Der KlangTraumDeuter Franz Schreker und die

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Ulrike Kienzle
Der KlangTraumDeuter
Franz Schreker und die Wiener Moderne
Fünf Skizzen1
1. Das "Drama des Werdenden"
"Aus zwiefacher Not heraus entstand der 'Ferne Klang'. In mir – ich war
ein ganz junger Mensch – gärte es. Jugend, Sehnsucht wollte sich Ausdruck schaffen. Sehnsucht – ein Kunstideal zu erjagen, Ruhm, Freuden des
Lebens. Weib, Liebe! Und ich wollte schaffen, wollte all das zu tönenden
Gebilden formen – doch mir fehlte ein Buch, ein Opernbuch, denn es war
mir klar, daß ich jene wühlenden gebundenen Kräfte nur in der dramatischen, in der musikdramatischen Kunst zu klingendem Leben erwecken
konnte. Und was sich mir bot, war armseliges Zeug: Librettis verkrachter
Dichter, tantiemehungriger Journalisten. Da besann ich mich zu rechter
Zeit auf mich selbst. Auf das Drama des Werdenden; auf das Narrenspiel
dieses Lebens mit unsicherem Ausgang; auf all die Tragödien, die hart an
uns vorbeistreifen und uns hin und wieder – oft flüchtig nur – in ihr Szenengewirr verstricken. Und schrieb den 'Fernen Klang', aus mir selbst heraus, aus meinem eigenen jungen Erleben."2
Ein junger Komponist – er ist Mitte zwanzig und hat vor kurzem sein Kompositionsstudium am Wiener Konservatorium abgeschlossen – ist auf der Suche nach einem
neuen Opernstoff. Er hat bereits ein beachtliches Oeuvre vorzuweisen: Kammermusik, Lieder, Sinfonische Dichtungen, Chorwerke. Auch eine Oper hat er schon geschrieben: Flammen, ein mittelalterliches Minnedrama auf den Text einer Jugendfreundin, ein eher konventionelles Sujet in der Tradition Wagners. Für seine neue
Oper stellt sich der junge Komponist etwas ganz anderes vor: Er sucht einen Stoff, der
den Nerv der Zeit trifft und das Lebensgefühl seiner Generation wiedergibt, ein Sujet,
in dem er eine neuartige musikalische Dramaturgie entwickeln kann, die sich von der
romantischen Oper und vom Wagnerschen Musikdrama abhebt. Der junge Komponist lebt im Wien der Jahrhundertwende, in einer Zeit der geistigen Umbrüche und
der künstlerischen Neuorientierungen, in der alte Sicherheiten verloren gegangen
1
Dieser Text erschien zuerst in: Franz Schreker: Der ferne Klang. Oper in drei Aufzügen.
Ein Opernführer, hrsg. von der Staatsoper Unter den Linden, Frankfurt a.M./Leipzig
2001, S. 62-85. Viele Aspekte, die hier nur kurz angesprochen sind, werden in meinem
Buch Das Trauma hinter dem Traum. Franz Schrekers Oper "Der ferne Klang" und die
Wiener Moderne, Schliengen 1998, ausführlicher behandelt.
2
Franz Schreker: Über die Entstehung meiner Opernbücher, in: Musikblätter des Anbruch 2 (1920) S. 547-549.
1
sind und das Neue noch im Werden ist. Er will an den aktuellen Entwicklungen teilhaben und sie seinerseits mitprägen.
Wien um 1900: Das ist ein Experimentierfeld, ein Laboratorium des Geistes. Hinter
der Fassade des Historismus, der Ringstraßenarchitektur und der etablierten Institutionen von Kunst und Kultur vollzieht sich die Geburt der Moderne. Der Maler Gustav Klimt schockiert mit seinen Fakultätsbildern für die Wiener Universität den konservativen Geschmack der Professorenschaft, indem er nackte Frauenkörper und
ausgemergelte alte Männer als Allegorien für Leben und Tod, Medizin und Jurisprudenz entwirft und den gewohnten Realismus der Darstellung in ornamentale Strukturen auflöst. Während auf dem Theater der Naturalismus Triumphe feiert, fordert der
Literaturkritiker Hermann Bahr bereits seine "Überwindung". Die Schriftsteller der
Wiener Moderne propagieren eine Hinwendung zur seelischen Innenwelt, eine "Mystik der Nerven", eine "neue Psychologie". In der Berggasse 19 entwirft der Nervenarzt
Sigmund Freud ein neues Bild vom Menschen, indem er das irrationale Triebpotential, das im Unbewußten schlummert, als vitalen Urgrund der Persönlichkeit entdeckt
und in der Verdrängung sexueller Traumata die Ursache hysterischer Erkrankungen
erkennt. Gustav Mahler, Alexander Zemlinsky und sein Schüler Arnold Schönberg
führen in der Musik die Tonalität an ihre Grenzen und bereiten den Weg zu einer
neuen Tonsprache vor.
