Gott sein ist ein harter Job Der Spiegel 8/1972, 110-123 "Das neue Idol heißt Jesus", predigen die Musikmanager; "Jesus kommt", prophezeien die Buchverlage; 5 "Jesus Love Storys" kündigen die Filmproduzenten an. Ein heiliger Rock dröhnt von Schallplatten und Tonband-Kassetten, aus Beatlokalen, Rundfunk- und Fernsehgeräten. Mit den Premieren der erfolgreichsten amerikanischen Jesus-Musicals in Hamburg und Münster 10 wird der Heiland nun auch in der Bundesrepublik zum Show-Business-Star. 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Jesus, so steht es geschrieben, ging in den Tempel, warf die Tische der Kaufleute und Geldwechsler um und vertrieb die Krämer aus dem Gotteshaus. Dann versammelte er die Blinden und Lahmen um sich und heilte sie. Und als sich die Hohenpriester über die Wunder entrüsteten, kehrte Jesus ihnen den Rücken und verließ die Stadt. Nun ist der Heiland wiedergekommen, um die alte Szene noch einmal zu spielen – in den Tempeln des Schaugeschäfts und im Stil einer Persiflage: Im Rhythmus der zeitgenössischen Popmusik, Rock genannt, verkündet er über Lautsprecher- und Verstärkeranlagen ein neues Evangelium: Ihr sollt Gott und den Mammon lieben. Krämer und Händler scharen sich wie Jünger um ihn; die Wunder werden von Musical-Regisseuren verrichtet, und die Blinden und Lahmen im Publikum schreien "Hosianna!" Doch die Priester entrüsten sich diesmal nicht; sie laden den Entertainer Jesus in ihre Bethäuser ein. Die Ausbeutung des Neuen Testaments durch die Unterhaltungsmedien. die Fusion von Religion und Show Business, ist in vollem Gange. Seit dem vergangenen Donnerstag singt, tanzt und musiziert der Herr nun auch in der Bundesrepublik: Als Clown geschminkt, in buntem Kostüm, erscheint er – bei Eintrittspreisen von fünf bis 25 Mark – vor dem Altar der Hamburger Petrikirche. Er tritt in einem Musical mit dem Titel "Godspell" (etwa: "Gott wörtlich nehmen") auf, das die Produktionskosten von rund 500 000 Mark auf einer Tournee durch deutsche Gotteshäuser wieder einspielen und kräftig Gewinn machen soll. Am Freitag dieser Woche läßt sich ein zweiter Erlöser, umgeben von 80 Schauspielern, Sängern, Tänzern und Musikern, erstmals in Münster in Westfalen ans Kreuz schlagen: im Musical "Jesus Christ Superstar". Auch von dieser Show (Investitionssumme: eine Million Mark), die anschließend zumindest ein Jahr lang in der Bundesrepublik gezeigt werden soll, erhoffen sich die Produzenten einen prallen Klingelbeutel voller Silberlinge. Denn "Jesus Christ Superstar", ersonnen vom Komponisten Andrew Lloyd Webber und dem Librettisten Tim Rice, ist gegenwärtig "the greatest show on earth" – das "erste totale Medien-Spektakel in der Geschichte des Schaugeschäfts" (so die amerikanische Fachzeitschrift "Variety"). "Jesus Christ Superstar" tönt in Schlagersendungen und im Kirchenfunk, in amerikanischen Popmusik-Stationen und in Radio Vatikan. Er rockt im Fernsehen, auf Schallplatten, auf der Konzertbühne, in Musiktheatern und demnächst in einem Breitwandfilm, der in Israel ge- 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 dreht werden soll. Von der – noch vor der szenischen Uraufführung in einem New Yorker Theater veröffentlichten – StudioSchallplatte des Stückes, einem Doppelalbum, das in Deutschland 29 Mark kostet, wurden bislang mehr als drei Millionen Exemplare sowie rund 800 000 TonbandKassetten in aller Welt verkauft. Gesamtumsatz: etwa 200 Millionen Mark. Drei Tourneetruppen, die mit einer Konzertversion von "Superstar" drei Monate lang Amerika bereisten, brachten mehr als 20 Millionen Mark nach Hause. Und die Broadway-Aufführung – bereits am Premierentag waren Karten für 1,2 Millionen Dollar vorverkauft – hatte schon nach dem ersten Monat einer auf viele Jahre kalkulierten Spielzeit knapp eine dreiviertel Million Mark Plus gemacht. Kein Zweifel: "Jesus Christ Superstar" ist, wie das deutsche Christenblatt "Medium" vermerkt, "die neue Bibel der bis dahin versprengten Jesus-Anhänger und gleichzeitig die Attraktion der modischen High-Society". Die Besucher des New Yorker Original-"Superstar" werden mit einer Nonstop-Aktion spektakulärer, geschmacklich fragwürdiger Bühnentricks düpiert: Da steigt der Nazarener in glitzernder Silberrobe aus einem phallisch geformten, elektronisch bewegten Blütenkelch; da schweben die Priester auf einem Sauriergerippe vom Schnürboden herab, und Judas feiert Auferstehung auf einem von güldenen Pin-up-girls bevölkerten Schmetterling. Die Jünger prozessieren unter Sonnensymbolen