Luckmann 2006 Kommunikative Konstruktion

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Thomas Luckmann
Die kommunikative Konstruktion der
Wirklichkeit1
1. Einleitung
Wissenschaftshistoriker stellten schon vor geraumer Zeit fest, daß
die Wissenschaft nicht ungebrochen in einem Vorgang der Akkumulation von Fakten und theoretischen Durchbrüchen fortschreitet, und widersprachen damit der optimistischen Überzeugung der philosophischen Aufklärung.2 Das jeweilige »normale«
wissenschaftliche Paradigma wurde eher selten radikal transformiert. Sollten die Wissenschaftshistoriker mit ihrer Theorie recht
haben, der zufolge die Wissenschaften – idealiter – dem Austausch von Erkenntnissen und Ideen innerhalb einer universalen
Forschergemeinschaft unterliegen und damit bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den »Idolen des Stammes« (Francis Bacon) wären, hätte man insbesondere von den Menschenwissenschaften mehr Resistenz gegenüber radikalen Veränderungen erwarten dürfen. Auch in den Menschenwissenschaften dürfte der
Wissenszuwachs Resultat der Kommunikation innerhalb einer
transnationalen »Forschergemeinschaft« sein. Stärker jedoch als
die Naturwissenschaften sind sowohl die »klassischen« Geisteswissenschaften als auch die »modernen« Sozialwissenschaften an die
beharrlich konservative Tradition nationaler Kulturen gebunden.
1
2
Vortrag am Department of Informational Systems an der London School of
Economics and Political Science im Februar 2005, hervorgegangen aus einem ähnlichen Vortrag anläßlich eines Symposions zu Ehren von Per Linnel
an der Universität Linköping im Mai 2004; aus dem Englischen übersetzt
von Mary-Jorda Abraha und Dirk Tänzler.
Thomas Kuhn (1966) hat das überzeugend für die Physik dargelegt.
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
Diese Disziplinen sind nämlich ein integraler Teil der literarischen, politischen und ideologischen Kommunikation innerhalb
ihrer nationalen Kulturen. Der Einfluß geht in beide Richtungen,
und grundsätzlich sollte man erwarten, daß diese Umstände den
Konservatismus der Kulturen und die Beharrlichkeit »normaler«
Paradigmen in diesen Wissenschaften stärken.
Jenseits dieser besonderen sozialen und kulturellen Einbettung
der Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es noch einen zusätzlichen Aspekt. Jede wissenschaftliche Aktivität ist zweifelsohne historisch und [16] kulturell situiert; die Geistes- und Sozialwissenschaften sind zudem auch Teil ihres eigenen Gegenstandsbereichs. Blicken die Naturwissenschaften, metaphorisch gesprochen, von innen nach außen, auf das, was außen ist, dann blicken
die Geistes- und Sozialwissenschaften von innen auf ein Außen,
das ein Innen ist. Diese Disziplinen sind daher reflexiv in einem
Sinne, wie es die Naturwissenschaften nicht sind. Die Sprache
und nicht die Mathematik ist das angemessene Kommunikationsmedium in den Menschenwissenschaften. Darüber hinaus ist
die Sprache auch ein Konstituens der von den Menschenwissenschaften untersuchten menschlichen Wirklichkeiten Die Menschenwissenschaften sind direkter und gleichzeitig subtiler
beeinflußt von der Weltanschauung der Gesellschaft, in der sie
beheimatet sind. In ihrem Streben nach Objektivität und systematischer Wissensakkumulation müssen die Menschenwissenschaften mit dieser Sachlage rechnen. Ja, sie müssen sich stets bewußt sein, daß wegen dieses zusätzlichen Widerstands gegen die
»Normalitätsunterstellungen«, die immer schon in ihre Forschungen eingehen, besondere Wachsamkeit nötig ist.
Es dürfte wohl wenig überraschen, daß die Disziplinen, die gerade nicht die Geschichte ihrer nationalen Literaturen oder die Organisation ihrer lokalen Gesellschaften, also deren Rechts- und
Wirtschaftsordnungen, studieren, sondern aus anthropologischer
Sicht ausdrücklich die Sprache und das Sozialleben als universale
Aspekte menschlicher Existenz zu durchdringen versuchen, über
den grundsätzlichen paradigmatischen Traditionalismus der Men2
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
schenwissenschaften hinaus, dazu neigen, ausgesprochen partikularistische Züge anzunehmen.