Das ist die Welt des jungen Franz Schreker, der sich anschickt, seine zweite Oper zu
komponieren: Der ferne Klang. Das Werk trägt die Signatur der Epoche. Daher kann
Schreker die "Librettis verkrachter Dichter" und "tantiemehungriger Journalisten"
nicht gebrauchen: Er schreibt den Text selbst. Zwar steht Schreker – nach Auskunft
eines Zeitgenossen ein "weltabgeschiedener Vorstadtwiener"3 – zur Entstehungszeit
des Fernen Klang noch nicht in direktem Kontakt mit den Literaten der Wiener Moderne, die der umtriebige Hermann Bahr im Café Griensteidl und später im Café Central um sich versammelt. Die Protagonisten des "Jungen Wien" stammen zumeist aus
gutem Hause; sie haben eine exzellente Schuldbildung hinter sich und verfügen über
gewandte Umgangsformen. Schreker dagegen passt nicht so recht in diese Kreise. Er
ist ein Außenseiter: Als Sohn eines Fotografen 1878 in Monaco geboren, musste er
nach dem frühen Tod des Vaters die vielköpfige Familie, die sich mühevoll durch einen kleinen Laden am Leben erhielt, durch Nachhilfestunden und Orgelspiel unterstützen. Sein Musikstudium hat er nur dank eines Begabtenstipendiums absolvieren
können. Dies hält ihn allerdings nicht davon ab, in seinem Heimatbezirk Döbling ein
reges Leben als Organist, Chorleiter und Initiator verschiedenster musikalischer Aktivitäten zu entfalten. Außerdem ist er ein begieriger Leser der neuen Literatur, und
zwar nicht nur des schöngeistigen Genres, sondern auch der Philosophie und der Psychologie. Dies ist aus Briefen bekannt, lässt sich aber auch aus dem Sujet des Fernen
Klang und erst recht aus dessen musikdramatischer Gestaltung erschließen.
3
Paul Stefan: Neue Musik und Wien, Leipzig/Wien/Zürich 1921, S. 42.
2
Der ferne Klang ist ein autobiographisches Bekenntniswerk. Der Protagonist Fritz,
ein angehender Künstler, trägt in mancher Hinsicht die Züge seines Autors. Darauf
verweist schon die Ähnlichkeit der Namen Fritz und Franz. Der junge Fritz ist dem
geheimnisvollen Klingen auf der Spur, das ihn umgibt, um es auf Notenpapier zu
bannen und damit "Reichtum und Ruhm" zu erringen – ähnlich wie Schreker selbst,
in dessen Ruf nach "Ruhm, Freuden des Lebens. Weib, Liebe!" ebenfalls der Wunsch
nach öffentlicher Anerkennung zum Ausdruck kommt. Von Schreker weiß man, dass
er das geheimnisvolle Klingen überall gesucht hat: beim Heurigen, auf Maskenzügen,
in zweifelhaften Etablissements und verrauchten Kneipen, nicht zuletzt bei Frauen:
"Und immerzu – verliebt, verlobt, abwechselnd. Damit zusammenhängend Halbheiten, Depressionen. Entwicklung, Lebensdurst, nicht immer beste Gesellschaft", erinnert er sich später. Schreker beschreibt seine damalige seelische Verfassung aus der
Rückschau als "ein Greifen u. Haschen nach fliehenden Dingen, immer voll Glauben,
immer enttäuscht, und immer aufs Neue verdammt zu jagen, zu suchen – um nicht zu
finden."4
Dies ist fast schon ein Psychogramm des jungen Künstlers Fritz, den seine Suche überall hin führt, nur nicht zur Erfüllung seiner Sehnsucht: "In atemlosen Ringen und
Hasten, in der Jagd nach dem Ziel, das mir weit und weiter entschwand", gewinnt
Fritz "Ruhm und Reichtum", aber den fernen Klang kann er nicht finden. Die Analogien zwischen Schrekers Selbstcharakterisierung und derjenigen seines Protagonisten
Fritz sind auffällig, und es könnte durchaus sein, dass Schreker die eigene Lebensgeschichte aus dem Rückblick nach dem Vorbild seiner Opernfigur stilisiert hat. Die
wenigen erhaltenen Zeugnisse, die wir aus der Entstehungszeit des Fernen Klang besitzen, zeigen aber, dass Schreker in seiner Jugend tatsächlich ein ruheloser, von der
Suche nach neuen künstlerischen Wegen geradezu besessener Komponist war – vor
allem Schrekers Briefe an seine damalige Freundin Grete Jonasz belegen dies.5 Dass
die weibliche Hauptfigur des Fernen Klang ebenfalls Grete heißt, kann Zufall sein –
oder auch nicht.
Wenn man außerdem bedenkt, dass der Künstler Fritz in der Oper selbst eine Oper
schreibt, die zwar nicht Der ferne Klang, aber immerhin ähnlich, nämlich Die Harfe
heißt – und die bei ihrer Uraufführung gnadenlos ausgepfiffen wird –, dann wird
deutlich, dass Schreker im Fernen Klang nicht nur seine "Sehnsucht – ein Kunstideal
zu erjagen" gestaltet hat, sondern auch die Ängste und Alpträume, die ihn selbst umtreiben. Denn die Entwicklung einer neuen Tonsprache stößt im Wien der Jahrhundertwende keineswegs auf ungeteilte Zustimmung, wie die allbekannten Skandale um
die Uraufführung von Werken Neuer Musik zeigen. Die traumatische Erfahrung seines Protagonisten Fritz, der nach der gescheiterten Uraufführung seiner Oper resigniert an seinem Schreibtisch sitzt und über sein verfehltes Leben nachdenkt, wird von
4
Franz Schreker: Erinnerungen (Manuskript), Österreichische Nationalbibliothek Wien,
Signatur: F 3 Schreker 63.
