Von Zählsymbolen zur Keilschrift

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Originalveröffentlichung in: E. Greber e. al. (Hg.), Materialität und Medialität von Schrift,
Bielefeld 2002, S. 51-71
Manfred Krebernik
Von Zählsymbolen zur Keilschrift
Die Keilschrift wurde gegen Ende des IV. Jahrtausends v. Chr. erfun­
den und war die wichtigste S chrift vor dem S iegeszug des Alphabets in
der ersten Hälfte des I. Jahrtausends v. Chr. Ihr Verbreitungsgebiet
reichte v o m persischen Golf bis zur Levante, von Anatolien bis Ägyp­
ten. Uber 3000 Jahre lang diente sie zur Wiedergabe ganz unterschied­
licher S prachen, von denen hier nur die bedeutendsten in chronologi­
scher Folge genannt seien: S umerisch, Akkadisch (= Babylonisch-As­
syrisch), Elamisch, Hurritisch, Hethitisch und das mit dem Hurriti­
schen verwandte Urartäisch. Ihre Entzifferung gelang um die Mitte des
19. Jahrhunderts, etwas später als die der ägyptischen S chrift. Ich
möchte zunächst Ursprünge und Entwicklung der Keilschrift skizzie­
ren und dann einige allgemeine Aspekte der S chriftentwicklung im
Vorderen Orient aufzeigen.
Um 9000 v. Chr. setzte im Vorderen Orient das Neolithikum ein,
der Mensch ging aufgrund geeigneter klimatischer und ökologischer
Bedingungen zu einer seßhaften Lebensweise über, die auf der Dome­
stizierung von Pflanzen und später Tieren beruhte. Die ersten festen
S iedlungen entstanden in Gegenden, in denen Regenfeldbau möglich
war. Mit den technischen Errungenschaften der neolithischen Lebens­
weise ausgestattet, wagte man sich schließlich auch in das nieder­
schlagsarme, sumpfige S chwemmland im S üden des heutigen Irak vor
und schuf dort künstliche Bewässerungssysteme. Diese trugen ent­
scheidend zur Entfaltung einer Urbanen Kultur bei, der sogenannten
Uruk-Kultur, die gegen Ende des IV. Jt.s v. Chr. zu überregionaler
Bedeutung gelangte. Der kulturelle Aufschwung manifestiert sich in
hierarchisch strukturierten S iedlungsnetzen, in Architektur und Bild­
kunst, insbesondere aber in der Erfindung der Schrift.
Zu den Neuerungen, welche die Neolithisierung mit sich brachte, ge­
hören neben der Keramik, dem S tempel- und später Rollsiegel auch klei­
ne, in vielfältigen Formen auftretende Tonobjekte, die oft eine Durch­
bohrung aufweisen, durch die sie aufgefädelt werden konnten (Abb. 1).
Diesen sogenannten „tokens" hat die amerikanische Archäologin
D . S chmandt-Besserat zahlreiche Untersuchungen gewidmet (zusam­
menfassend S chmandt-Besserat 1992). S ie gelangte zu dem S chluß, daß
Manfred Knbernik
52
Ä
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35.1. Tokens, Tello, Iraq. Courtesy Musee du Louvre,
Departement des Antiquites Orientales.
35.2. Cones, Tello, Iraq. Courtesy Musee du Louvre, Departement
des Antiquites Orientales.
35.3.
Disk, Tello, Iraq. Courtesy Musee du Louvre, Departement
des Antiquites Orientales.
35.4.
Ov oids. Tello, Iraq. Courtesy Musee du Louvre,
Departement des Antiquites Orientales.
Abb. 1: Zählsymbole (nach Schmandt-Besserat 1992, 72).
Von Zählsymbolen %ur Keilschrift
53
es sich um Zählmarken, die verschiedene Wirtschaf tsgüter (bzw. deren
Quantitäten) symbolisierten, handelt. Mehrf ach sind Zählsymbole im
Inneren von Tonbullen bezeugt, deren Oberf läche den Symbolen ent­
sprechende Abdrücke auf weisen und gesiegelt sein kann (Abb. 2).
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Abb. 2: Gesiegelte und mit Abdrücken versehene Tonbulle, Zählsymbole
(nach Nissen/Damerow/Englund 1990, 49).
54
Manfred Krebernik
Manche „tokens" ähneln auf verblüffende Weise späteren Keilsc hriftzei­
c hen und wurden daher von Sc hmandt-Besserat als deren Vorbilder
gedeutet. Dies ist besonders in Fällen ansc heinend „abstrakter" Keil­
sc hriftzeic hen plausibel, für die man analog zu sinnverwandten Zeic hen
einen konkreten Bildinhalt erwarten würde. So besteht etwa das Keil­
sc hriftzeic hen für „Sc haf aus einem Kreis (der sic h zu einem Rec htec k
weiterentwic kelte) mit eingesc hriebenem Kreuz, während andere Tiere
zumeist durc h ihre spezifisc hen Köpfe repräsentiert wurden („Hund",
„Sc hwein", „Esel" u.a.). Nun existiert aber ein Zählsymbol in Gestalt
einer Münze mit eingeritztem Kreuz (vgl. Abb. 1, zweite Reihe links), das
dem Zeichen für „Schaf zugrundeliegen könnte.
Neben „tokens" und Tonbullen treten am Vorabend der Sc hrifterfin­
dung auc h Tontäfelc hen mit regelmäßigen Eindrüc ken, die offenbar
Zahlen darstellen, in Erscheinung (Abb. 3).
81.
Tablet provi ded with a ruled margin, Godrn Tepe
IGd. 73-286). Iran Courtesy T, Cuyler Young. Jr.
82. fablet boari ng two deep ci rcular markings and seal
i mpressi ons, Susa ISb 2312), Iran. Courtesy Musee du Louvre,
Departement des Amiquites Ori entales.
83.
Tablet with three large wedges. one sli allow circular. and four
deep circular markings, Susa fSb 2313), Iran Courtesy Musee du
Louvre. Departement des Antiquites Ori entales.
Abb. 3: Zählentafeln, z.T. gesiegelt (nach Schmandt-Besserat 1992,134).
