1 1 Anatomie Carsten Staszyk 1.1 Begriffsbestimmung 1.1.1 Gebiss, Zähne und Zahnformel Ein vollständiges Dauergebiss (permanentes Gebiss) besteht beim Pferd aus 44 permanenten Zähnen (Dentes permanentes). Pro Kieferquadrant sind dies elf Zähne, und zwar drei Schneidezähne (Incisivi), ein Eckzahn (Caninus), vier vordere Backenzähne (Prämolaren) und drei hintere Backenzähne (Molaren). Die Canini und die ersten Prämolaren haben allerdings während der Equidenevolution ihre Funktionalität in der Nahrungsaufnahme bzw. Nahrungszerkleinerung verloren und werden daher nicht mehr regelmäßig bei jedem Pferd ausgebildet. Die Canini haben sich zu sekundären Geschlechtsmerkmalen der Hengste entwickelt und kommen zumeist nur bei männlichen Tieren vor. Die ersten Prämolaren erscheinen – wenn überhaupt – zumeist nur noch als rudimentäre Zähne im Oberkiefer, nur selten im Unterkiefer. Die Incisivi und Canini werden auch als Frontzähne zusammengefasst und den Backenzähnen (Prämolaren und Molaren) gegenübergestellt (Abb. 1-1). Ein equines Milchgebiss besteht aus maximal 28 Milchzähnen (Dentes decidui). Regelmäßig erscheinen pro Kieferquadrant drei Milchincisivi und die Milchzahnvorläufer des zweiten, dritten und vierten prämolaren Backenzahns. Milchcanini werden, sofern sie vorhanden sind, nur selten in die Maulhöhle vorgeschoben (Abb. 1-2). Unter Verwendung der in den Abbildungen 1-1 und 1-2 vorgestellten Benennungsschemata ergeben sich die in Abbildung 1-3 aufgeführten Zahnformeln. Abb. 1-1 Permanentes Gebiss eines männlichen Pferdes, Schädelansicht von rostrolateral. Im rechten Ober- und Unterkiefer sind die Zähne entsprechend der Zuordnung zu Zahntypen farblich gekennzeichnet. Die Benennung gibt den Zahntypus an (Incisivus, Caninus, Prämolar, Molar) sowie mithilfe einer Ordinalzahl die Position des Zahns (außer Caninus). Dieses Benennungsschema gilt gleichsinnig für alle Kieferquadranten. 1.1.2 Zahnformel nach Triadan und Floyd Eine praktikable Alternative zur herkömmlichen Benennung der Zähne ist die Zahnformel nach Triadan (1972) und Floyd (1991). In Anlehnung an die Nummerierung der menschlichen Zähne nach FDI-Standard (Fédération Dentaire Internationale) werden nach Triadan und Floyd die Zähne im Säugetiergebiss mit einer dreistelligen Ziffernfolge identifiziert: 쐌 Mit der ersten Ziffer werden die Kieferquadranten durchnummeriert (1 = Oberkiefer rechts, 2 = Oberkiefer links, 3 = Unterkiefer links, 4 = Unterkiefer rechts). 쐌 Mit den Ziffern 2 und 3 werden die Zähne entsprechend ihrer Position im Kiefer von rostral nach kaudal durchnummeriert. Die Nummerierung beginnt mit dem ersten Abb. 1-2 Milchgebiss eines ca. 12 Monate alten Pferdes, Schädelansicht von rostrolateral. Im linken Ober- und Unterkiefer sind die Zähne entsprechend der Zuordnung zu Zahntypen farblich gekennzeichnet. Im Fall der Milchzähne ist in das Benennungsschema ein d (für Dentes decidui ) eingefügt. 쐌 Incisivus (Nummer 01) und endet mit dem dritten Molar (Nummer 11). Beispiel: dritter Prämolar im linken Unterkiefer = 307 (gesprochen: Drei-Null-Sieben). 