5
Vergleiche dazu den Beitrag von Christopher Hailey im vorliegenden Band.
3
Schreker wie in einem Akt der Angstabwehr, gleichsam als Menetekel auf die Bühne
gestellt – so, als wolle Schreker das Schicksal magisch bannen, indem er es künstlerisch gestaltet. Schrekers Befürchtungen, seine neue Oper könne auf Widerstand stoßen, ist durchaus berechtigt. Der ferne Klang ist in der Tat ein Werk der Neuen Musik, auch wenn Schreker nicht atonal schreibt, sondern wie in einem Kaleidoskop die
verschiedensten musikalischen Stilebenen vom Gassenhauer und vom Wiener Walzer
bis zu komplexen polytonalen Klangschichten in diesem Werk zu einer spannungsvollen Symbiose bringt.
Schon die Wahl des Stoffes, der in Schrekers Gegenwart spielt, ist ungewohnt und
wird als Provokation empfunden: Die autobiographisch inspirierte Charakterstudie
des Komponisten Fritz konfrontiert Schreker mit dem Schicksal der jungen Grete, die
ihn liebt und die aus den kleinbürgerlichen Zwängen ihrer zerrütteten Familie ausbrechen will. Beider Lebensgeschichten scheitern: Die Künstlerkarriere endet in Enttäuschung, Krankheit und Wahnsinn – und Grete, die von Fritz um seiner ehrgeizigen
Pläne willen zurückgelassen wird, endet nach einem Aufstieg zur Nobelkurtisane eines venezianischen Bordells im Elend der Straßenprostitution. Die Darstellung von
Alkoholismus, Prostitution und Hysterie auf der Opernbühne bedeuten einen Tabubruch, der die Vollendung der Komposition und die Uraufführung des Werkes wegen
heftiger Widerstände von Lehrern, Freunden und Intendanten lange Zeit verhindert
hat. Von der ersten Konzeption des Werkes bis zur Frankfurter Uraufführung 1912
vergeht ungefähr ein Jahrzehnt. Dann allerdings ist der Erfolg – für Schreker eine
Überraschung – geradezu überwältigend: Über Nacht avanciert der Komponist zum
Repräsentanten der "modernsten Moderne", wie ein Kritiker schreibt,6 und wird gar
mit Arnold Schönberg auf eine Stufe gestellt.
2. Naturalismus und "nervöse Romantik"
Die Formel vom "Drama des Werdenden", mit der Schreker sein Werk charakterisiert, beschreibt eine Tendenz, die in der Literatur der Jahrhundertwende immer
wieder anzutreffen ist. Hugo von Hofmannsthal betont, dass seine frühen Werke das
"Ich als Werden" thematisieren; sie kreisen um das "Motiv des Zu-sich-selberkommens", um das "sich selbst finden".7 Noch 1907 zählen Goethes Wilhelm Meister
und Kellers Grüner Heinrich – beides Prototypen des Entwicklungsromans – zu den
prägenden literarischen Erlebnissen der jungen Schriftstellergeneration, wie die Umfrage eines Wiener Buchhändlers erweist.8 Allerdings werden jetzt – wie bei Schreker
– vorwiegend gescheiterte Versuche der Selbstfindung erzählt. Jens Peter Jacobsens
Niels Lyhne, der junge Kaufmann in Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672.
6
Walter Niemann: Die Musik der Gegenwart, Berlin 1918, S. 253.
7
Hugo von Hofmannsthal: Ad me ipsum, in: ders.: Aufzeichnungen, Frankfurt/M. 1959,
216 und 219.
8
Hugo Heller: Vom Lesen und von guten Büchern. Eine Rundfrage veranstaltet von der
Redaktion der "Neuen Blätter für Literatur und Kunst", Wien 1907.
4
Nacht, Erwin in Leopold von Andrians Garten der Erkenntnis, der junge Paul im Tod
Georgs von Richard Beer-Hofmann oder der Komponist Georg von Wergenthin in
Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie – sie alle scheitern an Hypersensibilität und
Ich-Schwäche, an der Angst vor Bindung und Verantwortung, an der Unfähigkeit, den
Widerständen der Außenwelt ein eigenes Lebenskonzept entgegenzustellen.
Im Fernen Klang verbindet sich die entwicklungspsychologische Konzeption mit einer realistischen Milieuschilderung, die von der Dramatik des Naturalismus beeinflusst ist. Das erste Bild exponiert ein Familiendrama, das von Gerhart Hauptmann
stammen könnte: Die von Alkoholismus und Spielschulden zerrüttete Familie eines
pensionierten kleinen Beamten, der seine Tochter bedenkenlos beim Kegeln einsetzt
und verspielt, das Psychogramm der verhärteten, gefühlskalten Mutter und des brutalen Gastwirts, den Grete heiraten soll, um mit der attraktiven jungen Frau sein Geschäft anzukurbeln und die Schulden des Vaters auszugleichen – dies erinnert an
Hauptmanns Schauspiel Vor Sonnenaufgang (1889). Auch dort ist der Vater Trinker,
und Helenes Mutter will, wie diejenige Gretes, die Tochter möglichst gewinnbringend
verkuppeln. Beide Mädchen, Helene wie Grete, versuchen, durch die Liebesbeziehung
mit einem jungen Mann aus gehobener Bildungsschicht den drückenden familiären
Verhältnissen zu entkommen. Ihre Hoffnungen erfüllen sich jedoch nicht: Loth – die
männliche Hauptfigur bei Hauptmann – befürchtet, durch die Verehelichung mit der
Tochter eines Trinkers eine Familie zu begründen, deren spätere Degeneration besiegelt wäre; er kann seine Prinzipientreue nicht überwinden und treibt damit die Geliebte in den Tod. Fritz im Fernen Klang verlässt Grete ebenfalls aus egoistischen Motiven, obwohl er um die Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit des trunksüchtigen Vaters weiß. Er glaubt, dass die Verbindung mit Grete der Verwirklichung seiner beruflichen Pläne im Wege steht.
