Der ferne Klang - Staatstheater Nürnberg

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Der ferne Klang
von Franz Schreker
Oper in drei Aufzügen
Libretto vom Komponisten
MATERIALMAPPE
Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
LIEBE LEHRERINNEN UND LEHRER, LIEBES PUBLIKUM,
im Mittelpunkt der Handlung von Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“, die 1912 in
Frankfurt mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, stehen die beiden jungen Verliebten Fritz
und Grete. Ihre gemeinsame Zeit ist kurz, denn Fritz, ein junger Komponist, ist auf der Suche
nach dem „fernen, reinen Klang“. Er verlässt Grete, um ihn zu finden. Als die beiden sich
Jahre später wieder begegnen, erkennen sie, dass sie seit ihrer Trennung das Glück und die
Liebe vergebens gesucht haben – hatten sie es doch beim Anderen in jungen Jahren schon
gefunden. Ein gemeinsames Leben bleibt ihnen verwehrt. Fritz stirbt in Gretes Armen.
Mit vorliegender Materialmappe möchten wir Ihnen nun sowohl einen Eindruck von der Oper
Schrekers als auch von der Inszenierung vermitteln. Dazu haben wir unter anderem einen
Text von Kai Weßler, produktionsbetreuender Dramaturg, ein Interview mit Regisseurin
Gabriele Rech sowie Fotos der Inszenierung und Pressestimmen zusammengestellt.
Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung der Oper „Der ferne
Klang“ sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops
und Gespräche für Schülerinnen und Schüler an.
Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische
Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich
wenden.
Mit herzlichen Grüßen,
Gudrun Bär
Theaterpädagogin
Kontakt:
Staatstheater Nürnberg
u18plus: junges publikum
Theaterpädagogin Gudrun Bär
Telefon: 0911-231-6866
Email: [email protected]
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
EIN VERBOTENES MEISTERWERK
GABRIELE RECH INSZENIERT FRANZ SCHREKERS
„DER FERNE KLANG“ IM OPERNHAUS
Ein Erfolgsstück von einst, ein Schlüsselwerk des modernen Musiktheaters: Im April
hat mit Franz Schrekers „Der ferne Klang“ ein Werk Premiere im Opernhaus, das von
einem besonderen Klang handelt – und selbst mit ganz eigenen Klängen aufwartet.
Als die Oper „Der ferne Klang“ 1913 an der Oper Frankfurt uraufgeführt wurde, machte sie
ihren Schöpfer, den 35-jährigen, völlig unbekannten Franz Schreker mit einem Schlag zum
Star der deutschen Opernszene. Bereits zwischen 1901 und 1910 komponiert, bündelt „Der
ferne Klang“ die Themen des ausklingenden „Fin de siècle“ und der anbrechenden Moderne:
romantischer Aufbruch, Künstlerdrama, Märchenton und naturalistische Milieuschilderung –
Schreker scheint mit seinem „Fernen Klang“ die Summe der Opern seiner Zeit zu ziehen.
Zugleich stößt er mit seiner Musik weit in die Moderne vor. Er verbindet die Opulenz der
Spätromantik mit den harmonischen Kühnheiten des befreundeten Arnold Schönberg und
überträgt die Collagetechnik eines Gustav Mahler auf die Opernbühne. Kein Wunder, dass
Schreker, weit stärker als der 14 Jahre ältere Richard Strauss, bald als der wichtigste
Opernkomponist seiner Zeit galt. Einige Kritiker feierten Schreker sogar als den einzigen
Komponisten, der den von Richard Wagner eingeschlagenen Weg des Musikdramas
konsequent weiterdachte. Mit seinen Folgewerken „Die Gezeichneten“ und „Die
Schatzgräber“ konnte Schreker an den Erfolg des „Fernen Klangs“ anknüpfen und seine
Stellung als führender deutscher Opernkomponist weiter ausbauen. Doch Schrekers
Popularität sank bereits Mitte der 1920er Jahre, als mit den Werken von Kurt Weill und
anderen jüngeren Komponisten eine „Neue Sachlichkeit“ auch im Musiktheater Einzug hielt.