und Tiefsee-Ungeheuern, und ein grell geschminkter Herodes im meergrünen Chiffonkleid stelzt auf Kothurnen als riesenwüchsiger Transvestit. Das Musical ist der Hit eines ausufernden Geschäfts mit frommen Gleichnissen, Mythen und Symbolen, an dem sich Gläubige und Ungläubige, Pharisäer und Schriftgelehrte, Gerechte und Ungerechte beteiligen. Noch 1966 konnten die Beatles von sich behaupten: "Wir sind populärer als Jesus" Inzwischen hat der Show-Star aus Bethlehem den Erfolg der Pilzköpfe überboten. Das Quartett ist auseinander, und der RestBeatle George Harrison singt "My Sweet Lord". "Vergib mir, Herr", fleht er in einem Lied seiner DreiPlatten-Kassette "All Things Must Pass", "für die Jahre, die ich Dich ignorierte. Vergib ihnen, Herr, die glauben, auf Dich verzichten zu können. Hilf mir, Herr, über dieses Geschäft erhaben zu sein. Hilf mir bitte, Dich mit mehr Gefühl zu lieben." Preis der Kassette: 51 Mark; Weltauflage: knapp zwei Millionen Exemplare. Wie Harrison ist eine ganze Heerschar von Popmusikanten nicht über das Show-Geschäft mit Gott erhaben. Deshalb gospeln die Musiker: "Du hast einen Freund in Jesus". "Der Herr spricht zu mir" und "Jesus macht dich high". Ein Großteil der internationalen SchallplattenNeuerscheinungen handelt von "Gott, Liebe und Rock 'n' Roll" (Songtitel). "Ich habe die Stimme Gottes gehört." Bob Dylan, beispielsweise, besingt auf der Langspiel120 platte "New Morning" den "Vater des Universums". Der blinde Gitarrenvirtuose José Feliciano bringt auf der Platte "That the Spirit Needs" religiöse Gesänge wie "Komm zu mir, Jesus" zu Gehör. Jeremy Faith engagierte für seine "Jesus"-Langspielplatte einen kalifornischen 125 Kirchenchor. 130 135 140 145 150 155 160 165 170 175 180 185 Die Folk-Rock-Gruppe "The Byrds" meint: "Jesus ist ganz in Ordnung." Das Ehepaar Mimi und Tom Farina schickt auf einer Singleplatte einen "Brief an Jesus"; der Sänger Turley Richards bekennt: "Ich habe die Stimme Gottes gehört", und der Folksong-Interpret Loudon Wainright hat sogar schon ein Resultat der "Jesus-Revolution" zu verzeichnen: "Ich bin froh, daß du religiös geworden bist." Seit die Rock-Band "Aum" aus San Francisco 1968 auf der ersten durchweg religiösen Rock-LP (Titel: "Resurrection") feststellte: "God is back in town", seit der Komponist David Axelrod ("Mass in F Minor") die lateinische Messe erstmals für die Beat-Band "Electric Prunes" vertonte, sind das "Kyrie Eleison", das "Gloria" und das "Agnus Dei" aus der katholischen Liturgie auch Standard-Formulierungen der Popmusik. Die Messe erklingt mit Jazzrhythmen, Musicalmelodien, Streichorchester-Akkorden und elektronischem Rock auf beinahe einem Dutzend Langspielplatten: Duke Ellington hat sie mit seiner Big Band in der Grace Cathedral von San Francisco aufgeführt. Leonard Bernstein ließ sie zur Eröffnung des Kennedy-Kulturzentrums in Washington von mehr als 200 Sängern, Musikern und Tänzern darbieten. Der französische Elektronik-Compositeur Pierre Henry studierte eine "Ceremony mit der Rock-Gruppe "Spooky Tooth" ein. Galt McDermot, Komponist des Musicals "Hair", bearbeitete seinen Broadway-Hit für eine New Yorker Kathedrale zu einer "Messe in F", Titel: "Göttliches Haar". Es gibt Beat-Oratorien, Rock-Requiems und PopmusikInterpretationen religiöser Tonwerke der Vergangenheit. Gleich zwei amerikanische Plattenfirmen bringen Händels "Messias" in Unterhaltungsversionen neu heraus. Und die "Oak Records" in Los Angeles sind im Besitz der "ganzen Wahrheit" der "Truth of Truths": Sie verkaufen die komplette Bibel von der Schöpfungsgeschichte bis zur Auferstehung Christi als SchallplattenMusical – auf 26 Schlagertexte reduziert. Schon ist, wie das amerikanische Musikblatt "Billboard" 190 feststellt, "der Name Christi beinahe häufiger aus Tran- 195 200 205 210 215 220 225 Religion ist neuerdings ein Super-Hit. Auch die deutschen Musikkonzerne wissen mittlerweile: "Das neue Idol heißt Jesus" ("Polydor"-Werbeslogan). Sie gehen "konsequent den Schritt zu religiöser Thematik" ("Metronome"-Reklame), denn der JesusRock – so jedenfalls predigen sie in ihren Pressetexten – "ist schon kein Schlager mehr", er "wirkt fast schon wie eine Anrufung des Herrn" ("Phonogram"-Verlautbarung). Damit die in vielen Zungen vorgetragenen Lieder von "Jesus", "Jesus Christ" und "Jesus Christo" (Titel deutscher Singleplatten) jedoch möglichst schnell zu Schlagern werden, rufen die Plattenhersteller zunächst einmal die Herren in Rundfunkstudios und Zeitungsredaktionen um Beistand an – und werden erhört. Mehr als 50 US-Sender strahlen allwöchentlich das Musikprogramm "Jesus-Kreuzzug" des kalifornischen Radioansagers Wolfman Jack aus, der auch "BibelStories" auf Schallplatten spricht und seine Hörer anweist, sich als "Jesus Fan Club" zu fühlen. Auf europäischen TV-Kanälen – unter anderen bei Südwest III – tanzte kürzlich das englische Ensemble "The Young Generation" eine "Jesus"-Show über den Lebens- und Leidensweg des Heilands. 