Die Kuba-Krise im Oktober 1962

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, 05.12.2012
Die Kuba-Krise im Oktober 1962
Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer US-amerikanischen Aggression (Teil 1)
Von Reiner Zilkenat
Einige gefangene Söldner aus der Schweinebucht
kurz vor ihrer Rückkehr in die USA
Über die Kuba-Krise vor sechzig Jahren
scheint alles gesagt worden zu sein.
Bürgerliche Medien und Historiker haben
seit
Jahrzehnten
folgende
Anschauungen verbreitet, die auch
Eingang in die Schulbücher gefunden
haben:
Die Stationierung von sowjetischen
Raketen auf der Karibikinsel im Jahre
1962 sei eine Provokation des damaligen
1. Sekretärs des ZK der KPdSU und
sowjetischen Ministerpräsidenten, Nikita
Chruschtschow, gegenüber den USA gewesen. Er habe den Ausbruch eines
Nuklearkrieges bewusst einkalkuliert. Nur dem besonnenen Handeln des
Präsidenten der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, hätten wir es zu verdanken,
dass diese gefährlichste Krise des Kalten Krieges beendet werden konnte, ohne
dass es zu einem atomaren Schlagabtausch kam. Durch das Verhalten der
sowjetischen Führung vor sechzig Jahren sei der Nachweis erbracht worden, dass
ihre Beteuerungen, eine Politik der friedlichen Koexistenz zu verfolgen und alles für
die Aufrechterhaltung des Friedens zu unternehmen, lediglich Phrasen zur
Täuschung der Weltöffentlichkeit gewesen seien. Soweit die gängige Lesart.
Auffällig ist, dass die Darstellung der Kubakrise meistens auf die Zeitspanne der
dreizehn Tage reduziert wird, die von der Entdeckung sowjetischer
Raketenstellungen auf Kuba bis zur Vereinbarung zwischen den USA und der
UdSSR reichte, diese Waffensysteme zurückzuziehen. Damit soll die Krise "aus sich
selbst heraus" erklärt und der Versuch unternommen werden, ihre außerordentlich
komplexe Vorgeschichte für den heutigen Betrachter auszublenden. Vor allem soll
die Außenund Militärpolitik der USA in den Jahren 1961/62 unberücksichtigt bleiben.
Bei dieser Verfahrensweise sind die Rollen klar verteilt: Chruschtschow und Castro
sind die Schurken, die einen Atomkrieg leichtfertig riskiert haben. John F. Kennedy
und sein Bruder und engster Vertrauter, Justizminister Robert Kennedy, gelten als
die Verteidiger des Weltfriedens, die der UdSSR entschlossen Paroli geboten hätten.
Bevor wir uns mit diesen Mythen um die Politik der USA und insbesondere der
Kennedys im Oktober 1962 auseinandersetzen, ist es unbedingt nötig, sich der
komplizierten Vorgeschichte der "Raketenkrise" zu widmen.
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Die USA und Kuba
Zunächst ist es hilfreich, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Die Vereinigten
Staaten hatten im Pariser Friedensvertrag vom Dezember 1898, der den
amerikanisch-spanischen Krieg beendete, die Philippinen, Puerto Rico, Guam und
Kuba aus der Konkursmasse des spanischen Weltreiches zuerkannt bekommen. Die
Karibikinsel erhielt formell ihre Unabhängigkeit, in Wahrheit wurde Kuba bis zur
Revolution von 1959 ein Spielball der USA. Sie hatten sich auf unabsehbare Zeit das
Recht angemaßt, militärisch intervenieren zu dürfen, wenn dies ihrer Meinung nach
die imperialistischen Interessen der Vereinigten Staaten rechtfertigen würden.
