Makroseismische Bearbeitung des Erdbebens vom 20. Okt

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Makroseismische Bearbeitung des Erdbebens vom 20. Okt. 2004
östlich Rotenburg (Wümme) im Norddeutschen Tiefland
von G. LEYDECKER1, D. KAISER, H. BUSCHE & T. SCHMITT
1
Einleitung
Am Morgen des 20. Okt. 2004 ereignete sich um 8:59 Uhr MESZ in der Norddeutschen Tiefebene östlich Rotenburg (Wümme) ein Erdbeben, das die Menschen im weiten Umkreis stark
beunruhigte. Häuser schwankten, Möbel bewegten sich, Fenster klirrten und Türen klapperten, Bücher fielen um, hängende Gegenstände pendelten und Bildschirme zitterten. Aus dem
Nahbereich zum Epizentrum wurde zudem von starken Geräuschen ähnlich einem in nächster
Nähe vorbeifahrenden LkW oder Trecker berichtet. Schäden wurden nicht beobachtet. In wenigen Fällen wurden feine Rissen im Verputz und das Abbröckeln kleiner Putzteile gemeldet.
Das Beben wurde im Norden bis über Hamburg hinaus gespürt, im Süden bis Hannover und
im Nordwesten bis Bremerhaven.
Wegen der Seltenheit eines Erdbebens im Norddeutschen Tiefland, wegen seiner Heftigkeit
und weiten Verspürbarkeit wurde darüber im Fernsehen, im Radio und in der Lokalpresse
ausführlich und tagelang berichtet. Damit bestand auch die Möglichkeit die Menschen aufzurufen uns ihre Beobachtungen mitzuteilen, entweder telefonisch oder durch das Ausfüllen von
Fragebögen zur Makroseismik, die wir in Rathäusern auslegten und die auf den BGR-Internetseiten und denjenigen des Instituts für Geophysik der Universität Hamburg bereit standen.
Die Resonanz war ungewöhnlich groß. Zehn Tage nach dem Beben standen uns mehr als
1100 Fragebogen für die makroseismische Bearbeitung dieses Erdbebens zur Verfügung. Über 80% davon wurden direkt im Internet ausgefüllt, was eine zügige und Computer unterstützte Auswertung ermöglichte.
2
Makroseismische Auswertung
Die Auswertung der Fragebögen zur Bestimmung der Intensitäten erfolgte unter Zugrundelegung der European Macroseismic Scale EMS-1998. Um eine möglichst objektive Einstufung
zu gewährleisten, wurden alle Fragebögen von jedem der vier Autoren individuell ausgewertet. Unterschiedliche Ergebnisse wurden danach gemeinsam besprochen und dabei eine endgültige Einstufung getroffen. Im Anschluss daran wurden je Ort alle beobachteten Intensitäten
zusammengestellt und wiederum gemeinsam die für einen Ort geltende Intensität festgelegt.
Diese ist nicht durch Mittelwertbildung gewonnen, sondern orientierte sich mehr an der Anzahl der höheren Intensitäten. Wegen einiger flächenmäßig weit ausgedehnten Orte mit über
50 zugehörigen Ortsteilen, die zudem auch die gleiche Postleitzahl hatten, wurde angestrebt,
Einzelberichte aus nah benachbarten Ortsteilen zusammenzufassen, um dort zu einer abgesicherten Intensitätsfestlegung zu kommen. Als Epizentralintensität wurde Io = V ½ EMS festgelegt, die Magnitude war zu ML = 4,5 bestimmt worden.
Das Beben war auch vielfach in Hamburg überwiegend in Hochhäusern (mehr als fünf Stockwerke) z. T. recht stark verspürt worden. Hierfür lassen sich mehrere Effekte anführen. Je
höher ein Gebäude, umso tieffrequenter ist seine Eigenschwingung. Auf dem relativ langen
Weg der Erdbebenwellen vom Hypozentrum durch mächtige Sedimentschichten bis nach
Hamburg werden die höherfrequenten Wellenanteile stark gedämpft und längerperiodische
Oberflächenwellen bilden sich aus, sodass die tieferen Frequenzen überwiegen. Bei weichem
Baugrund und geschichtetem Untergrund können zusätzlich selektiv Frequenzen verstärkt
1
Dr. Günter Leydecker, Dr. Diethelm Kaiser, Dr. Holger Busche, Dipl. Ing. Timo Schmitt
Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Stilleweg 2, D-30655 Hannover/Germany,
Tel. + 49 (0)511 - 643 - 0 ; fax – 2868 mail: [email protected] Internet: http://www.bgr.de/quakecat
16. Nov. 2006
-2werden. Dieses insgesamt längerperiodische Wellenspektrum regt vor allem Hochhäuser zu
Eigenschwingungen an. Die Amplituden der Gebäudeschwingungen sind in den verschiedenen Stockwerken zwar unterschiedlich stark, aber alle Stockwerke sind betroffen.
