14 Kolumnentite TCM und Schulmedizin Die Diagnose und der Therapieerfolg werden in der Modernen Medizin (MM) meist exakt in Zahlen gemessen und Strukturen zugeordnet. Die moderne Medizin diagnostiziert oft invasiv und behandelt ein erkranktes Organ direkt. Diagnostisch werden schädigende physikalische und chemische Noxen analysiert, die Mikrozirkulation wird betrachtet, ein Hormonstatus bzw. weitergehende Laboruntersuchungen und vieles mehr werden durchgeführt. Die TCM diagnostiziert Symptome, sie benützt eine nicht-invasive, also indirekte Diagnostik. Sie stellt zum Beispiel einen Tumor nicht bildlich dar, diagnostiziert ihn aber z. B. durch Unregelmäßigkeiten im Organ- und Meridiansystem bzw. durch mehrere zusammenhängende Modalitätsveränderungen. Die TCM legt seit jeher sehr großen Wert auf die Verbesserung der „soft data“ (Linderung des Leidensdruckes, Beseitigung von Befindlichkeitsstörungen), um die Lebensqualität zu verbessern. In diesem Buch konzentrieren wir uns auf die Möglichkeit mehr für unsere Patienten zu tun. Besteht eine manifeste Erkrankung, wird erst nach Erstellen einer exakten Diagnose im Sinne der MM nach „State of the Art“ therapiert. Zusätzlich kann aber die TCM den Heilungsverlauf unterstützen. Findet die MM keine messbare Pathologie und kann daher auch keine Therapie anbieten, so eröffnet die TCM viele Möglichkeiten, den Leidensdruck, dem der Patient ja unterliegt, zu beseitigen oder/und als Prophylaxe eine manifeste Erkrankung zu vermeiden. In diesem Buch sind viele Konzepte dafür angegeben. Bis heute diskutieren die Fachleute in China kontroversiell. Wir nehmen diese als Anregung, nicht als fixe Ideen. Beginnen wir mit einer genaueren Betrachtung der zwei Medizinsysteme. Unterschiede und Gemeinsamkeiten Traditionelle chinesische Medizin (TCM): Moderne Medizin (MM): Schwerpunkt Schwerpunkt liegt auf den Phänomenen liegt auf reproduzierbaren, objektiven der Zeit und den Erscheinungen (Xiang 象). Befunden. Störungen werden meist den konkreten Strukturen zugeordnet. (Xing 形). Diagnostik Nicht invasiv, nicht apparativ, indirekt; Blackbox, Phänomenologie, Vermutung, Analogieschlüsse mit Hilfe von philosophischen Modellen: Yi jing 易经, Dao de jing 道德经, Huang di nei jing 黄帝内经 etc. invasiv, apparativ; direkte, konkrete Strukturen, Analyse mit Hilfe experimenteller, naturwissenschaftlicher Verfahren. Internationaler Standard der Diagnose. Z. B. ICD 10. TCM und Schulmedizin 15 Therapie­ ziel Verbesserung der subjektiven Lebensqualität, Wiederherstellung des Yin/YangGleichgewichtes Wiederherstellung des objektiven Normalbefundes (Labor, Röntgen etc.) Konzepte Meridian als Netzwerk eines Verbindungsund Versorgungssystems. Für den Meridian gibt es keine spezifische organische Struktur. Organdefinition nur grob makroskopisch, topographisch mit der MM vergleichbar, ihre Physiologie und Pathophysiologie wird mit medizinisch-philosophischen Modellen wie Yin/Yang und Analogien wie 5-Elementelehre umschrieben. Qualifizierung (Modalität) wie in der Psychiatrie: sehr individuell, subjektiv gefärbt. peripheres Nervensystem/Gefäßsystem inkl. sympath. Nervenverbindung/ Muskelkette/interstitielles Bindegewebe (Pischinger/Kellner). Physiologie und Pathophysiologie stehen mit Struktur und Form in Verbindung. Quantifizierung wie in Physik und Chemie: die Inhomogenität wird mit der Statistik untermauert. Die Diagnose und die Basistherapie sollten immer zuerst nach der Evidence Based