Wissenschaft & Forschung „Verborgene Krankheit” Die Welt – so unwirklich wie ein Gemälde von Magritte Zu den weit verbreiteten, aber dennoch wenig erforschten psychischen Störungen zählt das Phänomen der so genannten Depersonalisierung. Betroffene erleben sich selbst und ihre Umwelt als fremd und unwirklich – in dem Bewusstsein, dass diese Veränderung der Wahrnehmungs-Perspektive keinem äußeren Impuls folgt. Unter der Leitung des Psychotherapeuten und Arztes Dr. Matthias Michal befasst sich derzeit eine Arbeitsgruppe am Mainzer Uniklinikum mit dieser „verborgenen” Krankheit. Die Welt ist eine Kulisse nur, ein Pappmaché-Land der Unwirklichkeiten, unberührbar, unerreichbar. Darin das eigene Ich, das keines mehr ist. Die Hände sind größer geworden. Die Stimme klingt fremd, fremd ist das Bild im Spiegel. Was wie die Beschreibung eines Alptraumes klingt, ist für knapp zwei Prozent aller Bundesbürger nahezu tagtäglicher Wachzustand: das Phänomen extremer Selbstentfremdung, der so genannten Depersonalisation, kurz DP. In ihrer schweren klinischen Form ist diese Krankheit bisher kaum erforscht. „Die Gründe dafür sind vielfältig”, erläutert PD Dr. Matthias Michal von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Mainzer Universitätsklinikums. „Eigentlich gehört die Depersonalisation dem allgemeinen Repertoire menschlicher Reaktionen an. Drei Viertel von uns lernen im Laufe ihres Lebens die entsprechenden Symptome kennen, die ja auch oft im Zusammenhang mit Übermüdung auftreten. Der Zustand der Selbstdistanz dauert aber normalerweise nicht allzu lange an, und so nehmen die meisten Menschen jene kurze Phase des Neben-Sich-Stehens eben nicht als Belastung wahr – zu welcher die Depersonalisierungserfahrung jedoch dann wird, wenn die Betroffenen sich bedroht fühlen, wenn sie glauben, dass sie verrückt werden, oder wenn diese Störung des Selbstbezuges Tage, Wochen und Monate anhält. Meist tritt die klinisch bedeutsame Form der DP im Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen wie Ängsten oder Depressionen auf – was dazu führt, dass Ärzte die DP als vernachlässigbar abtun. Damit aber wird man den Betroffenen nicht gerecht.” Das wollen Michal und seine Kollegen ändern. In einer vor zwei Jahren durchgeführten Repräsentativerhebung unternahmen die Forscher den Versuch, die Koordinaten der Krankheit abzustecken. [JOGU] 207/2009 „Das ist in Form einer Umfrage geschehen – was in diesem Fall auch sehr gut möglich ist, weil die Störung – anders, als etwa die Schizophrenie – den Betroffenen sehr wohl bewusst ist. Die Patienten begreifen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, und, was sehr wichtig ist: Sie können weiterhin die Realität als solche erkennen. Ihnen ist völlig klar, dass ihre Wahrnehmung sich verändert hat, nicht aber die Welt.” „Ihnen (den Patienten) ist völlig klar, dass ihre Wahrnehmung sich verändert hat, nicht aber die Welt.” Die Mainzer Forscher wollten es genau wissen: Wieviel Prozent aller Deutschen sind betroffen, und was sind die Ursachen für diese bisher kaum als eigenständige Krankheit anerkannte psychische Störung? 1.287 Personen zwischen 14 und 90 Jahren füllten in Gegenwart jeweils eines von insgesamt 119 geschulten Interviewern einen entsprechenden Fragebogen aus. Die verwendete deutsche Version der so genannten „Cambridge Depersonalization Scale” fragt nach der Häufigkeit und Dauer der entsprechenden Symptome: Erleben sich die Teilnehmer „wie abgetrennt von ihrer Umgebung oder erscheint ihnen diese unwirklich, so, als ob ein Schleier zwischen ihnen und der äußeren Welt läge”? Oder fühlen sie sich „aus heiterem Himmel fremd, als ob sie nicht wirklich wären oder von der Welt abgeschnitten?” Das Befragungsergebnis belegt, dass DP kein gesellschaftliches Marginal-Problem darstellt. Immerhin 9,7 Prozent aller im November und Dezember 2006 Befragten gaben an, dass sie sich während der vergangenen sechs Monate von DP beeinträchtigt fühlten. 16 Bei 1,9 Prozent aller Befragten lag das Ausmaß der DP-Symptome im klinisch relevanten Bereich, die Häufigkeit dieser schwereren Ausprägung der Depersonalisation entspricht dem bundesdeutschen Auftreten von Schizophrenie, Epilepsie und Magersucht. „Und für letztgenannte Krankheiten sind inzwischen Ambulanzen eingerichtet worden”, so Michal, „DP hingegen zählt weiterhin zu den so genannten verborgenen Störungen. Unsere Überprüfung von 1,5 Millionen Versicherungsakten ergab, dass nur bei einem von 10.000 Versicherten die Diagnose DP gestellt wurde.” „Unsere Überprüfung von 1,5 Millionen Versicherungsakten ergab, dass nur bei einem von 10.000 Versicherten die Diagnose DP gestellt wurde.” Informationen zur Biographie und aktuellen Lebenssituation der Befragten konnten erste Hinweise auf mögliche Krankheitsursachen geben. Demnach verursachen elterliche Vernachlässigung oder Über-Betreuung (= Kontrolle) eine erhöhte DP-Gefährdung. Problematische berufliche oder partnerschaftliche Situationen beeinflussen ebenfalls die DP-Anfälligkeit. Auffällig im Vergleich mit anderen Umfragen war die für die Gruppe der Rentner nachgewiesene erhöhte DP-Gefährdung. Ob der Faktor „(mangelnde) gesellschaftliche Anerkennung” in diesem Kontext eine Rolle spielt, kann nur gemutmaßt werden. Konform zu den Ergebnissen zweier internationaler Untersuchungen, aber dennoch erstaunlich aus hiesiger Sich, bleiben die für die Bevölkerung West- und Ostdeutschlands deutlich unterschiedenen Resultate. Weltweit scheint zu gelten, dass DP in kollektivistisch orientierten Gemeinschaften eine deutlich geringere Rolle als in individualistisch ausgerichteten Gesellschaften spielt. Dass die Wahlfreiheit erhöhte psychische Anforderungen an den Einzelnen stellt, kann im gegebenen Kontext nur andeutende These bleiben. Festzuhalten bleibt in diesem Zusammenhang allerdings, dass DP zu den angeborenen Strategien physischen Überlebens zählt. „Ich griene in mich hinein, komme mir vor wie eine auf der Bühne agierende Person. Was gehen mich die alle an! Bin noch nie so weit von mir selber weg gewesen und mir so entfremdet. Alles Gefühl scheint tot. Einzig der Lebenstrieb lebt. Die sollen mich nicht zerstören”, schreibt eine junge Frau im Berlin des Jahres 1945, und formuliert an anderer Wissenschaft & Forschung Fotos: Matthias Michal Sich selbst fremd: Veränderte Hirnaktivierungen lassen sich im Kernspintomograf nachweisen. Stelle: „Wobei mir die seltsame Vorstellung einfällt, eine Art Wachtraum, der mir heute früh kam, als ich nach Petkas Weggang vergeblich einzuschlafen versuchte. Es war mir, als läge ich flach auf meinem Bett und sähe mich gleichzeitig selber daliegen, während sich aus meinem Leib ein leuchtendweißes Wesen erhob; eine Art Engel, doch ohne Flügel, der steil aufwärts schwebte. Ich spüre noch, während ich dies schreibe, das hochziehende, schwebende Gefühl. Natürlich ein Wunschtraum und Fluchttraum. Mein Ich läßt den Leib, den armen, verdreckten, mißbrauchten, einfach liegen. Es entfernt sich von ihm und entschwebt rein in weiße Fernen. Es soll nicht mein ‘Ich’ sein, dem dies geschieht. Ich schiebe all das aus mir hinaus. Ob ich wohl spinne? Aber mein Kopf faßt sich in diesem Augenblick kühl an, die Hände sind bleiern und ruhig.” Wesentlich ist, dass dieser Zustand der Selbstdistanz nur temporär sein darf. Wie 110.000 Leidensgenossinnen (vgl. Stern Nr. 44/2008) ist die Verfasserin, deren Erinnerungen unter dem Titel „Anonyma” aktuell als Taschenbuch und Film herausgekommen sind, von sowjetischen Besatzungssoldaten mehrfach mißbraucht worden. Der Autorin dieses Tagebuch-Textes ist eines klar: Wesentlich ist, dass dieser Zustand der Selbstdistanz nur temporär sein darf, dass mit der Rückkehr der Normalität, in diesem Falle einer zivilen Friedensgesellschaft, die Rückführung des Systemes Mensch in den emotionsoffenen Normalzustand gelingen muss. Der Ausnahmezustand darf nicht chronisch werden, der Schutzmechanismus muss dann enden, wenn seine Funktion erfüllt ist – die Ablösung vom eigenen Körper und den eigenen Emotionen, die Erzeugung eines durchdringenden Gefühles der Irrealität dienen schließlich einzig der Bewahrung des eigentlichen Selbst. Dass die Depersonalisation auch der Bewältung physischer Beeinträchtigungen dient, zeigt die Neurobiologie. In einer Studie konnten Michal und seine Kollegen nachweisen, dass DP bei gesunden Probanden vermittels hypnotischer Suggestion vorübergehend indiziert werden kann. Dieser künstlich herbeigeführte Zustand der Selbstentfremdung führte zu bedeutsamen Veränderungen der Schmerzverarbeitung im Gehirn: in Regionen, die für die Konstruktion des Körperschemas verantwortlich sind, und auch in den Bereichen, welche Emotionen generieren und regulieren. Die Technologie der Positronen-Emissions-Tomografie kann diese Modifizierung des Glukosestoffwechsels abbilden, veränderte Hirnaktivierungen lassen sich auch mit Hilfe der funktionellen Kernspintomografie nachweisen. Die vom Mainzer Interdisziplinären Forschungszentrum für Neurowissenschaften, kurz IFZN, geförderten aktuellen Untersuchungen sind dem veränderten Emotionserleben auf der Spur. Fortlaufend werden zwei Probandengruppen – Gesunde und Betroffene – auf die Emotionsverarbeitung im Zustand der Depersonalisation getestet. „Die Welt wie ein Magritte-Gemälde erleben zu müssen, stellt eine schwere Belastung dar. Ein Gespräch ist in diesem Zusammenhang oft hilfreich”, erläutert der Psychotherapeut Michal seine Erfahrungen. Ulrike BRANDENBURG ■ 17 Information: Gesunde, die sich auf ihre Hypnosefähigkeit testen lassen und an der entsprechenden Studie teilnehmen wollen, erhalten unter E-Mail [email protected] weitere Informationen. Betroffene, die eine Beratung über die Möglichkeiten der Behandlung wünschen oder an der Studie teilnehmen möchten, können sich jederzeit unter (06131) 177381 (= Spezialsprechstunde der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie) an Dr. Michal und seine Kollegen wenden. Verantwortliche der Studie zur „Emotionsverarbeitung bei hypnotisch induzierter und klinischer Depersonalisation” sind unter anderen Dr. Matthias Michal und Prof. Dr. Manfred E. Beutel von der Mainzer Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Prof. Dr. Peter Stoeter vom Institut für Neuroradiologie, Prof. Dr. Mathias Schreckenberger, Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin und Prof. Dr. Thomas Metzinger (Philosophisches Seminar). Die Studie wird vom IFZN (Interdisziplinäres Forschungszentrum für Neurowissenschaften) gefördert. Vom 18. bis 21. März 2009 findet in Mainz die 60. Arbeitstagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) und zugleich die 17. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) statt. Internet: http:/www.ifzn.uni-mainz.de/321.php [JOGU] 207/2009