Entsprechende Passagen hatten sogar Eingang in die 1901 verabschiedete
Verfassung des Landes gefunden. In Guantanamo entstand im Laufe der Jahrzehnte
einer der größten Militärstützpunkte der USA auf ausländischem Territorium, der bis
zum heutigen Tag vor allem der US Navy und den Marines dient. Zugleich eroberten
große amerikanische Konzerne die Volkswirtschaft des Landes: ITT und die United
Fruit Company seien hier nur stellvertretend genannt. Der Zuckerrohranbau
dominierte als exklusiv für die Vereinigten Staaten produzierende Monokultur
weitgehend die ökonomische Struktur Kubas. Daneben diente dem organisierten
Verbrechen der expandierende touristische Sektor, einschließlich Drogenhandel,
Prostitution und Glücksspiel, als Ort der Geldwäsche für illegal in den USA
erworbene Dollarmillionen. Kurzum: Bis zum Ende der fünfziger Jahre war die
Karibikinsel faktisch nicht anderes als ein Protektorat der USA, zuletzt regiert durch
den sich seit 1952 im Amt befindlichen Diktator Fulgencio Batista, eine willfährige
Marionette der Vereinigten Staaten.
Mit dem Erfolg der Revolution unter der Führung von Fidel und Raoul Castro sowie
Ché Guevara änderte sich die Situation grundlegend. Nach der Verstaatlichung
großer Zuckerrohr-Plantagen sowie der Niederlassungen US-amerikanischer
Industrie-Konzerne wurde im Verlaufe des Jahres 1960 schrittweise ein
Handelsembargo gegenüber Kuba verhängt. Beginnend mit dem Verbot, Erdöl und
Benzin auf die Karibikinsel zu liefern, folgte der Importstopp für kubanischen Zucker,
bis endlich im März 1962 das im Wesentlichen bis heute aufrecht erhaltene totale
Handelsembargo der USA gegen Kuba verhängt wurde.
Es handelt sich dabei um die längste Wirtschaftsblockade weltweit, die jemals in der
Neueren Geschichte verhängt worden ist.
Das Debakel in der "Schweinebucht" und seine Folgen
Die Eisenhower-Administration hatte bereits kurz nach dem Erfolg der Revolution in
Kuba damit begonnen Pläne auszuarbeiten, um das Rad der Geschichte
zurückzudrehen. Eine sozialrevolutionäre Regierung in einem vor den Toren der USA
gelegenen Land zu tolerieren, das galt in Washington als vollkommen undenkbar.
Hier gab es dringenden Handlungsbedarf. Alle denkbaren Mittel galt es einzusetzen,
um diesen Zustand möglichst rasch zu beenden.
Der Geheimdienst CIA, unterstützt durch einflussreiche Mafia-Bosse und als
"Exilkubaner" bezeichnete Angehörige der ehemaligen Bourgeoisie, sollten u. a.
Fidel Castro ermorden, Gegner der Revolution auf der Insel zu bewaffnetem
Widerstand motivieren, mit Sprengstoffanschlägen die Infrastruktur lahmlegen, die
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Zuckerrohrernte sabotieren und von Booten aus immer wieder Feuerüberfälle auf an
der Küste liegende Städte und Ortschaften eröffnen.
Manche in diesem Zusammenhang entwickelte Pläne klangen, als seien sie einem
schlechten Kriminalroman entnommen worden. Als erster Höhepunkt dieser Serie
von terroristischen Aktionen war die von "Exilkubanern" ausgeführte Invasion in der
"Schweinebucht" am 17. April 1961 gedacht. Sie sollte ein Fanal für die
Konterrevolutionäre auf Kuba darstellen, jetzt den offenen Kampf zu beginnen.
Die etwa 1 300 Invasoren, von denen einige bereits vor dem Beginn der Aktion mit
ihren kommenden "Heldentaten" öffentlich geprahlt und sie damit der kubanischen
Aufklärung verraten hatten, wurden jedoch bereits von Militäreinheiten erwartet und
vernichtend geschlagen.
Die Blamage für die Kennedy-Administration erreichte größtmögliche Dimensionen,
zumal die etwa 1 000 Gefangengenommenen gestanden, in Guatemala von
Angehörigen der CIA und des US-amerikanischen Militärs systematisch auf die
fehlgeschlagene Invasion vorbereitet und bewaffnet worden zu sein. Es kam hinzu,
dass mehrere Flugzeuge abgeschossen worden waren, die Angriffe auf kubanische
Flugplätze durchgeführt hatten. Die Piloten konnten als Staatsbürger der USA
identifiziert werden. Für viele politische Beobachter stellte sich die Frage, weshalb
John F. Kennedy nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, die vor seinem
Amtsantritt begonnenen Vorbereitungen der Invasion in der "Schweinebucht" zu
stoppen.