Für den jungen Künstler Fritz ist die Liebelei mit dem sozial niedriger gestellten "süßen Mädel aus der Vorstadt" eher ein willkommener Zeitvertreib als eine ernsthafte
Liebesbeziehung. Liebelei ist der Titel eines 1895 im Wiener Burgtheater uraufgeführten Schauspiels von Arthur Schnitzler. Mit dem Protagonisten von Schnitzlers Schauspiel hat Schrekers Figur mehr als nur den Namen gemein (auch dort heißt die
Hauptgestalt Fritz). Beide Gestalten verkennen die existentielle Bedeutung, welche
die Liebesbeziehung hier wie dort für das Mädchen hat: Grete projiziert ihre Sehnsucht nach Leben und Freiheit, nach erotischer Erfüllung und seelischer Geborgenheit auf den Geliebten. Sie möchte seine künstlerischen Visionen teilen, ihm auf seiner Suche nach dem fernen Klang folgen. Das utopische Moment dieser Beziehung
wird jedoch von Fritz nicht erkannt. Er verleugnet seine Verantwortung für die Geliebte, nicht anders als die Hauptfigur von Schnitzlers Schauspiel.
In der Gegenüberstellung mit Schnitzlers Liebelei zeigt sich der zweite literarische
Einflussbereich, der für den Fernen Klang bedeutsam geworden ist: die Literatur des
Jungen Wien. Schrekers Perspektive auf den Naturalismus ist von der kritischen Distanz geprägt, die Hermann Bahr und sein Kreis dieser literarischen Bewegung entgegenbringen. Zwar erkennen sie, dass der Naturalismus dem neuen, wissenschaftlich
5
fundierten Weltbild des späten 19. Jahrhunderts Rechnung trägt, und daher wollen
sie in ihren eigenen Werken auf die Genauigkeit der Milieuschilderung, die der Naturalismus eingeführt hat, nicht verzichten. Kritisch sehen sie jedoch die Vorliebe des
Naturalismus für die Darstellung von sozialer Not und gesellschaftlichen Missständen. Demgegenüber schicken die Schriftsteller des Jungen Wien sich an, die "Bilder
der äußeren Welt zu verlassen um lieber die Rätsel der einsamen Seele aufzusuchen",
wie Hermann Bahr schreibt. "Das Eigene aus sich zu gestalten, statt das Fremde
nachzubilden, das Geheime aufzusuchen, statt dem Augenschein zu folgen, und gerade dasjenige auszudrücken, worin wir uns anders fühlen und wissen als die Wirklichkeit" – dieses Postulat wird zum Programm der neuen, gegennaturalistischen Bewegung.9
Über die Intentionen der neuen, vom Naturalismus abgewandten Literatur einer
"nervösen Romantik" und einer "Mystik der Nerven"10 heißt es bei Hermann Bahr:
"Die gemeine Deutlichkeit der Dinge, das handgreiflich Wirkliche, das Straßenkleid
der Wahrheit wird verschmäht und der Grund der Wogen in der tiefen Seele, die irre
Sehnsucht, die sich nicht zu deuten weiß, und der schwüle Schwall der blinden Träume, das Rätselhafte und Unartikulierte wird aufgesucht."11 Dies kann analog zu
Schrekers Charakterisierung des jungen Künstlers Fritz gelesen werden, der aus der
Spieler- und Wirtshausatmosphäre flieht, um den "rätselhaft weltfernen Klang" zu
suchen. Die Exposition des Fernen Klang beleuchtet, ganz im Sinne Hermann Bahrs,
den Gegensatz zwischen der "nervösen Romantik" des jungen Künstlers und seiner
kunstfeindlichen Umwelt.
Dieser Gegensatz zeigt sich auch in Schrekers Musik. Die Trostlosigkeit der naturalistischen Szenerie erfährt in der auffälligen Kargheit des Tonsatzes zu Beginn eine Entsprechung – bis hin zum völligen Verzicht auf das gesungene Wort im Melodram der
vierten Szene, dem Gespräch Gretes mit ihrer Mutter. Dagegen blüht das Orchester
auf, wenn Fritz von seinen Visionen spricht: "Weißt du, Gretel, wie wenn der Wind
mit Geisterhand über Harfen streicht. Weit – weit." Der Klangraum öffnet sich, und
es entsteht die Suggestion einer Bewusstseinserweiterung. Der luftige Orchesterklang
vermittelt Schwerelosigkeit und Immaterialität. Dieser Eindruck entsteht durch vielfache Aufschichtung der rhythmischen Akzente – es erklingen Sextolen, Quintolen,
punktierte Achtel und halbe Noten gleichzeitig in verschiedenen Instrumenten – und
durch ein fluktuierendes Auf und Ab der simultanen melodischen Bewegungen.
