das Lobatschewskisches Parallelenaxiom vorausgesetzt
wird, wird Lobatschewskisch-Geometrie oder hyperbolische Geometrie genannt.
Es lässt sich zeigen, dass gilt
Satz 7.10 In einer neutralen Geometrie in der zusätzlich das Lobatschewskisches Parallelenaxiom gilt, gibt es zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt P unendlich viele
Geraden, die durch P gehen und g nicht schneiden.
In der hyperbolischen Geometrie gelten unter anderem folgende Aussagen über Dreiecke:
• Kongruenzsatz WWW: Stimmen zwei Dreiecke in allen drei Winkeln überein, dann sind
sie kongruent.
• Die Innenwinkelsumme jedes Dreiecks ist kleiner als 180◦ .
• Für den Flächeninhalt von Dreiecken gibt es eine obere Schranke.
• Der Satz von Pythagoras ist falsch.
17
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7.4
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Didaktische Anmerkung
Übungsaufgabe Die Schulbücher gehen ganz unterschiedlich mit dem Thema Parallelität,
resp. Winkelsumme im Dreieck um. Vergleichen Sie die verschiedenen Zugänge.
Einen interessanten Vorschlag macht der Mathematikdidaktiker H. N. Jahnke in [6].
8
Euklidische Geometrie, Translation
Gelten die Aussagen der neutralen Geometrie und eine zum Parallelenaxiom äquivalente Aussage, sprechen wir von euklidischer Geometrie.
Schon in Abschnitt 7.1 wurden einige Aussagen der euklidischen Geometrie gezeigt. Im folgenden
werden weitere genannt, dabei ist die euklidische Geometrie zu Grunde gelegt.
8.1
Translation
Parkettierungen oder auch die Aufgabe von Wagenschein zum Kreis können die Betrachtung
einer weiteren speziellen Folienbewegung, die Verschiebung längs einer Geraden, auch Translation
genannt, motivieren.
Gegeben sind zwei Punkte A und B. Ein Punkt P wird bei der Verschiebung längs AB auf
seinen Bildpunkt abgebildet, indem die Folie mit dem kopierten Punkt längs der Geraden AB
verschoben wird, so dass der Punkt A auf den Punkt B und die Gerade g auf sich zu liegen
−−
→
kommt: Verschiebung längs AB um den sogenannten Vektor AB.
Aufgabe Gegeben sind zwei Punkte A und B. Konstruiere das Bild eines Punktes P unter
−−
→
der Verschiebung längs AB um den Vektor AB mit Zirkel und Lineal.
Übungsaufgabe
(a) Die obige Aufgabe lösen SuS möglicherweise auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten.
Diskutieren Sie diese.
(b) Formulieren Sie eine Definition der Verschiebung ohne Zuhilfenahme von Folien.
(c) Zeigen Sie, dass bei einer Verschiebung Strecken auf kongruente Strecken abgebildet werden.
(d) Zeigen Sie, dass Geraden, die keine Fixgeraden sind, in parallele Geraden abgebildet werden.
Die obigen Überlegungen können zur folgenden Aussage führen.
Satz 8.1 Abstandslinien sind Geraden.
8.2
Weitere Sätze der Euklidischen Geometrie
Aufgabe
Spiegle ein Dreieck am Mittelpunkt einer Seite.
1. mit Hilfe einer Folie
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2. mit Hilfe von Zirkel und Lineal
3. Welche Figur bilden das Dreieck und sein Bild zusammen?
Definition
sind.
Ein Viereck heisst ein Parallelogramm, wenn Paare von Gegenseiten jeweils parallel
Satz 8.2 Parallelogramme sind punktsymmetrisch und jedes punktsymmetrische Viereck ist ein
Parallelogramm.
In einem Parallelogramm sind gegenüberliegende Seiten gleich lang und gegenüberliegende Winkel
gleich gross.