230 235 240 245 250 sistor-Radios und Stereogeräten zu hören" als in der Kirche. Schon findet der heilige Klang aus der Hitparade ein weltweites Echo in Großstädten und in der Provinz. Erweckungsgesänge im Beat-Rhythmus werden in der Berliner Teestube "One Way" sowie in den christlichen Kaffeehäusern "The Way Word" in New York, "Catacombs" in Seattle und "I Am" in Spokane angestimmt. Sie schallen aus Nachtklubs, Revuetheatern und ehemaligen Striptease-Lokalen – sogar aus den Spielerhotels von Las Vegas und Lake Tahoe. "Religion und Christentum", notierte "Variety", "sind in den Kasinos von Nevada neuerdings ein Super-Hit." Fast 2000 Jahre nach der Entstehung der Evangelien, nach einer wissenschaftlichen Jesus-Literatur, die allein im 19. Jahrhundert rund 60 000 Schriften hervorgebracht hat, sind die Worte Christi zudem zu Mode-Bestsellern auf dem Literaturmarkt geworden. Allein in Deutschland kursieren mindestens drei Traktat-Bändchen im Format der "Mao-Bibeln" mit Sprüchen aus dem Neuen Testament. Von den "Worten des Christus Jesus", die der Wuppertaler Aussaat-Verlag herausgibt (gegenwärtig wird die fünfte Auflage vorbereitet), wurden bislang 50 000 Exemplare ausgeliefert. Eine Flut populärer Jesus-Bücher kommt in dieser Saison mit Startauflagen zwischen 8000 und 30 000 in den Handel: "Jesus kommt!" und "Wer ist Jesus?", "Die Jesus Generation" und "Jesus – Wort und Tat", "Die Jesus Bewegung" und der "Jesus People Report". Selbst der Sex-Bestsellerautor Irving Wallace ("Der ChapmanReport") ist zu Jesus konvertiert: Sein neuer Roman "The Word" handelt von der Entdeckung eines fünften Evangeliums. Den Worten Jesu soll nun auch noch ein buntes FilmBild seiner Taten folgen: Vor allem die Schlußkapitel der biblischen Erlöser-Biographie, die Leiden unter Pontius Pilatus, das Abendmahl und die Kreuzigung, haben amerikanische, italienische und deutsche Produzenten zur Image-Revision herkömmlicher ChristusLichtspiele angeregt. Prominente Regisseure wollen den Dulder von einst (Beispiel: "Das erste Evangelium – Matthäus", 1964) nun als tragischen Revolutionär vorstellen: Als Hochverräter soll etwa der Herr von einer vom Thriller-Veteran Henry Hathaway (nach Faulkner) gefilmten "Legende" füsiliert werden; in WochenschauManier will Franco Zeffirelli "Die Ermordung Christi" untersuchen. Der Folk-Singer Johnny Cash hat – ebenso wie Kameraleute der US-Fernsehgesellschaft CBS – seine Außenaufnahmen zu einem Jesus-Spektakel an den heiligen Stätten rund um den See Genezareth schon abgedreht, und die deutsche Produktionsfirma "Pohland-Film" ließ sich die Titel "Jesus Revolution", "Jesus Report", "Love and Jesus", "Jesus Love Story" urheberrechtlich schützen. Sicher ist sicher. Doch es gibt nicht nur den vollverkabelten Jesus, den Messias der Elektronik, der Mikrophone, Kameras und Rotationspressen. Auch die Werbeindustrie hat sich des Gottessohns bemächtigt. Der Nazarener wird eingespannt, um beim Verkauf von Hemden, Unterwäsche und Ansteckknöpfen zu helfen; die Kleidungsstücke tragen Aufschriften wie "Der Messias ist die Botschaft", 255 "Lächle. Gott liebt dich", oder "Jesus ist mein Herr". 260 265 270 275 280 285 290 295 300 305 Sein Porträt ziert Shorts und Bikinis, er preist auf Plakaten die Langhaar-Mode und im amerikanischen Rundfunk eine Armbanduhr: "Hi, Kinder, ich bin's – Jesus. Schaut, was ich an meinem Handgelenk trage: eine Uhr mit einem fünffarbigen Bild von mir auf dem Zifferblatt und einem karmesinroten Herzen." Sogar die US-Pornoindustrie braucht Gott. In Sexblättern wird ein nacktes Pin-up-girl als Jesus am Kreuz abgebildet, und eine New Yorker Prostituierte gestand dem Evangelisten Arthur Blessitt: "Als ich einmal mit einem Jesus-Button am Kleid auf die Straße ging, hatte ich meine beste Nacht." Nicht zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes wird Jesus Christus vom Big Business ausgebeutet. Niemals zuvor aber gab es einen derart unverhofften und gigantischen "Gold Rush to Golgotha" ("Time"). Der Name des Gekreuzigten ist in aller Munde, doch zumindest in den