Schreker erzeugt ein vibrierendes Klangspektrum, von dem sich immer wieder einzelne Akzente wie Farbtupfer auf einem pointillistischen Gemälde abheben. Die kon-
9
Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus (1891), in: ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, hg. von Gotthart Wunberg,
Stuttgart u. a. 1968, S. 86.
10
Ebd., S. 87.
11
Hermann Bahr: Maurice Maeterlinck, in: ders.: Zur Überwindung des Naturalismus, S.
99.
6
stituierenden Parameter der abendländischen Musikgeschichte – Melos, Rhythmus,
Harmonik und Periodizität – erscheinen suspendiert. Diese Klangsprache wirkt um
1900 neu und unerhört; Vorbilder könnte man allenfalls bei Claude Debussy finden,
dessen Musik der junge Schreker allerdings nicht gekannt haben dürfte.
3. Musik des Unbewußten
Kompositionsgeschichtlich steht Schrekers Ferner Klang auf dem Boden des Wagnerschen Musikdramas. Die Oper ist durchkomponiert und verwendet die Wagnersche Leitmotivtechnik. Aber Schreker gibt der von Wagner übernommenen Dramaturgie eine neue Gestalt – nicht nur, indem er auf den Mythos verzichtet und sich
statt dessen an der zeitgenössischen Literatur orientiert. Vor allem entwickelt er das
Wagnersche Modell konsequent weiter in Richtung auf ein psychologisches Musiktheater. Das neue Menschenbild der Wiener Moderne hält Einzug auf der Opernbühne. Die verstreut publizierten Äußerungen Schrekers zur Ästhetik des Musikdramas
umkreisen den Begriff des Unbewussten: "Geheimnisvoll Seelisches ringt nach musikalischem Ausdruck", schreibt er über seine "musikdramatische Idee". Es geht ihm
um "dieses geheimnisvolle Werden, dieses Sichwandeln unter im Unterbewußtsein
schlummernden, triebhaften Einflüssen", die nur in der Musik adäquaten Ausdruck
erfahren können.12
Schrekers Musik zeichnet die Bewusstseinsprozesse der handelnden Personen mit
geradezu seismographischer Genauigkeit nach. Ahnungen, unklare Gefühle und diffuse Assoziationen gestaltet er so, wie sie aus dem Unbewussten auftauchen: mit musikalischen Motiven, die sich ständig verändern, die einmal schemenhaft verwischt
und verworren, dann wieder eingängig und prägnant sind – ganz so, wie es dem jeweiligen psychischen Prozess und der dramatischen Situation entspricht. Daher ist es
für den Hörer nicht immer leicht, den motivischen Entwicklungen zu folgen: Es gibt
nur wenige fest umrissene Motivgestalten, aber unendlich viele Varianten – so viele
Varianten, wie es Gefühle und Gedanken der handelnden Personen gibt. Während die
Kompositionsweise Wagners darauf abzielt, mit seinem Orchesterkommentar gleichsam den "allwissenden Erzähler" der großen Romankunst des 19. Jahrhunderts einzuführen und dem Bühnengeschehen dadurch eine Deutung zu geben, die über das
auf der Bühne Gezeigte hinaus geht, verschwindet bei Schreker die Instanz des kommentierenden Autors aus der Partitur.
Schrekers musikdramatische Methode erinnert an das Konzept der "neuen Psychologie", das Hermann Bahr für die Literatur der Wiener Moderne entwickelt hat. Bahr
reagiert damit auf das gewandelte Menschenbild der Psychoanalyse, aber auch auf
den Empiriokritizismus Ernst Machs, der in seiner Schrift Die Analyse der Empfindungen die Existenz des Ich als einer beständigen Identität der Persönlichkeit angezweifelt hat. Real seien nur Wahrnehmungen: Düfte und Klänge, Gesehenes und Ge-
12
Franz Schreker: Meine musikdramatische Idee, in: Musikblätter des Anbruch 1 (1919),