Moderne Sozialtheorie und moderne Sprachtheorie bieten dafür
gute Beispiele. In den frühen Stadien der Gründungsphase beschritten die bedeutendsten französischen, britischen, deutschen
und amerikanischen Schulen innerhalb dieser Forschungsdisziplinen recht unterschiedliche Pfade. Man muß dennoch feststellen,
daß diese Forschungstraditionen jenseits des Gegenstandes ihres
Faches zwei Dinge gemeinsam hatten. Obwohl es nach den vorangegangenen Bemerkungen nicht zu erwarten gewesen wäre,
teilten sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das in den modernen Sprach- und Sozialtheorien vielfach fehlende Interesse für
die älteren Traditionen der Sprachphilosophie und Sozialphilosophie und votierten stattdessen für radikalen Wandel. Außerdem
ignorierten sie sich gegenseitig. Die Zusammenarbeit zwischen
dem bedeutenden Linguisten Antoine Meillet und Emile Durkheim an der von diesem gegründeten Année Sociologique Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts blieb in dieser Hinsicht eine nennenswerte Ausnahme. Eine weitere, aber weniger markante Ausnahme konnte man in der deutschen und der [17] amerikanischen
Ethnologie jener Zeit sehen. In diesen Ländern war die Ethnologie
aber weniger eng mit der Soziologie verbunden als in Frankreich.
Das gegenseitige Sich-Meiden von Soziologie und Linguistik ist eher schwierig zu erklären. Denn eine systematische Verbindung
zwischen der Sprachtheorie und der Gesellschaftstheorie hatte
Wilhelm von Humboldt bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert vorgeschlagen.3 Dennoch war Humboldts Denken im neunzehnten Jahrhundert und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen nur ein geringer Einfluß beschieden. Spuren seiner Ansichten lassen sich in den Untersuchungen zur Sprachfeldsemantik, wie sie insbesondere von der deut3
Humboldts Werk »Über die Kawi-Sprache Einleitung, über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus«, wurde 1836 postum veröffentlicht
Obwohl kein Zwerg, stand Humboldt auf den Schultern der Riesen Vico,
Shaftesbury, Hamann und Herder.
3
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
schen Linguistik gepflegt wurden, wieder finden. In der amerikanischen anthropologischen Linguistik versteckten sich Humboldtsche Ansichten über die Sprache, die Kultur und die Gesellschaft in
vereinfachter, ja verzerrter Form, in der »Sapir-Whorf«-Sprachrelativitätshypothese. Anstatt jedoch Sprache als kommunikativen
Vorgang aufzufassen, wie es Humboldt mit Nachdruck forderte,
folgten sowohl die semantische Feldanalyse wie die Hypothese
sprachlicher Relativität einem korrelationistischen Ansatz.
Die Situation änderte sich auffallend in der verhältnismäßig kurzen Zeit seit Beginn meiner Studienzeiten bis zum heutigen Tag.
Als Zeitzeuge möge es mir erlaubt sein, diesen Wandel in einer
persönlichen Rückschau zu skizzieren. Ich glaube, daß dieser
Wandel von grundlegender Natur war; mit leichter Übertreibung
konnte man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Zwischen
dem, was während meiner Studienzeit in der Linguistik, der Soziologie, aber auch in der Sozialpsychologie als erwiesen galt, einerseits, und den Annahmen, von denen wir in unseren Untersuchungen zur sozialen Interaktion und zu den kommunikativen
Vorgängen heute ausgehen, andererseits, liegen, meiner Meinung
nach, Welten. Als ich in den späten Vierzigern begann, vergleichende Sprachwissenschaften in Europa zu studieren, war der
herrschende Ansatz entweder philologisch im »altehrwürdigen«
Sinne oder strukturalistisch. Einem ungeduldigen Studenten, der
vergeblich nach »la parole« in der Untersuchung zu »la langue«
suchte, mußte der Strukturalismus ziemlich abstrakt erscheinen.