USA, und demnächst wohl auch in der Bundesrepublik. wird das Bild des biblischen Erlösers von einem Popanz überstrahlt: von "Jesus Christ Superstar". Die Musical-Autoren Andrew Lloyd Webber, 23, und Tim Rice, 27, Initiatoren der monströsen "Superstar"Show "zwischen "Hair' und Oberammergau" ("Süddeutsche Zeitung"), bekennen jedenfalls freimütig, "nicht besonders religiös" zu sein. "Ich gehe", sagt Rice, "immer nur bei Hochzeiten in die Kirche. Ich weiß nicht einmal, ob Jesus wirklich der größte aller Superstars gewesen ist." Nachdem die beiden Engländer, die sich 1967 – nach Jura- und Musikstudien – zum Teamwork entschlossen, mit ihrem ersten Langspielplatten-Oratorium "Joseph and the Amazing Technicolor Dreamboat" nicht reüssiert hatten, wollten sie die Kubakrise vertonen. Doch als Komponist Webber das Thema "zu kleinkariert" fand, brachte ihn Texter Rice auf die "größte Story. die je erzählt worden ist": die Passion Christi. Christus, erkannten Rice und Webber, "hat unzweifelhaft größeren Einfluß auf die Menschheit gehabt als irgendein anderer – einen Einfluß kolossalen Umfangs". Deshalb versprachen sie sich von einem Jesus-Musical auch einen kolossalen Erfolg. Robert Stigwood, ein in England lebender australischer Impresario, erfüllte die Debütanten-Wünsche mit allen Public-Relations-Tricks nach einem Mehrstufenplan: Zuerst brachte er den Titelsong "Superstar" auf einer Singleplatte heraus und lancierte ihn in die Hitparaden. Dann folgte (nach der konzertanten Uraufführung in einer Londoner Kirche) die komplette "Rock-Oper" in einer zweibändigen Schallplatten-Studioversion. "Die Musik ist banal, die Texte sind infantil." 320 325 330 335 340 345 350 355 360 365 370 Nachdem das Doppelalbum in mehr als einer Million Exemplaren weltweit verbreitet war, nachdem Konzertensembles mit dem Stück die amerikanische Provinz 310 abkassiert hatten, ließ der Manager die Verfilmung vor- 375 bereiten und gab die Dramatisierung für ein New Yorker Broadway-Theater in Auftrag. Und obgleich die amerikanischen Theaterkritiker – einhellig wie selten – "die Musik banal, die Songtexte in315 fantil, die Inszenierung vulgär" ("Down Beat") und das 380 ganze Stück "eine perfekte Katastrophe" ("Washington Star") nannten, wurde das Evangelium von Tim und Andrew zum größten Kassenknüller des internationalen Unterhaltungsgeschäfts. Stigwood verteidigt sein Recht auf ungeschmälerten Profit seither notfalls auch mit einstweiligen Verfügungen. Mehr als 20 Prozesse für rund eine halbe Million Mark hat er bereits gegen falsche Propheten seines Superstars angestrengt. Theaterdirektoren, Plattenproduzenten, Kirchenmännern und sogar einem Nonnenorden in Australien, die alle den Gospel-Text vom Broadway unlizenziert nachbeten lassen wollten, entzogen Stigwoods Anwälte das Wort. Gleichwohl schwillt die "Superstar" – Welle weiter an. Der "Ho Sanna, Hey Sanna"-Chorgesang aus "Superstar" wird gegenwärtig schon von Theaterensembles in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Holland, Dänemark, Israel, Südafrika, Brasilien und Mexiko aufgeführt oder geprobt. In New York, London, Boston, Los Angeles und Melbourne stöhnt der "Godspell"Jesus im Superman-T-Shirt, zwecks Kreuzigung an ein Maschendraht-Gitter geklammert, Abend für Abend: "O Gott, bin tot." In Wirklichkeit ist er wohlauf und läßt sich huldigen: in den Musicals "Sweet Jesus" und "Jesus Christ, Lawd Today" in Washington sowie "Salvation" in New York, im belgischen Rock-Oratorium "Gloria Halleluja 2000", in der deutschen Rock-Oper "Der Jesus-Pilz" und in einem amerikanischen Stück mit dem Titel "Gott sein ist ein harter Job". Den härtesten Job angesichts dieser Überflutung mit Jesus-Kommerz haben möglicherweise jene Gotteskinder, denen der Erlöser mehr bedeutet als nur eine religiöse Schaustellung – die Anhänger einer "Jesus-Welle" genannten Jugend- und Erweckungsbewegung. Sie suchen das Heil und werden von ungläubigen ShowVeranstaltern mit Surrogaten abgespeist. "Wie das alles geschehen konnte", klagt Papst Paul VI., "vermag man nicht zu sagen, aber es verbreitet sich wie eine Epidemie." Der Beginn dieser Epidemie ist bereits Legende: Mitte 1968, so fanden Reporter amerikanischer Massenblätter heraus, habe sich ein drogenabhängiger Hippie namens Breck Stevens an den Prediger Lyle Steenis von der Bethel Tabernacle Church in Los Angeles um Hilfe gewandt und sei "in 30 Sekunden" von der Sucht geheilt worden. Er brauchte nur zu sagen: "Jesus, komm in mein Herz." Seit Stevens und andere vom Herrn