Medicine erfolgen. Die TCM-Anwendungen wie Kräuter und Akupunktur können dann als adjuvante Heilverfahren angewendet werden. Als Besonderheit der TCM wollen wir uns im Folgenden noch das „Frühwarnsystem“, die Warnsignale vor dem „Manifestwerden“ einer Erkrankung, kurz ansehen. Die Wurzeln finden sich schon in den klassischen Werken wie: Dao de jing 道德经, 陈忠译评, 吉林文史出版社, 1999. Huang di nei jing su wen 黄帝内经素问, Verlag Volksgesundheit China, 1963. Ling shu jing bai hua jie 灵枢经白话解, 陈璧琉, 郑卓人 劭华文化服务社, 1973. Frühwarnsystem (Warnsignale vor dem Ausbruch einer Erkrankung) (Tang Gu sheng 唐古胜 in „Zhonghua Yangsheng Baojian 中华养生保健“, Beijing, China, 12. 2003). Die Warnsignale vor der Manifestation einer Erkrankung sind in zwei Stufen zu erkennen. Am Anfang stehen meist unspezifische Befindlichkeitsstörungen. In den weiteren Kapiteln: Subhealth (SH 亚健康康学基础 2009), Wei bing (noch nicht krank 中医治未病 孙涛, 何清湖 2010) und Konstitutionstyp nach Wang qi (中医体质学 王琦 2008) werden wir ebenfalls auf diese Idee des Frühwarnsystems eingehen. Stufe 1: Disharmonie des Yin/Yang-Gleichgewichts, der Qi/Xue-Harmonie und der Harmonie der Organfunktionen. Symptome sind: ¿ Mehr Müdigkeit als gewöhnlich. ¿ Nervosität, Vergesslichkeit, unklare Gedanken, kann nicht locker lassen. ¿ Kopfschmerzen, Muskelverspannungen und Krämpfe, lokale Sensibilitätsstörungen. ¿ Plötzliche Appetitzunahme, Verdauungsstörung, Verlangen nach Süßigkeiten und stark Gesalzenem. 16 Kolumnentite ¿ Husten, Niesen. ¿ Feuchtes Hitzegefühl oder Frösteln. Vermehrte Missgeschicke, Depression, Nie- dergeschlagenheit. ¿ Abnormale Gewichtszunahme. Stufe 2: Anhäufung von Giftstoffen und Störung im endokrinen System. Symptome sind: ¿ Abnorm riechende Atemluft bzw. Körpergeruch, bitterer Mundgeschmack und Mundtrockenheit. ¿ Schwellung der Nasenschleimhaut, häufiges Niesen, Husten, leicht verkühlt, Dyspnoe. ¿ Trockene bzw. fettige Haut, neigt zur Urtikaria. ¿ Starkes Hitzegefühl im Körper, Schwitzen ohne Grund, feuchte Hände und Füße. ¿ Schluckauf, Meteorismus, Obstipation, Diarrhoe und Brechreiz. ¿ Dysmenorrhoe, abnormer Ausfluss bei Frauen, rezidivierende Entzündungen (Blase, Bronchien etc.). ¿ Rezidivierende Kopfschmerzen, Gelenks- und Muskelschmerzen, schmerzhafte Steifigkeit der Wirbelsäule, chronische Dorsalgie. ¿ Pollakisurie, Oligurie, Brennen bei Miktion, Ödeme an den Extremitäten. ¿ Schwere Depression, Ängste, Unbeherrschtheit des Gemüts, Zorn, Agitiertheit. ¿ Adipositas, Hypercholesterinämie, arterielle Hypertonie, Hyperurikämie, Hyperglykämie, häufige Missgeschicke. ¿ Unruhiger Schlaf. In diesen Fällen sollte man den Arzt aufsuchen und nach Diagnose und Therapie mit ihm gemeinsam eine Änderung der Lebensweise vornehmen. Prävention und Rehabilitation Die TCM-Prophylaxe (Yang sheng 养生) beginnt vor einer Erkrankung; wenn bereits eine Störung vorliegt, dann verhindert die TCM eine Verschlimmerung. Nach dem Ende einer Krankheit sind Maßnahmen zur Verhütung des Rezidivs zu ergreifen. Die Besonderheit der TCM-Prophylaxe besteht in ihrem Konzept der Ganzheitlichkeit von Mensch und Natur, von Körper und Geist. Essenz (Jing 精), Vitalenergie (Qi 气) und Geist (Shen 神) werden als die 3 Schätze des Körpers angesehen. Die Individualität der Prophylaxe richtet sich nach Person, Jahreszeit, Lebensalter etc. Das Gleichgewicht zu erhalten bedeutet, die Dynamik von Yin/Yang im Körper und des Körpers als ein offenes System mit der Änderung in der Natur in Einklang zu