S. 6.
7
fühltes, nicht die Gegenstände selbst und schon gar nicht das wahrnehmende Bewusstsein. Bahr bezeichnet dies als "Philosophie des Impressionismus".13 Das Vorgehen der Schriftsteller, so konstatiert Bahr, habe sich nunmehr auf den Versuch zu
richten, vermittels subtiler sprachlicher Gestaltung die vielfach wechselnden sinnlichen Eindrücke selbst darzustellen. Die neue Psychologie "zeichnet die Vorbereitungen der Gefühle, bevor sie sich noch ins Bewußtsein hinein entschieden haben", sie
sucht "die Gefühle in dem sensualen Zustande vor jener Prägung" auf: "Jeder solche
Prozeß wird ganz auf den Nerven und in den Sinnen vollzogen und das Bewußtsein
wird erst von dem Resultate verständigt, wenn es bereits entschieden und unwiderruflich ist. Eine Psychologie, welche ihn im Bewußtsein darstellt, wie er von der Phantasie der Erinnerung nachher zugerichtet wird, ist falsch und kann vor keinem redlichen Experiment bestehen."14
Hugo von Hofmannsthal sieht die neue Technik bereits in Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne (1880) exemplarisch verwirklicht: "In den alten psychologischen
Romanen ('Werther', 'Adolphe', 'Manon Lescaut') wird der Inhalt des Seelenlebens
dargestellt, bei Jacobsen die Form davon, psychiatrisch genau beobachtet; das Sichdurchkreuzen, das Aufflackern und Abirren der Gedanken, die Unlogik, das Brodeln
und Wallen der Seele."15 Der Autor soll die Funktion eines fiktiven Protokollanten
übernehmen, der den komplizierten Prozess der Entstehung von Bewusstseinstatsachen seiner Figuren minutiös nachzeichnet und sich jeder subjektiven Deutung enthält. Schrekers kompositorische Technik zielt auf etwas ganz Ähnliches. Die Klangrede des Orchesters folgt den Gesetzen der freien Assoziation, wie sie beispielsweise von
Sigmund Freud beschrieben und in Arthur Schnitzlers Technik des Inneren Monologs
literarisch gestaltet sind.
4. Psychoanalytische Fallstudien
Die subtilen psychologischen Charakterstudien, die Schreker in seiner Oper entwirft,
können nur durch eine detaillierte Betrachtung der musikalischen Prozesse verdeutlicht werden. Es würde allerdings zu weit führen, Schrekers musikalische Technik
hier im Detail zu verfolgen. Die andeutende Beschreibung beschränkt sich auf einige
Thesen, die gleichwohl Orientierungshilfen geben wollen.16 Schreker hat die Lebenswege seiner beiden Protagonisten gleichsam als psychoanalytische Fallstudien angelegt. Während er in Fritz den Prototyp des impressionistischen Künstlers des Fin de
13
Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum
Physischen, 2. Auflage, Jena 1900 – Hermann Bahr: Impressionismus, in: ders.: Zur
Überwindung des Naturalismus, S. 197.
14
Hermann Bahr: Die neue Psychologie, in: ders.: Zur Überwindung des Naturalismus, S.
62.
15
Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen, Frankfurt/M. 1959, S. 100.
16
Ausführliche Analysen finden sich in meinem eingangs erwähnten Buch Das Trauma
hinter dem Traum.
8
siècle porträtiert, der seinen Halluzinationen willenlos ausgeliefert ist und an ihnen
schließlich zugrunde geht, erzählt er bei Grete die Geschichte einer hysterischen Persönlichkeitsspaltung.
Zur Vermittlung dieser komplexen Entwicklungen dient vor allem die Musik. Sie zeigt
auf, wie aus dem verängstigten Mädchen, das sich nach seiner Flucht aus dem Elternhaus im nächtlichen Wald wiederfindet, die Prostituierte des zweiten Aktes wird: Der
traumatische Schock des Erlebten treibt Grete in den Gedanken an Selbstmord. Das
Orchester zeichnet zunächst die obsessive Erinnerung an die erlittenen Demütigungen mit Motivfragmenten und knappen Verweisen auf die früheren Szenen nach. Der
Tonsatz ist zerrissen, disparat und kleinteilig; dies entspricht Gretes erregtem Zustand. Während Grete sich gegen den Todesgedanken wehrt ("So jung – und schon
sterben?"), führt Schreker neue musikalische Motive ein, die ein allmähliches Loslösen von der Vergangenheit andeuten. Grete verfällt zunehmend in Halluzinationen:
Der Waldsee, eben noch "schaurig und kalt", erscheint ihr plötzlich "ruhig – voll
Friede – Im See – da ist's wohlig und warm." Das Orchester zeigt an, wie sich der Bewusstseinsstrom allmählich verändert: Die kleinteiligen motivischen Elemente werden von einer Klangflächenkomposition abgelöst, und mit einer aufsteigenden Harfenfigur, die sich permanent wiederholt, kommt der progressive Zeitverlauf zum Stillstand. Zugleich greift der Singstimmenpart in immer weitere Intervalle aus: Grete
entfernt sich innerlich von der Realität und gerät in einen Zustand der Trance.
Auf dem Höhepunkt ihrer Todesbereitschaft, als sie die Arme ausbreitet, um sich in
den See zu stürzen, erfährt der äußere Schauplatz eine Metamorphose: Der Zauber
der Sommernacht lässt ihre Sehnsucht nach dem Leben neu erwachen. Die Verwandlung der Landschaft markiert das Umschlagen des Gegenwartsbewusstseins in einen
Zustand der Autohypnose. Dies zeigt sich auch in der Musik: Schreker verzichtet auf
tonmalerische Naturschilderungen und deutet damit an, dass Gretes innerem Erleben
keine äußere Realität entspricht. Weder Mondenschein noch Nachtigallenruf unterbrechen das Bewusstseinsprotokoll; vielmehr schließen sich die musikalischen Ereignisse jetzt zu drei simultanen Ebenen zusammen: Ein Reigen des Lebens, auf einem
Orgelpunkt ruhend und von gleichmäßigen Harfenfigurationen wie von Wellen getragen, umschreibt Gretes Erlebnis als lustvolles Eingehen in den überindividuellen Lebensstrom. Kaum hebt sich der Mensch als Individuum aus diesem Tanz des Lebens
heraus: Gretes Liebesmotiv ist ganz in die ornamentale Bewegung eingebunden. Diese kompositorische Technik entspricht dem Lebensgefühl des Jugendstils: "Entgrenzung" ist ein Zauberwort der Epoche; die Einswerdung von Mensch und Natur ist das
Ziel der monistischen Philosophie, für die es keine Trennung von Geist und Materie,
Gott und Welt mehr gibt. Für Grete ist dies der Moment einer Ekstase, einer völligen
Entrückung, aber auch der Augenblick, in dem das erotische Triebverlangen erwacht.