Von Zählsymbolen ^ur Keilschrift
Zähl symbol e, Tonbul l en
und
55
Zahl entäfel chen
dokumentierten
wirt­
schaftl iche Transaktionen i m weitesten Sinne. D i e Fundorte l etzterer
befinden sich i m A u s Strahlungsgebiet der späten Uruk-Kul tur, das v o n
Südmesopotamien bis nach Anatol ien, Syrien und Unterägypten reichte.
A u s der namengebenden Stadt Uruk sel bst stammen die bisl ang äl testen
Keil schriftfunde (Abb. 4).
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Abb. 4: Archaische Wirtschaftstexte aus Uruk (nach Englund 1994, Tf. II).
Manfred Krebernik
56
Dazu stimmt die spätere Überlieferung: Nach einem wohl gegen Ende
des III. J t s v. Chr. entstandenen sumerischen Epos erfand ein legendärer
Herrscher von U ruk namens Enmerkar die Schrift, als er eine Botschaft
an seinen Gegenspieler, den Herrscher von Aratta (im Südosten des
heutigen Iran) auf einer Tontafel aufzeichnete und so dem Boten das
Memorieren des schwierigen Wortlauts ersparte. In Wirklichkeit wurde
die Schrift, wie wir heute wissen, allerdings nicht zum Zwecke der Kor­
respondenz erfunden, sondern, in direkter Fortsetzung von Siegeln,
Zählmarken und Zahlentafeln, um die Administration einer zunehmend
komplexen Wirtschaft zu bewältigen. A n den ökonomischen Entste­
hungshintergrund erinnert die Tatsache, daß in älterer Zeit die Getreidegöttin Nisaba als Patronin der Schrift galt (sie wurde im II. Jt. von dem
Schreibergott Nabium, jünger Nabu, verdrängt).
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Funktion der Tafel)
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Abb. 5: Protoelamischer Wirtschaftstext (nach Nissen/Damerow/Englund
1990,117).
Von Zählsymbolen %ur Keilschrift
57
Begünstigt durch Wa sserstra ßen sowie wirtscha ftliche und wohl a uch
politische Verflechtungen, breitete sich die Keilschrift schon sehr früh
na ch Nordmesopota mien a us. Im südöstlich bena chba rten Ela m da ge­
gen kreierte man na ch mesopota mischem Vorbild eine eigene, die „protoela mische", Schrift (Abb. 5), deren kursive Weiterentwicklung („ela mische Strichschrift") ma n jedoch noch im III. Jt. wieder a ufga b, um sta tt
ihrer die mesopotamische Keilschrift zu benutzen.
Da ß zwischen dem zeitlich bena chba rten Auftreten der Schrift in
Südmesopota mien und in Ägypten ein innerer Zusa mmenha ng besteht,
ist a priori nicht unwa hrscheinlich. Die im Deta il noch ungeklärte Fra ge
erla ngte jüngst durch die Publika tion der bisla ng ältesten ägyptischen
Schriftzeugnisse a us der Nekropole von Abydos (Dreyer 1998; Abb. 6)
neue Aktualität.
Auch in Ägypten diente die Schrift zuerst a dministra tiven Zwecken.
Die kurzen Za hlena nga ben und Vermerke wirken im Vergleich mit dem
Abb. 6: Prädynastische Schriftfunde a us Ägypten (Umm el-Qa a b) (na ch
Dreyer 1998,117; 122).
58
Manfred Krebernik
Formenspektrum der archaischen Texte aus Uruk etwas schlichter. Das
mag aber daran liegen, daß nur zufällig überwiegend Stücke derselben
Gattung (Etiketten mit Quantitäts- und Herkunftsangaben) gefunden
wurden. Im U nterschied zu Mesopotamien, wo sich in den frühesten
Schriftdokumenten Personennamen nicht sicher identifizieren lassen und
vielleicht auch gar nicht festgehalten sind (Funktionsbezeichnungen statt
Personennamen), sind in Ägypten neben Orts- auch Herrschernamen
erkenntlich. A u f einigen Keramikscherben haben sich ferner Zeichen
erhalten, die keinen Bezug zu späteren Hieroglyphen haben und vom
Ausgräber mit der protoelamischen Schrift in Verbindung gebracht wur­
den (Dreyer 1998, 181). Archäologisch lassen sich ebenfalls mesopotamische und elamische Einflüsse im prädynastischen Ägypten nachweisen.
Es wird daher meist angenommen, daß der Impuls zur Schrifterfindung
von Mesopotamien ausging. Allerdings klaffen für die fragliche Periode
die in der Ägyptologie bzw. Altorientalistik diskutierten chronologischen
Ansätze noch auseinander.
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Abb. 7: Schriftartige Zeichen des südosteurop. Neolithikums: Tärtäria
(Rumänien) (nach Winn 1981, 370).
59
Von Zählsymbolen tqir Keilschrift
A n dieser Stelle sei ein kurzer Seitenblick auf das neolithische Südosteu­
ropa gestattet. 1961 wurden im rumänischen Tärtäria drei Tonobjekte
mit Zeichen gefunden, die der frühen Keilschrift ähneln (Abb. 7). Der
Ton ist lokaler Herkunft, dem Fundkontext nach sollten die S tücke ins
V. oder IV. Jt. gehören, also älter sein als die mesopotamische Keilschrift.
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Abb. 8: S chriftartige Zeichen des südosteurop. Neolithikums: Gradesnica
(Bulgarien) (nach Winn 1981, 211).
Nun gibt es um 4000 v. Chr. in Südosteuropa, insbesondere im Gebiet der
Vinca-Kultur, auch andere Objekte mit schriftähnlichen Zeichen (Abb. 8),
an die man die Tärtäria-Stücke anzuschließen versuchte (Winn 1981).
Inwieweit es sich dabei tatsächlich um Zeichensysteme handelt, ist
fraglich, vielfach sind fließende Übergänge zwischen „Zeichen" und
Dekormustern zu beobachten. Trotz partikulärer Übereinstimmungen
mit den abstrakten „Zeichen" der Vinca-Kultur heben sich die TärtäriaFunde von den Vergleichsstücken ab: Die einzelnen Zeichen sind deut­
lich isoliert und haben z.T. bildhaften Charakter; möglicherweise sind
Zahl- und andere Zeichen zu unterscheiden. S ie bleiben vorderhand ein
ungelöstes Rätsel.