bringen. Das Erhalten des dynamischen Gleichgewichts zwischen Blut (Xue 血) und Vitalenergie (Qi 气) im Körper verlangt vom Körper Energieeinsatz. Auch das Erhalten des dynamischen Gleichgewichts von Zang- und Fu-Organen ist ein wichtiger Aspekt der TCM-Prophylaxe und Alterspflege. TCM und Schulmedizin 17 Die Ganzheitlichkeit der Gesundheit Die Ganzheitlichkeit bedeutet, dass der Mensch mit der Umwelt in Wechselbeziehung steht (Tian ren he yi 天人合一, Tian ren xiang ying 天人相应). Mit dem philosophischen Begriff Qi (Atmosphäre, Atmung, Funktion, Information, Vitalenergie, Energieteilchen etc.) beschrieben die alten Ärzte Chinas die Phänomene der Natur, der Jahreszeiten etc. Der Mensch lebt in der Natur, seine Vitalität wird durch den Rhythmus der Natur beeinflusst (Frühjahrsmüdigkeit) und gleichzeitig hat die Physiologie, Pathophysiologie des menschlichen Körpers Ähnlichkeiten mit den Gesetzen der Natur (z. B. der Monatszyklus der Frau). Der Mensch nutzt aber auch die Natur für seine Existenz (Atmung, Ernährung) etc. Bei einem Patienten mit einem chronischen Leiden der Syndrome einer Yang-Leere (entspricht etwa einer vegetativen Dystonie) ist, wenn im Herbst und Winter die Symptomatik sich verstärkt, eine Kurbehandlung im Frühling und Sommer günstiger als im Herbst und im Winter. Wenn das chronische Leiden dem Syndrom einer Yin-Leere entspricht (etwa ein schlechter Allgemeinzustand), mit Verschlimmerung im Sommer und im Frühjahr, dann ist eine Kurbehandlung im Herbst oder Winter effektiver als im Frühjahr und im Sommer. Die Vitalitätsbasis stärken Eine wichtige Vitalitätsquelle ist die verdaute Nahrung. Nach der TCM werden Milz (Pi 脾) und Niere (Shen 肾) als die Lebensbasis nach der Geburt bezeichnet. In der Niere wird der Vitalstoff der Essenz (Jing 精) ständig erneuert. Die Milz und der Magen werden bei chronischen Krankheiten und auch im Alter schwächer, empfindlicher, ihre Aufgabe der Nährstofferzeugung (Ying qi 营气, Nahrungs-Qi) wird ungenügend erfüllt. Die meisten Tabletten werden oral eingenommen. Magen- bzw. Darmprobleme sind aber im Alter oft der Grund, ein Medikament abzusetzen. Mit Recht, denn die Medikamente schaden vor allem dem Verdauungstrakt. Deshalb ist die Minimierung der Tabletten im Alter ganz wichtig. Die TCM kennt eine Vielzahl von Maßnahmen, um Magen und Milz zu schonen bzw. zu tonisieren. Prävention Die beste Prävention besteht im rechtzeitigen Erkennen der Frühwarnsysteme im Körper und im Einleiten von Gegenmaßnahmen. Der gute Arzt heilt im subklinischen Stadium einer Krankheit und beugt Folgeerkrankungen vor. Aus der 5-Elementelehre kann z. B. der erfahrene Arzt ableiten, dass bei einer Erkrankung der Leber die Milz als nächstes erkranken kann (das Holz/Leber – Gan hemmt die Erde/Milz – Pi). Daher gilt es, schon vorbeugend die Milz zu schützen. Die Änderungen der Jahreszeiten 18 Kolumnentite birgt für alte Menschen typische Gefahren. Daher sollte man im Sommer das Yang kräftigen, im Winter das Yin stärken. Der Asthmatiker, der in den kalten Jahreszeiten mehr Beschwerden hat, sollte sich schon im Sommer in Behandlung (z. B. Akupunktur, Tuina) begeben, um sich im Winter besser zu fühlen. Zu den Techniken des Yangsheng („Lebenspflege“) gehören: Akupunktur, Tuina, Qigong, Moxibustion, Diät, ferner ein dem Alter, der Jahreszeit, dem Gesundheitszustand angepasstes Verhalten. Individualität in der Prävention und Therapie Die Kurmaßnahme sollte sich immer dem aktuellen