Übungsaufgabe
Beweisen Sie den Satz 8.2
Viele weitere prominente Sätze der Geometrie stützen sich auf das Parallelenxiom, zum Beispiel
der Satz zum Thaleskreis, der Peripheriewinkelsatz, der Satz von Pythagoras, der Begriff der
Ähnlichkeit.
9
9.1
Klassifikation der Kongruenzabbildungen
Längentreue Abbildungen sind Kongruenzabbildungen
Kongruenzabbildungen (im Sinne von “Folienabbildungen“) sind offenbar genau diejenigen bijektiven Abbildungen der Ebene, die längentreu und winkeltreu sind. Was lässt sich über Abbildungen, die längentreu sind, aussagen?
Satz 9.1 Eine längentreue Abbildung ϕ ist durch die Bilder dreier nicht auf einer Geraden
liegenden Punkte, also durch ein Dreieck eindeutig bestimmt.
Begründung Durch die Bilder A′ und B ′ zweier Punkte A und B sind die Bilder aller Punkte
auf der Geraden AB bestimmt. Ist C ein Punkt ausserhalb von AB, dann liegt sein Bildpunkt
C ′ wegen der Längentreue auf dem Kreis(A′ ; AC) und auf dem Kreis (B ′ ; BC) und ist damit bis
auf Achsensymmetrie eindeutig bestimmt. Ist P ein weiterer Punkt, so ist sein Bild durch A′ ,
B ′ , C ′ eindeutig festgelegt (folgt mit dem Trichotomiesatz).
Da Dreiecke, deren Seiten gleichlang sind, kongruente Winkel besitzen (SSS), ist jede längentreue
Abbildung auch winkeltreu.
Satz 9.2 Es gilt:
(1) Eine Abbildung der Ebene auf sich ist genau dann eine Kongruenzabbildung, wenn sie
längentreu ist.
(2) Jede Kongruenzabbildung behält entweder die Orientierung aller Dreiecke bei oder sie kehrt
die Orientierung aller Dreiecke um: Gleichsinnige oder ungleichsinnige Kongruenzabbildung.
(3) Eine Kongruenzabbildung ist durch die Bilder dreier nicht auf einer Geraden liegenden
Punkte eindeutig bestimmt. Weiss man, ob die Abbildung gleichsinnig oder ungleichsinnig
ist, so genügen bereits die Bilder zweier Punkte.
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9.2
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Klassifikationssatz
Es wurden die speziellen Kongruenzabbildungen Achsenspiegelungen, Drehungen und Translationen definiert. Jede Verkettung von solchen Abbildungen ist wieder eine Kongruenzabbildung.
Gibt es weitere Kongruenzabbildungen?
Definition Die Verkettung einer Achsenspiegelung und einer Translation in Achsenrichtung
heisst Schubspiegelung. (Bemerkung: Die Reihenfolge spielt keine Rolle.)
Sei ϕ eine Kongruenzabbildung: Mit Satz 9.2 lässt sich nun zeigen:
Satz 9.3 (Klassifikationssatz) Voraussetzung: ϕ 6= Identität
Ist ϕ eine gleichsinnige Kongruenzabbildung, dann ist ϕ eine Drehung, falls ϕ einen Fixpunkt
besitzt und eine Translation, falls ϕ keinen Fixpunkt besitzt.
Ist ϕ eine ungleichsinnige Kongruenzabbildung, dann ist ϕ eine Achsenspiegelung, falls ϕ einen
Fixpunkt besitzt und eine Schubspiegelung, falls ϕ keinen Fixpunkt besitzt.