Die Entzifferung der ältesten Keilschrifttexte ist in den letzten 20 Jah­
ren entscheidend vorangetrieben worden. Dies ist vor allem der E D V gestützten Aufnahme und Analyse des gesamten Textcorpus zu verdan­
ken, die im Rahmen eines Berliner Forschungsprojekts von den Alt-
Manfred Krebernik
60
Orientalisten H J .
Nissen
und R.K.
Englund
und
dem
Mathematiker
P . D a m e r o w d u r c h g e f ü h r t w u r d e n ( z u s a m m e n f a s s e n d E n g l u n d 1998).
D i e ca. 5 0 0 0 a r c h a i s c h e n T e x t e l a s s e n s i c h i n h a l t l i c h i n a d m i n i s t r a t i v e
u n d „ l e x i k a l i s c h e " einteilen. E r s t e r e w e i s e n v i e l f ä l t i g e T y p e n a u f u n d ü b e r ­
w i e g e n z a h l e n m ä ß i g bei w e i t e m (was n i c h t n u r für die A n f ä n g e der K e i l ­
s c h r i f t k u l t u r u m 3 2 0 0 v . C h r . , s o n d e r n f ü r all i h r e E p o c h e n gilt). „ L e x i ­
kalische" T e x t e
(Abb.
9)
dienten primär
der
Schreiberausbüdung.
In
Listen w u r d e n Zeichen, W ö r t e r u n d Phrasen nach formalen oder inhalt­
lichen K r i t e r i e n z u s a m m e n g e s t e l l t u n d später a u c h übersetzt u n d erläu­
tert. I m L a u f e d e r Z e i t b r a c h t e d i e s e G a t t u n g u m f a n g r e i c h e , n a c h k o n t e m ­
porärem Verständnis „wissenschaftliche" K o m p e n d i e n hervor. Z u ihnen
zählen z.B. s c h o n u m 2300 v. Chr. zweisprachige Wortlisten mit
Aus­
s p r a c h e g l o s s e n , seit A n f a n g d e s I I . J t . s a u c h g r a m m a t i s c h e P a r a d i g m e n .
I m Überfluß vorhandene Ressourcen Mesopotamiens sind L e h m
S c h i l f — u n d s o ist es n i c h t v e r w u n d e r l i c h , d a ß b e i d e z u r
und
materiellen
G r u n d l a g e der Literalität w u r d e n . Bereits für die Z ä h l s y m b o l e ,
Bullen
u n d Z a h l e n t a f e l n hatte m a n sich des T o n s bedient, u n d das änderte sich
a u c h n i c h t , als m a n d i f f e r e n z i e r t e r e I n f o r m a t i o n e n
mittels des
neuge­
s c h a f f e n e n Z e i c h e n s y s t e m s a u f T o n t a f e l n festhielt. Z w a r w u r d e n
auch
andere Materialien, v o r allem Stein, beschrieben, d o c h blieb die T o n t a f e l
das g e w ö h n l i c h e M e d i u m . D i e Z e i c h e n w u r d e n m i t e i n e m spitzen R o h r ­
griffel in d e n feuchten T o n
geritzt, b e s t i m m t e
Zeichen und
Zeichen­
elemente — i n s b e s o n d e r e Z a h l z e i c h e n — m i t d e m r u n d e n G r i f f e l e n d e (ur­
sprünglich mit verschiedenen, distinktiven D u r c h m e s s e r n ) in den
Ton
eingetieft. I m allgemeinen brannte m a n die T a f e l n nicht, der d u r c h L u f t ­
t r o c k n u n g erzielte H ä r t e g r a d reichte f ü r die K o n s e r v i e r u n g aus. I m V e r ­
lauf des I I I . Jt.s änderte sich die Schreibtechnik. D i e o f t
gekrümmten
Linien ebenso wie runde u n d halbrunde Griffeleindrücke wurden durch
einzelne, m i t der kantigen Griffelspitze erzeugte, keilförmige
Eindrücke
ersetzt, a u f unterschiedliche G r i f f e l g r ö ß e n verzichtete m a n . E s
das
charakteristische
Aussehen
einer
„Keilschrift"
(so die
entstand
modernen
europäischen Bezeichnungen) oder auch „Nagelschrift" (so z.B. i m A r a ­
bischen u n d Georgischen). D i e K e i l - oder N a g e l förmigkeit der Z e i c h e n ­
elemente
wurde
von
den
Mesopotamiern
selbst
als
Proprium
ihrer
Schrift e m p f u n d e n u n d auf anderen M e d i e n — wie etwa Steininschriften
o d e r W a n d g e m ä l d e n — n a c h g e a h m t . I n der zweiten H ä l f t e des III. Jt.s
bildeten sich allmählich kursive Z e i c h e n f o r m e n heraus, die sich i m II. J t .
a u c h lokal i m m e r stärker u n t e r s c h i e d e n . E i n e weitere w i c h t i g e V e r ä n d e ­
r u n g , d i e A n f a n g d e s TL J t . s z u m A b s c h l u ß k a m , b e t r i f f t d i e S c h r i f t r i c h -
61
Von Zählsymbolen %ur Keilschrift
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Abb. 9: Archaische Beamterüiste (Rekonstruktion, nach Englund/Nissen
1993, Tf. 2; 38).
tung: Wohl bedingt durch die ambivalente Schräglage der Tafel in der
Hand des Schreibers kippte die Orientierung um 90 G rad nach links, wie
man an den bildhaften Zeichen erkennen kann. Aus linksläufigen Bän-
62
Manfred Krebernik
dem, die in Fächer unterteilt waren, wurden so rechtsläufige Kolumnen
und Z eilen. Die Z eichenanordnung innerhalb der einzelnen Fächer, die
im wesentlichen inhaltlichen bzw. syntaktischen Einheiten entsprechen,
war anfangs relativ frei, erst um die Mitte des III. Jt.s stellte sich eine der
Lesefolge entsprechende Z eichenanordnung ein.