Das Ergebnis der Auswertung der Fragebögen ist in den beiden makroseismischen Karten
zusammengestellt. Die Isoseisten, die die Flächen gleicher oder höherer Intensitäten umschließen, sind darin eingezeichnet. Die Intensitätsangaben in den Karten mit zusätzlichem
„+“, z. B. V+, bedeuten einen Zwischenwert zur nächst höheren Intensität, z. B. V ½. bzw.
V-VI
Die Karte in Abb. 1 zeigt das Nahfeld mit der Isoseiste V. Grades. Im Schwerpunkt dieser
Isoseiste wurde von uns das makroseismische Epizentrum festgelegt. Das aus instrumentellen
Aufzeichnungen berechnete Epizentrum liegt ca. 4 km südlich (BGR-SDAC/SZGRF). Berücksichtigt man den Fehlerbereich bei der Epizentrumsbestimmung, so stimmen beide Epizentren gut überein.
Die zweite Karte (Abb. 2) zeigt das gesamte Schüttergebiet mit den Isoseisten V., IV. und III.
Grades. Auffallend sind die fehlenden Beobachtungen aus dem südlichen Bereich der Isoseiste III. Grades. Erklärbar ist dies vielleicht damit, dass die die Intensität III definierenden
Wirkungen – schwach: von wenigen Personen in Gebäuden wahrgenommen, ruhende Personen fühlen ein leichtes Schwingen oder Erschüttern – die dortigen Bewohner nicht veranlasste, uns ihre für sie unerheblichen Wahrnehmungen mitzuteilen. Möglich ist auch, dass die
dortigen Zeitungen unseren Aufruf zur Mitteilung der Beobachtungen nicht abdruckten. Beide
Gründe zusammen könnten die fehlenden Meldungen erklären.
3
Bestimmung der Herdtiefe
3.1
Makroseismische Bestimmung der Herdtiefe
Aus den Isoseistenflächen wurden die mittleren Isoseistenradien bestimmt. Mittels Inversion
der Gleichung für die makroseismische Intensitätsabnahme von KÖVESLIGETHY (SPONHEUER
1960) wurden der Absorptionskoeffizient α und die Herdtiefe h berechnet.
⎛ h2 + r2 ⎞
⎟ − 1.3α h 2 + r 2 − h
IS = I0 − 3 log⎜
⎜
⎟
h
⎝
⎠
IS = Intensität der Isoseiste mit dem Isoseistenradius r
I0 = Epizentralintensität
h = Herdtiefe [km]
r = Isoseistenradius [km]
α = Absorptionskoeffizient [km-1]
(
)
Da lediglich drei Isoseistenradien bei drei Unbekannten (Io, α, h) zur Verfügung stehen, wurde die Epizentralintensität, die aus der makroseismischen Feldaufnahme recht gut bekannt ist,
bei der Iteration fest vorgegeben und jeweils nur im hier vertretbaren Maß variiert. Mit Io =
5.75 ergeben sich h = 10 km ± 1.0 km und α = 0.003/km ± 0.0018. Eine theoretische Epizentralintensität von 5.75 ist lediglich als punktueller Rechenwert anzusehen, die aus Beobachtungen bestimmte Epizentralintensität von V ½ EMS braucht deswegen nicht korrigiert
zu werden. Durch Variation der Isoseistenradien um ± 10%, die die Unsicherheiten in deren
Bestimmung widerspiegeln, erweitert sich der Bereich der möglichen Herdtiefen auf 7 km bis
13 km. Wegen der weiten Verspürbarkeit bei der moderaten Epizentralintensität von V ½
EMS ist die so eingegrenzte Herdtiefe von ca. 10 km ± 3 km recht plausibel.
-33.2
Instrumentelle Bestimmung der Herdtiefe
Die Stationen des Deutschen Regionalen Seismometernetzes sowie Stationen in Nachbarländern registrierten dieses Beben. Die herdnächste Station befand sich in etwa 70 km Entfernung. Auch außerhalb Europas wurde das Erdbeben aufgezeichnet, unter anderen von zwei
hoch empfindlichen seismischen Messanlagen in Nordamerika bei Yellowknife (Station
YKA) und Pinedale (Station PDAR). Mit diesen Daten untersuchten DAHM et al. (2006) dieses Beben und kamen zu folgenden Ergebnissen:
Epizentrum: 9,63°E / 53,01°N
Lokalmagnitude nach Richter: ML = 4,5
Herdmechanismus: Schrägabschiebung auf einer Herdfläche etwa NNW-SSE (ca. 330°) streichend; einseitige Bruchausbreitung nach Norden auf einer ca. 4,5 km langen Bruchfläche und einer Bruchdauer von ca. 1,3 Sekunden Die bei diesem Verfahren ermittelten
Herdtiefen liegen zwischen 5 und 10 km.