kurierte Fixer im Underground missionieren, das jedenfalls wollen die amerikanischen Forscher ermittelt haben, gehen angeblich jeden Monat Tausende von frisch bekehrten Jugendlichen auf den religiösen Trip. Sie nennen sich "Jesus People", "Jesus Freaks" oder "Kinder Gottes", lassen sich im Pazifischen Ozean, in der Seine oder in der Havel taufen, verkünden das Evangelium und versammeln sich zu "Jesus Festivals. Diese Erweckungsbewegung konnte vermutlich nur in Amerika entstehen – in einem Land, das keine Staatskirche, dafür aber Hunderte von christlichen Sekten und konkurrierenden Splittergemeinden kennt. Einige dieser Gruppen versuchten schon zu Beginn der sechziger Jahre, mit der Subkultur der rebellischen Jugendlichen in Kontakt zu kommen – ohne großen Erfolg. Auch als die ersten Dropouts vor drei Jahren – von Sektenpredigern unterstützt – mit Sprüchen wie "Jesus macht dich frei" und "Jesus ist der beste Trip" durch die 445 Selbstsicherheit von "Gottes eigenem Land", das mit Marihuana- und LSD-Zirkel von San Francisco und Los seinen Umweltproblemen. seinen Gettoaufständen und Angeles zogen, nahm die Mehrheit der Jugendlichen die dem Kaufkraftschwund, mit Kriminalität, Arbeitslosig385 neuen Propheten kaum zur Kenntnis. keit und Rauschgiftmißbrauch nicht mehr fertig wird. Wie schon zu Zeiten des Alten Testaments die Juden "Kein Wunder, daß Jesus ein Comeback hat." 450 nach einer "hohen Begründung des Unheils" (Soziologe Arnold Gehlen) verlangten, als der Babylonierkönig Zur Massenbewegung, zu einer "Lawine, die niemand Nebukadnezar siegreich über Jerusalem hergefallen war stoppen kann" ("Jesus-Rock"-Sänger Larry Norman), und "Gottes auserwähltes Volk" vertrieben hatte, so wurde das "Jesus-Movement" tatsächlich erst, als illusuchen nun auch junge Amerikaner Trost im Mystischen 390 strierte Zeitschriften im Frühsommer vergangenen Jah- 455 und Irrationalen. Denn die Religion, erläutert Gehlen, res fromme Gammler auf dem Sunset Strip von Holly"erspart den Menschen, ins Nichts hinauszuhängen". wood entdeckten und deren Heilsbotschaft in RiesenaufDen mittelalterlichen Geißlern und den Methodisten des lagen verbreiteten. Rundfunk- und Fernsehsender pegel19. Jahrhunderts ähnlich, die sich in Zeiten der Not an ten sich alsbald auf die Jesus-Welle ein. einen autoritären Heiland klammerten, greifen deshalb 395 Die Welle hätte allerdings schwerlich zu einer solchen 460 die Jesus People wieder zu den alten "Lehren und VerFlut anschwellen und so viele Jugendliche aus ihren heißungen", die ihnen "die Rätsel dieser Welt mit beneibisherigen Lebensgewohnheiten spülen können, wenn denswerter Vollständigkeit aufklären" (Freud). die familiären und sozialen Bindungen dieser Jugend Und wie die Erweckungsbewegungen der Vergangenheit nicht so drastisch gelockert wären. bedienen sich die Jesus People mit messianischem Be400 "LSD in der siebenten Oberschulklasse", beichtete die 465 kehrungseifer aller Mittel der Agitation – das wirkungsSchülerin Maureen Orth in der Jesus-People-Zeitschrift vollste davon ist immer noch die populäre Musik. "Whole Earth Catalog", "Sex in der achten, der Vietnamkrieg als Fernsehserie seit meinem neunten LebensMit dem heiligen Rock Seelen fangen. jahr, Eltern und die Schule ohne Bedeutung – da ist es 405 doch kein Wunder, laß Jesus ein Comeback hat." "Für uns", sagt Siegfried Fietz, Chef einer deutschen Nach Pilgerreisen zu Marx und Mao, Buddha und Jesus-Rock-Band, "ist die Musik nur Mittel zum Zweck, Krishna, nach Ausflügen in die schwarze Magie, den 470 zur Verkündigung." Das bedeutet: Für die Verkündigung Satanskult und in die Landwirtschaft, nach der totalen sind die trivialsten Melodien, die plattesten Wendungen, Hingabe an Sex und Rauschmittel und nach dem die banalsten Klischees von Rock und Beat gut genug, 410 schmerzhaften Erwachen aus Revolutionsillusionen und sofern sie nur massenwirksam sind. Drogenträumen ist ein Teil der Rock- und Hasch-GeneAuf diese Weise hatten schon die umbrischen Flagellanration auf seiner Flucht aus der Leistungsgesellschaft 475 ten des 13. Jahrhunderts und die deutschen Geißler der nun im biblischen Galiläa angekommen. Denn "der Gegenreformation wohlfeile Weisen für ihre Missionseinzige Sinn des Lebens", hatte ihnen schon der LSDgesänge benutzt. Zur Zeit Luthers wurden Kneipen415 Heilige Timothy Leary gepredigt, "ist die Suche nach melodien wie "Mein G'müth ist mir verwirret" mit Gott". Choraltexten wie "O Haupt voll Blut und Wunden" Im Heiland des Urchristentums, "einem typischen Hip- 480 unterlegt. Und ein Großteil der protestantischen und pie mit langem Haar, Bart, einer Robe und Sandalen, der methodistischen Gesangbücher wie "Die kleine Missisich in Elendsvierteln aufhält, nur wenige reiche Freunonsharfe" oder "Frohe Botschaft" aus dem 19. Jahrhun420 de hat und oft in die Wüste geht" (Jesus-Steckbrief in dert enthält Gassenhauer auf dem Niveau des Heilseinem christlichen US-Underground-Blatt), hoffen sie armee-Schlagers "O Heiland, Dir vertrau' ich, mein ihn endlich gefunden zu haben. 