Hannover, den 24.11.2006 Das Erdbeben bei Rotenburg an der Wümme vom 20. Oktober 2004: Zusammenfassung der Forschungsergebnisse Am Morgen des 20. Oktober 2004 ereignete sich um 8:59 Uhr MESZ in der Norddeutschen Tiefebene östlich von Rotenburg (Wümme) ein Erdbeben, das die Menschen im weiten Umkreis beunruhigte. In der Nähe des Epizentrums wurde von starken Geräuschen ähnlich einer Explosion oder einem in nächster Nähe vorbeifahrenden LKW berichtet. Menschen und Gebäude kamen nicht zu Schaden. Das Erdbeben wurde im Norden bis über Hamburg hinaus gespürt, im Süden bis Hannover und im Nordwesten bis Bremerhaven. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) hat unmittelbar nach dem Ereignis die Erdbebenauswirkungen analysiert ("Makroseismische Auswertung") und die Ergebnisse zeitnah der Öffentlichkeit vorgestellt. Gleichzeitig begannen die Wissenschaftler mit der Auswertung instrumenteller Messwerte, die von Erdbebenstationen in Deutschland und weltweit aufgezeichnet worden waren ("Instrumentelle Auswertung"). Inzwischen sind die umfangreichen Untersuchungen der BGR sowie der Universitäten Hamburg und Potsdam, des GFZ Potsdam sowie weiterer Forschungsinstitute weitgehend abgeschlossen. Der aktuelle Stand der Erkenntnisse wird im Folgenden zusammengefasst dargestellt. Makroseismische Auswertung Aus mehr als 1100 ausgefüllten Fragebögen wurden die Auswirkungen des Erdbebens auf Menschen, Bauwerke und andere Objekte auf der Grundlage der Europäischen Makroseismischen Skala EMS-1998 bestimmt und analysiert. Die höchste Intensität wurde mit Io = V-VI ermittelt. Das makroseismische Epizentrum wurde im Schwerpunkt der Isoseiste V mit 9,54°E / 53,08°N festgelegt. Auffällig ist die ungewöhnlich weite Ausdehnung der Intensität IV und III nach Norden (Hamburg) und die geringe Ausdehnung nach Osten. Dieser Sachverhalt wird auf eine Kombination von Bruchausbreitungsrichtung, lokalen Untergrundeigenschaften und ungleichmäßiger Bevölkerungsdichte zurückgeführt. Die so genannte makroseismische Herdtiefe lässt sich mit einer empirischen Beziehung aus der Größe der Fläche, in der das Erdbeben spürbar war, ableiten. Die Unsicherheiten bei den Eingangsdaten erschweren eine exakte Tiefenbestimmung. Die abgeleitete mittlere Herdtiefe beträgt etwa 10 km. Es sind aber durchaus Herdtiefen im Bereich von 7 bis 13 km möglich. Instrumentelle Auswertung Viele Stationen des Deutschen Regionalen Seismometernetzes sowie Stationen in Nachbarländern registrierten dieses Beben. Die herdnächste Station befand sich in etwa 70 km Entfernung bei Hänigsen zwischen Celle und Hannover (Station NRDL). Auch außerhalb Europas wurde das Erdbeben aufgezeichnet, unter anderen von zwei hoch empfindlichen seismischen Messanlagen in Nordamerika bei Yellowknife (Station YKA) und Pinedale (Station PDAR). Mit diesen Daten wurde das Epizentrum des Bebens bestimmt und die Herdtiefe abgeschätzt. Die Seismogramme der herdnahen Stationen wurden mit mehreren Methoden analysiert und interpretiert. Das instrumentell ermittelte Epizentrum liegt bei 9,63°E / 53,01°N, die Lokalmagnitude nach Richter wurde mit ML = 4,5 bestimmt. Mittels Wellenforminversion ließen sich Aussagen über den Herdmechanismus gewinnen. Bei dem Beben kam es zu einer Schrägabschiebung auf einer Herdfläche, die etwa NNW-SSE (ca. 330°) streicht. Es wurde eine einseitige Bruchausbreitung nach Norden auf einer ca. 4,5 km langen Bruchfläche und einer Bruchdauer von ca. 1,3 Sekunden ermittelt. Die bei diesem Verfahren ermittelten Herdtiefen liegen zwischen 5 und 10 km. Zusätzlich wurde ein an verschiedenen Stationen erkennbarer zweiter Welleneinsatz (etwa 3 Sekunden nach dem Ersteinsatz der P-Welle) durch Modellierung als Reflektion an der Erdoberfläche direkt über dem Erdbebenherd (pP) identifiziert. Diese Welle, die zur Herdtiefenbestimmung besonders geeignet ist, wurde sowohl an der Station BSEG bei Bad Segeberg (112 km Entfernung) als auch an den Stationen YKA und PDAR (6300 bzw. 7900 km Entfernung) in Nordamerika beobachtet. Mit diesen Aufzeichnungen der pP-Welle konnte eine Herdtiefe von 5 bis 7 km berechnet