Schlagartig endete Schrekers Karriere mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die
den Komponisten jüdischer Herkunft aus seinem Amt als Direktor der Berliner
Musikhochschule entfernten und seine Werke auf den Index unerwünschter Kompositionen
setzten. Erst seit den 1970er Jahren wurden und werden Schrekers Opern als das
wiederentdeckt, was sie sind: faszinierende Werke der Moderne.
Zum Probenbeginn sprach Produktionsdramaturg Kai Weßler mit der Regisseurin
Gabriele Rech.
Franz Schrekers „Der ferne Klang“ ist ein Werk, das beinahe überquillt vor Themen. Die
Geschichte zweier Menschen wird erzählt, trotzdem steht etwas sehr Abstraktes im
Mittelpunkt: der geheimnisvolle und eben ferne Klang, nach dem der Komponist Fritz sucht
wie die Romantiker nach der Blauen Blume. Was ist für Dich das zentrale Thema der Oper?
Gabriele Rech: Ich glaube, es geht vor allem um gescheiterte Lebensentwürfe. In
vielen Opern wird ja gezeigt, wie eine junge Liebe an den Bedingungen der Gesellschaft
scheitert. Aber Fritz verlässt Grete aus ganz anderen Gründen, nämlich weil er glaubt,
nur durch seinen Verzicht auf die Liebe zu seiner Kunst zu kommen. Das Stück erzählt
davon, wie er zwar materiell erfolgreich wird, aber trotzdem als Künstler scheitert. Und
auch alle anderen Figuren, die wir im ersten Akt kennenlernen, scheitern in dem, was sie
sich vom Leben erhoffen.
Diese Künstlerthematik, die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben, ist Thema von vielen
Werken, speziell der Romantik: „Tannhäuser“, „Hoffmanns Erzählungen“, aber auch in den
Erzählungen von Thomas Mann und anderen ...
Ja, aber im „Fernen Klang“ stellt Fritz die Kunst komplett gegen das Leben. Frit z
läuft geradezu vor dem Leben davon. Er merkt nicht, dass er in der Kunst nur Erfolg
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
haben kann, wenn er die Kunst mit dem Leben versöhnt, das ist die Schlusspointe
des Werkes. Das ist ein Stück, das ganz viel an Gedankengängen in mir freisetzt, das
ganz viel auslöst.
Es ist sogar eine Art von Künstlerpech zweiter Ordnung: Fritz hat vermutlich irgendwo
gelesen, dass ein richtiger Künstler kein bürgerliches glückliches Leben finden kann und
führt die Trennung von Grete ja bewusst herbei. Welche Rolle spielt überhaupt die Erfahrung
der Moderne in dem Stück?
Eine ganz große! Gerade im ersten Akt merken wir, das ist ein Stück über die
Gegenwart, die ganz ungeschminkt in einem sozialen Milieu beginnt. Das verschärft
diese Künstlerthematik: Es gibt hier keine heile Welt, nirgends. Und das wissen die
Figuren des Stückes, und das wusste auch Schreker. Das Uneinheitliche des Stückes,
diese Mischung von Erzählebenen, von Stilen, von Milieus, das ist nichts anderes als der
Versuch, die Uneinheitlichkeit der Welt darzustellen. Die moderne Welt lässt sich nicht
mehr vermitteln, nicht mehr über einen Leisten schlagen. Darin liegt die ganz große
Modernität dieses Werkes.
Du hast in Nürnberg zuletzt Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ inszeniert, auch das
ein Werk der Zwischenkriegszeit von einem Komponisten, der dann ab 1933 als Jude in
Deutschland nicht gespielt und der erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde. Gibt es
Parallelen zwischen den beiden Stücken?
Ja und nein. Es gibt in beiden Stücken ein Spiel mit der Realität, mit der Frage:
Was ist real und was nicht. Bei der „Toten Stadt“ ist das ein Traum der männlichen
Hauptfigur Paul, beim „Fernen Klang“ der Mittelakt im Bordell, bei dem wie in einem
Albtraum ganz verschiedene Musikebenen übereinander laufen. Aber Korngold erzählt
stringenter, seine „Tote Stadt“ ist eine Geschichte aus männlicher Sicht. Das
Interessante am „Fernen Klang“ ist ja, dass die Geschichten von Fritz und Grete über
weite Strecken nebeneinander herlaufen. Keiner von beiden ist die Ha uptfigur, das Stück
hat ganz viele Perspektiven. Alle beide handeln von dem „Traum hinter dem Traum“.