485 Steuermann bist du" – schrumm schrumm. Religionspsychologen wie Dieter Stollberg, Professor "Bei den modernen Jesus-Liedern", schreibt der Boan der kirchlichen Hochschule in Bethel, werten das chumer Musikwissenschaftler Gerhard Allroggen, 425 Jesus-Phänomen als "Rückkehr auf eine frühkindliche "scheint die Richtung jedoch umgekehrt zu sein: Das Entwicklungsstufe". Er ist mit Sigmund Freud der MeiReligiöse dient als Vehikel für die miserable Musik. nung, daß sich die religiöse Psychose als "infantile Hilf- 490 Mögen auch die Jesus People dem Kommerz-Rummel losigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht" um den Herrn abschwören und (bei der "Superstar"erklären läßt. Uraufführung in New York) mit Protestplakaten gegen 430 Stollberg: "Die Gruppe bietet dem einzelnen, was er so das "Sakrileg" demonstrieren, mag der deutsche "Superlange vermißt hatte – Geborgenheit wie an der Mutterstar"-Musikverlag "Felix Bloch Erben" behaupten: "Die brust. Und Jesus ist für sie jene väterliche Autorität, die 495 Jesus-Welle interessiert uns nicht" – in einem sind sich sie nötig haben, um aus ihrer Identitätskrise herauszudie ungleichen Apostel einig: Sie wollen mit dem heilikommen." gen Rock Seelen fangen. 435 Die Religion, hatte Sigmund Freud geschrieben, sei für Besonders für das amerikanische Musiktheater ist das viele Menschen ein "Weg zum Glückserwerb und LeiGelingen dieser Mission eine Existenzfrage. In den densschutz", weil sie "das Bild der realen Welt wahnhaft 500 letzten Jahren sind die Produktionskosten für Musicals entstellt". Religion, meinte auch Schopenhauer, sei in New York ins Uferlose gestiegen – pro Inszenierung "eine Krücke für schlechte Staatsverfassungen". bis auf eine Million Dollar. Immer weniger Shows spie440 In der Tat befinden sich die USA heute in der schlechlen andererseits diese gewaltigen Investitionssummen testen Verfassung ihrer Geschichte. Die apokalyptische wieder ein. Vision des Matthäus-Evangeliums scheint sich zu be- 505 Da die Musik, wichtigster Anreiz für einen Musicalbewahrheiten: Greuel der Verwüstung, Empörung unter such, bis vor kurzem bei "My Fair Lady" (1955) stehenden Völkern, teure Zeit und große Trübsal zerstören die geblieben war, hielt sich die Woodstock-Generation vom Broadway fern. Folge: Rund zehn von 34 Bühnenhäusern stehen dauernd leer. 510 515 520 525 530 535 540 545 550 555 560 565 570 chen einlösen, das Kritiker schon 1955 bei der "Kiss Me Kate" – Premiere formuliert hatten: Das amerikanische Musical sei "ein Stern der Hoffnung" ("Die Zeit") und Mit dem Musical zurück in den Tempel. "die Startbahn" für eine neue Art. Theater zu machen" 575 ("Die Welt"). Das Hippie-Musical "Hair" brachte 1967 die Wende. Mehr als 15 Jahre lang hatte der "durchdringende Schrei Mit Rockmusik, Flower Power und einem bis dahin im nach dem Musical" ("Süddeutsche Zeitung", 1961) alMusical unbekannten ekstatischen Bühnenstil ließ der lerdings nur ein schwaches Echo. Nur vier US-Importe Regisseur Tom O'Horgan auch am Broadway das re– "Kiss Me Kate", "My Fair Lady", "Hello Dolly" und volutionäre "Zeitalter des Wassermanns" (Songtext) 580 "Hair" – kamen über mittlere Aufführungszahlen hinaus. anbrechen. Deutsche Musicalproduktionen waren stets schwache "Hair", das erste große Musical mit einer quasi-religiöKopien der amerikanischen und englischen Originale – sen Thematik (Songtext: "Ich weiß, Gott ist nicht tot"), es fehlte an Allround-Darstellern und versierten Theawird bis heute en suite gespielt. Es stellt – so der deutterbands. "Wir haben", klagte der Berliner Impresario sche Theologe Hans J. Geppert – "wieder die Frage 585 Hans Wölffer, "Schauspieler, Sänger und Tänzer, aber nach dem Sinn des Lebens, nach dem, was dem Menniemanden, der in allen Fächern hervorragend ist." schen vorausgeht und was ihm folgt". O'Horgan, 45, Komponist, Musiker, Sänger, Schauspie"Raus aus dem deutschen Theatersystem." ler und Regisseur, ist von der geistlichen Aufgabe des Theaters überzeugt. "Ursprünglich", erklärt er in einem Seit jedoch in den verschiedenen, teils aus Amateuren SPIEGEL-Interview (siehe Seite 118), "war das Theater rekrutierten "Hair"-Ensembles begabte Nachwuchsinterja ein Tempel." 