werden. Von den drei Nachbeben (20.10.2004 09:47 MESZ, ML = 2,2; 20.10.2004 22:05 MESZ, ML = 2,0; 24.10.2004 02:48 MESZ, ML = 1,7) wurde das letzte mit Hilfe eines inzwischen von der Universität Hamburg nahe des Epizentrums aufgestellten temporären Seismometers registriert. Die quellnahe Lage dieser Station ermöglichte eine Herdtiefenbestimmung von 7,7 ±3,8 km. Die BGR hatte außerdem von August 2005 bis Juni 2006 ein mobiles seismologisches Stationsnetz im Umfeld von Rotenburg aufgestellt. In diesem Zeitraum ereigneten sich allerdings keine weiteren seismischen Ereignisse in dieser Region. Nach Bewertung aller durch verschiedene instrumentelle Methoden ermittelten Herdtiefen wurde die wahrscheinliche Tiefenlage auf einen Bereich von etwa 5 – 7 km eingrenzt. Eine genauere Bestimmung ist mit den verfügbaren Messdaten nicht möglich. Ursachen des Erdbebens Betrachtet man die Fehlerbereiche der verwendeten instrumentellen und makroseismischen Tiefenbestimmung, so ist erkennbar, dass die Ergebnisse einander nicht widersprechen. Allerdings lässt allein die Eingrenzung der Tiefenlage des Erdbebens keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Ursache des Erdbebens zu. Das Hypozentrum liegt zwischen zwei NNW-SSE streichenden Störungen im subsalinaren Sockel (Abb. 1), die Teil der Scheeßel-Fallingbostel-Störungszone sind. Die letzten Bewegungen an diesen Störungen sind im Tertiär (Ober-Eozän) nachgewiesen. Numerische Modellierungen im regionalen Spannungsfeld Norddeutschlands weisen sie als potenziell reaktivierbar aus. Da Lage und Richtung des bekannten Störungssystems gut mit der instrumentell berechneten Herdfläche übereinstimmen, wurde das Erdbeben mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Reaktivierung dieser Bruchflächen verursacht. Abb. 1: Geologischer Schnitt aus dem Bereich des Epizentrums. t-q: Tertiär bis Quartär, kro: Oberkreide, kru: Unterkreide, ju: Unterjura, Wd: Wealden, k: Keuper, so+m: Oberer Buntsandstein (Röt) und Muschelkalk, su+sm: Unterer und Mittlerer Buntsandstein, z: Zechstein, ro: Oberrotliegend, ru: Unterrotliegend. Bewertung Erdbebengefährdung in Norddeutschland Die norddeutsche Tiefebene ist ein Gebiet mit geringer Seismizität, was bedeutet, dass es auch hier gelegentlich zu kleineren Erdbeben kommt (Abb. 2). Es sind sowohl natürliche Erdbeben als auch bergbauinduzierte Erschütterungen bekannt. Bis heute hat es in der norddeutschen Tiefebene noch nie ein Erdbeben gegeben, das Schäden an Mensch und Gebäuden verursacht hat. Auch das Erdbeben von Rotenburg (Wümme) hat keine nachweisbaren Schäden verursacht. Eine Neuabschätzung der Erdbebengefährdung ist daher nicht erforderlich. Die BGR wird die Seismizität im norddeutschen Raum weiterhin beobachten. Abb. 2: Epizentren der bekannten Erdbeben in Norddeutschland seit 1900 und seismische Messstationen (HLG = Helgoland, BSEG = Bad Segeberg, IBBN = Ibbenbüren, GOR = Gorleben, NRDL = Niedersachsen/Riedel bei Hänigsen). Nähe zur Erdgasförderung Das Epizentrum lag in der Nähe der Erdgaslagerstätten Söhlingen und Rotenburg/Taaken. Die Fördertiefen in diesen Lagerstätten im Rotliegend-Sandstein betragen 4,5 - 5 km. Die Frage, ob die Förderung aus diesen benachbarten Erdgaslagerstätten das Beben induziert hat oder nicht, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht beantworten. Die BGR befürwortet die von den Erdgasproduzenten geplante Installation lokaler Seismometernetze in Fördergebieten, um Herdtiefe und Auslösemechanismus eventuell auftretender Mikroerdbeben mit der erforderlichen Genauigkeit bestimmen zu können. Erdbebensicherheit kerntechnischer Anlagen In den Medien diskutierte Forderungen nach einer Neubewertung der Erdbebensicherheit aller kerntechnischer Anlagen in Norddeutschland lassen außer Acht, dass Kernkraftwerke und Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente in Norddeutschland gegen Einwirkungen durch Erdbeben bis zur Intensität VI-VII ausgelegt sind – der diskutierte Standort Gorleben sogar bis über VII. Es besteht daher kein Anlass, eine Neubewertung der Erdbebensicherheit dieser Anlagen vorzunehmen.