Grete unternimmt auch einen Aufbruch: Sie verlässt ihr Elternhaus, um sich im Wald das
Leben zu nehmen. Dort hat sie eine seltsame Naturerfahrung – und landet schließlich in
einem Luxusbordell. Ist das die Gegen-Erzählung zum Künstlerleben?
Diese „Karriere“ als Prostituierte ist schon vorgeprägt, wenn Gretes Vater sie an
den Wirt verkauft, um seine Spielschulden zu bezahlen. In einer psychologischen
Übertragung erfüllt sie also genau das, wovor sie wegläuft. Ich glaube, diese
Naturerfahrung ist der Beginn einer Traum-Albtraum-Handlung, die fast ins Märchenhafte
kippt. Schreker kannte sehr genau die Aufsätze zur weiblichen Hysterieforschung, die
Sigmund Freud und Josef Breuer einige Jahre zuvor veröffentlicht hatten. Er hat ganz
bewusst die Geschichte Gretes nach dem Muster einer solchen Hysterieerkrankung
gestaltet.
Was heißt denn das für die Oper? Wie erfährt das der Zuschauer?
Wir erleben, wie eine Figur, Grete, unter dem Eindruck des traumatischen
Erlebnisses dieses Verrats durch ihren Vater vor unseren Augen zerfällt. Sie geht in den
Wald, will sich umbringen, trifft dort aber eine merkwürdige alte Frau – und wenn wir sie
in dem Bordell des zweiten Aktes wiedertreffen, ist sie nicht mehr sie selbst. Wir sehen
sie als eine Person, die nur noch die Erwartungen anderer, nämlich die der Männer,
erfüllt und sich nur noch in Klischees äußert.
Das ändert sich aber im dritten Akt noch einmal: Grete ist sozial noch weiter abgestiegen, ist
aber wieder zu eigenem Handeln fähig.
Ja, und das ist vielleicht das Spannendste und Ungewöhnliche an diesem Stück:
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
Fritz hat eine Oper geschrieben, die „Die Harfe“ heißt, und die nichts anderes ist als der
Versuch, sein eigenes Leben und das Gretes als Kunstprodukt zu verarbeiten. Fritz
versucht, den fernen Klang zu finden, indem er sein eigenes Leben komponiert hat. Die
Oper wird ein Misserfolg, aber Grete erlebt die Aufführung und sieht ihr eigenes Leben.
Das bewirkt ihre totale Veränderung, ihre „Heilung“.
Oper als Therapeutikum? Kann Theater unsere psychischen Wunden heilen?
(lacht) Ich glaube fest daran, dass in der Kunst etwas Kathartisches liegt.
„DER FERNE KLANG“ IN KÜRZE
Den jungen Komponisten Fritz drängt es in die Welt hinaus, um den besonderen,
den fernen Klang zu finden. Dafür lässt er seine Geliebte Grete in ihrem kleinbürgerlichen
Elternhaus zurück, wo ihr Vater sie bei einer Kegelpartie als Wetteinsatz vergibt. Grete
flieht und will sich umbringen, wird aber von einer geheimnisvollen Alten daran gehindert.
Diese bringt sie in das Luxusbordell „Casa di maschere“, wo Grete schnell zum Star
aufsteigt. Hier begegnet sie Fritz wieder, der sich angewidert von ihr abwendet.
Anschließend verarbeitet Fritz seine und ihre Geschichte zu einer Oper. Deren
Uraufführung, die Grete, mittlerweile zum Straßenmädchen abgesunken, miterlebt, endet
in einem Misserfolg. Grete besucht Fritz noch einmal. Der erkennt, dass er ohne die
Liebe seines Lebens seinen „Fernen Klang“ nie finden wird. In ihren Armen stirbt er.