Unter formalen Gesichtspunkten lassen sich die Keilschriftzeichen
zunächst in einfache und zusammengesetzte einteilen. Daneben gibt es
einen dritten Typus, der dadurch entsteht, daß einfache Z eichen ganz
oder partiell „schraffiert" werden. So wurde beispielsweise das Z eichen
für „Mund" von dem Z eichen für „ K o p f differenziert, indem man die
Mundpartie durch Schraffur hervorhob. Ähnlich unterscheiden sich die
Z eichen für „Hand (mit Arm)" und „Arm, Seite" (Armpartie schraffiert).
Inhaltlich kann man ebenfalls drei Typen unterscheiden: Abbildungen
primärer Objekte (Körperteile, Pflanzen, Gebäude, Gefäße etc.), Abbil­
dungen von Z ählmarken (die ja bereits Z eichencharakter besitzen) und
abstrakt-symbolhafte Zeichen (darunter besonders die Z ahlzeichen). Die
bildhaften Zeichen sind aufgrund der Schreibtechnik bereits von Anfang
ziemlich schematisch und entwickeln sich in diese Richtung weiter.
Zwischen Bildinhalt und Bedeutung bestehen vielerlei Beziehungen.
Im einfachsten Falle wird das Gemeinte ganz abgebildet, wie z.B. ein
„Vogel" oder ein „Fisch". Häufig sind pars-pro-toto-Darstellungen:
Tierköpfe für die entsprechenden Tiere, ein Kanal für „Wasser", die
Genitalien für „Frau" bzw. „Mann". Verbale Begriffe (auch nomina
actoris) werden oft mittels in die Tätigkeit involvierter Konkreta darge­
stellt, also etwa „gehen" und „stehen" durch einen Fuß, „pflügen" und
„Pflüger" durch das Zeichen für „Pflug", „viel sein, wimmeln" durch das
Z eichen für „Schaf, „Aufseher" durch das Zeichen für „Stab". Beispiele
anderer assoziativer Darstellungen: Eine aufgehende Sonne steht für
„Tag" und „Z eit", spezifische Gefäße stehen für „Bier" bzw. „Milch",
die Göttin Inanna wird durch ihr Emblem repräsentiert. Manche Begrif­
fe werden akkumulativ, durch die Kombination zweier assoziierter O b ­
jekte, dargestellt: „ K o p f + „Gerstegefäß" = „Speise, essen"; „Sonne" +
„Fuß" (für „gehen") = „herauskommen"; „Stab" (für .Aufseher") +
„Schaf = „Schafhirt"; „Vogel" + „Ei" = „hervorbringen"; die Maßein­
heiten für „Malz" bestehen aus den üblichen abstrakten Z ahlzeichen, an
denen ein Keim angedeutet ist.
Typisch für die archaischen Texte ist die Koexistenz einer Vielzahl
objektspezifischer Z ahl- und Maßsysteme, denen numerisch eine K o m ­
bination aus Sexagesimal- und Dezimalsystem zugrundeliegt. Die Anzahl
Von Zählsymbolen ^ur Keilschrift
63
der Maßsysteme wurde später erheblich reduziert. Cha ra kteristisch für
die a rcha ischen Wirtscha ftstexte sind desweiteren hiera rchisch geglie­
derte, ta bellena rtige Forma te (Abb. 10), die später zugunsten linea rer
Textgesta ltung zurücktra ten.
Sc In eibt otilci
müßte heiBen
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= 10 (notiert im Bisejcagesimalsystem)
JS»
= Kennzeichen eines Getreidepro dukts
(Backware?) durch die ;
enthaltene Gerstenmenge
ßl = 1/3 m
\ ß l
= Menge des für 10 ß |
erforderlichen
Gerstenschrots
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L^S ^
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r
—
B
2 x 6 0 = 120
(notiert im S exagesimalsystem)
Krüge einer anderen Biersorte
D®
Menge des erforderlichen
GerstenschroLs
B
*R=5
Menge des erforderlichen
Malzes
= 20 (notiert im Bisexagesimal
S ystem)
1^1
= Getreideprodukt
I^5l
E5
= 1/4 W
i
= 1/20 KJ>
= Menge des fUr 20
erforderlichen
GerstenschroLs
1
irr
BF
= 60 (notiert im Bisesagesimal
* ^ S ystem)
J^l
[g| =
O
1/6^ =
1/30D
- Menge des für 60 ß T l
>tt
erforderlichen
Gersienschrots
|H}^5^
= 1.200 + 5 x 1 2 0 = 1 . 8 0 0
(notiert im Bisexagesimalsystein)
= Getreideprodukt (Ration?)
= große
c(Jj/
= Getreideprodukt
1^5^
Menge des erforderlichen
Gerstenschrots
= Krüge einer bestimmten Biersorte
=
Menge des erforderlichen Gerstensclirots
= Menge des erforderlichen Malzes
Abb. 10: Archaischer Wirtschaftstext a us Uruk: Brot- und Bierproduktion
(na ch Nissen/Damerow/Englund 1990, 72).
Die a rcha ischen Wirtscha ftstexte sind im großen und ga nzen una bhängig
von der zugrundeliegenden Spra che interpretierba r. Die Beziehungen
zwischen den einzelnen Elementen ergeben sich a us dem Formula r, da s
gewisserma ßen die Synta x des Dokuments da rstellt. Der Text a ls ga nzer
ist nicht a ls eineindeutige Abbildung zusa mmenhängender Rede konzi-
Manfred Krebernik
64
piert. E r kann unterschiedlich verbalisiert oder paraphrasiert werden.
Einzelne Zeichen repäsentierten w o h l v o n A n f a n g a n verschiedene,
sinnverwa ndte Wörter, wie dies später für die meisten Zeichen belegt ist:
beispielsweise steht ein K o p f mit Schra ffur der Mundpa rtie für „ M u n d " ,
„ Z a h n " , „ W o r t " , „ S t i m m e " u n d „sprechen".
