Leibnitz 2013 Birgit Vera Schmidt Die probabilistische Methode Die probabilistische Methode ist eine Technik für den Beweis der Existenz von mathematischen Objekten mit vorgegebenen Eigenschaften. Sie benutzt die Wahrscheinlichkeitstheorie, wird aber oft zum Beweis von Resultaten verwendet, die überhaupt nichts mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Grundlegender Ansatz: Wir möchten die Existenz eines Objektes mit spezifischen Eigenschaften zeigen. Unglücklicherweise ist eine explizite Konstruktion schwierig, vielleicht unmöglich. Wir betrachten nun ein geeignetes Wahrscheinlichkeitsmaß auf der Klasse aller zulässigen Objekte. Wir zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein zufällig ausgewähltes Objekt dieser Klasse die gewünschte Eigenschaft hat, positiv ist. Folglich muß es ein solches Objekt geben, anderenfalls wäre die Wahrscheinlichkeit für so ein gutes“ Objekt ja Null. ” Pionier dieser Methode war Paul Erdős (1913–1996), der ab 1947 eine beachtliche Anzahl von Resultaten mit dieser Methode erzielt hat. Die erste Anwendung auf ein kombinatorisches Problem stammte allerdings 1943 von Tibor Szele (1918–1955). Satz 1. Sei S eine endliche Menge, und sei X : S → R eine Funktion. Der Durchschnittswert von X über alle Elemente von S sei E: P X(s) E := s∈S |S| Dann existiert ein s ∈ S mit X(s) ≥ E (und analog ein ŝ ∈ S mit X(ŝ) ≤ E). Beweis. Angenommen, es würde X(s) < E für alle s ∈ S gelten. Dann würde folgen: P P E X(s) |S| · E < s∈S = =E E = s∈S |S| |S| |S| Beispiel 2. Die Durchschnittstageshöchsttemperatur im Februar betrug in Graz 3.6◦ C. Also muss es an mindestens einem Tag mindestens 3.6◦ C gehabt haben. Korollar 3. Falls X(s) ganzzahlig für alle s ∈ S ist, so existiert ein s ∈ S mit X(s) ≥ dEe (und analog ein ŝ ∈ S mit X(ŝ) ≤ bEc). Beispiel 4. Bei einer Mathematik-Schularbeit erreichte die 8c-Klasse einen Notendurchschnitt von 2.3. Also muss mindestens ein Schüler mindestens einen 2er geschafft haben. Manchmal ist eine exakte Berechnung von E schwer, aber eine Abschätzung leicht zu finden. Korollar 5. Sei E definiert wie in Satz 1, und sei bekannt, dass E ≥ e. Dann existiert ein s ∈ S mit X(s) ≥ e. Falls X(s) ganzzahlig für alle s ∈ S ist, so existiert ein s ∈ S mit X(s) ≥ dee. (Achtung: Die Umkehrung, dass es auch ein ŝ mit X(ŝ) ≤ e geben müsse, folgt daraus nicht, da e nur eine untere Schranke für E ist!) Beispiel 6. Die 30 Schüler einer Klasse hatten Hausübungen in Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch zu erledigen. Jede Hausübung wurde von mindestens 16 Schülern erledigt. Man zeige, dass es mindestens einen Schüler gibt, der mindestens drei Hausübungen gemacht hat. Beweis. Sei S die Menge der Schüler, und für jeden Schüler s ∈ S bezeichne X(s) die Anzahl der Hausübungen, die er gemacht hat. Dann gilt: P X(s) E := s∈S |S| 4 · 16 64 ≥ = |S| 30 Also muss es einen Schüler s ∈ S geben mit X(s) ≥ 64 30 = 3. Leibnitz 2013 Birgit Vera Schmidt Satz 7. Sei S eine endliche Menge, sei P : S → [0, 1] eine (Wahrscheinlichkeits-)Funktion mit P s∈S P(s) = 1, und sei X : S → R eine Funktion. Der Erwartungswert von X über alle Elemente von S mit Verteilung P sei E(X): X E(X) := P(s) · X(s) s∈S Dann existiert ein s ∈ S mit X(s) ≥ E(X), und analog ein ŝ ∈ S mit X(ŝ) ≤ E(X). Beweis. Wie in Satz 1 nehmen wir an, es würde X(s) < E(X) für alle s ∈ S gelten. Dann würde folgen: X X X E(X) = P(s) · X(s) < P(s) · E(X) = E(X) · P(s) = E(X) · 1 = E(X) s∈S s∈S s∈S Der Vorteil hierbei ist, dass alle bekannten Rechenregeln für Erwartungswerte verwendet werden können: • E(X + Y ) = E(X) + E(Y ) für (nicht notwendigerweise unabhängige) Zufallsvariablen (Funktionen) X und Y . • E(X · Y ) = E(X) · E(Y ) für unabhängige Zufallsvariablen (Funktionen) X und Y . • E(cX + d) = cE(X) + d für eine Zufallsvariable X und reelle Zahlen c und d. Beispiel 8. Die 30 Schüler einer Klasse hatten Hausübungen in Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch zu erledigen. Die Deutsch-Hausübung wurde von 17 Schülern erledigt, Mathematik von 21 Schülern, Englisch von 8 Schülern und Französisch von 19 Schülern. Man zeige, dass man zwei Schüler auswählen kann, sodass jede Hausübung von mindestens einem der beiden erledigt wurde. Beweis. Sei T die Menge der Schüler, S = T × T die Menge der möglichen Zweiergruppen, und für jedes Schülerpaar (t1 , t2 ) ∈ T × T sei X(t1 , t2 ) die Anzahl der Hausübungen, die keiner der beiden Schüler t1 und t2 erledigt hat. Wir wollen den Erwartungswert E(X) berechnen, also die erwartete Anzahl der fehlenden Hausübungen eines Schülerpaares: E(Anzahl fehlende Hausübungen) :=E(beiden fehlt Deutsch) + E(beiden fehlt Mathe) + E(beiden fehlt Englisch) + E(beiden fehlt Französisch) 2 2 2 2 9 22 11 13 + + + = 30 30 30 30 2 2 2 2 13 + 9 + 22 + 11 = 302 855 = 900 Also muss es ein Schülerpaar t1 , t2 geben mit X(t1 , t2 ) ≤ 855 = 0. 900 (Falls t1 = t2 gilt, bedeutet das, dass der Schüler t1 selbst alle Hausübungen erledigt hat. Wir können ihn also mit jedem beliebigen Schüler ti kombinieren, um ein Paar (t1 , ti ) mit der gewünschten Eigenschaft zu erhalten.)