GABRIELE RECH
Die in Duisburg geborene Regisseurin erarbeitete in den letzten Jahren über 50
Musiktheaterinszenierungen an Bühnen des In- und Auslands, u. a. in Köln, Nürnberg,
Münster, Wiesbaden, Mannheim, Bremen, Weimar, Dortmund, Linz, Graz, Antwerpen und
Kassel. Für ihre Inszenierung von „Madame Butterfly“ am Musiktheater im Revier erhielt sie
den Gelsenkirchener Theaterpreis, ihre Inszenierungen von „Die Zauberflöte“ in Weimar,
„Winterreise“ in Bielefeld und „Hoffmanns Erzählungen“ in Kassel wurden von der
Zeitschrift Opernwelt im Vergleich mit anderen Inszenierungen dieser Werke zur jeweils
besten gewählt. Außerdem erhielt sie zahlreiche Nominierungen zur Inszenierung des
Jahres. Im April 2010 übernahm sie eine Professur für szenischen Unterricht und
Projektkoordination an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Aachen. Jüngste
Regiearbeiten sind „Elektra“ am Teatro Massimo Bellini in Catania und an der Oper Köln
(2010), „Carmen“ am Nationaltheater Mannheim (2010) sowie Antonio Gnecchis
„Cassandra“ in Catania (Januar 2011).
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
PREMIERE : 30. APRIL, 19.30 UHR, OPERNHAUS
DER FERNE KLANG Franz Schreker
OPER IN DREI AKTEN
Text vom Komponisten
Musikalische Leitung: Philipp Pointner Inszenierung: Gabriele Rech Bühne: Dirk
Becker Kostüme: Gabriele Heimann Chor: Edgar Hykel Dramaturgie: Kai Weßler
Mit: Isabel Blechschmidt (Mizzi), Esen Demirci (Milli), Teresa Erbe (Ein altes
Weib/Eine Spanierin/Eine Kellnerin), Melanie Hirsch (Mary), Angelika Straube (Frau des
alten Graumann), Astrid Weber (Grete), Klaus Brummer (1. Chorist), Guido Jentjens (Dr.
Vigelius/Der Baron), Rüdiger Krehbiel (Der alte Graumann/Ein Polizeimann), Michael
Kunze (Gesang des Baritons), Jochen Kupfer (Der Graf/Rudolf/Ein
Schmierenschauspieler), Martin Nyvall (Der Chevalier/Ein zweifelhaftes Individuum),
Michael Putsch (Fritz), Darius Siedlik (Wirt)
Mit freundlicher Unterstützung des Damenclubs zur Förderung der Oper Nürnberg e.V.
Kai Weßler
(aus „Impuls“, Magazin des Staatstheaters, Ausgabe April 2011)
DER FERNE KLANG
1. AKT, 1. SZENE
Ein hohes, hehres Ziel schwebt mir vor Augen,
doch frei muss ich sein – frei!
Denn nicht Ruhe find´ ich –
zu Glück und Genuss,
nicht Ruhe zu Liebe und Seligkeit –
eh´ ich ihn nicht habe und halte,
den rätselhaft weltfernen Klang,
der zu mir herübertönt – so eigen –
weißt du, Gretel –
wie wenn der Wind mit Geisterhand
über Harfen streicht. – Weit – Weit –
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
IM IRRGARTEN DER ZERBROCHENEN TRÄUME
Ein junger Künstler will in die Welt hinaus. Er ist Komponist und hört auf den
prosaischen Namen Fritz. Berühmt will er werden, auch reich, die Kunst soll ihm einen
arrivierten Platz in der Gesellschaft verschaffen. Ziel seiner künstlerischen Sehnsüchte
ist der von ihm selbst nur vage erahnte „rätselhaft weltferne Klang“, der zugleich Antrieb
zu einem künstlerischen Aufbruch ist. Fritz sucht die sphärische Musik, die der Wind
durch das Streichen der Äolsharfe erzeugt. Für jenes Windspiel hatten bereits Goethe
und die Romantiker geschwärmt. Der ferne Klang ist nichts anderes als der Traum von
einer Kunst, die aus der Natur selbst entsteht und die zugleich die als schmerzlich
empfundene Trennung des Menschen von der Natur aufzuheben imstande ist. Es ist ein
romantischer Aufbruch, den Fritz zu Beginn von Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“
zelebriert, ein Aufbruch ins Unendliche, in eine Land der Sehnsucht, in die Utopie.