Die Antwort lautet: Weil er mit der Politik seines Amtsvorgängers Dwight D.
Eisenhower, in Kuba so schnell wie möglich wieder ein USA-höriges Regime zu
etablieren, vollkommen einverstanden war. Er kritisierte lediglich die mangelnde
Effektivität und Professionalität, mit der diese Aktion ausgeführt wurde, nicht aber
grundsätzlich den Versuch, militärische Gewalt gegen die kubanische Revolution
anzuwenden.
Für Kennedy lautete deshalb die Lösung des Problems: "Operation Mongoose". So
lautete der Codename für die von nun an gegen Kuba gerichteten
konterrevolutionären Aktionen, die unter Nutzung aller zur Verfügung stehenden
Ressourcen zum Erfolg führen sollten. Im November 1961 wurde im Weißen Haus
eine hochrangige Arbeitsgruppe unter der Leitung von Robert Kennedy installiert, die
entsprechende Pläne ausarbeiten und koordinieren sollte. Dabei wurde der Versuch
einer neuerlichen Invasion keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil. In einem
streng geheimen Memorandum des Verteidigungsministeriums vom 19. Februar
1962 wurde für eine zweite Phase der "Operation Mongoose", nachdem "verdeckte
Aktionen" eine "Atmosphäre der Unruhe" verursacht hätten ("the creation of a
condition of unrest by covert means") vorgeschlagen, daran anknüpfend "eine offene
militärische Intervention" ("overt military intervention") von US-Truppen zu beginnen.
Bereits einen Monat zuvor hatte die Arbeitsgruppe zur Durchführung der "Operation
Mongoose" optimistisch in einer geheimen Aufzeichnung einer Zusammenkunft am
19. Januar 1962 ihrer Meinung Ausdruck gegeben, dass führende kubanische
Politiker durch die CIA in kurzer Frist zum Überlaufen in die USA veranlasst werden
könnten. Ferner wurde Präsident Kennedy in diesem Protokoll mit den Worten zitiert,
die er am Tag zuvor gegenüber seinem Bruder Robert geäußert hätte:"Das letzte
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Kapitel zu Kuba ist noch nicht geschrieben worden - das ist noch zu tun und es wird
geschehen."
Das demütigende Debakel in der Schweinebucht, so war man in Washington gewillt,
sollte sich nicht wiederholen.
US-amerikanische "Globalstrategie" 1962
Will man die Politik der USA gegenüber Kuba verstehen, so ist es notwendig, sich mit
der Gesamtheit ihrer außen- und militärpolitischen Aktivitäten im Jahre 1962 zu
befassen. Dies kann an dieser Stelle nur in Form einer sehr unvollständigen
Aufzählung geschehen, ist aber zum Verständnis der Kuba-Krise und ihrer
Vorgeschichte unerlässlich.
Am 3. Januar 1962 kündigt der US-Präsident die Aufstellung von zwei neuen ArmeeDivisionen mit mehr als 30 000 Soldaten an, die noch im gleichen Jahr einsatzbereit
sein sollen. Nur vierzehn Tage später wird der größte Militärhaushalt seit dem
Koreakrieg in Höhe von ca. 53 Milliarden US-Dollar verabschiedet. Der Bau von nicht
weniger als 41 atomgetriebenen U-Booten mit "Polaris"-Raketen wird geplant, die
Aufstellung moderner Interkontinentalraketen vom Typ "Minuteman" soll beschleunigt
werden.
Am 15. März hält Verteidigungsminister McNamara eine Aufsehen erregende
Pressekonferenz ab. Er erklärt, dass sich in Südvietnam nicht nur eine wachsende
Zahl von "Militärausbildern" seines Landes aufhalten, sondern dass USamerikanische Piloten bereits Angriffe gegen Einheiten der vietnamesischen
Befreiungsfront geflogen hätten. Nur zwei Tage später offenbart die sowjetische
Nachrichtenagentur Tass das genaue Ausmaß der militärischen Intervention der USA
in Südostasien vor der erstaunten Weltöffentlichkeit. In einer geheimen CIA-Studie
über "US-Geheimdienste und Vietnam" aus dem Jahre 1984, die zum größten Teil
inzwischen veröffentlicht worden ist, kann nachgelesen werden, dass sich vom
Beginn der Amtszeit Kennedys bis zu seiner Ermordung im November 1963 die Zahl
der US-Militärpersonen in Südvietnam von etwa 900 auf mehr als 17 000 erhöhte!