Als ich Anfang der fünfziger Jahre in die Vereinigten Staaten von
Amerika kam, wechselte ich zur Soziologie. Als Schüler von Alfred Schutz blieb ich geschützt vor einer Indoktrination durch den
Strukturfunktionalismus. [18]
Mit dem Strukturfunktionalismus und dem Strukturalismus sowie etwas später mit der generativen Grammatik hielt ein statisches und abstraktes Denken – weit entfernt von den Realitäten
des sozialen Lebens und der sozialen Kommunikation – Einzug in
die Soziologie bzw. Linguistik. Man schien sich, in Humboldtschen Begriffen, fast ausschließlich mit dem Aspekt des εργον
4
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
statt mit dem der ενεργεια von Sprache und sozialem Leben zu
befassen. In Anbetracht der Natur der von ihnen untersuchten
Wirklichkeit dachte ich, müßten diese Disziplinen sehr eng miteinander verbunden sein. Tatsachlich schien es jedoch, als würden
sie in separaten Universa existieren. Obwohl ich Soziologe geworden war, behielt ich ein starkes Interesse für die Sprache, ihre
Verwendungen und ihre Funktionen im menschlichen Sozialleben. Um so bedauerlicher fand ich es, daß die Soziologie, sowie
auch das, was unter der Bezeichnung »Sprachsoziologie« gehandelt wurde, aus der Perspektive der Linguistik nicht nur als naiv,
sondern gar als ignorant bezeichnet werden mußte. Umgekehrt
wirkten die zu gleichen Zeit entwickelten Vorstellungen über das
soziale Handeln und die soziale Struktur in der Linguistik – selbst
in der sich entwickelnden Teildisziplin Pragmatik –, milde gesagt,
etwas handgestrickt. Das war bis vor einem halben Jahrhundert
der Stand der Dinge für viele, wenn nicht die überwiegende Zahl
der Fachleute aus beiden Disziplinen.
Da ich kein Wissenschaftshistoriker bin, beabsichtige ich keineswegs, die Veränderungen in den Forschungsfeldern und die
gleichzeitigen Annäherungen nicht ganz nebensachlicher Teilbereiche der betreffenden Disziplinen in aller Ausführlichkeit darzulegen. Dennoch kann ich es mir nicht versagen, auf die Hauptursachen für diese Veränderung hinzuweisen, auf den Wechsel zu
dem, was verschiedentlich das Kommunikations-Paradigma genannt wurde.4 Ich bin mir nicht ganz sicher, welche Entwicklungen in der linguistischen Pragmatik beispielsweise zu dem Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Sprachtheorie und Sozialtheorie beigetragen haben. Ich glaube aber nicht, daß die in
diesem Zusammenhang häufig angeführte Sprechakttheorie einen
4
Meine Darstellung der Sprachsoziologie im Handbuch der empirischen
Sozialforschung heraus gegeben von Rene König berücksichtigt in der überarbeiteten Fassung von 1979 weit mehr diesbezügliche Veränderungen in der
Theorie und der Forschung als mein Beitrag in der Erstausgabe von 1969.
Zwar würdigte ich die Arbeiten von Gumperz und Hymes, Goffman, Garfinkel, Sacks, Schegloff und anderen, ließ aber Bakhtin und Volosinov außer acht.
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Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
bedeutenden Einfluß auf die Forschung gehabt hat. Anders verhält es sich, meiner Meinung nach, mit Michael Hallidays sogenannter funktionaler Linguistik, mit Herbert Paul Grice und vielen anderen, z. B. dem Sprachwissenschaftler Per Linnel und anderen Mitgliedern einer, von der [19] Reimer-Stiftung geforderten interdisziplinären Forschungsgruppe namens »Dynamics of
Dialogue« (u.a. Jörg Bergmann, Robert Farr, Carl Friedrich
Graumann, Ivana Marková, Ragnar Rommetveit)
Eine andere, etwas altere Quelle dieser Veränderung steht in einer
direkten Verbindung zu Humboldt. Erstaunlicherweise wurde
sein Denken in Rußland nicht so sehr vernachlässigt wie andernorts Alexander A. Potebnja hielt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das Interesse an Humboldts Auffassungen
lebendig (Potebnja 1862). Er stellt das Verbindungsglied zwischen Humboldt und den russischen Linguisten, Ethnologen und
Kulturwissenschaftlern – unter ihnen Roman Jakobson und vor
allem Michail M. Bakhtin – dar. Die »Entdeckung« von Volosinovs und Bakhtins Betonung des Dialogs und der Gattung veränderte zweifellos die herrschenden Lehrmeinungen im Westen
und forderte die Verbreitung eines dialogischen Ansatzes in der
Erforschung von Sprache und Gesellschaft.