D i e älteste sicher identifizierba re Keilschriftspra che ist da s Sumeri­
sche, eine Erga tivspra che mit ha uptsächlich a gglutinierender M o r p h o l o ­
gie. Genetisch konnte da s Sumerische bisla ng mit keiner a nderen Spra ­
che verknüpft werden. Deutlich tritt es uns erst einige Ja hrhunderte
später entgegen, na chdem sich da s Schriftsystem z u einer kombinierten
W o r t - u n d La utschrift entwickelt ha tte. D i e phonogra phische K o m p o ­
nente beruht a uf H o m o p h o n i e oder H o m o i o p h o n i e , a lso d e m G l e i c h ­
oder Ähnlichkla ng, v o n Wörtern. Beispielsweise la uteten die sumerischen
W ö r t e r für „ K n o b l a u c h " u n d „ g e b e n " gleich (oder ähnlich), u n d so
verfiel m a n da ra uf, da s Piktogra mm für „ K n o b l a u c h " zu benutzen, u m
da s W o r t „ g e b e n " zu schreiben. In a na loger Weise schrieb m a n die
W ö r t e r ti „sich nähern" u n d til „ l e b e n " mit d e m Piktogra mm für ti
„Pfeil", oder sar „schreiben" mit d e m Piktogra mm für sar „Beet". 1
O b da s Sumerische schon den ältesten Texten zugrundeliegt, ist u m ­
stritten. Eindeutige Hinweise a uf die Spra che der ältesten Schriftdenk­
mäler k ö n n e n H o m ( o i ) o p h o n e liefern, da diese, zuma l in größerer A n ­
za hl, spra chspezifisch sind. So dürfte es ka um eine Spra che a ußer d e m
D e u t s c h e n geben, in der s o w o h l „ T o n " (Lehm) u n d „ T o n " (Scha ll) a ls
a uch „ m e h r " u n d „ M e e r " h o m o p h o n sind. Einige dera rtige Indizien
m a chen es sehr wa hrscheinlich, da ß die Spra che der Schrifterfinder in
der T a t da s Sumerische wa r. Beispielsweise findet sich in der a rcha ischen
Bea mtenliste inmitten v o n Titeln, die mit d e m Zeichen G A L gebildet
sind, die Zeichengruppe N U N . M E (Abb. 9, K o l . i, Z . 15). Ersteres ist
na ch Ausweis späterer T e x t e sumerisch gal „ g r o ß " zu lesen, letztere abgal
(Priestertitel). Mit großer Wa hrscheinlichkeit wa ren die Ausdrücke in
der a rcha ischen Liste durch pa rtielle H o m o p h o n i e , nämlich den B e ­
st a ndteil gal, miteina nder verknüpft u n d
somit sumerisch
zu
lesen.
E N . M E . G I in derselben Liste (Kol. iv, Z . 3) ist na ch Ausweis späterer
T e x t e engi^ zu lesen u n d bezeichnet eine A r t „ K o c h " . Da sselbe gilt für
E N . M E . M U mit Lesung endub in der nächsten Zeile. O f f e n b a r sind die
Hier und im folgenden gelten folgende Umschriftkonventionen: Spra chliche
Ausdrücke (phonologische Ebene) sind kursiv gesetzt (Morpheme gegebe­
nenfa lls durch = getrennt), tra nsliterierte Gra pheme (Schriftebene) fett (zu
einem Wort gehörige Gra pheme durch Punkt oder Bindestrich getrennt).
Von Zählsy mbolen s(_ur Keilschrift
65
Bestandteile E N und G l lautlich z u interpretieren. W ä h r e n d en ein selb ­
ständiges, mit sumerisch en „ H e r r " identisches Wortglied sein könnte
(engis^ u n d endub also mit en- geb ildete K o m p o s i t a ) , dürfte G l als b loßer
Lautindikator gi fungieren. D a s Zeichen stellt ein Schilfrohr dar, u n d
dieses heißt i m Sumerischen gi. Wieder weist eine partielle H o m o p h o n i e ,
nämlich zwischen W ö r t e r n für „ K o c h " u n d „Schilfrohr", auf das Sume­
rische. Voraussetzung ist, daß die späteren Lesungen v o n
NUN.ME
b zw. E N . M E . G I auch für die archaischen T e x t e zutreffen, was wieder­
u m durch jeweils partiell h o m o p h o n e K o n t e x t e gestützt wird.
D i e H o m ( o i ) o p h o n i e Heß sich auch unterhalb
der W o r t e b e n e nut­
zen, i n d e m m a n nämlich silb ische Wortb estandteile isolierte u n d mit­
tels der Z e i c h e n für h o m ( o i ) o p h o n e W ö r t e r schrie b . N a c h
sogenannten
„ R eb u s p r i n z i p "
würde m a n
etwa das
deutsche
diesem
Wort
„ Z w e i f e l " in die Silb en %wei u n d fei zerlegen u n d durch P i k t o g r a m m e
für „ z w e i " u n d „ F e l l " darstellen. U m die Mitte des III. Jt.s b ildete sich
auf diese W e i s e ein b eschränktes Repertoire v o n Z e i c h e n heraus, die
losgelöst v o n
ihrer W o r t b e d e u t u n g
als Silb enzeichen
geb räuchlich
waren. Sie dienten in erster Linie zur Schreib ung grammatischer M o r ­
p h e m e , w ä h r e n d die W o r t b a s e n nach wie v o r durch L o g o g r a m m e dar­
gestellt wurden. U m b eispielsweise die v o n
sumerisch äug „sagen"
ab geleitete F o r m dug=a „gesagt" darzustellen, komb inierte m a n das
W o r t z e i c h e n D U G 4 „ s a g e n " mit d e m Syllab ogramm ga, das als L o g o ­
g r a m m „ M i l c h " b edeutet: D U G t - g a .
N e b e n der logographischen u n d der syllab ographischen Funktion b il­
dete sich v o n A n f a n g an eine dritte Zeichenfunktion heraus, nämlich die
determinierende: M a n b enutzte gewisse L o g o g r a m m e , u m die Bedeu­
tungsklasse eines Wortes anzuzeigen u n d damit auf die richtige Lesung
hinzuweisen (ohne die Klassenzeichen selb st mit auszusprechen). Bei­
spielsweise markierte m a n Götternamen mit d e m vorangestellten Z e i ­
chen für „ G o t t " , Bezeichnungen v o n B ä u m e n u n d Holzgegenständen
mit d e m vorangestellten Zeichen für „ H o l z " , V o g e l - und Fischnamen
durch das nachgestellte Zeichen für „ V o g e l " b zw. „Fisch".