Am 27. März wird öffentlich, dass Kennedy die ursprünglich von ihm vertretene
Doktrin aufgegeben habe, der zufolge die USA nicht als Erste Atomwaffen einsetzen
dürften. Am 31. Juli erklärt ein Pressesprecher des Pentagon, die USA hätten nicht
die Absicht, ihre auf die UdSSR zielenden Mittelstreckenraketen aus Europa
abzuziehen. Präsident Kennedy wiederholt dies ausdrücklich am 1. August, vor allem
mit Blickrichtung nach London, wo die von der Konservativen Partei geführte
Regierung unter Premierminister Harold Macmillan das im Februar 1963 auslaufende
Stationierungsabkommen nicht verlängern will. Am 27. September kündigt Kennedy
den Einsatz USamerikanischer Truppen im Falle von "Aggressionen" an, wobei er als
potenzielle Angreifer die Namen von Chruschtschow und Castro nennt. Mit dieser
Aussage droht er offensichtlich die militärische Bekämpfung anti-imperialistischer
Bewegungen und Regierungen überall auf der Welt an. Besonders beunruhigend ist
jedoch der am 7. September 1962 vom Kongress genehmigte Antrag des
Präsidenten, 150 000 Reservisten einzuberufen. Der Botschafter der USA in der
BRD, Walter Dowling, begründet diesen Schritt drei Tage später in einem VierAugen-Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer dahingehend, dass Kennedy
"glaube, dass man vor einer neuen Berlin-Krise stehe".
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1962: Ein gefährliches Jahr für die kubanische Revolution
Angesichts dieser globalen Bedrohungsszenarien stehen auch die Zeichen für
Havanna auf Sturm. Eine neuerliche Aggression von Seiten der USA, sei sie von USamerikanischem Militär, sei sie vornehmlich erneut von Söldnern unternommen, kann
für die nahe Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Es stellen sich folgende Fragen:
Gibt es die Möglichkeit, sich eines Bündnispartners zu versichern, der auch
militärisch wirksamen Schutz vor einer derartigen Invasion bieten könnte? Was ist zu
tun, um die Kräfte der inneren und äußeren Konterrevolution zu zügeln, ja ihnen
keine Chance zu lassen? Wie kann die Volkswirtschaft des Inselstaates angesichts
des totalen Handelsembargos der USA das für das Leben der Bevölkerung
Notwendige zur Verfügung stellen? Das Jahr 1962, das wussten die politisch
führenden Kräfte um Fidel Castro in Havanna, wird von entscheidender Bedeutung
für den Fortbestand der kubanischen Revolution sein.
…………………………….
12.10.2012
Vor dem atomaren Abgrund?
Zu Hintergründen der Kuba-Krise (2. Teil)
Von Reiner Zilkenat
Das Executive Committee am 29. Oktober 1962. Das „ExComm" wurde am 16. Oktober 1962 von USPräsident John F. Kennedy zur Lösung der Kubakrise einberufen. Dieser informelle, geheime Ausschuss
bestand aus dem Nationalen Sicherheitsrat und anderen hochrangigen politischen und militärischen
Akteuren. Nach Beilegung der Kubakrise wurde das ExComm aufgelöst.
Am 14. Oktober 1962 überfliegt ein US-amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ
U-2 Kuba. Dabei fotografiert es Stellungen für Mittelstrecken-Raketen, die sich
unmittelbar vor ihrer Fertigstellung befinden. Das Pentagon ist alarmiert und
informiert am Vormittag des kommenden Tages Präsident John F. Kennedy.
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"Operation Anadyr"
Kennedy zeigt sich schockiert. Sollten die Raketenstellungen gefechtsbereit werden,
wäre ein großer Teil der USA, wären Städte wie Washington und New York,
mögliche Ziele. Wieso stationiert die Sowjetunion seit Anfang 1962 nicht nur Kurzund
Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen, sondern auch Abfangjäger des
modernsten Typs MIG 21, Jagdbomber und Luftabwehrraketen auf der karibischen
Insel?