2 1 Anatomie Zahnformel Dauergebiss: 3M 3(4)P 1(0)C 3l 3l 1(0)C 3(4)P 3M 3M 3(4)P 1(0)C 3l 3l 1(0)C 3(4)P 3M Zahnformel Milchgebiss: 3Pd 1(0)Cd 3ld 3ld 1(0)Cd 3Pd 3Pd 1(0)Cd 3ld 3ld 1(0)Cd 3Pd Abb. 1-3 Zahnformeln für das equine Dauer- und Milchgebiss. Für jeden Kieferquadranten werden die Anzahlen der einzelnen Zahntypen notiert. Zahlen in Klammern weisen auf mögliche Variationen in der Zahnanzahl hin. Dementsprechend ist jeder Zahn eindeutig nummeriert und im klinischen Sprachgebrauch praktikabel und einfach zu benennen. 쐌 Zur eindeutigen Kennzeichnung von Milchzähnen werden anstatt der Kieferquadrantennummern 1 bis 4, die Nummern 5 bis 8 verwendet (Abb. 1-4). 쐌 Beispiel: dritter Milchprämolar im linken Unterkiefer = 707. Die Zuordnung der einzelnen Zähne zu den Nummern 01 bis 11 wird stets beibehalten, auch dann, wenn einzelne Zähne im Gebiss gar nicht sichtbar werden (z. B. Milchcanini), nicht angelegt worden sind (z. B. Canini bei der Stute) oder aber verloren gegangen sind (z. B. aufgrund von Traumata). In der Literatur wird teilweise ein System verwendet, welches im Milchgebiss auf die Nummerierung des Caninus und des ersten Prämolars verzichtet. Dadurch verschiebt sich die Nummerierung und den Milchprämolaren werden andere Nummern zugewiesen als den permanenten Prämolaren! Zur Benennung von Zähnen ungeachtet ihrer Position in einem bestimmten Kieferquadranten werden lediglich die Ziffern 2 und 3 genannt bzw. gesprochen. 쐌 Beispiel: die dritten Prämolaren = die 07er (gesprochen: die »Siebener«) In allen folgenden Texten des Buches wird das hier erläuterte Benennungsschema nach Triadan (1972) und Floyd (1991) verwendet. Abb. 1-4 Zahnformel nach Triadan (1972) und Floyd (1991) zur eindeutigen Nummerierung der Zähne unter Verwendung einer dreistelligen Ziffernfolge; links Dauergebiss, rechts Milchgebiss. Die erste Ziffer kennzeichnet zum einen den Kieferquadranten, zum anderen unterscheidet sie permanente Zähne von Milchzähnen. Mit den Ziffern 2 und 3 werden die einzelnen Zähne durchnummeriert. Im rechten Oberkiefer des Dauergebisses sind die herkömmlichen Zahnbezeichnungen der Triadan/Floyd Nummerierung gegenübergestellt. Die Ziffern in Klammern stehen für inkonsistent vorkommende Zähne. Eine scheinbare Lücke in der Zahnnummerierung im Milchgebiss (Fehlen der 05er) erklärt sich dadurch, dass diese Zähne im Milchgebiss nicht angelegt werden. Trotzdem behält der zweite Prämolar auch im Milchgebiss die Nummer 06. 1.1.3 Zahnflächen und Richtungsbezeichnungen Üblicherweise orientiert sich die anatomische Nomenklatur an drei Körperebenen (Horizontal-, Median- und Transversalebene), von denen die Richtungsbezeichnungen dorsal/ ventral, lateral/medial und kranial (rostral)/kaudal abgeleitet werden. Durch die Anordnung der Zähne in einem Zahnbogen sind die verschiedenen Zähne, je nach Position im Kiefer, in unterschiedlichen Körperebenen ausgerichtet. Eine 1.2 Embryologie konsistente Bezeichnung von Zahnflächen und Richtungen am Zahn kann daher anhand der üblichen Körperebenen nicht gelingen. Demgemäß orientiert sich die odontologische Nomenklatur lediglich an der Medianebene und zusätzlich an benachbarten Organen bzw. Geweben (Zuckerkandl 1891). Folgende Flächen- und Richtungsbezeichnungen finden in der Veterinärmedizin Anwendung: Zahnflächen: 쐌 Facies occlusalis (auch Facies masticatoria): Okklusalfläche, Kaufläche 쐌 Facies contactus (auch Facies approximalis): Kontaktflächen zu Nachbarzähnen; weitere Spezifizierung: – Facies contactus mesialis: dem Zahnbogen folgend zur Medianebene ausgerichtet – Facies contactus distalis: dem Zahnbogen folgend nach kaudal ausgerichtet 쐌 Facies vestibularis: in das Vestibulum oris (Mundhöhlenvorhof) weisend; weitere Spezifizierung: – Facies labialis: für Incisivi und Canini – Facies buccalis: für Backenzähne 쐌 Facies lingualis: Zungenfläche (gilt nur für mandibuläre Zähne) 쐌 Facies palatinalis: Gaumenfläche (gilt nur für Zähne des Oberschädels) Zahnzwischenräume: 쐌 Spatium interdentale: Raum zwischen benachbarten Zähnen 쐌 Diastema, Margo interalveolaris (auch Lade): veterinärantomischer Begriff für den zahnlosen Kieferbereich zwischen Incisivi (bzw. Canini) und Backenzähnen Der Begriff Diastema wird in der Veterinärmedizin zusätzlich verwendet, um eine krankhafte Lückenbildung zwischen benachbarten Zähnen zu beschreiben. Aus den Bezeichnungen der Zahnflächen leiten sich entsprechende Richtungsbezeichnungen für den Zahn bzw. für die Zahnzwischenräume ab (Abb. 1-5) : 쐌 okklusal (engl. occlusal): in Richtung Facies occlusalis 쐌 apikal (engl. apical): in Richtung Wurzelspitze (Apex radicis dentis) 쐌 labial (engl. labial): lippenwärts 쐌 bukkal (engl. buccal): backenwärts 쐌 lingual (engl. lingual): zungenwärts 쐌 palatinal (engl. palatal): gaumenwärts 쐌 mesial (engl. mesial): in Richtung vorausgehender Zahn (im Fall der 01er: in Richtung medial) 쐌 distal (engl. distal): in Richtung nachfolgender Zahn (im Fall der 11er: in Richtung kaudal) 쐌 interdental (engl. interdental): zwischen benachbarten Zähnen Abb. 1-5 Zahnspezifische Nomenklatur. weitere Spezifizierung: 쐌 interproximal (engl. interproximal): zwischen den Berührungsflächen benachbarter extraalveolärer Zahnkronen Bei Zähnen, die eine sehr schmale, schneidende Okklusalfläche besitzen, wird der Begriff Margo incisalis verwendet. Entsprechend wird bei solchen Zähnen auch von einer inzisalen Richtung gesprochen. Beispielsweise besitzen die Incisivi des Menschen und des Hundes einen Margo incisalis. Im Equidengebiss hingegen besitzen alle Zähne – auch die Incisivi – eine breite Okklusalfläche, sodass für alle Pferdezähne die Richtungsbezeichnung »okklusal« verwendet wird. 1.2 Embryologie 1.2.1 Einführung Die Zähne des Pferdes sind in höchstem Maße an eine effiziente Zerkleinerung silikatreicher und damit stark abrasiv wirkender Gräser angepasst. Infolge einer ca. 55 Millionen Jahre dauernden Evolution vom Laubäser hin zum Grasfresser kam es zu einer drastischen Umgestaltung des einzelnen Zahns und des gesamten Gebisses. Einzelne evolutionäre Trends können an einer großen Fülle gut erhaltener Zahnfossilien abgelesen werden. So ist die phylogenetische Entwicklung des Equidengebisses zeitlich fast lückenlos dokumentiert. Ausgehend von brachyodonten (kurzkronigen) Zähnen, die sich in Form- und Wachstumsmerkmalen nicht 3