In ihrer erotischen Phantasie glaubt Grete sich eins mit dem geheimnisvollen Rauschen des Waldes und erfährt das Dasein der Natur als Verheißung von Glück und
Erfüllung. Sie versinkt schließlich in Schlaf und Traum. Ein altes Weib – Märchenhexe und Kupplerin zugleich – nimmt sie mit sich und verkauft sie an ein venezianisches Bordell.
9
Die Seelenzustände, die Grete in der Waldszene durchlebt, entsprechen sehr genau
einem Modell, das Josef Breuer und Sigmund Freud in ihren Studien über Hysterie
(1895) dargelegt haben. Sie hatten herausgefunden, dass hysterische Phänomene ihren Ursprung zumeist in psychischen Traumata, vor allem solchen sexueller Natur,
haben. Demütigungen, Schreck- oder Angstaffekte, die nicht auf adäquate Weise abreagiert werden, erfahren eine Verdrängung, die sich zunächst als Zustand der Entrücktseins, als Realitätsverlust und Halluzination ausprägt. Der gestaute Affekt
sucht sich schließlich einen Ausweg, indem der Bewusstseinszustand der Entfremdung sich etabliert und die ursprünglichen Persönlichkeitsmerkmale überdeckt. Die
Folge sind entweder körperliche Symptome, die keine organische Ursache haben, oder Persönlichkeitsveränderungen bis hin zur dauerhaften Bewusstseinstrübung, zum
Wahnsinn oder zur krankhaften Selbstinszenierung, wie sie für die Hysterie typisch
sind.
Grete wird aus dem Traum der Sommernacht vorerst nicht mehr erwachen: Ihr Leben in "La casa di maschere", die wechselnden Freier, denen sie ihre Liebe schenken
muss, dies alles empfindet sie als einen "wilden Traum", der von Zeit zu Zeit durch
einen "Traum im Traum" – die Rückerinnerung an das Erlebnis im Wald – unterbrochen wird. Es ist ein Bewusstseinszustand der Entfremdung, in dem sie zwanghaft
befangen bleibt. Nach Auffassung der frühen Psychoanalyse hängen Hysterie und
Prostitution eng zusammen. "La casa di maschere" ist – wie der Name schon sagt –
ein Ort der Verstellung, der Maskerade, der geheuchelten Gefühle und der Lüge. Es
ist ein künstliches Paradies, in dem Emotionen käuflich sind und das Individuum
nach dem Tauschwert der Lust bewertet wird, die es einer zahlenden Klientel zu gewähren vermag – ein Symbol für die moderne Welt des Geldes. Inmitten des falschen
Flitters findet sich Grete nicht zurecht – ebenso wenig wie Fritz, der auf der Suche
nach dem fernen Klang wie von ungefähr auf die Liebesinsel verschlagen wird.
Dem entsprechend erbaut Schreker im zweiten Akt ein musikalisches Labyrinth. Afrikanische Trommeln, die Rhythmen einer Zigeunerkapelle, Lieder der Prostituierten,
die Serenade eines verliebten Grafen – all dies erklingt gleichzeitig und aus verschiedenen Richtungen: aus dem Orchestergraben, von der Bühne und aus dem Hintergrund. Wie in einer akustischen Collage werden die heterogenen Klangereignisse simultan übereinander montiert. Schreker will die Suggestion erzeugen, der Zuhörer
"befände sich selbst mitten in diesem Treiben". Zugleich entspricht dieser akustische
Irrgarten Gretes verwirrtem Seelenzustand. Das Bild der gefeierten Greta, der alle
Männer zu Füßen liegen, gibt nur die äußere Schauseite wieder. Selbstbewusstsein
und Souveränität sind vorgetäuscht; hinter der Maske der Kurtisane verbirgt sich eine zutiefst verletzte und gedemütigte, kranke Psyche. Die Realität dringt nur in verzerrter, fragmentarisch zerrissener und verfremdeter Gestalt in Getes Bewusstsein,
sie wird durchmischt mit Erinnerungen und schockhaften Halluzinationen. Davon
zeugt Gretes Traumerzählung, mit der sie bei ihren Freiern auf Unverständnis stößt.
Grete erlebt "La casa di maschere" als einen Alptraum, aus dem sie sich nicht befreien
kann – selbst dann nicht, als Fritz auf der Insel erscheint und sie mit sich nehmen
10
will. Sie umwirbt ihn mit dem Rollenspiel der Prostitierten und stößt ihn damit von
sich.