D a s u m die Mitte des III. Jt.s erreichte Entwicklungsstadium der K e i l ­
schrift reichte zur Wiedergab e zusammenhängender sumerischer T e x t e
aus, da das System gut mit der Struktur dieser Sprache harmonierte.
Seine Mängel lagen in der n o c h unterentwickelten
phonographischen
K o m p o n e n t e : Setzt m a n voraus, daß das Sumerische mindestens die
Silb entypen (C)v, vC, u n d CvC (C = K o n s o n a n t , v = V o k a l ) b esaß, so
hätte es schon einer sehr h o h e n A n z a h l v o n Syllab ogrammen b edurft,
Manfred Krebernik
66
u m alle sumerischen W ö r t e r vollständig wiedergeben zu können. T a t ­
sächlich konnten aber viele W örter wegen des beschränkten Syllabogramminventars nur u n v o l l k o m m e n dargestellt werden. Dies betrifft v o r
allem geschlossenen Silben. So konnte m a n die V e r b a l f o r m munandug „er
sagte i h m " nur m u - n a - D U G 4 schreiben, da für die Silbe nan kein Syllab o g r a m m zur V e r f ü g u n g stand. A u c h wurden längst nicht alle existieren­
den Zeichen für monosyllabische W ö r t e r als Syllabogramme benutzt.
Muttersprachler konnten diesen Nachteil durch ihre Sprachkompetenz
wettmachen. N u n lebten aber in engem K o n t a k t mit den Sumerern auch
anderssprachige Ethnien wie die semitischen Akkader i m
nördlichen
Zweistromland. So dürfte sich v o n A n f a n g an die Notwendigkeit erge­
ben haben, nicht nur sumerische W ö r t e r u n d N a m e n z u schreiben, son­
dern auch fremde.
D e r semitische Sprachtypus unterscheidet sich stark v o m
sumeri­
schen: D i e Morphologie ist flektierend, w o b e i neben Prä- und Suffixen
wortinterne Veränderungen eine entscheidende Rolle spielen. So bildet
das akkadische V e r b u m für „setzen" u.a. die F o r m e n sakänum „setzen",
üakkan
„er setzt", nistakan „wir haben gesetzt", taskun „ d u setztest",
suknam „setze her!", ustaskinü „sie ließen setzen", lissakin „es werde ge­
setzt!". U m einen zusammenhängenden akkadischen T e x t adäquat zu
verschriften, ist eine voll ausgeprägte Lautschrift unabdingbar. D i e V e r ­
v o l l k o m m n u n g der phonographischen Schreibweise erfolgte in mehreren
Schritten. Bereits u m die Mitte des III. Jt.s k a m m a n auf die Idee, ge­
schlossene Silben durch zwei Syllabogramme auszudrücken, u n d zwar
durch C v - v C oder C v - C v (letzteres mit redundantem V o k a l des zweiten
Zeichens), also beispielsweise si-il oder si-li für gesprochenes sil. D i e
zweite, ambivalente M e t h o d e wurde bald wieder aufgegeben. D e r näch­
ste Schritt bestand in der K o m p l e t t i e r u n g der elementaren
Syllabo-
grammtypen C v und vC. Diese erfolgte w o h l u m 2300 v. Chr. unter
Sargon v o n A k k a d e , d e m Begründer des ersten altorientalischen G r o ß ­
reichs. Z w e i der letzten Bausteine des Syllabars sind bezeichnenderweise
akkadischen Ursprungs: der Silbenwert el des sumerischen L o g o g r a m m s
S I K I L „rein" leitet sich v o n akkadisch ellum „rein" ab, u n d der Silben­
wert id des sumerischen L o g o g r a m m s A „ A r m " v o n akkadisch idum
, A r m " . D a das Akkadische wie die anderen älteren semitischen Sprachen
nur Silben der T y p e n Cv u n d CvC besitzt, k o n n t e n n u n i m Prinzip alle
akkadischen W ö r t e r vollständig wiedergegeben werden. Allerdings blie­
ben Ungenauigkeiten bestehen: Zunächst differenzierte m a n weder i m
Silbenanlaut n o c h i m Silbenauslaut zwischen stimmhaften, stimmlosen
67
Von Zählsymbolen syr Keilschrift
u n d glottaüsierten K o n s o n a n t e n , das S yllabogramm da konnte also da, ta
oder ta meinen. I m II. Jt. wurde das S yllabar in dieser Hinsicht differen­
ziert bzw. erweitert. Bei konsonantisch auslautenden S yllabogrammen
wurde die Mehrdeutigkeit jedoch nie beseitigt: id konnte also immer für
id, it u n d it stehen.
D i e neuen Errungenschaften der syllabischen S chreibweise wurden
für das S umerische nur bedingt herangezogen, i m großen u n d ganzen
blieb m a n der traditionellen K o m b i n a t i o n aus W o r t - u n d S ilbenschrift
treu. E i n G r u n d hierfür war w o h l die bereits jahrhundertealte sumerische
S chreibtradition. H i n z u k o m m t , daß das S umerische offenbar viele H o ­
m o p h o n e (oder H o m o i o p h o n e , die evd. durch nicht darstellbare T ö n e
oder Vokalquantitäten unterschieden waren) besaß. A l s das S umerische
etwa z u Beginn des II. Jt.s als gesprochene S prache erlosch, wurde es als
S chul-, Literatur- u n d Kultsprache weitergepflegt, wobei die „ p o s t u m e "
Tradition auch das alte S chriftsystem konservierte.
I m Akkadischen setzte sich hingegen die syllabische S chreibweise
weitgehend durch, wenngleich m a n daneben auf die logographische nicht
verzichtete; sie n a h m in späterer Zeit wieder zu und überwog sogar in
bestimmten „akademischen" Textgattungen.
Charakteristisch für das ausgebildete Keilschriftsystem sind Multifunktionalität und Polyvalenz der G r a p h e m e : E i n gegebenes Zeichen
kann als L o g o g r a m m , Determinativ oder S yllabogramm fungieren, u n d
die meisten Zeichen besitzen mehrere W o r t - u n d / o d e r S ilbenwerte. A l s
L o g o g r a m m e und selten als S yllabogramme treten auch G r a p h e m g r u p ­
pen auf. Freilich sind nur bei wenigen Zeichen alle drei Funktionen zu­
gleich üblich, u n d die gebräuchlichen S ilbenwerte unterscheiden sich
nach Zeit und Ort. Beispielsweise hat das Zeichen A N
(ursprünglich
P i k t o g r a m m eines S terns) folgende Funktionen bzw. Lesungen:
1. A l s L o g o g r a m m steht es für die sumerischen Wörter an „ H i m m e l "
u n d digir „ G o t t " sowie deren akkadische Äquivalente samü bzw. ilum.