In Frankreich trug die in der Verbindung von Emile Durkheim
und Antoine Meillet ausgebrachte Saat späte Fruchte, zunächst in
dem Werk von Claude Lévi-Strauss und später in den Arbeiten
von Pierre Bourdieu. In Nordamerika war das Programm einer
Ethnographie der Kommunikation, das John Gumperz und Dell
Hymes vor ungefähr vierzig Jahren vorgeschlagen haben, eine
frühe Quelle des Wandels im wissenschaftlichen Denken. Fast
gleichzeitig entstanden unter dem Einfluß des Werkes und der
Lehre von Alfred Schütz zwei weitere Grundpfeiler für die Etablierung des Kommunikationsparadigmas in der Sozialtheorie: die
Ethnomethodologie und ihr Ableger, die Konversationsanalyse,
sowie die sogenannte »Neue Wissenssoziologie« mit ihrem Abkömmling, der Gattungstheorie der Kommunikation.
6
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
Was sind nun die Annahmen, von denen ich denke, daß wir sie
in unseren Untersuchungen schlicht als gültig voraussetzen, so
daß sie als Trivialitäten erscheinen müssen, wenn wir sie jetzt zu
explizieren versuchten – während sie damals nichts als Verwunderung oder Ablehnung hervorgerufen hatten?
2. Ontologische und epistemologische Annahmen,
methodologische Konsequenz
Heute wie schon damals ist offensichtlich, daß die empirischen
Wissenschaften nicht ontologisch neutral sein können. Um einen
Untersuchungsgegenstand zu haben, müssen sie den allgemeinen
Grundsatz der [20] Weltgewißheit akzeptieren, wie er sich der
menschlichen Erfahrung darbietet, nämlich, daß sie wirklich ist,
trotz aller berechtigten Zweifel im einzelnen. Menschliche Erfahrung ist fehlbar, einzelnes, das sich als Faktum präsentiert, kann
illusorisch sein, aber die Gewißheit, daß die Welt da ist, kann
nicht ignoriert werden. Die menschliche Erfahrung für fehlbar zu
halten, ist nur sinnvoll unter der Bedingung, daß dieser Anspruch
akzeptiert wird. Der grundlegende Realismus der empirischen
Wissenschaften ist unveränderbar, was sich ändert, sind die Annahmen über die Realität der sozialen Welt.
Ich denke, daß die Sozialwissenschaften eine Welt menschlicher
Angelegenheiten erforschen, die nicht einfach beobachtet und
gemessen werden kann. Objektivität gründet in den Sozialwissenschaften nicht im gegenseitigen Einvernehmen der Mitglieder einer Forschergemeinschaft über »nackte« Tatsachen. Sie wird vielmehr in einer Übereinkunft über die wirklichkeitsschaffenden
Leistungen der Menschen in einer endlosen Abfolge von Generationen hergestellt. Menschliche Gesellschaften sind, so Helmuth
Plessner (1981), Lebensformen »natürlicher Künstlichkeit«. Die
das Leben in menschlichen Gesellschaften organisierenden Traditionen sind das kumulative Ergebnis langer Verkettungen gesellschaftlichen Handelns.
7
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
Der Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften ist folglich in
einem hervorragenden Sinne historisch. Das Universum, die Erde, die Lebewesen haben alle eine Geschichte, die unabhängig
von menschlichem Handeln ist. Die menschliche Gesellschaft ist
aber noch in einem anderen Sinne historisch. Im Zuge der Evolution entstand die menschliche Gattung als kleine Episode im Leben auf der Erde – die selbst wiederum nur ein unendlich winziger Teil des Kosmos ist Doch die menschlichen Sozialwelten sind
keine unmittelbaren Produkte der Evolution. Menschliche Gesellschaften sind das Ergebnis kontinuierlicher menschlicher Handlungen sowie der bewußten und unbewußten Folgen sozialen
Handelns, die sich niederschlagen in Traditionen, historischen
Kommunikationssystemen und institutionellen Strukturen. Traditionen, historische Kommunikationssysteme und institutionelle
Strukturen mögen weniger sinnlich greifbar erscheinen als Gebäude und Artefakte, sie sind jedoch ebenso wirklich. Sie entstehen nicht von selbst; sie werden wie Gebäude und Artefakte ebenfalls durch soziales Handeln geschaffen.
Gesellschaftliche Wirklichkeit setzt intentionales Handeln voraus.