Doch „wer das Unendliche sucht, der weiß nicht, was er will“, hatte einst schon der
Erzromantiker Novalis spöttisch bemerkt. Nicht ohne Grund ist es ein Klang, nach dem
Fritz sich sehnt, also das Flüchtigste an der ohnehin flüchtigen Kunst der Musik, das, was
sich der Fixierung in den Noten wiedersetzt, was man eben nicht „haben und halten“
kann, wie Fritz es sich wünscht. Und Fritz scheint die Erzählungen der Romantik zu
kennen, die Suche nach der blauen Blume, die Sehnsucht nach der Ferne. Immerhin hat
er von der romantischen Kunstphilosophie soviel verstanden, dass sein Ziel als Künstler
die Synthese von Kunst und Leben, von Geist und sinnlichem Genuss sein muss. Und
ihm ist wohl klar, dass er dies in der biederen Wohnküche der Familie Graumann, deren
Name ein nur zu deutlicher Hinweis auf den „grauen Alltag“ ist, nicht finden wird. Mit
anderen Worten: Fritz muss seine Geliebte verlassen, um seine Kunst zu finden.
Kaum ist Fritz gegangen, wandelt sich Schrekers Oper vom romantischen
Künstlerdrama zur naturalistischen Sozialstudie. Das Milieu, dem Grete (und wohl auch
Fritz) entstammen, ist das des abgesunkenen Kleinbürgertums. Vater Graumann vertrink t
das Geld der Familie im Wirtshaus, der gesamte Besitz der Familie ist dem Wirt bereits
verpfändet. Die Mutter sieht der Entwicklung ohnmächtig zu, denn der Widerstand einer
Frau gegen den gewalttätigen Vater ist für sie ebensowenig möglich wie eine beruf liche
Tätigkeit der Tochter Grete. Völlig schamlos geht dagegen der Vater vor, indem er seine
eigene Tochter beim Kegeln verspielt. Hatte etwa in Wagners „Der fliegende Holländer“
Vater Daland für Senta immerhin noch maßlose Schätze erhalten, so geschieht der
Verkauf dieser Braut zur bloßen Suchtbefriedigung: Der Vater vergibt seine Tochter an
den Wirt zum Erlass seiner Schulden, und damit er künftig umsonst trinken darf. Die
Brutalität, mit der Grete zur Gaudi einer betrunkenen Meute ehrenwerter Bürgern
gedemütigt wird, zeigt Schreker als einen Zeitgenossen des literarischen Naturalismus
und weist in der Genauigkeit des sozialen Milieus auf Horváth voraus. Von nun an ist es
Gretes Geschichte, die die Oper erzählt.
Mit deren Flucht aus dem Elternhaus ändert sich erneut der Ton. Zwar will Grete
Fritz suchen, tatsächlich aber gelangt sie in einen Wald, den Ort des Unheimlichen, des
Unbestimmten, der Natur. Es ist die einzige Szene in dieser Oper, die nicht im sozial und
zivilisatorisch bestimmten Raum der Stadt spielt. Und die Erfahrung der Natur ist es
auch, die Grete von ihrem Selbstmord abhält. Ganz im Sinne der Zivilisationskritik des
frühen 20. Jahrhunderts zeigt Schreker die Natur als Heilmittel gegen die schmerzlichen
Verluste der Zivilisation. Er hat hier eine Musik komponiert, die mit allen Mitteln einer
raffiniert ausdifferenzierten Instrumentation die Natur zur schillernden, verführerischen
Gegenwelt zu der urbanen Realität des bisherigen Aktes macht. Die von dem Verlust von
Geliebtem und Elternhaus verstörte Grete findet in der scheinbar heilen Natur Rettung
und Unheil zugleich. Plötzlich nämlich erscheint, wie die Knusperhexe aus dem Märchen,
in der Naturidylle die alte Frau vom Beginn des Aktes. Schreker zitiert Märchenton und
Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
Naturromantik, doch er weiß genau, dass beides in der Moderne des 20. Jahrhunderts
kaum mehr als künstliche Paradiese sind, romantische Fluchtorte einer illusionslosen
Wirklichkeit. Hatte die Natur Rettung versprochen, so führt die alte Frau Grete
geradewegs in die Prostitution.