2. A l s Determinativ steht es v o r Götternamen.
3. A l s S yllabogramm hat es die W e r t e an u n d 11 (letzterer nur einge­
schränkt gebräuchlich).
Z u r Illustration des ausgebildeten Keilschriftsystems m ö g e n zwei T e x t ­
p r o b e n dienen ( A b b . I I a , H b ) . D i e erste ist eine sumerische Bauinschrift
des S tadtfürsten G u d e a v o n Lagas (ca. 2100 v. Chr.), die zweite stammt
aus der gegen 1750 v. Chr. verfaßten akkadischen
Gesetzessammlung
des K ö n i g s H a m m u r a p i v o n Babylon. Beide Texte sind in Keilschrift,
Transliteration u n d Transkription gegeben.
68
Manfred Krebernik
fjgjMggflg
teg g
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I^Of
1
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TO^fi
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"NIN-GlS-ZI-da
nin-§i$-zid=a
Nin-giäzida,
DIGIR-ra-ni
digir=ani=[r]
seinem Gott,
GÜ-DE-a
gu-de=a
h at G u d e a ,
ENSKPA.TE.SD
ensi(k)
der Stadtfiirst
LAGAS(SlR.BURXA)'"
laga3a=(k)
LÜE-NINNU
lu
"NIN-GIR-SÜ-ka
nin-g~irsu=k=a(k)
des N i n - G i r s u
in-DÜ-a
i-=n—du=a={e)
erbaut h at,
e
sein "Haus v o n Girsu"
£ 6 f R-SÜ
kl
-ka-ni
mu-na-DÜ
e-ninnu
girsu~k-ani
der das "E-ninnu"
mu=na=[nj=du
erbaut.
W e n n ein Burger
ggMio g!
sum-ma a-wi-lum
Summa
awilum
NtG-GUR„ DIGIR
makkür
ilim
<ra ICF^T g —
uE-GAL
ü
HK jLjl
v o n LagaS,
ekallim
i§-ri-iq
üriq
a-wi-lum su-ü
awilum
id-da-ak
iddäk
Besitztum eines Gottes
oder des Palastes
gestoh len h at,
Sil
w i r d dieser Bürger
getötet
Abb. I I a und IIb: In der Transliteration stehen Logogramme in Kapitäl­
chen, Detenninative sind hochgestellt. In der Transkription des Sumeri­
schen sind grammatische Morpheme durch doppelten Bindestrich abge­
trennt; in runden Klammern stehende Laute fallen aus lautgesetzlichen
Gründen weg, in eckigen Klammern stehende werden in der Orthographie
nicht berücksichtigt.
Die sumerisch-akkadische Keilschrift wurde auf mehrere Nachbarspra­
chen übertragen, dabei aber nur geringfügig modifiziert. Im Laufe des
I. Jt.s wurde das Akkadische und damit auch die Keilschrift zunehmend
vom alphabetisch geschriebenen Aramäischen verdrängt. Der jüngste
datierte Keilschrifttext stammt aus dem Jahre 74/75 n.Chr.
A m Ende unserer Skizze des Keilschriftsystems sei ein Phänomen er­
wähnt, das man zu einem der Schwerpunkte von „Schrift und Bild in
Bewegung", nämlich den Buchstaben-Spielen, in Beziehung setzen kann.
Es findet sich in den ältesten keilschriftlichen Literaturdenkmälern, die
etwa ins 26. Jh. v. Chr. datieren. Viele sumerische Texte mythologischen
Inhalts bedienen sich eines allographischen Systems, das darin besteht,
daß bestimmte Z eichen ungeachtet ihrer Funktion im jeweiligen Kontext
durch ein anderes ersetzt werden. Dies geschieht jedoch nicht konse-
Von Zählsymbolen
Keilschrift
69
quent, und es kann vorkommen, daß in ein- und demselben Wort nor­
ma le und UD.GAL.NUN-Orthogra phie - so die moderne Bezeichnung
für da s a llogra phische System — miteina nder wechseln. Wenn zwei oder
mehrere Handschriften derselben Komposition existieren, variieren diese
oft hinsichtlich der Zeichenwa hl. Ma n zögert a us diesen Gründen, von
Kryptogra phie zu sprechen. Die Rela tion zwischen norma len und
UD.GAL.NUN-Zeichen ist in keiner Richtung eindeutig, d.h. für ein
Zeichen können mehrere Allogra mme eintreten, und ein Allogra mm
ka nn für mehrere norma le Zeichen stehen. Zwischen Norma lzeichen
und Allogramm ist gewöhnlich eine Beziehung auf graphischer, la utlicher
oder inha ltlicher Ebene feststellba r. Da s UD.GAL.NUN-System wa r
offenba r eine ephemere Erscheinung der frühdyna stischen Zeit. Aus der
a nschließenden Akka de-Zeit ist uns nur noch ein Schultext überliefert,
der Personennamen in U D . G A L . N U N - und norma ler Gra phie eina nder
gegenüberstellt.
Abschließend nun zu einigen übergeordneten Aspekten der Schrift­
entwicklung im Vorderen Orient. Unter Schrift verstehen wir im la nd­
läufigen Sinne ein visuelles Zeichensystem zur Kodierung von gespro­
chener Spra che. In Hinblick a uf die ältesten Schriftzeugnisse des a us­
gehenden IV. Jt.s möchte ma n eher von einem Zeichensystem zur
Speicherung wirtscha ftlich releva nter Da ten (Qua ntitäten, Wirtscha fts­
güter, Funktionäre, Transaktionen) sprechen.
