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Der ontologische Gottesbeweis
[Zum 6. Kapitel des Lehrbuchs von Jörg Hardy/Christoph Schamberger: Logik der
Philosophie.
Einführung
in
die
Logik
und
Argumentationstheorie
(UTB
3627),
Göttingen/Oakville: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, http://www.utb-shop.de/logik-derphilosophie-1.html ]
Im 11. Jahrhundert formulierte Anselm von Canterbury in seiner Schrift Proslogion (2.
Kapitel) die älteste Fassung des ontologischen Gottesbeweises. Ausgehend von einfachen
Überlegungen über die Bedeutung des Begriffs „Gott“ schließt Anselm auf die Existenz
Gottes. Zugleich richtet er sich in schroffen Worten gegen die Atheisten, die er als „Toren“
bezeichnet. Aus der atheistischen Annahme um des Arguments willen „Es gibt keinen Gott“
leitet er einen Widerspruch ab, um per Reductio ad absurdum auf die Existenz Gottes zu
schließen.
Wir glauben nämlich, dass Du [Gott] etwas bist, über das hinaus nichts Größeres
gedacht werden kann (aliquid quo nihil maius cogitari possit). Oder sollte es etwa eine
so beschaffene Natur nicht geben, weil der Tor in seinem Herzen gesagt hat: Es gibt
keinen Gott? Aber gerade auch für den Toren gilt gewiss: Wenn er eben das hört, was
ich sage, nämlich „das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, dann
versteht er, was er hört; und dasjenige, was er versteht, ist in seinem Verstand, auch
wenn er nicht versteht, dass es ist. … So ist also auch für den Toren erwiesen, dass
etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, wenigstens im Verstand
ist, weil er dies versteht, wenn er es hört, und weil alles, was verstanden ist, im
Verstand ist. Und gewiss kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden
kann, nicht allein nur im Verstand sein. Wenn es nämlich wenigstens allein nur im
Verstand ist, dann kann gedacht werden, dass es auch in Wirklichkeit ist, was größer
ist. Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, allein nur im
Verstand ist, dann ist das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, etwas,
über das hinaus Größeres gedacht werden kann. Das aber kann gewiss nicht sein. Es
existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden
kann, sowohl im Verstand als auch in Wirklichkeit. 1
1 Eigene Übersetzung, die zum Teil angelehnt ist an die Übersetzungen der folgenden Ausgaben: Anselm von
Canterbury: Leben, Lehre, Werke, Wien 1936 sowie Anselm von Canterbury: Proslogion/Anrede, Stuttgart
2005.
–1–
Übungsaufgabe
Die folgende Übungsaufgabe verlangt einen indirekten Beweis im Kalkül des natürlichen
Schließens. Am besten lässt sie sich bearbeiten nach der Lektüre des sechsten Kapitels des
Lehrbuchs
von
Jörg
Hardy/Christoph
Schamberger:
Logik
der
Philosophie,
Göttingen/Oakville 2012, http://www.utb-shop.de/logik-der-philosophie-1.html :
Prüfen Sie mit dem Kalkül des natürlichen Schließens, ob der Gottesbeweis logisch gültig ist.
Hinweis: Die erste Hälfte des Texts enthält ein Unterargument für die Prämisse „Wenn es
keinen Gott gibt, dann ist Gott [= das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann,]
allein nur im Verstand.“ Dieses Unterargument können Sie außer Acht lassen.
Musterlösung
Anselms Gottesbeweis lässt sich übersichtlicher darstellen, wenn wir anstelle des Ausdrucks
„das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ jeweils „Gott“ einsetzen. Wir
zerlegen den Gottesbeweis in zwei Argumente:
1. <Es gibt keinen Gott.>
2. Wenn es keinen Gott gibt, dann ist Gott allein nur im Verstand.
3. Wenn Gott allein nur im Verstand ist, dann kann gedacht werden, dass er auch in
Wirklichkeit ist.
4. Wenn gedacht werden kann, dass Gott auch in Wirklichkeit ist, dann ist Gott etwas,
über das hinaus Größeres gedacht werden kann.
Also: Gott ist etwas, über das hinaus Größeres gedacht werden kann.
Ersetzen wir nun „Gott“ wiederum durch Anselms Definition „das, über das hinaus nichts
Größeres gedacht werden kann“, so erhalten wir die Zwischenkonklusion, die sich im
drittletzten Satz des Originaltexts findet: „Das, über das hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann, ist etwas, über das hinaus Größeres gedacht werden kann.“ Diese
Zwischenkonklusion hält Anselm für absurd, daher verneint er sie: „Das aber kann gewiss
nicht sein“. Aufgrund dieses Widerspruchs (zwischen der Zwischenkonklusion und der
Verneinung der Zwischenkonklusion) schließt Anselm per Reductio ad absurdum auf die
Verneinung der Annahme um des Arguments willen. Die Verneinung von „Es gibt keinen
Gott“ ist nach den Gesetzen der klassischen Logik gleichbedeutend mit „Es gibt einen Gott“:
–2–
5. Es kann gewiss nicht sein, dass Gott [= das, über das hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann,] etwas ist, über das hinaus Größeres gedacht werden kann.
6. Also: Es gibt einen Gott.
Näher am Originaltext ist die folgende Darstellung des gesamten Gottesbeweises:
1. <Es gibt keinen Gott.>
2. Wenn es keinen Gott gibt, dann ist das, über das hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann, allein nur im Verstand.
3. Wenn das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, allein nur im
Verstand ist, dann kann gedacht werden, dass es auch in Wirklichkeit ist.
4. Wenn gedacht werden kann, dass das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden
kann, auch in Wirklichkeit ist, dann ist das, über das hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann, etwas, über das hinaus Größeres gedacht werden kann.
5. Es kann gewiss nicht sein, dass das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden
kann, etwas ist, über das hinaus Größeres gedacht werden kann.
6. Also: Es gibt einen Gott.
Wie der folgende Beweis zeigt, ist Anselms Argument logisch gültig:
•
•
•
•
G: Es gibt einen Gott.
V: Das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, ist allein nur im
Verstand.
W: Es kann gedacht werden, dass das, über das hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann, auch in Wirklichkeit ist.
Z: Das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, ist etwas, über das
hinaus Größeres gedacht werden kann.
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(9)
(10)
¬G
G ⊃ V
V⊃W
W⊃Z
Z
V
W
Z
¬G
G
Zusatzannahme
Annahme
Annahme
Annahme
Annahme
1, 2, Modus ponens
3, 6, Modus ponens
4, 7, Modus ponens
1, 5, 8, Reductio ad absurdum
9, Negations-Beseitigung
–3–
q. e. d.
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