Zehn Jahre später spielt der zweite Akt. „La casa di maschere, ein
Tanzetablissement auf einem Eiland im Golf von Venedig“ steht als Handlungsort im
Libretto. Venedig, das „Las Vegas des 18. und 19. Jahrhunderts“, wird hier zur Chiffre
des Vergnügens. Eigenartigerweise tragen die Frauen, die diesen Ort bevölkern, alle
Namen der Wiener Prostituiertenszene: Mizi, Milli, Mary. Schreker selbst hat in einem
kurzen autobiographischen Abriss mit „Casa di maschere“ seine Besuche in Lokalen der
Wiener Halbwelt umschrieben, und tatsächlich ist für die Zeit um die Jahrhundertwende
in Wien ein Lokal belegt, das die männlichen Kunden in ein kulissenhaftes Venedig
entführt. Konsequenterweise benutzt Schreker in der Musik dieses Aktes keine der
gängigen musikalischen Zeichen für Venedig, wie sie dem Opernbesucher etwa aus
Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ geläufig sind. Stattdessen eröffnet er ein wahrhaft
atemberaubendes Panorama verschiedener Musikstile. Neben dem Hauptorchester sieht
man auf der Bühne eine Zigeunerkapelle und hört aus der Ferne venezianische Musik.
Wenn der Vorhang aufgeht, singen unsichtbare Fernchöre, zugleich erklingt ein
sentimentales Lied, das von einer schmachtenden Serenade abgelöst wird. Später
kommt noch ein Frauenchor mit einem schmissigen Walzer dazu. Diese Trivialmusiken
des Wiener Heurigen sind nicht etwa musikalische Einlagen, sondern sie erklingen
gleichzeitig, bruchstückhaft, werden in den Gang der Handlung ein- und ausgeblendet.
Sie schaffen so eine dichte, aber disparate Klangcollage, die dem ganzen Akt eine
merkwürdig alptraumhafte Atmosphäre zwischen Irrgarten und Zirkus gibt.
Wenn wir Grete wiedertreffen, hat sie sich verändert. Sie erscheint als „schöne
Greta“ als Projektionsfläche männlicher Wünsche. Entgegen allen Beschreibungen der
männlichen Besucher in der „Casa di maschere“ führt Schreker sie jedoch nicht als große
Kurtisane vor, sondern als eine Frau, die ihre Persönlichkeit nur im Spiegel der Männer
finden kann. „Bin ich denn wirklich so schön?“ ist der keineswegs kokett gem einte
Eingangssatz dieser Greta. Ihr Auftrittslied ist eine Traumerzählung, in der Greta ihren
Lebensweg seit der Naturerfahrung als Abfolge alptraumhafter Bilder neu durchlebt. Der
Zerfall von Grete/Gretas Persönlichkeit wird offenkundig in der Begegnung mit Fritz, der
in einer vagen Reminiszenz an „Lohengrin“ völlig unerwartet mit einem Schiff die
Vergnügungsinsel erreicht. Er verkennt zwar, dass er sich in einem Bordell befindet,
erkennt Grete jedoch. Sie aber erkennt ihn nur mit Mühe, ihre Rede ist scha blonenhaft,
ihre Reaktionen auf ihn sind unangemessen. Die Wiedererkennung zweier sich liebender
Menschen findet nicht statt. Vielmehr muss Fritz erkennen, dass das Mädchen Grete
nicht mehr existiert, sondern sich zu einer zersplitterten, von den Wünschen anderer
definierten Persönlichkeit verwandelt hat. Schreker, der Sigmund Freuds zu seiner Zeit
neuartigen Studien zur (weiblichen) Hysterie und Traumatisierung kannte, beschreibt
auch musikalisch den Zerfall einer Persönlichkeit. Mehr noch, die musikalisch
zersplitterte Welt des Venedig-Bildes wird zu einem Abbild der zerstörten Persönlichkeit
seiner Protagonistin.