Ma n kann nun den Fortgang der altorientalischen Schriftgeschichte als
Annäherung von Gra phem- und Phonemebene betra chten. A m Beginn
stehen Dokumente, die keine kontinuierliche Rede da rstellten und sinn­
gemäß auf verschiedene Weise verbalisiert werden konnten. Da s Bedürf­
nis, zusa mmenhängende Rede a ufzuzeichnen, ma g a ber ein Grund für
die Weiterentwicklung des Schriftsystems gewesen sein. Die Schrifterfindung selbst setzt bereits da s Bewußtsein vora us, da ß spra chliche Äuße­
rungen sich in konkrete, wiederkehrende Einheiten, nämlich Wörter
zerlegen la ssen (wa s nicht für a lle Spra chtypen gleich selbstverständlich
ist). Geeignet für eine Wortschrift sind in erster Linie Spra chen mit un­
veränderlichen Wörtern oder Wortba sen, wa s für da s Sumerische weit­
gehend zutrifft. Unterha lb der Wortebene Kegende Einheiten sind Silbe
und Phonem. Im Fa lle der Keilschrift führte der Weg vom Wort 2ur
Silbe. Vora ussetzung für eine solche Entwicklung wa r wiederum ein
geeigneter Spra chtypus: Die Spra che mußte eine größere Anzahl Wörter
entha lten, deren Silben gleichzeitig Hom(oi)ophone monosylla bischer
Wörter wa ren. Mit großer Wa hrscheinlichkeit wird eine solche Spra che
70
Manfred Krebernik
keine allzu komplexen Silbenstrukturen besitzen. Beide Bedingungen
trafen offenbar auf das Sumerische zu.
Verdächtig erscheint a llerdings der uns vom Schriftsystem suggerierte
Umsta nd, daß das Sumerische und das Akkadische a ls genetisch wie auch
typologisch völlig verschiedene Spra chen gena u dieselbe Silbenstruktur
(und denselben Voka lbesta nd) besessen ha ben sollten. Und in der Ta t
deuten gewisse Schreibvarianten und „unorthogra phische" Schreibungen
da ra uf hin, da ß es im Sumerischen z.B. a uch Doppelkonsona nz im A n ­
la ut ga b. Die La utgesta lt des Sumerischen ist uns freilich nur indirekt
über da s Akka dische zugänglich, von dessen Phonologie wir wegen des
differenzierten Sylla ba rs und a ufgrund der Kenntnis verwa ndter semiti­
scher Sprachen eine genauere Vorstellung ha ben.
Mit den schon in sumerischer Zeit hera usgebildeten Sylla bogra mmtypen Cv, vC und CvC ließ sich idea lerweise nur eine Spra che da rstellen,
die wie das Akkadische gena u diese Silbentypen kennt. Spra chen wie da s
Deutsche, wo Konsona ntencluster im Silbena n- und -a usla ut möglich
und soga r kombinierba r sind — es können da nn bis zu sieben sein wie
etwa in „Herbststrauß" - sind mit keilschriftlichen Mitteln nur unzuläng­
lich da rstellba r. Ausgehend vom Akka dischen wäre ma n a lso ka um a uf
eine Silbenschrift verfa llen, da es fa st keine monosylla bischen Wörter
gibt — zumindest keine konkreten, leicht durch Piktogra mme oder Sym­
bole darstellbaren Substa ntive.
Glücklicherweise liegt uns ein Beispiel für die Schriftentwicklung a uf
der Grundla ge einer dem Akka dischen strukturverwa ndten Spra che vor,
nämlich der ägyptischen. Im Ägyptischen bringt die Flexion wie in den
semitischen Spra chen wortinterne Veränderungen mit sich, während die
Konsona nten sta bil bleiben. Konsequenterweise ha t der Schritt unter die
Wortebene da her in Ägypten zur konsona ntischen Wurzel und a ls Spe­
zia lfa ll zu einem vollständigen Sa tz von Zeichen für konsona ntische
Phoneme geführt. Ebenso wie im Sumerischen die a nsa tzweise vorha n­
dene sylla bische Orthogra phie nicht ra dika l durchgeführt wurde, blieb
ma n auch in Ägypten dem tra ditionellen gemischten Schriftsystem treu.
Die Idee der konsona ntischen Phonemschreibweise wurde jedoch in
der ersten Hälfte des II. Jt.s a uf der bena chba rten Sina i-Ha lbinsel in
semitischem Milieu a ufgegriffen und führte zur Alpha betschrift. Alpha ­
bet- und Keilschrift begegneten sich in Syrien-Pa lästina . Ein Kind dieser
Begegnung ist das im 14. und 13. Jh. gebräuchliche ugaritische Keila lpha ­
bet, dessen Gra pheme äußerlich na ch dem Vorbild der Keilschrift ge­
sta ltet sind, jedoch Konsona nten da rstellen; lediglich drei na ch keil-
Von Zählsymbolen ^ur Keilschrift
71
schriftlichen Vorbildern geschaffene Zeichen stehen für die Silben
7
u n d 'u. Bereits in der ugaritischen Orthographie gibt es Ansätze zur
Vokalschreibung (das Zeichen für den Halbvokaljy steht bisweilen w o h l
für i). Dieser W e g wurde in jüngeren semitischen Alphabeten weiterver­
folgt. Radikal durchgeführt wurde der Ansatz aber erst, nachdem das
A l p h a b e t v o n den Griechen ü b e r n o m m e n worden war.
A l s Fazit ergibt sich, daß für die Schrifterfindung u n d -entwicklung
i m V o r d e r e n O r i e n t folgende Faktoren u n d Z u s a m m e n h ä n g e bestim­
m e n d waren:
1. I m Z u g e der Neolithisierung entstandene Technologien u n d Wirt­
schaftsformen.
2. D i e damit zusammenhängende Herausbildung arithmetischer Begriff­
lichkeit.
3. D i e Existenz v o n Sprachen, die strukturell günstige Voraussetzungen
für die Entwicklung v o n P h o n o g r a m m e n aus L o g o g r a m m e n boten,
i m vorgegebenen Kulturraum.
4. E n g e K o n t a k t e zwischen unterschiedlichen Sprachen.
5. E i n e u.a. daraus resultierende Abstraktionsfähigkeit i m U m g a n g mit
Sprache.
6. A d a p t a t i o n
u n d Weiterentwicklung
des Schriftsystems in
neuem
Sprachmilieu.
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