Die kubanische Führung ist durch Kundschafter unter den "Exilkubanern" sowie
angesichts der Durchführung groß angelegter amphibischer Manöver der USStreitkräfte in der Karibik gut darüber informiert, dass der US-Imperialismus seiner
peinlichen Niederlage an der "Schweinebucht" vom Vorjahr eine besser organisierte
Invasion Kubas folgen lassen möchte. Deshalb sondiert eine Regierungsdelegation
in Moskau, ob die UdSSR bereit wäre, dem Inselstaat militärischen Schutz zu
gewähren. Die politische Führung des Landes, vor allem Nikita Chruschtschow
persönlich, sichern entsprechende Maßnahmen zu. Es beginnt die "Operation
Anadyr", in deren Verlauf unter Wahrung größter Geheimhaltung von sowjetischen
Häfen aus zahlreiche Frachtschiffe mit militärischen Gütern nach Kuba auslaufen.
Bei den Raketen handelt es sich um Flugabwehrraketen des Typs SAM-2, die am 1.
Mai 1960 eine U-2 über der UdSSR abgeschossen hatten, sowie Raketen
unterschiedlicher Reichweite, die alle imstande sind, atomare Sprengköpfe zu
transportieren. Einige von ihnen sind speziell für die Abwehr von amphibischen
Angriffen gedacht.
Der beabsichtigte Angriff der USA auf die karibische Insel soll so von vornherein mit
einem unkalkulierbaren Risiko verbunden werden.
Zugleich werden die USA hierdurch in eine ähnliche Lage versetzt, wie sie
umgekehrt bereits seit dem Beginn des Kalten Krieges existiert: Es geht um die
Bedrohung der Sowjetunion durch USamerikanische Nuklearwaffen, die in großer
Zahl auf ausländischem Territorium stationiert sind.
US-Atomwaffen "vor der Haustür" der Sowjetunion
Die damalige Heuchelei fast aller US-amerikanischen Politiker und Militärs ist
bemerkenswert. Hier wird offensichtlich ein doppelter Maßstab angelegt. Denn die
Tatsache, dass die Vereinigten Staaten einen Ring von grenznahen Stützpunkten um
die UdSSR errichtet haben, von denen aus mit sehr kurzen Vorwarnzeiten ein
atomarer Angriff begonnen werden kann, soll angesichts der Stationierung
sowjetischer Raketen auf Kuba außer Betracht bleiben. Auch heute wird dieser
Sachverhalt in den Medien und in den Schulbüchern oft schamhaft verschwiegen.
Worum geht es dabei?
Nur wenige hundert Kilometer von der Grenze zur Sowjetunion entfernt waren seit
Mitte der fünfziger Jahre Mittelstreckenraketen des Typs "Jupiter" in der Türkei (bei
Izmir) stationiert worden, die eine Reichweite von mehr als 2 000 Kilometern
aufweisen. Zusammen mit Raketen desselben Typs bzw. solchen vom Typ "Thor",
die in Italien und in Großbritannien feuerbereit sind, können sie im Kriegsfalle den
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gesamten europäischen Teil der UdSSR, aber auch einige der asiatischen
Sowjetrepubliken mit atomarer Vernichtung überziehen.
In diesem Zusammenhang muss unbedingt erwähnt werden, dass von 1954 bis 1969
auf Fliegerhorsten der US-Air Force in der BRD oder in ihrer unmittelbaren Nähe, auf
der Hahn Air Base, der Bitburg Air Base und der Sembach Air Base in RheinlandPfalz, frühe Varianten von Marschflugkörpern der Typen "Matador" und "Mace" bis
nach Moskau zielen. Je nach Version beträgt die maximale Reichweite dieser
Waffensysteme bis zu 2 400 Kilometer. Ihre Sprengköpfe haben ein
Vernichtungspotenzial, das jeweils dem Sechzigfachen der Hiroshima-Bombe
entspricht. Mindestens achtzig Raketen können zeitgleich sowohl von mobilen
Rampen als auch von verbunkerten Startplätzen aus in Richtung Sowjetunion
dirigiert werden. Zwei Batterien bei Bitburg (Rittersdorf und Idenheim) mit insgesamt
16 Abschussrampen befinden sich in ständiger Alarmbereitschaft. Sie sind rund um
die Uhr in der Lage, innerhalb von nur 15 Minuten ihre atomar bestückten Raketen
abzuschießen.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass von Bord der Flugzeugträger der 6. USFlotte, die im Mittelmeer kreuzt, Bomber der Typen "Skywarrior" und "Vigilante"
eingesetzt werden können. Sie sind nach einer Luftbetankung über der Türkei
imstande tief in das Territorium der UdSSR einzudringen. Jeder dieser
Mittelstreckenbomber kann mehrere Atombomben transportieren.