körperlichen und psychischen Zustand anpassen: Zarte Massagegriffe für den geschwächten Körper und eher starke Griffe und Reize bei kräftigem Körperbau. Denn die zarte Massage – hier verspürt der Patient gerade den Massagereiz – bewirkt eine Kräftigung des geschwächten Gesundheitszustandes. Die kräftige Massage – hier toleriert der Patient gerade die Reizstärke – hingegen löst einen starken regulierenden Impuls aus. Eine rasche Besserung ist davon zu erwarten. Steigerung der Abwehrkraft Zheng qi 正气 Zheng qi 正气 bedeutet die Summe der Abwehrkräfte im Körper. Eine Stärkung des Zheng qi hat eine Steigerung des Selbstheilungspotenzials und die Anpassungsfähigkeit des Körpers an eine Änderung des inneren und äußeren Milieus zur Folge. Im Falle einer Therapie können wir durch Steigerung der Selbstheilungskraft diese zur Ausschaltung pathogener Noxen nutzen. Wenn das Zheng qi 正气 stark ist, dann wird der Körper mit einer Noxe (Xie qi 邪气) leichter fertig. Sonne, Luft, Heilwasser und Nahrung sind innere Anwendungen, sie sind für die Substitution wichtig. Sport, Massage, Musik, Gespräche, Freizeitangebote, Farbe des Raumes, Farbe des Essens, Aroma etc. sind äußere Anwendungen, sie sind für die Regulation und für die Umstimmung wichtig. Aus dem Buch der Wandlungen (Yi jing 易经) leiten sich viele TCM-Konzepte ab, so auch das chronomedizinische Konzept. Die Zeit, die fünf Wandlungsphasen, die Lehre von Yin und Yang bilden ein Komplexsystem der TCM. Erweiterung der Akupunktur-Indikation in Österreich Funktionelle, reversible Störung etwa ab 1950 Schmerzstörung ab 1972 Psychosomatische Störung etwa ab 1990 TCM – Subhealth, Neurasthenie/CFS etwa ab 2005 TCM und Schulmedizin 19 Die Erweiterung der Indikation Akupunktur (und anderer TCM-Maßnahmen) im Westen ist eine Chronologie der Erfolgsgeschichte: Um 1950 entstanden die meisten ärztlichen Gesellschaften der Akupunktur; 1972: Gründungsjahr Ludwig Boltzmann Institut für Akupunktur (LBIA) mit Schwerpunkt Schmerztherapie; um 1990: LBIAAmbulanz (Kaiserin Elisabeth Spital Wien) und Ärzte mit österreichischem Ärztekammer-Diplom für Akupunktur, die in ihrer Praxis vermehrt psychosomatische Indikationen therapieren. 2007: 2. Internationales Johannes Bischko Symposium in Wien, Thema: Psychosomatik zwischen Ost und West; 2005 Fachbuch zum Thema „Gesundheitsvorsorge mit TCM“ von A. Meng im Springer Verlag publiziert. Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts fokussierte sich die TCM in China auf Gesundheitsvorsorge. Professor Wang Yu xue 王育学 von der Qingdao University Medical College publizierte im Juni 2002 das erste Buch in China zum Thema Subhealth: „Sub-Gesundheit im 21. Jahrhundert: ein neues Konzept der Gesundheit“, „亚健康 21 世纪健康新概念“. Seit 2004 ist in der TCM Subhealth eine neue Forschungsdisziplin geworden. Führend sind TCM-Zentren, neben Beijing auch in Guangdong, Shanghai und Sichuan. Sun tao, ein westlich ausgebildeter Arzt aus Sichuan, leitet seit Januar 2006 „The Specialty Committee of Subhealth“ im Rahmen der World Federation of Chinese Medicine Societies (WFCMS). Synonyme in China: Noch keine Erkrankung (Wei bing 未病); Subhealth (Ya jian kang 亚健康); Gesundheitspflege (Yang sheng 养生, Bao jian 保健) und viele mehr. Die aktuelle Lebenserwartung liegt für Männer bei 70 und für Frauen bei 74 Jahren. Die Lebenserwartung in Gesundheit im Überblick (subjektiver Gesundheitszustand) wird nach Kategorie (sehr) gut, mittelmäßig und (sehr) schlecht