Erst im dritten Akt gelingt es ihr, den Bann zu durchbrechen: Durch das Erlebnis der
Uraufführung von Fritz' Oper Die Harfe, in der Fritz seine eigene Lebensgeschichte
und diejenige Gretes verarbeitet hat, sieht sie sich mit den verdrängten Erlebnissen
aufs Neue konfrontiert und kann das erzwungene Rollenspiel endlich ablegen. Diese
"Heilung" vollzieht sich auf ähnliche Weise wie eine hysterische Symptomauflösung:
"Wir fanden nämlich", schreibt Josef Breuer in den Studien über Hysterie, "daß die
einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden,
wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen".17 In Schrekers
Oper vollzieht sich ein solcher Prozess im Nachtstück des dritten Aktes, einem großen
symphonischen Zwischenspiel. Dort wird das Geschehen der vergangenen drei Akte
aus der Perspektive Gretes auf symphonische Weise rekapituliert und einer fiktiven
Lösung zugeführt. Es ist eine "Verwandlungsmusik" im doppelten Sinne.
5. Tod ohne Verklärung
Den Liebenden ist keine Erfüllung gegönnt, nicht einmal ein Liebestod. Die Wiederbegegnung von Grete und Fritz, von beiden heftig ersehnt, steht im Zeichen des endgültigen Scheiterns. Der anfänglichen Emphase folgt Entfremdung. Fritz, von Krankheit gezeichnet, ist sogleich von der Halluzination des fernen Klanges gefangen, den
er in Gretes Gegenwart endlich wieder vernimmt. Das geheimnisvolle Klingen ist ein
Echo der erotischen Lockung, die von Grete ausgeht. Fritz verkennt diesen Zusammenhang und erliegt aufs Neue dem Trugbild von Glück und Erfolg, das ihn sein Leben lang umgetrieben hat: Er glaubt, endlich die Lösung für sein gescheitertes Opernprojekt gefunden zu haben, und beschließt die Neufassung der Harfe. In fiebriger Erregung steigert er sich in diese Vorstellung hinein und stirbt in Gretes Armen.
Es ist ein Tod ohne Verklärung, von harschen es-Moll-Akkorden akzentuiert.
"... das Verhältnis des Mannes zur Frau und alles was damit zusammenhängt – eine
Tragödie", schreibt Schreker im Juli 1918 an den Musikkritiker Paul Bekker. Dieser
hatte in seiner Studie über den Komponisten erkannt, dass Schrekers Frauenbild in
manchen Zügen von Otto Weiningers sexualpathologischer Studie Geschlecht und
Charakter beeinflusst ist. Schreker bestätigt diese Vermutung: "Weininger – ich habe
dessen Buch vor langen Jahren, gleich nachdem es erschienen gelesen. Mein Verstand
hat zu vielem 'nein' gesagt, mein Gefühl – so scheint es – ja."18 Das Buch erschien
1903 kurz nach dem Selbstmord des Autors und hat im Wien der Jahrhundertwende
für Aufsehen gesorgt. Zugespitzt formuliert behauptet Weininger, dass der Mann zu
Höherem berufen und zu kulturellem Schöpfertum befähigt ist; eine Frau dagegen
17
Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895), Frankfurt/M. 1991, 30
18
Paul Bekker / Franz Schreker: Briefwechsel mit sämtlichen Kritiken Bekkers über
Schreker, hg. von Christopher Hailey, Aachen 1994, 61
11
kann Weininger sich nur als Mutter oder als Prostituierte denken – sie ist in jedem
Fall ein weitgehend triebbestimmtes Sexualwesen, das sich an den geistig überlegenen Mann klammert und ins Verderben zieht, sobald es ihr gelingt, ihn von seiner
Bestimmung abzuziehen.19
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als folge Schreker im Fernen Klang tatsächlich
den Thesen Otto Weiningers: Die Spannung von Eros und Künstlertum, von Kultur
und Sexualität bleibt ungelöst. Schaut man genauer hin, so zeigt sich, dass Schreker
Weiningers Sexualtheorie mit einer differenzierten Sicht auf das Verhältnis der Geschlechter beantwortet. Zwar übernimmt Schreker den dualistischen Ansatz Weiningers, dessen Abwertung des Weiblichen teilt er aber nicht. Im Gegenteil: Nur in Gretes Gegenwart könnte Fritz das vollkommene Kunstwerk schaffen. Mit seiner Jagd
nach Glück und Erfolg entfernt sich Fritz von der Quelle seiner Inspiration. Die
Merkmale des männlichen Prinzips stellt Schreker kritisch in Frage: Grete wird auf
zweifache Weise geopfert – zunächst einem fehlgeleiteten männlichen Ehrgeiz und
dann einer banalen Vergnügungssucht.
Das Psychogramm zweier Menschen, die an ihren Utopien und Sehnsüchten zugrunde gehen und in den komplexen Strukturen der modernen Welt irregeleitet werden,
ist auch heute noch aktuell. Schreker entläßt uns – wie schon seine Zeitgenossen –
mit der Empfindung der Trauer darüber, dass Mann und Frau aneinander scheitern.
Die Verweigerung gegenüber einer versöhnlichen Schlußlösung ist Zeichen der künstlerischen Wahrhaftigkeit und ein Kennzeichen von Schrekers Modernität.
19
Allerdings spricht Weininger hier nicht von Individuen, sondern von Idealtypen, die er
als abstrakte Prinzipien mit den Kürzeln "M" und "W" belegt. Jeder Mensch ist nach
seiner Theorie ein androgynes Doppelwesen, in dem sich männliche und weibliche Eigenschaften mischen.
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