Doch die Praxis des US-Imperialismus, auf diese Weise die UdSSR ständig "vor ihrer
Haustür" mit atomarer Vernichtung zu bedrohen, wird offensichtlich von den
Regierungen der NATO-Staaten als legitim angesehen. Allerdings: Als sich das Blatt
zu wenden beginnt und die USA jetzt durch die Stationierung sowjetischer
Mittelstreckenraketen auf Kuba in eine ähnliche Lage gebracht werden, gilt die
Sicherheit der Vereinigten Staaten sogleich aufs höchste gefährdet: Zweierlei Maß
für dieselbe Sache.
Die "Falken" propagieren den Erstschlag gegen die UdSSR
Zurück zur Situation in und um Kuba im Oktober 1962. Kennedy konstituiert am 16.
Oktober ein "Exekutivkomitee des Nationalen Sicherheitsrates", das dreizehn Tage
lang in Permanenz tagt. Diesem Komitee gehören die Spitzen der Administration und
die führenden Militärs an. Hier prallen die Meinungen über den einzuschlagenden
Kurs zeitweilig hart aufeinander. Da Kennedy heimlich Tonbandaufzeichnungen der
Sitzungen anfertigen lässt, die inzwischen weitgehend veröffentlicht worden sind,
kann der Verlauf der Diskussionen gut nachgezeichnet werden. Strittig ist bei den
meisten Teilnehmern nicht, dass ein militärischer Angriff gegen Kuba unternommen
werden müsste; lediglich über Zeitpunkt und Umfang einer solchen Aggression
existieren unterschiedliche Auffassungen. Dabei kristallisiert sich bald heraus, dass
die Stabschefs der Streitkräfte für massive Luftangriffe mit anschließender Invasion
plädieren. Robert Kennedy, der Justizminister und Bruder des Präsidenten, tritt für
die Inszenierung eines spektakulären Zwischenfalls ein, der zum Anlass für eine
Invasion genommen werden könnte. Er schlägt z. B. einen fingierten Angriff auf den
Stützpunkt Guantánamo oder die Versenkung eines Schiffes der US-Navy vor. Bei
den Debatten wird auch der Einsatz taktischer Atomwaffen nicht ausgeschlossen.
Inzwischen sind in Florida bereits mehr als 120 000 Soldaten sowie Hunderte
Kampfflugzeuge in Stellung gebracht worden. Das größte amphibische
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Landungsunternehmen seit der alliierten Invasion im Juni 1944 in der Normandie
scheint unmittelbar bevorzustehen. Das Risiko, dass durch einen groß angelegten
Angriff gegen Kuba ein globaler Atomkrieg ausgelöst werden könnte, wird billigend in
Kauf genommen.
Die extremste Position äußert immer wieder General Curtis LeMay, der Stabschef
der Luftstreitkräfte. Er hatte schon in den fünfziger Jahren die Meinung vertreten,
dass die USA einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion führen müssten. Seine
Begründung lautet: Ein Atomkrieg mit der UdSSR sei früher oder später
unvermeidlich. Deshalb müssten die Vereinigten Staaten ihn führen, solange sie ein
überlegenes Potenzial atomarer Waffen zur Verfügung hätten, um einen solchen
Krieg zu gewinnen.