eingeteilt. Im Jahr 2006 ergab sich ein Durchschnittsalter bei Männern von 77,1 Jahren. Subjektiver Gesundheitszustand: (sehr) gut: 61,7 mittelmäßig: 11,4 und (sehr) schlecht: 4,0. Durchschnittsalter bei Frauen: 82,6 Jahre. Subjektiver Gesundheitszustand: (sehr) gut: 63,2, mittelmäßig: 14,6 und (sehr) schlecht: 4,8 (Quelle Statistik Austria). Aus diesen Statistiken sehen wir, dass die Lebenserwartung wesentlich von dem Entwicklungszustand eines Landes abhängt. Die Früherkennung und Behandlung von Krankheiten, die Maßnahmen zu PR eines gesunden Lebensstils kosten dem Staat viel Geld. Die TCM ist im Vergleich zur modernen Medizin im Allgemeinen wenig kostenintensiv. Daher ist ihre Anwendung für mehr als 90 % der Bevölkerung Chinas wichtig. Im Westen können wir mit TCM-Konzepten den subjektiven Gesundheitszustand der Bevölkerung optimieren. In dem folgenden Beitrag will ich im Rahmen der westlichen Gesundheitsversorgung die traditionell chinesische Medizin einbringen. 20 Kolumnentite Subhealth (SH 亚健康) und Prävention nach der TCM Vorbeugung wird immer wichtiger im heutigen sozialmedizinischen System. Eine Krankheit gar nicht entstehen zu lassen, ist kostenmäßig um vieles günstiger als sie zu behandeln. Die auf labormedizinischen, bildgebenden Befunden basierende moderne Vorsorgemedizin leistet viel. Die TCM kann gerade auch hier einiges dazu beitragen, aus ihrer Besonderheit der nicht-apparativen, nicht-invasiven, nicht labor- oder morphologisch orientierten Vorgangsweise bei der Beurteilung von Gesundheit und Krankheit. Im vorliegenden Werk gehen wir auf diese Besonderheiten der TCM-Konzepte ein. TCM hat eine reichhaltige Erfahrung basierend auf ihren starken philosophisch-kulturellen Wurzeln. Es gilt, die mikrokosmischen Vorgänge im Körper mit den makrokosmischen Erscheinungen der Umwelt und den Kosmos im Sinne der Analogie zu verstehen. Die Ganzheitlichkeit der Gesundheit setzt das Wohlbefinden von Körper und Psyche voraus. Die Vorgänge im Körper stehen dabei in enger Wechselwirkung mit seiner Umgebung wie Witterung, Landschaft, Wasser, Luft usw. Auch die Zeit, Jahreszeit, Tageszeit etc. beeinflusst Körper und Psyche. Gesundheit Vorsorge Subhealth 亚健康 Krankheit Fließende Übergänge von Gesundheit zu Krankheit und umgekehrt Das Leben besteht im Wesentlichen aus zwei Aspekten. Erstens der Xing 形 Körper, bestehend aus Zang fu 脏腑, das entspricht den Eingeweiden, dem Gewebe, den Organen etc. Zweitens 神 Geist, Spirit und die Physiologie im Allgemeinen. In der chinesischen Medizin wird die Gesundheit definiert als die dynamische Ausgeglichenheit (阴平阳秘, Yin ping yang mi) zwischen den Aspekten Yin (Substrat, Körper, Parasympathikus etc.) und Yang (Funktion, Geist, Sympathikus etc.). 73 Spezielle Zeiteinteilungen Subhealth (SH 亚健康) und Prävention nach der TCM Die Beziehung der vier Jahreszeiten zum Yin/Yang-Modell 21 Lixia, Sommerbeginn ➞ Chunfen, Frühling, Tag- und Nachtgleiche Xiazhi, SommerSonnenwende Lichun, Frühlingsbeginn Liqiu, Herbstbeginn Yang steigt auf Lidong, Winterbeginn ➞ Qiufen, Herbst-, Tag- und Nachtgleiche Dongzhi, WinterSonnenwende Yin sinkt ab Das klassische Taiji-Bild, zwei S-förmige ineinander verschlungene Fische mit Augen Das klassische Taiji-Bild, zwei S-förmige ineinander verschlungene Fische mit Augen Neun Paläste, die Sechs Kosmischen Perioden DasDie Symbol heißt Taiji-Zeichen und zeigt einen Yang-Fisch und einen Yin-Fisch in eiDie „Neun Paläste“(Jiugong, nach dem Houtian Bagua) und die 6 kosmischen, ner kreisenden Bewegung. Hier im Bild unten links bei 7 Uhr wird der Spätwinter mit energetischen, jahreszeitlichen Perioden geben uns eine schöne Übersicht, wie Beginn des Frühlings dargestellt; bei 13 Uhr finden wirsich den Spätsommer mit HerbstJahreszeiten, Organfunktionen, Himmelsrichtungen dynamisch verhalten. Es handelt um ein sog. 4folgen D-System plus die beginn. Diesich 4 Jahreszeiten einer(Dreidimensionaler Ordnung, einem Raum Rhythmus. Sozeitliche ist auch in Veränderung). unserem Körper die Harmonie bzw. der Rhythmus zwischen Ruhe und Aktivität für das Wohlbefinden wichtig. Die Gesundheit stellt somit eine dynamische Harmonie Lixia Xiazhi Liqiu zwischen Geist und Körper und ihrem sozialen Umfeld dar. Das alles muss noch im Sommerbeginn Sommer-Sonnenwende Herbstbeginn 5.–7. Mai 21.–22. Juni 7.–9. Einklang mit4 der Jahreszeit und9 dem LebensraumAugust erfolgen. 2 Südwest Südost des Menschen Süd Die Gesundheit ist laut WHO „ein Zustand des vollständigen körperXun Li Kun lichen, geistigen und sozialenHerz Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von KrankQiufen heit oderChunfen Gebrechen.“ Frühling-, Tag- und Herbst-, Tag- und Nachtgleiche Krankheit ist die Störung derMitte Funktion einesNachtgleiche Organs, der Psyche oder des gesam20.–22. März Milz 22.–24. September 3 7 wird unter anderem beeinflusst ten Organismus. Das Auftreten5 dieser Krankheiten Ost West Zhen Dui durch Risikofaktoren (Stressoren), welche die Wahrscheinlichkeit von Krankheiten Leber (links) Lunge (rechts) und Verletzungen erhöhen und Schutzfaktoren, welche die Wirkung der RisikofaktoLichun Dongzhi Lidong ren beschränken. statistische Klassifikation der Krankheiten und Frühlingsbeginn Als Internationale Winter-Sonnenwende Winterbeginn 3.–5. Februar 21.–23. Dezember 7.–8. November verwandter 8Gesundheitsprobleme gilt der ICD-10-Code in der Version 2010. Er stellt 1 6 Nordost Nord Nordwest das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin Gen Kan Qian Niere dar. In der ICD-Klassifizierung erfolgt die Einteilung nach Erbkrankheiten, Infektionskrankheiten, Kinderkrankheiten, Unfällen und Verletzungen, Vergiftungen, Verätzungen, Verbrennungen, Degenerativen Erkrankungen, Autoimmunkrankheiten, Tumorkrankheiten, iatrogenen, psychischen Erkrankungen, sozialen Krankheiten, Zivilisationskrankheiten und Mangelerkrankungen. 22 Kolumnentite Subhealth ist die fließende Übergangszone zwischen Krankheit und Gesundheit, sehr ähnlich dem uns bekannten subklinischen, prodromalen Stadium, quasi die Inkubationszeit zwischen rein funktionellen Störungen und einer evtl. organischen Ursache, und entzieht sich oft lange einem sicheren Nachweis. Unter primärer Prävention versteht man die Förderung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheit. Die sekundäre Prävention, auch präklinische Phase genannt, bezeichnet die Früherkennung einer Krankheit. Die tertiäre Prävention bedeutet, bei eingetretener Krankheit das Fortschreiten dieser Krankheit zu verhindern oder zu verlangsamen bzw. Rezidive (z. B. Reinfektion) zu verhindern. Rehabilitation und kurative Medizin (Vorschlag der „Commission on Chronic Illness“ 1955) kennzeichnen diesen tertiären Ansatz. Befindlichkeitsstörungen ohne krankhaften Befund (funktionell, psychovegetativ wie z. B. vegetative Dystonie, larvierte Depression, Neurasthenie, chronische Erschöpfung, etc.), bedeuten Einschränkungen des