Beweis (nach Wittmann [10]) Sei ϕ eine Kongruenzabbildung, die nicht die Identität ist. Sei A
kein Fixpunkt, A′ = ϕ(A) 6= A. Betrachte den Mittelpunkt B der Strecke AA′ . Das Bild B ′ von
B liegt wegen der Längentreue auf dem Kreis (A′ ; A′ B)
Welche Fälle treten auf, wenn ϕ gleichsinnig ist?
b
A
b
B
b
A′
b
20
A
b
B
b
A′
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Welche Fälle treten auf, wenn ϕ ungleichsinnig ist?
b
9.3
A
b
B
b
A′
b
A
b
B
b
A′
Verkettungen von Translationen, Drehungen und Achsenspiegelungen
Die Menge der Kongruenzabbildungen bildet bezüglich der Verkettungen eine Gruppe. Statt von
Verkettung sprechen wir auch von Produkt.
Satz 9.4 Es gilt:
(1) Das Produkt zweier Translationen ist eine Translation.
(2) Das Produkt einer Drehung und einer Translation ist eine Drehung.
(3) Das Produkt zweier Drehungen mit dem gleichen Drehpunkt ist eine Drehung.
(4) Das Produkt zweier Achsenspiegelungen ist eine Drehung oder eine Translation.
(5) Das Produkt zweier Drehungen δ1 und δ2 um verschiedene Drehzentren D1 und D2 ist eine
Drehung oder eine Translation. Das Produkt zweier verschiedener Punktspiegelungen ist
eine Translation in Richtung D1 D2 der Länge 2 · D1 D2 .
(6) Das Produkt einer Translation τ und einer Achsenspiegelung σg ist entweder eine Achsenspieglung oder eine Schubspiegelung.
(7) Das Produkt einer Drehung δ 6= Id. und einer Achsenspiegelung σg ist eine Achsen- oder
eine Schubspiegelung.
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Beweis von (1) - (4) Mit Hilfe des Klassifikationssatzes ist dies einfach zu zeigen.
Zu (4): Sind g und h Achsen, sich in D schneiden, und σg und σh die betreffenden Achsenspiegelungen, dann ist das Produkt σh σg die Drehung um D mit dem Drehwinkel 2 · ∠(g, h).
Sind die Achsen g und h parallel, dann ist das Produkt σh σg die Translation, deren Verschiebungsvektor senkrecht zu den Achsen steht und die Länge 2gh hat.
Mit (1) - (4) folgt
Satz 9.5 Drehungen und Translationen lassen sich mit Hilfe von 2 Achsenspiegelungen darstellen.
Jede Kongruenzabbildung ist das Produkt von maximal 3 Achsenspiegelungen.
Beweis von (5) - (7) Die Behauptungen lassen sich unter Verwendung von Satz 9.5 zeigen
(Übungsaufgabe).
Literatur
[1] Barro, K.: Didaktische Prinzipien.
[2] Bender, P. und Schreiber, A.: Operative Genese der Geometrie. Schriftenreihe Didaktik der
Mathematik. Hölder-Pichler-Tempsky, 1985.
[3] Euklid: Die Elemente. www.opera-platonis.de/euklid/. Besucht: 25. September 2014.
[4] Filler, A.: Euklidische und nichteuklidische Geometrie. Mathematische Texte. Mannheim,
Leipzig, Wien, Zürich: BI-Wissenschaftsverlag, 1993.
[5] Gauß, C.F.: Werke: Herausgegeben von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu
Göttingen. Werke. Olms, 1981, ISBN 9783487046402.
[6] Jahnke, H.N.: Proofs and hypotheses. ZDM Mathematics Education, 39:79 – 86, 2007.
[7] Trudeau, R.J.: Die Geometrische Revolution. Birkhäuser, 1998.
[8] Winter, H.: Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht: Einblicke in die Ideengeschichte
und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Didaktik der Mathematik. Vieweg, 1989.
[9] Wittmann, E.C.: Objekte-Operationen-Wirkungen: Das operative Prinzip in der Mathematikdidaktik. Mathematik lehren, 11:7–11, 1985.
[10] Wittmann, E.C.: Elementargeometrie und Wirklichkeit: Einführung in geometrisches Denken. Didaktik der Mathematik. Vieweg, 1987.
22
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