Auswertung des zweiten Welleneinsatzes (pP-Welle) an den Stationen YKA und PDAR
(6300 bzw. 7900 km Entfernung) in Nordamerika. Mit deren Aufzeichnungen konnte
eine Herdtiefe von 5 bis 7 km berechnet werden.
Nachbeben: 20.10.2006 09:47 MESZ, ML = 2,2; 20.10.2006 22:05 MESZ, ML =2,0;
24.10.2006 02:48 MESZ, ML = 1,7. Das letzte wurde mit Hilfe eines zwischenzeitlich
von der Universität Hamburg nahe dem Epizentrum aufgestellten temporären Seismometers registriert. Die quellnahe Lage dieser Station ermöglichte eine Herdtiefenbestimmung von 7,7 ±3,8 km.
DAHM et al. (2006) kommen nach Bewertung aller durch verschiedene instrumentelle Methoden ermittelten Herdtiefen zu dem Schluss, dass die wahrscheinliche Tiefenlage auf einen
Bereich von etwa 5 – 7 km eingrenzt werden kann. Eine genauere Bestimmung ist mit den
verfügbaren Messdaten nicht möglich.
3.3
Parameter des Erdbebens
Für das Erdbeben bei Rotenburg (Wümme) ergeben sich somit folgende Parameter:
Datum
Herdzeit
Epizentrum makroseismisch
Epizentrum instrumentell (BGR)
Epizentrum instrumentell (DAHM et al.)
Herdtiefe makroseismisch
Herdtiefe instrumentell (DAHM et al.)
Magnituden
Epizentralintensität
Isoseistenradien
Verlauf der Bruchfläche
4
20. Oktober 2004
06:59:16.1 UT (08:59:16.1 MESZ)
53°04.6’N / 9°32.4’E
53°02.3’N / 9°32.2’E ± 4.0 km
53°00.6’N / 9°37.8’E
10 km ± 3 km
5 km – 7 km
ML = 4.5, MW = 4.3
V ½ EMS
V: 14.5 km, IV: 33 km, III: 68 km
NNW-SSE
Ursachen des Erdbebens
Die Zechsteinbasis liegt im Epizentralbereich in ca. 4600 m Tiefe. Die Gaslagerstätte aus der
gefördert wird liegt wenig unter dieser Basis im Rotliegenden in ca. 5000 m Tiefe. Aus den
instrumentellen Registrierungen dieses Erdbebens ergibt sich für die Herdtiefe ein Bereich
zwischen 5 km und 7 km. Makroseismisch wurde eine Herdtiefe von 10 km ± 3 km bestimmt.
Betrachtet man die Fehlerbereiche der verwendeten instrumentellen und makroseismischen
Tiefenbestimmung, so ist erkennbar, dass die Ergebnisse einander nicht widersprechen. Aller-
-4dings lässt allein die Eingrenzung der Tiefenlage des Erdbebens keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Ursache des Erdbebens zu.
Das Hypozentrum liegt zwischen zwei NNW-SSE streichenden Störungen im subsalinaren
Sockel die Teil der Scheeßel-Fallingbostel-Störungszone sind. Die letzten Bewegungen an
diesen Störungen sind im Tertiär (Ober-Eozän) nachgewiesen. Numerische Modellierungen
des regionalen Spannungsfeldes Norddeutschlands weisen sie als potenziell reaktivierbar aus.
Da Lage und Richtung des bekannten Störungssystems gut mit der instrumentell berechneten
Herdfläche übereinstimmen, wurde das Erdbeben mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine
Reaktivierung dieser Bruchflächen verursacht.
5
Zur Seismizität der Norddeutschen Tiefebene
Etwa 35 km südöstlich vom jetzigen Bebenort hatte sich am 2. Juni 1977 zwischen Soltau und
Munster ein Erdbeben mit ML = 4,0 und einer maximal beobachteten Intensität von V MSK
ereignet (LEYDECKER et al. 1980). Es war das erste instrumentell registrierte tektonische Erdbeben aus der Norddeutschen Tiefebene. Weitere tektonische Erdbeben ereigneten sich am
19. Mai 2000 bei Zarrentin, südwestlich Schwerin mit ML = 3,2 (BOCK et al. 2002) und am
21. Juli 2001 mit ML = 3,5 östlich Rostock. Für das Beben bei Zarrentin liegen keine makroseismischen Beobachtungen vor (eigene Nachforschungen), das Beben bei Rostock wurde nur
von wenigen Menschen schwach verspürt.