leiblichen oder seelischen Wohlbefindens, aber ohne objektivierbaren medizinischen Krankheitswert. Oft besteht ein rein subjektiver Leidensdruck. Symptome ohne messbare pathologische Befunde können sich in praktisch allen Organsystemen äußern. Die Beobachtung von Gesundheit und Krankheit erfolgt ausschließlich anhand von körperlichen, psychischen und sozialen Symptomen. Bei genauer Betrachtung des Leidensdrucks können wir zwischen rein seelischen Beschwerden, rein körperlichen Beeinträchtigungen sowie einem psychosomatischen (bzw. psychosozialen) Mittelfeld unterscheiden. Häufig überwiegen bei funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen körperliche Beschwerdebilder. Subhealth ist ein wichtiger Aspekt der Volksgesundheit, auch in China, geworden. Die TCM kann hier enorm viel zum rechtzeitigen Erkennen und Therapieren von präklinischen Erscheinungen beitragen. Erkennen von Subhealth (SH) 亚健康 SH ist nach Definition der TCM also ein Stadium zwischen Gesundheit und Krankheit. In der TCM verwendet man gerne die alte Bezeichnung Wei bing (noch nicht krank, 未病). Zwei Ebenen gilt es zu unterscheiden: eine „gerade noch gesund“ und die zweite „gerade schon erkrankt“. Betroffene Personen zeigen Defizite in ihrer Leistung und Anpassung, aber erfüllen noch nicht die Kriterien einer Krankheit. Hier ist eine unspezifische, allgemeine Prävention wichtig, die dem Alter und der Jahreszeit sowie dem Geschlecht angepasst sein muss. Ein individuelleres Therapiekonzept muss erfolgen, wenn die zweite Ebene erreicht ist, das heißt, wenn eine Differenzierung in Syndrome und in eine sog. Typologie erkennbar ist. Hierfür stehen diverse individuelle TCM-Maßnahmen zur Verfügung, die aber noch nicht als Therapie zu werten sind. Subhealth (SH 亚健康) und Prävention nach der TCM 23 Im Speziellen gilt es, das Fortschreiten und Überspringen von einem Organsystem auf andere Systeme zu vermeiden. In Suwen 素问, erstes Kapitel, zweite Frage „Si qi tiao shen da lun di er 四气调神大论第二“, steht: „Shang gong zhi wei bing 上工治 未病, der gute Arzt praktiziert die Prävention bzw. vermeidet das Fortschreiten der Krankheit“. Der gute Arzt behandelt die Erkrankung der Leber durch Stärkung der Milz, weil er aus der 5-Elementelehre weiß, dass bei einer Progredienz die Milz als nächstes Organsystem erkranken wird. Wenn sich jemand in Rekonvaleszenz befindet, heißt das, er wird wieder gesund. Der angestrebte Zustand der Stabilität kann durch individuelle TCM-Maßnahmen rascher wieder erlangt werden. „Subhealth is a state between health and disease. People who are in this state present with decreased activity an adaptability but without symptoms meeting to the criteria of disease confirmation.“ Wenn wir bei körperlichen Routineuntersuchungen pathologische Symptome (mit Substrat) entdecken, dann sprechen wir von einer Erkrankung. Nach der TCM-Differenzialdiagnose entspricht SH am ehesten einem „Leere-Syndrom“ Xu zheng 虚证. Demnach können wir mittels der klassischen, nicht apparativen Untersuchungen wie Anamnese, Inspektion (Zunge u. a.), Palpation (Puls u. a.) unter Anwendung der Diagnosekriterien nach den 8 Prinzipien Ba gang 八纲, der Organlehre Zang fu 脏腑, der Stofflehre Wei qi ying xue 卫气营血, der Meridianpaare Liu jing 六经, dem System der Drei-Erwärmer San jiao 三焦 etc. eine passende Empfehlung geben, damit das vegetative System wieder in ein Gleichgewicht kommt. In der TCM bedeutet Wei bing 未病 zu diagnostizieren, ohne dass schon eine