590 preten ins Rampenlicht getreten sind, seit die MusicalDrei O'Horgan-Inszenierungen werden – neben "Hair" – Partituren von Rock-Gruppen gespielt werden können, gegenwärtig am Broadway gezeigt: "Lenny", das Bühist, so der Hamburger "Godspell"-Producer Norman nenporträt des 1966 am Heroin verendeten US-SatiriFoster, "kein Mangel mehr an Talent". kers Lenny Bruce, "Inner City", eine Gospel-Revue über Was an den Stadt- und Staatstheatern derzeit fehlt, meint Armut, Aggression, Kriminalität, Umweltmüll und die 595 Foster, seien "Training, Auftrittschancen für junge DarBedrohung des einzelnen, sowie der "Superstar". steller und Spiel-Raum für Musicals". Foster: "Also raus Allen Aufführungen gemeinsam ist die Tendenz, das aus dem festgefahrenen Theatersystem." Theater in einen sakralen Raum zurückzuverwandeln – Deshalb geht Foster, Ex-Opernsänger und dilettierender mit Pomp, Rock und einer ebenso bombastischen wie Regisseur, mit "Godspell" in die Kirchen. "Solche geumstrittenen Knock-out-Dramaturgie. 600 eigneten, abends leerstehenden Bühnenhäuser gibt's in Nicht Jesus, so urteilt das "New York"-Magazin, sei der jeder Stadt. Foster ist ein cleverer Mann. Er hat sich "Superstar", nicht einer der Schauspieler, die sich bis an nicht nur ein beinahe mietfreies Theater, sondern auch die Grenze ihrer physischen Leistungsfähigkeit auf dem ein in New York und London erprobtes Regiekonzept Boden wälzen und einen permanenten Spagat absolviesowie eine Koproduzentin (die Züricher "New Producren, nicht die Autoren Webber und Rice mit ihrer Me- 605 tions Ltd.") gesichert, die fast das ganze Risiko trägt. lange aus Puccini, Prokofjew, Mendelssohn-Bartholdy, Doch mag sein mitunter melodramatisches "Godspell" Gershwin und Rock, sondern Tom O'Horgan, "ein Peeinem Gotteshaus auch gut anstehen – bei der Premiere tronius des dekadenten Theaters, der gewiefteste Trödler in der akustisch tückischen Hamburger Petrikirche der Lumpen-Avantgarde" ("Newsweek"). wirkte die – im angelsächsischen Original durchaus Neben seinem "fetten, protzigen, vulgären und betäu- 610 lockere und Witzige – Show, in der Übersetzer Foster benden Spektakel" ("Rolling Stone") nimmt sich das peinliche Texte ("Dann geh' ich eben ins Eros-Center") Biblical "Godspell" des Ex-Studenten der Theaterwisaufsagen läßt, so verkrampft wie ein frommes Laiensenschaft John-Michael Tebelak, 23, aus Ohio in einem spiel. New Yorker Off-Broadway-Theater geradezu bescheiFosters Konkurrenten, die Show-Manager Lars Schmidt den aus: Zehn Sunny-Boys und -Girls in bunten Karne- 615 ("My Fair Lady") und Karl Buchmann ("Deutsches valskostümen bieten dort mit Luftschlangen, KnallbonEistheater"), verschmähen gleichfalls das herkömmliche bons und Kindertrompeten eine phantasievolle Rock-, Theatersystem. Sie wollen ihren "Superstar"-Zirkus in Folksong-, Spiritual- und Charleston-Burleske nach Sport-, Messe- und Ausstellungshallen darbieten: "Die Originaltexten aus dem Matthäus-Evangelium. haben einfach eine dem Ereignis angemessene DimenDie pantomimische Bibel-Exegese mit einer (vom 620 sion." Tebelak-Kommilitonen Stephen Schwartz komponierGroß wie ein Bayreuther Wagner-Festspiel wird der ten) annähernd passablen Jesus-Theatermusik ist zudem Münsteraner "Superstar" auf jeden Fall. 110 Scheinwerviel eher im Einklang mit der naiven Religionsattitüde fer sollen sein Golgatha erleuchten. Ein internationales der neuen Gotteskinder als der schwülstige "Superstar" Spezialisten-Team der amerikanische Choreograph – so sehr, daß die deutsche "Godspell"-Truppe ihre 625 Lester Wilson aus München, der Kostümbildner Keogh Jesus-Komödie nun in einem Hamburger Gotteshaus aus New York, der Jazz-Kapellmeister Rolf Kühn aus aufführen darf. Hamburg – bringt unter der Regie des Produzenten "Neutral", glaubt Pastor Gunnar von Schlippe, der den Schmidt die 50köpfige Society Jesu in einer kreuzförmiKomödianten in seiner Petrikirche Gastrecht gewährt, gen, 30 mal 22 Meter großen Arena auf Trab. Am Ende "kann bei diesem Stück niemand bleiben, dafür ist es zu 630 wird der Gekreuzigte (Reiner Schöne) von einer hydraustark. Es verändert jeden, der es sieht." Mal abwarten. lischen Hebevorrichtung effektvoll allem Irdischen entDie Jesus-Musicals werden aber vielleicht die deutsche rückt. Bühnenlandschaft verändern und endlich