Im Oktober 1962 verfügen die USA tatsächlich über weitaus mehr Atomwaffen und
Trägersysteme als die Sowjetunion. Vor allem verfügt die UdSSR nur über wenige
Interkontinentalraketen, die zudem einen längeren Zeitraum benötigen, um betankt
und in Stellung gebracht zu werden. Deshalb gehen die Stabschefs der USStreitkräfte davon aus, sie durch gezielte Angriffe von Bombern und eigenen
Raketen rechtzeitig vor ihrem Abschuss vernichten zu können. Auch bei den
strategischen Atombombern sind weitaus mehr und leistungsfähigere Einheiten auf
Seiten der USA in Dienst gestellt worden. Da mittlerweile die höchste Alarmstufe für
die US-Streitkräfte ausgerufen worden ist, befinden sich ständig Dutzende
Langstreckenbomber der Typen B-52 und B-47 mit Atombomben an Bord in der Luft,
die innerhalb kürzester Zeit ihre Ziele in der UdSSR anfliegen können. Hinzu
kommen Interkontinental- und die genannten Mittelstreckenraketen, die von den USA
und Europa aus starten würden. Auch einige U-Boote mit atomar bestückten
"Polaris"-Raketen stehen für einen Erstschlag zur Verfügung. Insgesamt sollen
annähernd 1 100 Ziele in der Sowjetunion vernichtet werden. Dabei gilt in vielen
Fällen das Prinzip des "Nachheizens". Um die völlig Vernichtung der anvisierten Ziele
sicherzustellen, soll nach dem ersten Angriff mit Atombomben 24 Stunden später ein
weiterer Abwurf auf dasselbe Ziel erfolgen.
Verteidigungsminister McNamara und Präsident Kennedy pendeln in den
Diskussionen zwischen der Befürwortung offen aggressiver Handlungen und einer
abwartenden Haltung hin und her. Sie fahren Le May und den anderen Militärs im
Exekutivkomitee zumindest gelegentlich in die Parade.
Le May versucht, Kennedy mit einem historischen Vergleich zu beeindrucken. 1938
kapitulierten beim Abschluss des Münchner Abkommens die Regierungen
Frankreichs und Großbritanniens vor dem deutschen Faschismus. Heute sei man in
einer ähnlichen Lage. Eine nicht-militärische Lösung der Kuba-Krise wäre Wasser
auf die Mühlen der angeblich aggressiven Politik der UdSSR. Sie würde dadurch Zeit
gewinnen, um ihr Arsenal an Atomwaffen dem der USA in Quantität und Qualität
anzugleichen. Noch sei die militärische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion
derart groß, dass die UdSSR im Ergebnis eines Nuklearkrieges für alle Zeiten ihren
Großmachtstatus verlieren, ja weitgehend verwüstet werden würde. Zwar müsste
man in West- und Mitteleuropa mit großen Zerstörungen durch sowjetische
Kernwaffen rechnen; die USA hätten jedoch nur wenige atomare Detonationen in
Kauf zu nehmen, die keine existenzielle Bedrohung des Landes darstellen würden.
Eine derart "günstige" Situation werde nicht wiederkehren.
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Inzwischen ist von Kennedy eine Seeblockade gegen Kuba verhängt worden.
Zerstörer und Hubschrauber der US-Navy machen Jagd auf in der Nähe befindliche
sowjetische U-Boote und versuchen, sie durch den Abwurf von kleinkalibrigen
Wasserbomben zum Auftauchen zu veranlassen. Gefährlich ist diese
Handlungsweise deshalb, weil die U-Boote Torpedos mit Atomsprengköpfen an Bord
mitführen und die Kommunikation mit ihren Befehlszentralen in der UdSSR zeitweilig
gestört ist. Zum Glück behalten die Kommandanten der U-Boote die Nerven und
lassen sich nicht zum Abschuss ihrer Torpedos provozieren.
Die Beendigung der Krise am 28. Oktober 1963
Die 13 Tage vom 16. bis zum 28. Oktober sind außerordentlich gefahrvoll. Der Druck
auf Kennedy, die Invasion Kubas und sofortige Luftangriffe gegen die sowjetischen
Raketenstellungen zu befehlen, wächst von Tag zu Tag an. Letztlich wird auf
diplomatischem Wege eine Beendigung der Krise vereinbart. Radio Moskau
verbreitet am 28. Oktober die Nachricht, dass die UdSSR ihre atomar bestückten
Raketen aus Kuba zurückziehen werde. Vorausgegangen waren geheime
Gespräche zwischen Robert Kennedy und dem sowjetischen Botschafter in
Washington, Anatoli Dobrynin. Allerdings verpflichtet sich der US-Präsident, zukünftig
auf eine Invasion Kubas zu verzichten sowie die "Jupiter"-Mittelstreckenraketen aus
der Türkei abzuziehen. Öffentlich dürfen diese Zusagen aber zunächst unter keinen
Umständen verbreitet werden. Die Ursachen hierfür sind sowohl außen- als auch
innenpolitischer Natur.