Heilung von dieser Persönlichkeitsstörung sucht Grete ausgerechnet in der Kunst.
Im dritten Akt erlebt der Zuschauer aus der Backstage-Perspektive die Uraufführung der
Oper „Die Harfe“, die Fritz komponiert hat. Die Bruchstücke des Werkes, die man zu
Beginn des Aktes erlebt, sind alle musikalische Zitate aus dem „Fernen Klang“ selbst. Die
titelgebende Harfe ist jene Windharfe, deren Klang Fritz nachhört, die Geschichte die
seines eigenen Lebens und das der Grete. Kein Wunder, dass diese, die trotz ihres
sozialen Abstiegs zur Straßenprostituierten im Publikum sitzt, mit einem Schwächeanfall
reagiert. Diese Schwäche jedoch führt zu einer neuen Stärke: Grete sucht bewusst den
mittlerweile schwer kranken Fritz auf. Hier schließt Schreker den Bogen zum Beginn: In
der Erkenntnis, dass Kunst und Leben zusammengehören, dass Fritz seinen fernen
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
Klang nur finden kann, wenn er sich mit Grete versöhnt, liegt die romantische
Schlusspointe des Werkes. Tatsächlich aber geht Schreker noch einen Schritt weiter: Im
Moment der Versöhnung, im Einswerden von Sehnsucht und Erfüllung verlässt Fritz
Grete zum dritten Mal, und diesmal endgültig: er stirbt. Am Ende seines rom antischen
Aufbruchs ist Fritz am Leben gescheitert, ohne dieses Scheitern in der Kunst sublimiert
zu haben. Schreker führt ein großes Künstlerdrama des 19. Jahrhunderts vor – und
demonstriert zugleich, wie sich diese Künstlerthematik in der modernen Welt ü berlebt
hat. Er erinnert an die romantische Idee der Einheit von Kunst und Leben, von Mensch
und Natur, von Utopie und Wirklichkeit – und lässt deren Widersprüche ungelöst.
Kai Weßler
(aus dem Programmheft zu „Der ferne Klang“)
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
PRESSESTIMMEN
"Der ferne Klang" - Bayerischer Rundfunk, B5 Kultur - 01.05.2011
Regisseurin Gabriele Rech siedelt das Stück genau an, wo es seine Stärken voll entfalten
kann: Zwischen Psychoanalyse, Traumdeutung und Gewaltfantasien, geht es doch im
"Fernen Klang" um Menschen, die ihre Ideale verlieren, die vom Leben furchtbar enttäuscht
werden und daran zugrunde gehen. Die grelle, lodernde Musik von Franz Schreker und die
auf den ersten Blick banale Handlung können den "Fernen Klang" heutzutage schnell in den
Kitsch abgleiten lassen. Doch Gabriele Rech und ihr Bühnenbildner Dirk Becker
beeindruckten mit ungemein intensiven, düsteren Bildern, die zwischen Märchen und
Alptraum schwanken, so dass Figuren wie Rotkäppchen und Sterntaler sich im Bordell
wiederfinden, wo sie auf einem Spielzeugpferd mit sadomasochistischem Zaumzeug reiten.
[...] Am Ende ist er tot und sie in der Gosse, im Expressionismus gibt es keine Halbheiten.
Um das glaubwürdig darzustellen, braucht es Sängerinnen wie Astrid Weber [...]
Ein großer Abend am Nürnberger Staatstheater.
Peter Jungblut
"Der ferne Klang" - Nürnberger Zeitung - 02.05.2011
Rauschende Klangpracht, intime kammermusikalische Momente und ein psychologisch
vielschichtiger Stoff, der mitten ins Herz der deutschen Romantik zielt: Mit diesen Qualitäten
punktet im Nürnberger Opernhaus Franz Schrekers Oper "Der ferne Klang", die am Samstag
Premiere feierte. [...]