Sozialwelten werden konstruiert, erhalten, übermittelt, verändert
und gegebenenfalls zerstört in und durch soziales Handeln, das
für die Handelnden sinnvoll ist. [21]
Interaktionen sind für die Handelnden dann sinnvoll, wenn sie zu
Ergebnissen führen, die mit ihren Intentionen übereinstimmen, aber auch in einem anderen, oftmals schmerzhaften Sinne, wenn die
Handlungsfolgen von den ursprünglichen Intentionen abweichen.
Handeln ist sinnvoll, gleichgültig ob die Brücken und die Ehen, die
für die Ewigkeit gebaut bzw. geschlossen wurden, halten oder nicht.
Die Sozialwissenschaften rekonstruieren als Wissen über die gesellschaftliche Wirklichkeit, was bereits als gesellschaftliche Wirklichkeit unabhängig von der Wissenschaft konstruiert wurde. Rekonstruiert werden kleine Ausschnitte ebenso wie größere Gesamtheiten,
kurze wie lange Episoden einer historischen menschlichen Sozialwelt.
Vieles von dem hier Gesagten war den Historikern und Philosophen langst bekannt, angefangen bei Thukydides und Vico, über
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Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
Montaigne und Montesquieu bis hin zu den Moralphilosophen,
und zu Adam Smith und Karl Marx. Eine systematische Ausformulierung der hier von mir in ihren Grundannahmen beschriebenen Position ließ dennoch bis zum zwanzigsten Jahrhundert auf
sich warten. Erst Max Weber und nach ihm Alfred Schütz legten
die wichtigsten epistemologischen und methodologischen Grundlagen für diese Position. Ihre Bemühungen, die Vorraussetzungen
der Sozialwissenschaften zu klaren, wurden vom sogenannten
»Mainstream« der Sozialwissenschaften und von der philosophischen Wissenschaftstheorie bis weit in die zweite Hälfte des letzten
Jahrhunderts gänzlich mißverstanden oder schlicht ignoriert.
In den Natur- und Sozialwissenschaften gibt es sicherlich schon
seit fünfzig Jahren kaum noch einen »Positivisten«, der an die
gottgegebene Reinheit von Fakten glaubt. Heute ist es eher unwahrscheinlich, daß jemand darauf beharrt, Daten einfach als gegeben anzusehen. Allgemein akzeptiert ist die Erkenntnis, daß
»Daten« »Fakten«, daß sie kommunikative Konstrukte sind. Es
gibt jedoch weder im Hinblick auf die ontologische Frage nach
dem Was, noch auf die epistemologische Frage danach, wie die
Daten genau konstruiert werden, eine allgemein akzeptierte Antwort Die eigentümliche Natur gesellschaftlicher Wirklichkeit
fuhrt dazu, daß gerade in den Sozialwissenschaften besonders heftig darüber gestritten wurde, wie diese Fragen beantwortet werden sollten Fast das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch blieben viele Philosophen und Fachleute aus den Sozialwissenschaften weiterhin fasziniert von den stark vereinfachenden und anachronistischen Vorstellungen über die Naturwissenschaften aus
dem neunzehnten Jahrhundert. In den Sozialwissenschaften
hangt die realistische Position – daß »Daten« kommunikative
Konstruktionen der Forscher sind, die auf direkter oder indirekter, d h. instrumentell vermittelter, Beobachtung beruhen – da[22]von ab, wie »Beobachtung« verstanden wird. Glaubt man,
daß das, was beobachtet wird, naturalistisch definiertes Verhalten
sei, landet man wieder bei den endlosen Schwierigkeiten, ja Tatsachenverdrehungen des Behaviorismus. Das kann man nur ver9
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
meiden, wenn man das Objekt der Beobachtung als soziales
Handeln und als historisches Ergebnis bestimmt. Daß die »Daten« der Sozialwissenschaften als kommunikative Konstruktionen
zweiten Grades bereits Ergebnisse sozialer, meist kommunikativer
Konstruktionen sind, bevor sie zu »Daten« werden, diese Ansicht
hatte es schwer, breite Anerkennung zu finden.