jenes VerspreThere's no Jesus like Show Jesus. Die Jesus-Musical- Produzenten reden zwar, wenn sie ihre Unternehmen 635 interpretieren, von der "Reinheit des Sujets"; an der 640 645 650 655 660 665 670 675 680 685 690 695 "Frage nach Jesus" aber, die ein Gutteil ihres jugendlichen Publikums bewegen mag, ist keiner dieser Unterhaltungsmacher im Ernst interessiert. Um so mehr beschäftigen sich die Kleriker als offizielle Verwalter des christlichen Erbes mit Jesus im Schaugeschäft. Nachdem sie bereits vor Jahren versucht haben, das Jungvolk mit Jazz-Messen, Beat-Gottesdiensten und Negro-Spirituals auf den Weg des Herrn zu führen, disputieren Bischöfe und Gemeindehirten jetzt darüber, wie weit die Tempelpforte für den Musical- und Schallplatten-Jesus geöffnet werden solle. Während der Erzbischof von Paderborn, Lorenz Kardinal Jaeger, 79, sich "durchaus denken" kann, daß auch "mit den Spielmitteln des Musicals" das Wort Jesu verkündet werden kann, hält Heinrich Tenhumberg, 56, Bischof von Münster, "die Aufführung von Rock-Opern in der Kirche nicht für angemessen" und stimmt der "Modemasche Jesus als Superstar im Grunde nicht zu". Kurt Scharf, 69, Bischof von Berlin-Brandenburg und Ratsmitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland, verweist auf den Philipperbrief des Apostels Paulus und meint, es komme "nicht darauf an, in welcher Form das Heil von Jesus Christus gepredigt wird". Hans Thimme, 62, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, erklärt dagegen, die "sensationelle Aufmachung der Person Jesu" überschreite "die gebotenen Grenzen derEhrfurcht". "Im Prinzip", darüber sind sich die meisten katholischen und protestantischen Theologen einig, "ist nichts gegen Jesus-Darstellungen in einer Show zu sagen; entscheiden muß man immer von Fall zu Fall" – so der hamburgische Landesbischof Hans-Otto Wölber. "Wichtig ist allein, daß wirklich Jesus Christus verkündigt wird" (Bischof Scharf). Ein problemloser Ersatz-Christus aus Disneyland. Bei ihrer Verkündigung haben sich Künstler aller Epochen schon immer viel herausgenommen: Jesus war ein feierlicher Weltherrscher in der byzantinischen Kunst, ein athletischer Renaissancemensch bei Michelangelo, ein milder Segensspender beim Klassizisten Bertel Thorvaldsen. Und es gibt in der Tat keinen Grund, warum er nicht auch als Hippie in einem Musical wie "Godspell" auftreten sollte. Doch der Jesus der Massenmedien, der Schaumschläger der Werbewirtschaft, der Star des Show Business hat mit dem Verkünder der Bergpredigt wirklich kaum noch etwas gemein. Der "Superstar" von Webber, Rice, Stigwood und ihren vielen Aposteln, der sich in einer Atmosphäre schwüler Erotik von Maria Magdalena und seinen Jüngern unablässig ans weißleinene Nachthemd greifen läßt, der die Fußwaschung als sadomasochistischen Akt zelebriert und den Kranken zuruft: "Heilt euch selber", appelliert unter anderem an eine Gefolgschaft, die sich an der Verquickung von Heiligem und Degoutantem genüßlich labt. Das Bild eines göttlichen, aseptischen und asexuellen Erlösers, wie es im Konfirmandenunterricht entworfen worden ist, gehört noch immer "zur Gruppennorm des abendländischen Christenmenschen, es ist sozusagen in unserem Über-Ich verankert" (Psychologe Stollberg). 700 705 710 715 720 Und der blasphemische "Superstar"-Gottesdienst, mit dem lustvoll pubertäre Tabus verletzt werden, mag manchem gefallen, der längst die Kirche verlassen hat. Aber auch von Klerikern wie dem Pastor Ernest R. Palen aus New York ("Eine erstaunliche Offenbarung") und dem amerikanischen Priester Kenneth Jadoff ("Ich war tief bewegt"), auch von den Massenmedien und dem von ihnen programmierten Publikum bekommt der "Superstar" gedankenlos Applaus. Denn "Jesus" ist derzeit kaum mehr als ein Reizwort, ein hohler Werbeslogan für Konsumenten, die sich insgeheim sogar vom Unterhaltungsgewerbe Lebenshilfe erhoffen und denen das himmlische Manna vorenthalten wird. Ihr Halleluja gilt einem problemlosen ErsatzChristus aus Disneyland, der Ruhe und Ordnung predigt, Reiche reich und Arme arm sein läßt und keine Anstrengung verlangt: "Jesus Christus Mickymaus" ("Frankfurter Rundschau"). Vor den falschen Propheten in Schafs- und Mickymauskleidern jedoch hatte Gottes Sohn einst ausdrücklich gewarnt: "Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und werden viele verführen ... An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Und auch dieses steht im Neuen Testament: "Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier."