Quelle: , 05.12.2012 Die Kuba-Krise im Oktober 1962 Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer US-amerikanischen Aggression (Teil 1) Von Reiner Zilkenat Einige gefangene Söldner aus der Schweinebucht kurz vor ihrer Rückkehr in die USA Über die Kuba-Krise vor sechzig Jahren scheint alles gesagt worden zu sein. Bürgerliche Medien und Historiker haben seit Jahrzehnten folgende Anschauungen verbreitet, die auch Eingang in die Schulbücher gefunden haben: Die Stationierung von sowjetischen Raketen auf der Karibikinsel im Jahre 1962 sei eine Provokation des damaligen 1. Sekretärs des ZK der KPdSU und sowjetischen Ministerpräsidenten, Nikita Chruschtschow, gegenüber den USA gewesen. Er habe den Ausbruch eines Nuklearkrieges bewusst einkalkuliert. Nur dem besonnenen Handeln des Präsidenten der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, hätten wir es zu verdanken, dass diese gefährlichste Krise des Kalten Krieges beendet werden konnte, ohne dass es zu einem atomaren Schlagabtausch kam. Durch das Verhalten der sowjetischen Führung vor sechzig Jahren sei der Nachweis erbracht worden, dass ihre Beteuerungen, eine Politik der friedlichen Koexistenz zu verfolgen und alles für die Aufrechterhaltung des Friedens zu unternehmen, lediglich Phrasen zur Täuschung der Weltöffentlichkeit gewesen seien. Soweit die gängige Lesart. Auffällig ist, dass die Darstellung der Kubakrise meistens auf die Zeitspanne der dreizehn Tage reduziert wird, die von der Entdeckung sowjetischer Raketenstellungen auf Kuba bis zur Vereinbarung zwischen den USA und der UdSSR reichte, diese Waffensysteme zurückzuziehen. Damit soll die Krise "aus sich selbst heraus" erklärt und der Versuch unternommen werden, ihre außerordentlich komplexe Vorgeschichte für den heutigen Betrachter auszublenden. Vor allem soll die Außenund Militärpolitik der USA in den Jahren 1961/62 unberücksichtigt bleiben. Bei dieser Verfahrensweise sind die Rollen klar verteilt: Chruschtschow und Castro sind die Schurken, die einen Atomkrieg leichtfertig riskiert haben. John F. Kennedy und sein Bruder und engster Vertrauter, Justizminister Robert Kennedy, gelten als die Verteidiger des Weltfriedens, die der UdSSR entschlossen Paroli geboten hätten. Bevor wir uns mit diesen Mythen um die Politik der USA und insbesondere der Kennedys im Oktober 1962 auseinandersetzen, ist es unbedingt nötig, sich der komplizierten Vorgeschichte der "Raketenkrise" zu widmen. 2 Die USA und Kuba Zunächst ist es hilfreich, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Die Vereinigten Staaten hatten im Pariser Friedensvertrag vom Dezember 1898, der den amerikanisch-spanischen Krieg beendete, die Philippinen, Puerto Rico, Guam und Kuba aus der Konkursmasse des spanischen Weltreiches zuerkannt bekommen. Die Karibikinsel erhielt formell ihre Unabhängigkeit, in Wahrheit wurde Kuba bis zur Revolution von 1959 ein Spielball der USA. Sie hatten sich auf unabsehbare Zeit das Recht angemaßt, militärisch intervenieren zu dürfen, wenn dies ihrer Meinung nach die imperialistischen Interessen der Vereinigten Staaten rechtfertigen würden. Entsprechende Passagen hatten sogar Eingang in die 1901 verabschiedete Verfassung des Landes gefunden. In Guantanamo entstand im Laufe der Jahrzehnte einer der größten Militärstützpunkte der USA auf ausländischem Territorium, der bis zum heutigen Tag vor allem der US Navy und den Marines dient. Zugleich eroberten große amerikanische Konzerne die Volkswirtschaft des Landes: ITT und die United Fruit Company seien hier nur stellvertretend genannt. Der Zuckerrohranbau dominierte als exklusiv für die Vereinigten Staaten produzierende Monokultur weitgehend die ökonomische Struktur Kubas. Daneben diente dem organisierten Verbrechen der expandierende touristische Sektor, einschließlich Drogenhandel, Prostitution und Glücksspiel, als Ort der Geldwäsche für illegal in den USA erworbene Dollarmillionen. Kurzum: Bis zum Ende der fünfziger Jahre war die Karibikinsel faktisch nicht anderes als ein Protektorat der USA, zuletzt regiert durch den sich seit 1952 im Amt befindlichen Diktator Fulgencio Batista, eine willfährige Marionette der Vereinigten Staaten. Mit dem Erfolg der Revolution unter der Führung von Fidel und Raoul Castro sowie Ché Guevara änderte sich die Situation grundlegend. Nach der Verstaatlichung großer Zuckerrohr-Plantagen sowie der Niederlassungen US-amerikanischer Industrie-Konzerne wurde im Verlaufe des Jahres 1960 schrittweise ein Handelsembargo gegenüber Kuba verhängt. Beginnend mit dem Verbot, Erdöl und Benzin auf die Karibikinsel zu liefern, folgte der Importstopp für kubanischen Zucker, bis endlich im März 1962 das im Wesentlichen bis heute aufrecht erhaltene totale Handelsembargo der USA gegen Kuba verhängt wurde. Es handelt sich dabei um die längste Wirtschaftsblockade weltweit, die jemals in der Neueren Geschichte verhängt worden ist. Das Debakel in der "Schweinebucht" und seine Folgen Die Eisenhower-Administration hatte bereits kurz nach dem Erfolg der Revolution in Kuba damit begonnen Pläne auszuarbeiten, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Eine sozialrevolutionäre Regierung in einem vor den Toren der USA gelegenen Land zu tolerieren, das galt in Washington als vollkommen undenkbar. Hier gab es dringenden Handlungsbedarf. Alle denkbaren Mittel galt es einzusetzen, um diesen Zustand möglichst rasch zu beenden. Der Geheimdienst CIA, unterstützt durch einflussreiche Mafia-Bosse und als "Exilkubaner" bezeichnete Angehörige der ehemaligen Bourgeoisie, sollten u. a. Fidel Castro ermorden, Gegner der Revolution auf der Insel zu bewaffnetem Widerstand motivieren, mit Sprengstoffanschlägen die Infrastruktur lahmlegen, die 3 Zuckerrohrernte sabotieren und von Booten aus immer wieder Feuerüberfälle auf an der Küste liegende Städte und Ortschaften eröffnen. Manche in diesem Zusammenhang entwickelte Pläne klangen, als seien sie einem schlechten Kriminalroman entnommen worden. Als erster Höhepunkt dieser Serie von terroristischen Aktionen war die von "Exilkubanern" ausgeführte Invasion in der "Schweinebucht" am 17. April 1961 gedacht. Sie sollte ein Fanal für die Konterrevolutionäre auf Kuba darstellen, jetzt den offenen Kampf zu beginnen. Die etwa 1 300 Invasoren, von denen einige bereits vor dem Beginn der Aktion mit ihren kommenden "Heldentaten" öffentlich geprahlt und sie damit der kubanischen Aufklärung verraten hatten, wurden jedoch bereits von Militäreinheiten erwartet und vernichtend geschlagen. Die Blamage für die Kennedy-Administration erreichte größtmögliche Dimensionen, zumal die etwa 1 000 Gefangengenommenen gestanden, in Guatemala von Angehörigen der CIA und des US-amerikanischen Militärs systematisch auf die fehlgeschlagene Invasion vorbereitet und bewaffnet worden zu sein. Es kam hinzu, dass mehrere Flugzeuge abgeschossen worden waren, die Angriffe auf kubanische Flugplätze durchgeführt hatten. Die Piloten konnten als Staatsbürger der USA identifiziert werden. Für viele politische Beobachter stellte sich die Frage, weshalb John F. Kennedy nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, die vor seinem Amtsantritt begonnenen Vorbereitungen der Invasion in der "Schweinebucht" zu stoppen. Die Antwort lautet: Weil er mit der Politik seines Amtsvorgängers Dwight D. Eisenhower, in Kuba so schnell wie möglich wieder ein USA-höriges Regime zu etablieren, vollkommen einverstanden war. Er kritisierte lediglich die mangelnde Effektivität und Professionalität, mit der diese Aktion ausgeführt wurde, nicht aber grundsätzlich den Versuch, militärische Gewalt gegen die kubanische Revolution anzuwenden. Für Kennedy lautete deshalb die Lösung des Problems: "Operation Mongoose". So lautete der Codename für die von nun an gegen Kuba gerichteten konterrevolutionären Aktionen, die unter Nutzung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen zum Erfolg führen sollten. Im November 1961 wurde im Weißen Haus eine hochrangige Arbeitsgruppe unter der Leitung von Robert Kennedy installiert, die entsprechende Pläne ausarbeiten und koordinieren sollte. Dabei wurde der Versuch einer neuerlichen Invasion keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil. In einem streng geheimen Memorandum des Verteidigungsministeriums vom 19. Februar 1962 wurde für eine zweite Phase der "Operation Mongoose", nachdem "verdeckte Aktionen" eine "Atmosphäre der Unruhe" verursacht hätten ("the creation of a condition of unrest by covert means") vorgeschlagen, daran anknüpfend "eine offene militärische Intervention" ("overt military intervention") von US-Truppen zu beginnen. Bereits einen Monat zuvor hatte die Arbeitsgruppe zur Durchführung der "Operation Mongoose" optimistisch in einer geheimen Aufzeichnung einer Zusammenkunft am 19. Januar 1962 ihrer Meinung Ausdruck gegeben, dass führende kubanische Politiker durch die CIA in kurzer Frist zum Überlaufen in die USA veranlasst werden könnten. Ferner wurde Präsident Kennedy in diesem Protokoll mit den Worten zitiert, die er am Tag zuvor gegenüber seinem Bruder Robert geäußert hätte:"Das letzte 4 Kapitel zu Kuba ist noch nicht geschrieben worden - das ist noch zu tun und es wird geschehen." Das demütigende Debakel in der Schweinebucht, so war man in Washington gewillt, sollte sich nicht wiederholen. US-amerikanische "Globalstrategie" 1962 Will man die Politik der USA gegenüber Kuba verstehen, so ist es notwendig, sich mit der Gesamtheit ihrer außen- und militärpolitischen Aktivitäten im Jahre 1962 zu befassen. Dies kann an dieser Stelle nur in Form einer sehr unvollständigen Aufzählung geschehen, ist aber zum Verständnis der Kuba-Krise und ihrer Vorgeschichte unerlässlich. Am 3. Januar 1962 kündigt der US-Präsident die Aufstellung von zwei neuen ArmeeDivisionen mit mehr als 30 000 Soldaten an, die noch im gleichen Jahr einsatzbereit sein sollen. Nur vierzehn Tage später wird der größte Militärhaushalt seit dem Koreakrieg in Höhe von ca. 53 Milliarden US-Dollar verabschiedet. Der Bau von nicht weniger als 41 atomgetriebenen U-Booten mit "Polaris"-Raketen wird geplant, die Aufstellung moderner Interkontinentalraketen vom Typ "Minuteman" soll beschleunigt werden. Am 15. März hält Verteidigungsminister McNamara eine Aufsehen erregende Pressekonferenz ab. Er erklärt, dass sich in Südvietnam nicht nur eine wachsende Zahl von "Militärausbildern" seines Landes aufhalten, sondern dass USamerikanische Piloten bereits Angriffe gegen Einheiten der vietnamesischen Befreiungsfront geflogen hätten. Nur zwei Tage später offenbart die sowjetische Nachrichtenagentur Tass das genaue Ausmaß der militärischen Intervention der USA in Südostasien vor der erstaunten Weltöffentlichkeit. In einer geheimen CIA-Studie über "US-Geheimdienste und Vietnam" aus dem Jahre 1984, die zum größten Teil inzwischen veröffentlicht worden ist, kann nachgelesen werden, dass sich vom Beginn der Amtszeit Kennedys bis zu seiner Ermordung im November 1963 die Zahl der US-Militärpersonen in Südvietnam von etwa 900 auf mehr als 17 000 erhöhte! Am 27. März wird öffentlich, dass Kennedy die ursprünglich von ihm vertretene Doktrin aufgegeben habe, der zufolge die USA nicht als Erste Atomwaffen einsetzen dürften. Am 31. Juli erklärt ein Pressesprecher des Pentagon, die USA hätten nicht die Absicht, ihre auf die UdSSR zielenden Mittelstreckenraketen aus Europa abzuziehen. Präsident Kennedy wiederholt dies ausdrücklich am 1. August, vor allem mit Blickrichtung nach London, wo die von der Konservativen Partei geführte Regierung unter Premierminister Harold Macmillan das im Februar 1963 auslaufende Stationierungsabkommen nicht verlängern will. Am 27. September kündigt Kennedy den Einsatz USamerikanischer Truppen im Falle von "Aggressionen" an, wobei er als potenzielle Angreifer die Namen von Chruschtschow und Castro nennt. Mit dieser Aussage droht er offensichtlich die militärische Bekämpfung anti-imperialistischer Bewegungen und Regierungen überall auf der Welt an. Besonders beunruhigend ist jedoch der am 7. September 1962 vom Kongress genehmigte Antrag des Präsidenten, 150 000 Reservisten einzuberufen. Der Botschafter der USA in der BRD, Walter Dowling, begründet diesen Schritt drei Tage später in einem VierAugen-Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer dahingehend, dass Kennedy "glaube, dass man vor einer neuen Berlin-Krise stehe". 5 1962: Ein gefährliches Jahr für die kubanische Revolution Angesichts dieser globalen Bedrohungsszenarien stehen auch die Zeichen für Havanna auf Sturm. Eine neuerliche Aggression von Seiten der USA, sei sie von USamerikanischem Militär, sei sie vornehmlich erneut von Söldnern unternommen, kann für die nahe Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Es stellen sich folgende Fragen: Gibt es die Möglichkeit, sich eines Bündnispartners zu versichern, der auch militärisch wirksamen Schutz vor einer derartigen Invasion bieten könnte? Was ist zu tun, um die Kräfte der inneren und äußeren Konterrevolution zu zügeln, ja ihnen keine Chance zu lassen? Wie kann die Volkswirtschaft des Inselstaates angesichts des totalen Handelsembargos der USA das für das Leben der Bevölkerung Notwendige zur Verfügung stellen? Das Jahr 1962, das wussten die politisch führenden Kräfte um Fidel Castro in Havanna, wird von entscheidender Bedeutung für den Fortbestand der kubanischen Revolution sein. ……………………………. 12.10.2012 Vor dem atomaren Abgrund? Zu Hintergründen der Kuba-Krise (2. Teil) Von Reiner Zilkenat Das Executive Committee am 29. Oktober 1962. Das „ExComm" wurde am 16. Oktober 1962 von USPräsident John F. Kennedy zur Lösung der Kubakrise einberufen. Dieser informelle, geheime Ausschuss bestand aus dem Nationalen Sicherheitsrat und anderen hochrangigen politischen und militärischen Akteuren. Nach Beilegung der Kubakrise wurde das ExComm aufgelöst. Am 14. Oktober 1962 überfliegt ein US-amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ U-2 Kuba. Dabei fotografiert es Stellungen für Mittelstrecken-Raketen, die sich unmittelbar vor ihrer Fertigstellung befinden. Das Pentagon ist alarmiert und informiert am Vormittag des kommenden Tages Präsident John F. Kennedy. 6 "Operation Anadyr" Kennedy zeigt sich schockiert. Sollten die Raketenstellungen gefechtsbereit werden, wäre ein großer Teil der USA, wären Städte wie Washington und New York, mögliche Ziele. Wieso stationiert die Sowjetunion seit Anfang 1962 nicht nur Kurzund Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen, sondern auch Abfangjäger des modernsten Typs MIG 21, Jagdbomber und Luftabwehrraketen auf der karibischen Insel? Die kubanische Führung ist durch Kundschafter unter den "Exilkubanern" sowie angesichts der Durchführung groß angelegter amphibischer Manöver der USStreitkräfte in der Karibik gut darüber informiert, dass der US-Imperialismus seiner peinlichen Niederlage an der "Schweinebucht" vom Vorjahr eine besser organisierte Invasion Kubas folgen lassen möchte. Deshalb sondiert eine Regierungsdelegation in Moskau, ob die UdSSR bereit wäre, dem Inselstaat militärischen Schutz zu gewähren. Die politische Führung des Landes, vor allem Nikita Chruschtschow persönlich, sichern entsprechende Maßnahmen zu. Es beginnt die "Operation Anadyr", in deren Verlauf unter Wahrung größter Geheimhaltung von sowjetischen Häfen aus zahlreiche Frachtschiffe mit militärischen Gütern nach Kuba auslaufen. Bei den Raketen handelt es sich um Flugabwehrraketen des Typs SAM-2, die am 1. Mai 1960 eine U-2 über der UdSSR abgeschossen hatten, sowie Raketen unterschiedlicher Reichweite, die alle imstande sind, atomare Sprengköpfe zu transportieren. Einige von ihnen sind speziell für die Abwehr von amphibischen Angriffen gedacht. Der beabsichtigte Angriff der USA auf die karibische Insel soll so von vornherein mit einem unkalkulierbaren Risiko verbunden werden. Zugleich werden die USA hierdurch in eine ähnliche Lage versetzt, wie sie umgekehrt bereits seit dem Beginn des Kalten Krieges existiert: Es geht um die Bedrohung der Sowjetunion durch USamerikanische Nuklearwaffen, die in großer Zahl auf ausländischem Territorium stationiert sind. US-Atomwaffen "vor der Haustür" der Sowjetunion Die damalige Heuchelei fast aller US-amerikanischen Politiker und Militärs ist bemerkenswert. Hier wird offensichtlich ein doppelter Maßstab angelegt. Denn die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten einen Ring von grenznahen Stützpunkten um die UdSSR errichtet haben, von denen aus mit sehr kurzen Vorwarnzeiten ein atomarer Angriff begonnen werden kann, soll angesichts der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba außer Betracht bleiben. Auch heute wird dieser Sachverhalt in den Medien und in den Schulbüchern oft schamhaft verschwiegen. Worum geht es dabei? Nur wenige hundert Kilometer von der Grenze zur Sowjetunion entfernt waren seit Mitte der fünfziger Jahre Mittelstreckenraketen des Typs "Jupiter" in der Türkei (bei Izmir) stationiert worden, die eine Reichweite von mehr als 2 000 Kilometern aufweisen. Zusammen mit Raketen desselben Typs bzw. solchen vom Typ "Thor", die in Italien und in Großbritannien feuerbereit sind, können sie im Kriegsfalle den 7 gesamten europäischen Teil der UdSSR, aber auch einige der asiatischen Sowjetrepubliken mit atomarer Vernichtung überziehen. In diesem Zusammenhang muss unbedingt erwähnt werden, dass von 1954 bis 1969 auf Fliegerhorsten der US-Air Force in der BRD oder in ihrer unmittelbaren Nähe, auf der Hahn Air Base, der Bitburg Air Base und der Sembach Air Base in RheinlandPfalz, frühe Varianten von Marschflugkörpern der Typen "Matador" und "Mace" bis nach Moskau zielen. Je nach Version beträgt die maximale Reichweite dieser Waffensysteme bis zu 2 400 Kilometer. Ihre Sprengköpfe haben ein Vernichtungspotenzial, das jeweils dem Sechzigfachen der Hiroshima-Bombe entspricht. Mindestens achtzig Raketen können zeitgleich sowohl von mobilen Rampen als auch von verbunkerten Startplätzen aus in Richtung Sowjetunion dirigiert werden. Zwei Batterien bei Bitburg (Rittersdorf und Idenheim) mit insgesamt 16 Abschussrampen befinden sich in ständiger Alarmbereitschaft. Sie sind rund um die Uhr in der Lage, innerhalb von nur 15 Minuten ihre atomar bestückten Raketen abzuschießen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass von Bord der Flugzeugträger der 6. USFlotte, die im Mittelmeer kreuzt, Bomber der Typen "Skywarrior" und "Vigilante" eingesetzt werden können. Sie sind nach einer Luftbetankung über der Türkei imstande tief in das Territorium der UdSSR einzudringen. Jeder dieser Mittelstreckenbomber kann mehrere Atombomben transportieren. Doch die Praxis des US-Imperialismus, auf diese Weise die UdSSR ständig "vor ihrer Haustür" mit atomarer Vernichtung zu bedrohen, wird offensichtlich von den Regierungen der NATO-Staaten als legitim angesehen. Allerdings: Als sich das Blatt zu wenden beginnt und die USA jetzt durch die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba in eine ähnliche Lage gebracht werden, gilt die Sicherheit der Vereinigten Staaten sogleich aufs höchste gefährdet: Zweierlei Maß für dieselbe Sache. Die "Falken" propagieren den Erstschlag gegen die UdSSR Zurück zur Situation in und um Kuba im Oktober 1962. Kennedy konstituiert am 16. Oktober ein "Exekutivkomitee des Nationalen Sicherheitsrates", das dreizehn Tage lang in Permanenz tagt. Diesem Komitee gehören die Spitzen der Administration und die führenden Militärs an. Hier prallen die Meinungen über den einzuschlagenden Kurs zeitweilig hart aufeinander. Da Kennedy heimlich Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen anfertigen lässt, die inzwischen weitgehend veröffentlicht worden sind, kann der Verlauf der Diskussionen gut nachgezeichnet werden. Strittig ist bei den meisten Teilnehmern nicht, dass ein militärischer Angriff gegen Kuba unternommen werden müsste; lediglich über Zeitpunkt und Umfang einer solchen Aggression existieren unterschiedliche Auffassungen. Dabei kristallisiert sich bald heraus, dass die Stabschefs der Streitkräfte für massive Luftangriffe mit anschließender Invasion plädieren. Robert Kennedy, der Justizminister und Bruder des Präsidenten, tritt für die Inszenierung eines spektakulären Zwischenfalls ein, der zum Anlass für eine Invasion genommen werden könnte. Er schlägt z. B. einen fingierten Angriff auf den Stützpunkt Guantánamo oder die Versenkung eines Schiffes der US-Navy vor. Bei den Debatten wird auch der Einsatz taktischer Atomwaffen nicht ausgeschlossen. Inzwischen sind in Florida bereits mehr als 120 000 Soldaten sowie Hunderte Kampfflugzeuge in Stellung gebracht worden. Das größte amphibische 8 Landungsunternehmen seit der alliierten Invasion im Juni 1944 in der Normandie scheint unmittelbar bevorzustehen. Das Risiko, dass durch einen groß angelegten Angriff gegen Kuba ein globaler Atomkrieg ausgelöst werden könnte, wird billigend in Kauf genommen. Die extremste Position äußert immer wieder General Curtis LeMay, der Stabschef der Luftstreitkräfte. Er hatte schon in den fünfziger Jahren die Meinung vertreten, dass die USA einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion führen müssten. Seine Begründung lautet: Ein Atomkrieg mit der UdSSR sei früher oder später unvermeidlich. Deshalb müssten die Vereinigten Staaten ihn führen, solange sie ein überlegenes Potenzial atomarer Waffen zur Verfügung hätten, um einen solchen Krieg zu gewinnen. Im Oktober 1962 verfügen die USA tatsächlich über weitaus mehr Atomwaffen und Trägersysteme als die Sowjetunion. Vor allem verfügt die UdSSR nur über wenige Interkontinentalraketen, die zudem einen längeren Zeitraum benötigen, um betankt und in Stellung gebracht zu werden. Deshalb gehen die Stabschefs der USStreitkräfte davon aus, sie durch gezielte Angriffe von Bombern und eigenen Raketen rechtzeitig vor ihrem Abschuss vernichten zu können. Auch bei den strategischen Atombombern sind weitaus mehr und leistungsfähigere Einheiten auf Seiten der USA in Dienst gestellt worden. Da mittlerweile die höchste Alarmstufe für die US-Streitkräfte ausgerufen worden ist, befinden sich ständig Dutzende Langstreckenbomber der Typen B-52 und B-47 mit Atombomben an Bord in der Luft, die innerhalb kürzester Zeit ihre Ziele in der UdSSR anfliegen können. Hinzu kommen Interkontinental- und die genannten Mittelstreckenraketen, die von den USA und Europa aus starten würden. Auch einige U-Boote mit atomar bestückten "Polaris"-Raketen stehen für einen Erstschlag zur Verfügung. Insgesamt sollen annähernd 1 100 Ziele in der Sowjetunion vernichtet werden. Dabei gilt in vielen Fällen das Prinzip des "Nachheizens". Um die völlig Vernichtung der anvisierten Ziele sicherzustellen, soll nach dem ersten Angriff mit Atombomben 24 Stunden später ein weiterer Abwurf auf dasselbe Ziel erfolgen. Verteidigungsminister McNamara und Präsident Kennedy pendeln in den Diskussionen zwischen der Befürwortung offen aggressiver Handlungen und einer abwartenden Haltung hin und her. Sie fahren Le May und den anderen Militärs im Exekutivkomitee zumindest gelegentlich in die Parade. Le May versucht, Kennedy mit einem historischen Vergleich zu beeindrucken. 1938 kapitulierten beim Abschluss des Münchner Abkommens die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens vor dem deutschen Faschismus. Heute sei man in einer ähnlichen Lage. Eine nicht-militärische Lösung der Kuba-Krise wäre Wasser auf die Mühlen der angeblich aggressiven Politik der UdSSR. Sie würde dadurch Zeit gewinnen, um ihr Arsenal an Atomwaffen dem der USA in Quantität und Qualität anzugleichen. Noch sei die militärische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion derart groß, dass die UdSSR im Ergebnis eines Nuklearkrieges für alle Zeiten ihren Großmachtstatus verlieren, ja weitgehend verwüstet werden würde. Zwar müsste man in West- und Mitteleuropa mit großen Zerstörungen durch sowjetische Kernwaffen rechnen; die USA hätten jedoch nur wenige atomare Detonationen in Kauf zu nehmen, die keine existenzielle Bedrohung des Landes darstellen würden. Eine derart "günstige" Situation werde nicht wiederkehren. 9 Inzwischen ist von Kennedy eine Seeblockade gegen Kuba verhängt worden. Zerstörer und Hubschrauber der US-Navy machen Jagd auf in der Nähe befindliche sowjetische U-Boote und versuchen, sie durch den Abwurf von kleinkalibrigen Wasserbomben zum Auftauchen zu veranlassen. Gefährlich ist diese Handlungsweise deshalb, weil die U-Boote Torpedos mit Atomsprengköpfen an Bord mitführen und die Kommunikation mit ihren Befehlszentralen in der UdSSR zeitweilig gestört ist. Zum Glück behalten die Kommandanten der U-Boote die Nerven und lassen sich nicht zum Abschuss ihrer Torpedos provozieren. Die Beendigung der Krise am 28. Oktober 1963 Die 13 Tage vom 16. bis zum 28. Oktober sind außerordentlich gefahrvoll. Der Druck auf Kennedy, die Invasion Kubas und sofortige Luftangriffe gegen die sowjetischen Raketenstellungen zu befehlen, wächst von Tag zu Tag an. Letztlich wird auf diplomatischem Wege eine Beendigung der Krise vereinbart. Radio Moskau verbreitet am 28. Oktober die Nachricht, dass die UdSSR ihre atomar bestückten Raketen aus Kuba zurückziehen werde. Vorausgegangen waren geheime Gespräche zwischen Robert Kennedy und dem sowjetischen Botschafter in Washington, Anatoli Dobrynin. Allerdings verpflichtet sich der US-Präsident, zukünftig auf eine Invasion Kubas zu verzichten sowie die "Jupiter"-Mittelstreckenraketen aus der Türkei abzuziehen. Öffentlich dürfen diese Zusagen aber zunächst unter keinen Umständen verbreitet werden. Die Ursachen hierfür sind sowohl außen- als auch innenpolitischer Natur. Der westdeutsche Botschafter in den USA, Karl-Heinrich Knappstein, hat in einem geheimen Telegramm an das Auswärtige Amt vom 22. Oktober 1962 die entsprechenden Motive Kennedys für seine nach außen hin "harte" Haltung im KubaKonflikt in dankenswerter Weise offen gelegt. Zugleich definiert er durchaus realitätsnah die Motive des Handelns der sowjetischen Führung: "Der Ausbau Kubas zu einem Stützpunkt mit einem Offensiv-Potenzial ist ein ´Quantensprung´ in der krisenhaften Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses. Die USA sollen dadurch gezwungen werden, die Stationierung dieser Waffen vor der Küste des amerikanischen Kontinents hinzunehmen oder den sowjetischen Abrüstungs- und Berlinforderungen nachzugeben ... Die republikanische Parteileitung hat vor kurzem beschlossen, die Kuba-Frage zum Hauptwahlkampfthema zu machen. Für die Wahl des jetzigen Zeitpunktes (für das Hochspielen der Raketen auf Kuba - R. Z.) spielt zweifellos die bevorstehende Wahl am 6.11.1962 zum Repräsentantenhaus und zum Senat, für den ein erheblicher Verlust der Demokraten vorausgesagt wurde, eine zusätzliche Rolle." Die Beendigung der Krise führt bei den "Falken" im Weißen Haus und im Pentagon zu einer beinahe depressiven Stimmung. Die Stabschefs beklagen die "größte Niederlage in unserer Geschichte". Kuba nach der "Raketen-Krise" Nach der Beendigung der gefährlichen Krise um Kuba denken die USA jedoch keineswegs daran, ihre Invasionsziele aufzugeben. Die Planungen der "Operation Mongoose" werden bis zum April 1964 weitergeführt, die CIA bemüht sich immer von neuem, Mordkomplotte gegen Fidel Castro und Sabotageakte zu organisieren; die Spionageflüge der U-2 werden nicht beendet. Vor allem existiert die 10 Wirtschaftsblockade bis zum heutigen Tage. Ungeachtet dessen muss auch die CIA in einem geheimen Bericht über "Die Lage und zukünftige Entwicklungen in Kuba" vom 14. Juni 1963 die folgenden realistischen Eingeständnisse zu Papier bringen: "Wir glauben, dass die gegenwärtige Situation die künftige Konsolidierung des kommunistischen Castro-Regimes begünstigt. Die Sicherheitsorgane werden wahrscheinlich auch zukünftig von hoher Effektivität sein. Widerstandskämpfer, die durch Gefangennahme, Flucht oder Tod nicht mehr zur Verfügung stehen, können nicht ersetzt werden. Angriffe von außen, Sabotage und die Übermittlung von Ausrüstungen und Nachschub können die Moral der oppositionellen Kubaner stärken. Sie sind jedoch außerstande, eine Situation herbeizuführen, die das Regime überwinden könnte." 800 Frauen demonstrierten in New York nahe des UNGebäudes für den Frieden In ihrem Ergebnis führt die Kuba-Krise dazu, dass die UdSSR ihre Anstrengungen beschleunigt, die militärstrategische Parität mit dem US-Imperialismus zu realisieren. Dies betrifft vor allem die Entwicklung von Interkontinentalraketen und von Raketen tragenden U-Booten mit Nuklearantrieb. Außerdem müssen die Militärs und Geheimdienstler der USA die im Operationsplan "Mongoose" für 1962/63 vorgesehene Invasion Kubas zu den Akten legen. Dass es aber im Herbst 1962 nicht zum atomaren Inferno kommt, ist letztlich der politischen Führung der Sowjetunion zu danken.