Es mag immer noch Kontroversen über methodologische Details
geben. Ich gehe jedoch davon aus, daß es heute zumindest ein
grundlegendes epistemologisches Einverständnis darüber gibt,
welche Art von Antworten auf die Fragen danach, wie und woraus »Daten« konstruiert werden, annehmbar ist. Die Antwort
muß auf der schlichten Voraussetzung beruhen, daß gesellschaftliche Wirklichkeiten das Ergebnis menschlicher Praxis über Generationen hinweg sind. Die Daten der Sozialwissenschaften – ebenso wie die der »klassischen« Geisteswissenschaften – sind Elemente solcher Wirklichkeiten. Wie sie also als wissenschaftliche
Daten zu behandeln sind, ist damit deutlich vorgezeichnet. Weil
sie als sinnvolle soziale Handlungen in einer historischen
Sozialwelt konstruiert werden, müssen sie als Daten so rekonstruiert werden, daß ihre wesentliche Sinnhaftigkeit und Geschichtlichkeit bewahrt und nicht zerstört werden.
Gewiß besteht nicht alle menschliche Praxis aus kommunikativem Handeln im überkommenen Sinne des Wortes. Man jagt
Tiere, bestellt Felder, errichtet Unterkünfte, zieht Kinder auf und
bekämpft Feinde. Wie diese einfachen Beispiele jedoch zeigen, ist
selbst nicht eigentlich kommunikatives Handeln in der Regel
durch kommunikatives Handeln geplant, eingeleitet, besprochen.
Manchmal ist nichtkommunikatives Handeln sogar, wie im Falle
der Säuglingspflege, der Anfang aller Kommunikation. Die
menschliche Sozialwelt wird zumindest überwiegend in kommunikativem Handeln hergestellt. Und eine Weltansicht, die alles
soziale Handeln motiviert und leitet wird ausschließlich im kommunikativen Handeln konstruiert. Die ontologische Voraussetzung
aller Sozialwissenschaften ist, daß menschliche Wirklichkeit histo10
Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
risch in sozialen Handlungen geschaffen wird, daß menschliche
Wirklichkeit im wesentlichen kommunikativ konstruiert ist.
Die Rekonstruktionen sozialer Realität sind definitonsgemäß
kommunikativ. Rekonstruktionen sind eine besondere Art kommunikativen Handelns auf der primären Ebene des sozialen Diskurses. Dort gehen sie in die kollektiven Erinnerungen von Familien, sozialen Gruppen und [23] Klassen, Institutionen und Gesamtgesellschaften ein. Auf der sekundären Ebene sind die Rekonstruktionen dagegen eine besondere Art kommunikativer Konstrukte, die Daten der Sozialwissenschaften hervorbringen. Wenn
dies alles offensichtlich scheint, heutzutage sogar trivial, so muß ich
betonen, daß dies zwei Generationen zuvor nicht der Fall war.
3. Die Allgegenwart kommunikativen Handelns
Die frühen Erfahrungen des Säuglings sind alles andere als passiv.
Die Beziehungen zu den Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung erreichen bald die Schwelle des wechselseitigen und wesentlich kommunikativen, wenn auch noch vorsprachlichen,
Handelns. Das Weinen, die Antwort der Mutter und die Reaktion des Kindes auf die Antwort, das Hätscheln und das BlickeWechseln usw., helfen dem Kind, sich der Reziprozität bewußt zu
werden. Mit der Erfahrung des Kindes, daß bestimmte Gesten
bestimmte Reaktionen auszulösen scheinen, beginnt es ein Wissen über objektive Bedeutungen zu akkumulieren und die
Schwelle zum kommunikativen Handeln im engeren Sinne
Schritt für Schritt zu überschreiten. (In einem weiteren Sinne ist
naturlich jede Interaktion kommunikativ, denn jede Handlung
vollzieht nicht nur etwas, sondern sie zeigt auch etwas an).
Das Gedächtnis, oder präziser ausgedrückt, die Sedimentierung visueller, auditorischer, taktiler, haptischer, olfaktorischer Erfahrungen
zum Anderen, der gesehen, gehört, berührt und gerochen wird, helfen dem Kind, seinen Körper nicht nur als Gefäß für äußere Eindrucke, sondern sich gerade in seiner Körperlichkeit als ein aktives
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Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
Wesen zu erfassen. Eine Menge Wissen über diese Zusammenhänge
wurde in den letzten drei Vierteln eines einzigen Jahrhunderts zusammengetragen.5 Der wesentliche Punkt ist, daß das Kind zunächst in eine Konversation der Gebärden verwickelt wird, dann in
einen genuinen Dialog, und dabei zunehmend zu einer Person reift,
wenn in ihm ein Verantwortungsgefühl für sein Handeln erwacht.
Der Alltag eines Erwachsenen besteht großenteils aus der
Verknüpfung sozialer Handlungen, die meistens kommunikativer
Natur sind Diese Interaktionen schließen an diverse kleine Projekte an, die häufig [24] Teil eines umfassenderen Plans für eine
Karriere, für eine anhaltende soziale Beziehung oder für ein ganzes Leben sind. Diese Projekte und Plane werden aus dem Vorrat
an Projekten und Plänen selektiert und adaptiert, die in einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit für gesellschaftlich
definierte Kategorien von Menschen verfügbar sind.
Solche Vorrate, »vocabularies and rhetorics of motives«,6 die umfassende Traditionsbestande für Lebensführungsstile darstellen,
sind natürlich nicht einfach Gegebenheiten. Es ist unnötig, die
allgemeinen und grundlegenden Annahmen zu wiederholen, daß
sie wie alle gesellschaftlichen Wirklichkeiten in und durch kommunikatives Handeln gebildet, erhalten und übermittelt werden.
Obwohl keine schlichten Gegebenheiten sind sie dennoch »da«
als Teil dessen, was als sozio-historisches Apriori bezeichnet werden soll und all das beinhaltet, was in seiner »natürlichen Künstlichkeit« den Ausgangspunkt für einen menschlichen Organismus
auf dem Weg seiner Menschwerdung bestimmt.
Kinder wachsen in verschiedenen Traditionen auf, ihre Handlungen werden durch verschiedene Institutionen geformt, sie eignen
5
6
Ich beabsichtige nicht, bei den einschlägigen frühen Theorien von Charles
Horton Cooley, George Herbert Mead, Alfred Schütz zu verweilen und
nehme an, daß ein Großteil der Forschungen von Mario von Cranach, Colin Trewarthen, Mary Rhinegold, Jerome Bruner und vielen anderen allgemein bekannt sind.
So lautet C. Wright Mills’ Ausdruck, den er von Kenneth Burke entlehnte.
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Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
sich verschiedene Sprachen und mit ihnen verschiedene »vocabularies and rhetorics of motives« an. Unterschiedliche kommunikative Vorräte und unterschiedliche kommunikative Gattungen
prägen ihr Sprechen und ihr Schweigen. So wie Institutionen lediglich einige soziale Handlungen regulieren, sind auch die
kommunikativen Gattungen nur ein Teil des kommunikativen
Vorrats, der allen Mitgliedern einer Gesellschaft gemeinsam ist.
So, wie es Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gibt, die relativ
frei von institutionellen Zwängen sind, so gibt es in jeder Gemeinschaft auch relativ spontane kommunikative Vorgänge. Dennoch
sind Institutionen Indikatoren für die besonders relevanten Probleme des Lebens in einer bestimmten Gesellschaft. Die kommunikativen Gattungen stellen analog Antworten auf grundlegende
Probleme der Kommunikation in einer Gesellschaft bereit.
Die Stabilisierung kommunikativer Muster und deren Verschmelzung zu unterschiedlichen Gattungen haben das selbe Ziel wie die
Institutionenbildung: Entlastung, d h Befreiung vom Zwang zur
Improvisation angesichts sich wiederholender Kommunikationsprobleme. Wie, wann und wem können unterschiedliche Aspekte
vergangener Ereignisse und Handlungen sowohl der courte durée
oder der longue durée für unterschiedliche Ziele optimal kommuniziert werden? Wie kann kollektives Handeln geplant werden? Wie
sollen aufeinanderfolgenden Generationen Vorstellungen von Gut
und Böse vermittelt werden? Diese drei zentra-[25]len Themenbereiche der Kommunikation, die wichtig sind für die Schaffung und
den Erhalt der sozialen Ordnung sowohl in einer funktional gegliederten Gesellschaft als auch in den auf Zusammenleben, auf Ideen und auf Gefühlen gegründeten Gemeinschaften, aus denen
sich Gesellschaften zusammensetzen. Kommunikative Gattungen
werden in allen Gesellschaften mit ihnen assoziiert.
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Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
4. Nochmals Methodologie
Wenn gesellschaftliche Wirklichkeit in kommunikativem Handeln
konstruiert wird, und wenn kommunikatives Handeln das Sozialleben durchdringt, dann stammt unser zuverlässigstes Wissen über
diese Wirklichkeit von den Rekonstruktionen dieser Prozesse. Das
elementare Problem der Analyse kommunikativen wie allen sozialen
Handelns ist jedoch die Transformation kommunikativer Prozesse
in analysefähige Daten.7 Diese Schwierigkeit mag erklären, warum
in den Sozialwissenschaften Daten anderer Art bevorzugt werden.
Gegenüber dem Strom der Handlungs- und Kommunikationsvorgänge erscheinen die quasi-objektiven Produkte dieser Vorgänge als
stabil und lassen daher sowohl beschauliche als auch überprüfbare
Analysen zu. Die methodologische Vorliebe der Sozialwissenschaften für Kunst und Artefakte, Versicherungsstatistiken und Grundbücher, Dokumente und andere »materielle« Objekte beruht auf
der Annahme, daß Vorgänge nicht exakt beschrieben werden können, und daß die subjektiven Komponenten des Vergänglichen
nicht objektivierbar sind. Die methodologische Neigung, die sich
aus den technischen Schwierigkeiten ergibt, soziales Handeln als
Handeln und nicht erst als vollzogene Handlung festzuhalten, verzerrt die theoretische Auffassung menschlicher Wirklichkeit.
Das letzte Glied in der Kette von Ereignissen, die während meines Lebens so viele Annahmen und Verfahren der Forschung über
die Gesellschaft und die Sprache veränderten, stellt die wissenschaftliche Verwendung einer technologischen Innovation dar.
Die Möglichkeit einer genauen Analyse der Vorgänge, in denen
all die mannigfaltigen materiellen und immateriellen Produkte
sozialen Handelns geschaffen werden, hängt von der Möglichkeit
des »Einfrierens« dieser Vorgange für eine spätere, wiederholbare
Überprüfung ab (vgl. Bergmann 1985). Diese Möglichkeit wurde
vor weniger als einhundert Jahren zu einer [26] Tatsache. Die systematische Verwendung der Entwicklungen, die eine auditive
7
Im folgenden nehme ich einige Punkte aus Luckmann (1999) auf.
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Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit
und später auch visuelle Aufnahme solcher Vorgange erlaubten,
begann jedoch in den Sozialwissenschaften erst viel später.
Die Analyse von Produkten sozialen Handelns – von Nahrungsmitteln, Kleidern und Werkzeugen über Fabriken, Kirchen, Gefängnissen und Friedhöfen bis hin zu Gesetzvorschriften, Geburtsregistern, Musikpartituren und Belletristik – wird gewiß
weiterhin grundlegend bleiben für das Verstehen sozialer Wirklichkeit Letztendlich sind sie das, was menschliche Kommunikation und soziales Handeln zu schaffen beabsichtigen. Dank der
neuen Technologien befinden wir uns jedoch seit einigen Jahren
in einer zunehmend besseren Lage und können die Analyse von
den »Produkten« und ihren »Konsumtionsweisen« nun auf die
»Produktionsprozesse« selbst lenken, d.h. auf eine Untersuchung
der Handlungen und der Dialoge als Bestandteilen – und zugleich
als Informationsquellen – der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Literatur
Bergmann, Jörg (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer
Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Wolfgang Bonß/Heinz Hartmann (Hrsg.) Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung sozialer Forschung Soziale
Welt, Sonderheft 3, S. 299-320.
König, Rene (1979): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 13
Sprache – Künste Stuttgart.
Kuhn, Thomas S. (1966): The Structure of Scientific Revolutions. Chicago.
Luckmann, Thomas (1999): Remarks on the Description and Interpretation of Dialogue. International Sociology 14, 4, S. 387-402.
Potebnja, Alexander A. (1862): Mysl’l jazyk. Nachdruck Kiew 1993.
Plessner, Helmuth (1981): Gesammelte Schriften, Bd. 4. Die Stufen des
Organischen und der Mensch. Frankfurt a. M.
Humboldt, Wilhelm von (1836): Einleitung zum Kawiwerk Paralipomena.
Gesammelte Schriften, Bd. 7. Hrsg. von Albert Leitzmann Nachdruck: Berlin 1968
Nachweis: Thomas Luckmann, 2006a. Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, in:
D. Tänzler, H. Knoblauch & H.-G. Soeffner (Hg.), Neue Perspektiven der Wissenssoziologie,
Konstanz: UVK, 15-26.
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