Krankheit manifest ist. Ein Teilaspekt der Wei bing heißt Ya jian kang 亚健康, was so viel bedeutet wie Sub-Gesundheit, die Vorstufe einer Krankheit. Defizit in Leistung, Anpassung, ohne pathologische Symptome mit Substrat TCM – Subhealth, ya jian kang 亚健康; nicht krank wei bing 未病. Ähnlichkeit mit Neurasthenie/CFS 8 Prinzipien, nach Ätiologie, Organ, Stoffen, Meridianpaaren, Drei-Erwärmer etc. Intervention nach TCM – SH-Typ. Intervention nach den 9 TCM K-Typen In den 9 TCM-Konstitutionstypen nach Wang qi ist nur der Typ A (Ausgeglichener Typ 平和体质) völlig gesund. In einer epidemiologischen Statistik aus dem Jahre 2009 an insgesamt 219.488 gesunden Personen in verschiedenen Regionen in China gehören etwa 32 % zum Typ A („Zhong yi ti zhi xue 2008“, 中医体质学 2008, „Konstitutionslehre der TCM 2008“, Seite 175, von Wang qi 王琦, Verlag für Volksgesundheit, 人民卫生出版社, April 2009, China). 24 Kolumnentite In China wird die moderne Forschung zum Thema SH an die Begriffe Neurasthenie bzw. Chronic Fatigue Syndrom (CFS) der westlichen Medizin angelehnt. Wir wissen, dass die TCM keine Zuordnung einer Störung (Krankheit) mit anatomischem oder stofflichem Substrat kennt. Die Diagnosekriterien der TCM basieren auf BlackboxVerfahren und Analogien. Daher soll hier etwas auf diese beiden Diagnosen der modernen Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie eingegangen werden. Neurasthenie/CFS Die Diagnose Neurasthenie wird in der chinesischen Literatur sehr oft verwendet. CFS ist in chinesischer Literatur eher neu, sie wird als Leitbild für die TCM-SH für Klinik und Forschung gesehen. Die Indikationsstellung kommt aus der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der modernen Medizin. „Das klassische CFS wird bei Vorliegen der entsprechenden Kriterien diagnostiziert, wenn die Dauer mindestens 6 Monate beträgt.“ In diversen internationalen Publikationen konnten keine einheitlichen diagnostischen Kriterien des chronischen Müdigkeitssyndroms gefunden werden: Holm et al. CDC – 1988; Fukuda et al. CDC – 1994; Sharpe et al. England – 1991; Lloyd Australien – 1990. Diagnostische Kriterien der Neurasthenie nach der ICD-10: Hauptsymptomatologie: „Entweder anhaltendes oder quälendes Erschöpfungsgefühl nach geringer geistiger Anstrengung oder anhaltende oder quälende Müdigkeit und Schwäche nach geringer körperlicher Anstrengung. Mindestens eines der folgenden Symptome: akute oder chronische Muskelschmerzen, Benommenheit, Spannungskopfschmerz, Schlafstörung, Unfähigkeit zu entspannen, Reizbarkeit, keine Erholbarkeit von den Hauptsymptomen innerhalb eines normalen Zeitraums von Ruhe, Entspannung, Ablenkung, Dauer der Symptomatik mindestens 3 Monate. Ausschlusskriterien: organische, emotional labile Störung, postenzephalitisches Syndrom, organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma, affektive Störung, Panikstörung, generalisierte Angststörung“ (Möller, Laux, Kapfhammer in „Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie“, 4. Aufl., Bd. 2, S. 827–828, Springer Verlag 2011). SH-Symptome nach der TCM-Differenzialdiagnose 辨证 SH in der TCM beinhaltet Befindlichkeitssymptome, funktionelle Störungen der physiologischen Funktionen, insbesondere des vegetativen Nervensystems etc., aber meist ohne organisch pathologische Strukturläsion. Zum Subhealth-Syndrom der TCM passt gut das Krankheitsbild des chronischen Müdigkeitssyndroms (CFS) mit Benommenheit, Kopfschmerzen, Neigung zur Verküh-