Noch einmal eine andere Herausforderung ist es, so eine ursprünglich sehr erfolgreiche,
dann lange ins Vergessen gedrängte Oper, die im Schnittpunkt von Spätromantik, Moderne
und einer jung vollendeten, exotisch eigenwilligen Klangsprache steht, für die Bühnenpraxis
eines mittleren Hauses wie dem Nürnberger Staatstheater tauglich zu machen. Die jüngste
Produktion des Opernhauses, die am Samstagabend Premiere hatte, leistet hier
Vorbildliches. Gabriele Rech, die vor zwei Jahren schon für Erich Wolfgang Korngolds „Die
tote Stadt“ eine psychologisch fesselnde Deutung fand, und der damals ebenfalls am Pult
stehende Dirigent Philipp Pointner fächern beide die in diesem Werk enthaltene kreative
Substanz facettenreich auf. [...]
In diesem [2.] Akt, der in einem venezianischen Bordell spielt, entfalten Philipp Pointner, die
Philharmoniker, aber auch die in die sphärischen Höhen der obersten Proszeniumsloge
entrückten Chöre die hypertrophe Pracht von Schrekers Partitur. Das orchestrale
Aufrauschen rückt ins Zentrum, die Motivarchitektur ist kompliziert geschichtet, sogar eine
Bühnenmusik ist integriert, die reichlich bestückten Perkussionisten steuern exotische
Akzente bei, das schwere Blech leistet wagner-schwere Basisarbeit, das Orchester spielt auf
höchstem Niveau und nahe an jenem Ideal, das Nürnbergs Ex-GMD Christian Thielemann
neulich in gewohnter Eigenwilligkeit als „deutschen Klang“ definiert hat: „Dunkel mit
Leichtigkeit“. [...]
Hervorragend bewältigt Astrid Weber als Gastsängerin die Anforderungen der Partie der
Grete: Kindliche Verletzlichkeit, hinter expressiven Provokationen und überdrehter
Feierlaune sich versteckende Seelennöte und das Zurückgeworfensein auf die
gottverlassene Einsamkeit der alten, gefallenen Frau: All das vermittelt die Sopranistin, die
diese Partie schon seit Peter Mussbachs Lindenoper-Inszenierung beherrscht, eindrücklich
und mit großer stimmlicher Souveränität.
Das Ende, das Alter, die Erkenntnis einer vergeudeten Liebe und eines vergeudeten Lebens:
Gabriele Rech findet auf einem Bahnhof ohne Namen zu einem existenzialistisch kargen
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Der ferne Klang“
Finale. Als Fritz in Gretes Armen stirbt und das Licht verlöscht, erheben sich ein paar
einzelne, aber markante Buhs. Sie treffen eine Produktion, die die bislang beste und
fruchtbarste der Saison ist. Der deutliche Applaus drängt die Buhs bald zurück – doch zeigt
dieser Moment, dass eine über 80-jährige Lücke in der Rezeptionsgeschichte eines Werks –
„Der ferne Klang“ hatte 1924 in Nürnberg Premiere – sich nicht so einfach schließen lässt.
Thomas Heinold
"Der ferne Klang" - Donaukurier-online - 01.05.2011
Hier also endet die Suche nach einem erfüllten Dasein: An einem trostlosen Bahnsteig sitzt
man zusammen und kommentiert die beiden Lebensakte, die man zuvor gesehen hat und
deren Personal man gleichzeitig gewesen ist.
Regisseurin Gabriel Rech hat ein ebenso einfaches wie verblüffendes Mittel gefunden, um
das Spiel im Spiel auf die Spitze zu treiben, das Franz Schreker in seinem Sensationserfolg
"Der ferne Klang" von 1912 ersonnen hat. Durch Doppelbesetzungen einiger Partien drehen
wir uns im Laufe der drei Opernakte im Kreis. [...]
Astrid Weber (Grete) überwältigt endgültig mit ihrer szenischen und vokalen Präsenz [...]
Jochen Kupfer (im ersten Akt gibt er den Schauspieler, im letzten den Rudolf) hat Recht,
wenn er die Ballade des Grafen nicht herausbrüllt,[...] Guido Jentjens (Vigelius, Baron),
Teresa Erbe (Altes Weib u.a.) und viele weitere Sänger sowie der von Edgar Hykel gewohnt
zuverlässig einstudierte Chor geben dieser musikalisch bis auf die dynamische Abstimmung
gelungenen, szenisch überzeugend pointierten Produktion zusätzlich Kontur.
Juan Martin Koch
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