Im Zusammenhang mit der Erdgasförderung in Norddeutschland ereignen sich hin und wieder
Erdbeben, die als induzierte seismische Ereignisse bezeichnet werden müssen. Ihre Magnitude hat bisher nicht den Wert von ML = 3,0 erreicht. Trotz ihrer relativ geringen Energie wurden sie aber wegen ihrer flachen Herdtiefen um 3 km mit bis zu Intensität V verspürt (LEYDECKER 1998, 2005).
Eine Besonderheit in der Norddeutschen Tiefebene sind die nur sehr lokal verspürten seismischen Ereignisse in Hamburg. Es sind Einsturzbeben im Gipshut des dort nahe an die Oberfläche reichenden und damit dem Grundwasserstrom ausgesetzten Salzstockes. Das erste dieser Beben ereignete sich im Jahre 1771, das jüngste am 8. April 2000 (LEYDECKER 2004).
Diese seismischen Ereignisse werden nur in einem engen Umfeld verspürt, die Erschütterungen sind sehr wahrscheinlich allein auf das plötzliche Absenken der Erdoberfläche zurückzuführen.
Danksagung
Wir danken allen Bewohnern, die überaus zahlreich ihre Wahrnehmungen in Telefonanrufen
sowie durch Ausfüllen des Fragebogens im Internet oder in kommunalen Einrichtungen mitteilten. Die örtlichen Zeitungen waren sehr kooperativ und veröffentlichten hierzu einen entsprechenden Aufruf. Torsten Dahm vom Institut für Geophysik der Universität Hamburg danken wir für die Überlassung aller dort gesammelten Fragebögen.
Literatur
BOCK, G., WYLEGALLA, K., STROMEYER, D. & G. GRÜNTHAL (2002): The Wittenburg Mw =
3.1 earthquake of May 19, 2000; an unusual tectonic event in Northeastern Germany.
-- in: KORN, M. (edt.): Ten years of German Regional Seismic Network (GRSN). -DFG Report 25 of the Senate Commission for Geosciences. WILEY-VCH Verlag,
Weinheim. 220-226.
DAHM, T., KRÜGER, F., STAMMLER, K., KLINGE, K., KIND, R., WYLEGALLA, K. & J.-R.
GRASSO (2006): The MW 4.4 Rotenburg, Northern Germany earthquake and its possible relationship with gas recovery. – Bull. Seism. Soc. America (eingereicht).
-5LEYDECKER, G., STEINWACHS, M., SEIDL, D., KIND, R., KLUSSMANN, J. & ZERNA, W. (1980):
Das Erdbeben vom 2. Juni 1977 in der Norddeutschen Tiefebene bei Soltau. -- Geol.
Jb., E 18: 3-18, 5 Abb., 3 Tab., Hannover.
LEYDECKER, G. (1998): Das Erdbeben vom 9. Oktober 1993 bei Pennigsehl nahe Nienburg/Weser im Norddeutschen Tiefland. -- S. 29- 33, 2 Abb., 1 Tab.; in: HENGER, M.
& G. LEYDECKER (eds.): Erdbeben in Deutschland 1993. -- ISBN 3-510-95808-X. BGR, Hannover.
LEYDECKER, G. (2003): Das Erdbeben vom 11. Juli 2002 in Weyhe südlich Bremen in der
Norddeutschen Tiefebene (The earthquake in Weyhe south of Bremen in the Northern German Lowland on July 11, 2002). – Z. Angew. Geol., 49. Jg., 1/2003; S. 6064, 4 Abb., 3 Tab.; ISSN 0044-2259, Hannover.
LEYDECKER, G (2005): Erdbebenkatalog für die Bundesrepublik Deutschland mit Randgebieten für die Jahre 800 –2004 – Datenfile www.bgr.de/quakecat ; Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), Stilleweg 2, D-30655 Hannover.
SPONHEUER, W. (1960): Methoden zur Herdtiefenbestimmung in der Makroseismik- Freib.
Forsch.-H. C 88: pp 117; Akademie Verlag Berlin.
Abbildungsverzeichnis:
Abb. 1: Makroseismische Karte – Bereich der Intensität V - zum Erdbeben östlich Rotenburg
(Wümme) am 20. Okt. 2004 um 08:59 MESZ
Abb. 2: Makroseismische Karte zum Erdbeben östlich Rotenburg (Wümme) am 20. Okt.
2004 um 08:59 MESZ
-6Abb. 1:
-7Abb. 2:
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