Der westdeutsche Botschafter in den USA, Karl-Heinrich Knappstein, hat in einem
geheimen Telegramm an das Auswärtige Amt vom 22. Oktober 1962 die
entsprechenden Motive Kennedys für seine nach außen hin "harte" Haltung im KubaKonflikt in dankenswerter Weise offen gelegt. Zugleich definiert er durchaus
realitätsnah die Motive des Handelns der sowjetischen Führung: "Der Ausbau Kubas
zu einem Stützpunkt mit einem Offensiv-Potenzial ist ein ´Quantensprung´ in der
krisenhaften Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses. Die USA sollen dadurch
gezwungen werden, die Stationierung dieser Waffen vor der Küste des
amerikanischen Kontinents hinzunehmen oder den sowjetischen Abrüstungs- und
Berlinforderungen nachzugeben ... Die republikanische Parteileitung hat vor kurzem
beschlossen, die Kuba-Frage zum Hauptwahlkampfthema zu machen. Für die Wahl
des jetzigen Zeitpunktes (für das Hochspielen der Raketen auf Kuba - R. Z.) spielt
zweifellos die bevorstehende Wahl am 6.11.1962 zum Repräsentantenhaus und zum
Senat, für den ein erheblicher Verlust der Demokraten vorausgesagt wurde, eine
zusätzliche Rolle."
Die Beendigung der Krise führt bei den "Falken" im Weißen Haus und im Pentagon
zu einer beinahe depressiven Stimmung. Die Stabschefs beklagen die "größte
Niederlage in unserer Geschichte".
Kuba nach der "Raketen-Krise"
Nach der Beendigung der gefährlichen Krise um Kuba denken die USA jedoch
keineswegs daran, ihre Invasionsziele aufzugeben. Die Planungen der "Operation
Mongoose" werden bis zum April 1964 weitergeführt, die CIA bemüht sich immer von
neuem, Mordkomplotte gegen Fidel Castro und Sabotageakte zu organisieren; die
Spionageflüge der U-2 werden nicht beendet. Vor allem existiert die
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Wirtschaftsblockade bis zum heutigen Tage. Ungeachtet dessen muss auch die CIA
in einem geheimen Bericht über "Die Lage und zukünftige Entwicklungen in Kuba"
vom 14. Juni 1963 die folgenden realistischen Eingeständnisse zu Papier bringen:
"Wir glauben, dass die gegenwärtige Situation die künftige Konsolidierung des
kommunistischen Castro-Regimes begünstigt. Die Sicherheitsorgane werden
wahrscheinlich auch zukünftig von hoher Effektivität sein. Widerstandskämpfer, die
durch Gefangennahme, Flucht oder Tod nicht mehr zur Verfügung stehen, können
nicht ersetzt werden. Angriffe von außen, Sabotage und die Übermittlung von
Ausrüstungen und Nachschub können die Moral der oppositionellen Kubaner
stärken. Sie sind jedoch außerstande, eine Situation herbeizuführen, die das Regime
überwinden könnte."
800 Frauen demonstrierten in New York nahe des UNGebäudes für den Frieden
In ihrem Ergebnis führt die Kuba-Krise dazu,
dass
die
UdSSR
ihre
Anstrengungen
beschleunigt, die militärstrategische Parität mit
dem US-Imperialismus zu realisieren. Dies betrifft
vor
allem
die
Entwicklung
von
Interkontinentalraketen
und
von
Raketen
tragenden
U-Booten
mit
Nuklearantrieb.
Außerdem
müssen
die
Militärs
und
Geheimdienstler der USA die im Operationsplan
"Mongoose" für 1962/63 vorgesehene Invasion
Kubas zu den Akten legen. Dass es aber im
Herbst 1962 nicht zum atomaren Inferno kommt,
ist letztlich der politischen Führung der
Sowjetunion zu danken.
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