Kasten 1.4 Chicken, Kubakrise und internationale Politik

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Kasten 1.4 Chicken, Kubakrise und internationale Politik
Im Oktober 1962 entdeckten amerikanische Aufklärungsflugzeuge die Installation sowjetischer
Raketenstellungen auf Kuba, keine hundert Meilen von der Küste Floridas entfernt. US-Militärs im
Krisenstab der Regierung empfahlen dem Präsidenten, Kuba zu bombardieren. Heute weiß man,
dass ein Luftangriff auf Kuba und die Invasion der Insel zum nuklearen Krieg geführt hätte mit
unvorstellbaren Folgen für das Schicksal der Menschheit. Mitten im Kalten Krieg stand die
Menschheit am Abgrund eines Atomschlags. Robert Kennedy, Bruder und Berater des Präsidenten, hat das Drama in seinem Buch «13 Tage» festgehalten (Kennedy 1970). Die Akteure sind Nikita
Chruschtschow, Vorsitzender des sowjetischen Politbüros, und der amerikanische Präsident John
F. Kennedy sowie ihre Krisenstäbe oder – grob vereinfacht – die USA und die UdSSR. Auch die Verkürzung auf zwei Optionen und ein simultanes Spiel sind Vereinfachungen (Brams 2001). Neben
dem Luftangriff auf Kuba gab es die Option einer Seeblockade, um russischen Nachschub zu unterbinden. Die Sowjetunion hatte die Optionen «Rückzug» oder «Festhalten» an der Aufstellung
von Nuklearraketen. In seiner plastischen Sprache hat Chruschtschow den Konfrontationskurs so
beschrieben: «Wie wäre es, wenn wir Uncle Sam einen Igel in die Unterhose pflanzten?» (Mayr
2007). Wir erhalten die Matrix eines Chickenspiels (Darstellung nach Brams 2001, die Ziffern geben natürlich nur die Rangfolge der möglichen Ereignisse wieder):
UdSSR
Fortsetzung der Raketenaufstel-
Rückzug
Ausweichen
lung
Kompromiss 3, 3
Sieg der UdSSR, Niederlage der
USA 2, 4
USA
Nicht ausweichen
Sieg der USA, Niederlage der
UdSSR 4, 2
Atomkrieg 1, 1
Chruschtschow selbst hat internationale Konflikte durchaus im Sinne eines Chickenspiels interpretiert. In einem Brief an Kennedy schreibt er mit Blick auf Berlin am 10. März 1962: «Zwei Ziegenböcke treffen sich Kopf an Kopf auf einer engen Brücke über einem Abgrund. Keiner gibt dem
anderen den Weg frei, und so fallen sie beide hinab. Sie waren dumme und dickköpfige Tiere»
(Chruschtschow 1962). Kennedy und Chruschtschow entscheiden sich schließlich für Strategien,
die zu einem Kompromiss führen. Chruschtschow verlangt einen Verzicht der Amerikaner auf eine Invasion Kubas und den Abzug amerikanischer Atomraketen in der Türkei. Kennedy ist zu diesem Zugeständnis bereit, wenn Chruschtschow die Raketen auf Kuba abbaut. Vor Erreichen dieses Kompromisses liegen dramatische Augenblicke: der Abschuss eines US-Aufklärungsflugzeugs
über Kuba auf Befehl eines russischen Generals und Konfrontationen zwischen nuklear bewaffneten U-Booten und Kriegsschiffen. Auch die Rekonstruktion der Krise Anfang der 1990er Jahre
durch Beteiligte beider Seiten – eine Initiative des ehemaligen Verteidigungsministers Robert
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McNamara – macht im Rückblick klar, dass es fast an ein Wunder grenzt, dass der «kalte» nicht zu
einem «heißen» Krieg wurde. Ist das Bild des Konfrontationskurses von zwei aufeinander zurasenden Autos für die Kubakrise zutreffend? Vielleicht mit Einschränkungen zu Beginn. Der Austausch von Forderungen und die Geheimdiplomatie der Akteure während der Krisentage transformieren die Situation dagegen in ein komplexes sequenzielles Spiel mit aufeinanderfolgenden
Zügen und Gegenzügen. In solchen Entscheidungssituationen gibt es bei jedem Zug die Gefahr
von Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Unterschiedliche «Situationsdefinitionen» (Esser 1996) können dazu führen, dass die Präferenzen des «Mitspielers» verzerrt wahrgenommen
werden. Ein Beispiel gibt McNamara in seinem Rückblick auf den Vietnamkrieg. Die amerikanische Administration einschließlich McNamara als Verteidigungsminister war in den 1960er Jahren besessen von der «Dominotheorie», der Vorstellung, dass in Südostasien ein kommunistisches
Vietnam zwangsläufig zum «Umkippen» der Nachbarstaaten führen würde. Die vietnamesische
Regierung in Hanoi hatte dagegen ganz andere, primär nationale Ziele. Folgt man McNamara,
dann war diese Fehleinschätzung ein wesentlicher Grund für einen Krieg, der mehrere Millionen
Vietnamesen und Amerikaner das Leben kostete (McNamara und VanDeMark 1997).
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