Tangenten Von der Universitätsbibliothek waren es nur wenige hundert Meter bis Bradley Hall, und so entschloß sich Jean Onkel John einen Besuch abzustatten. Sie hatte ein Buch zurückgebracht, daß sie mit großem Interesse gelesen hatte, Men of Mathematics von Eric T. Bell. An einer Stelle1 war die Rede von Untersuchungen der Zykloide. Offensichtlich war es für die Mathematiker um 1700 eine schwierige Aufgabe, die Tangente in einem beliebigen Punkt an eine Kurve zu konstruieren. Der Begriff der Steigung und des Differentialquotienten waren ja noch nicht entwickelt. Onkel John konnte sicher etwas dazu sagen. John Wye verabschiedete gerade einen Studenten, der ihn in seiner Sprechstunde aufgesucht hatte, als er Jean über den Flur kommen sah. Er begrüßte sie freudig und bat sie in sein Arbeitszimmer. Nachdem sie eine Weile über private Dinge geplaudert hatten, erzählte Jean von Bells Buch und dem Problem der Tangente. „Ja“, John Wye legte seine Stirn in Falten, „was ist eine Tangente? Bei Euklid im Buch III heißt es in der 2. Definition2, daß eine Gerade einen Kreis dann berührt, wenn sie ihn trifft und nicht schneidet, auch wenn man sie weiter auszieht. Das heißt ja wohl, die Tangente hat mit dem Kreis genau einen Punkt gemeinsam. Euklid zeigt auch in den Sätzen 18 und 19 des III. Buches, daß – wie wir heute sagen – der Berührungsradius im Berührungspunkt B auf der Tangente senkrecht steht. Mit Hilfe dieses Satzes kann man leicht von einem Punkt P außerhalb des Kreis mit dem Mittelpunkt M eine Tangente an den Kreis konstruieren. Denn wenn man über MP den Halbkreis zeichnet, dann ist nach dem Satz des Thales3 das Dreieck MBP rechtwinklig. Euklid löst die Aufgabe übrigens anders. Will man in einem Koordinatensystem die Gleichung der Tangente in einem Punkt B angeben, so kann man diese Gleichung auch ohne diesen Satz gewinnen. Aber dazu brauchen wir erst mal die Gleichung des Kreises. Der Einfachheit halber lege ich den Mittelpunkt M in den Koordinatenursprung O. Hat der Kreis den Radius r, so lautet seine Gleichung x2 + y2 = r2 .“ „Klar, die Koordinatenstrecken x und y bilden ja mit dem Radius r ein rechtwinkliges Dreieck und da gilt der Satz des Pythagoras.“ „Gut, und die Gleichung einer Geraden kennst du auch?“ „y = mx + n.“ „Und wie bestimmt man jetzt die Koordinaten der Schnittpunkte von Gerade und Kreis?“ „Dazu löse ich das Gleichungssystem aus diesen beiden Gleichungen. Für die Abszisse x gilt dann x2 + (mx + n)2 = r2 x2 + oder 2mn m2 +1 x= r2 − n2 m2 +1 2 r2 − n2 mn ± + .“ m2 +1 m2 +1 m2 +1 Jean stand vor der Tafel, auf der sie die Rechnungen ausgeführt hatte, und meinte: „Wenn es nur einen gemeinsamen Punkt von Kreis und Gerade geben soll, dann muß der Radikand 0 sein, also x=− also mn (mn)2 + (mr)2 – (mn)2 + r2 – n2 = 0. Zwischen m, n und r besteht dann folgende Gleichung r2 = n2 m2 +1 .“ „Ja, und die Koordinaten des Berührungspunktes, wie lauten die?“ Jean schrieb: xB = − mn m +1 2 , yB = − m2n m +1 2 + n , d. h. yB = n m +1 2 „Und damit steht fest, daß die Tangente senkrecht auf dem Berührungsradius steht“, stellte Dr. Wye fest und blickte lächelnd in Jeans erstauntes Gesicht. Die überlegte und meinte dann: x „Es gilt xB = - myB, also mt = − B . Die Steigung der Tangente ist also der negative Kehrwert der Steigung des yB yB , mithin stehen die Tangente und der Radius MB aufeinander senkrecht.4“ xB „Und wie steht’s mit der Gleichung der Tangente?“ wollte John Wye nun wissen. Berührungsradius mr = 427 „Ich setze mal − xB für m in die Geradengleichung ein.“ yB xB x + n, yyB + xxB = nyB. yB „Irgendwie muß doch der Radius r noch da rein“, dachte sie laut vor sich hin und schaute auf die Rechnungen.. „Klar, es gilt ja nyB = r2. Also lautet die Gleichung der Tangente im Punkt B(xB; yB) an den Kreis K(M; r) Jean schrieb die Gleichung an. y= − yyB + xxB = r2.“ „Gut, das ist also die Tangentengleichung, die man erhält, wenn man von der – sagen wir mal - klassischen Definition der Tangente ausgeht, also von einer Geraden, die mit dem Kurve genau einen Punkt gemeinsam hat. In der Analysis haben wir aber die Tangente definiert als die Gerade, die durch den Punkt P(x0; y0) verläuft und die Steigung f ′ (x0) als Steigung hat, natürlich falls die Kurve der Graph der Funktion f ist“, fügte er noch hinzu. „Wer sagt denn das diese unterschiedlichen Definitionen – wie sagt man in der Computersprache – kompatibel sind?“ Jean gefiel dieses Modewort, das man jetzt überall hörte. Und sie hatte auch gleich einen Vorschlag. „Bestimmen wir doch einfach mal die Ableitung, aber...“, Jean zögerte, „die Kreisgleichung ist ja gar keine Funktionsgleichung.“ „Und?“ „Na ja, die Relationsgleichung x2 + y2 = r2 löse ich nach y auf: y = ± r 2 − x 2 . Die Gleichung y = r 2 − x 2 gehört dann zum oberen Halbkreis, die andere zum unteren, und ich habe also zwei Funk- tionen: f1: x → r 2 − x 2 und f2: x → − „Gut, und weiter?“ r 2 − x 2 .“ 1 „Ich nehme mal f1. Dann gilt f1(x) = (r 2 − x 2 ) 2 , also f ′1 (x) = 1 2 r − x2 2 ⋅ (−2x ) . Für die Stelle xB erhalte ich xB und das stimmt mit unserem früheren Ergebnis überein.“ yB „Womit du wieder ruhig schlafen kannst“, lächelt John Wye, „aber nehmen wir noch eine andere Kurve, die Parabel mit der Gleichung y = 14 x 2 + 2 .“ dann f ′1 (xB) = − y Er ging zur Tafel und fertigte eine Skizze an. (Abb. 181) „An der Stelle 4 gilt f ′ (4) = 2. Die Gleichung der Tangente an die Parabel im Punkt P(4; 6) lautet dann y = 2x + b.“ „Und da P auf dieser Tangente liegt“, ergänzte Jean, „erfüllen seine Koordinaten diese Gleichung, woraus b = - 2 folgt“ „Gut, die Gleichung der Tangente t lautet also y = 2x – 2. Eine solche Tangentengleichung zu finden, ist heute kein Problem. Auch für eine Zykloide, wovon du gesprochen hast, ist das nicht schwierig, wenn man ihre Gleichung kennt. Im frühen 17. Jahrhundert kam es - zum Teil auch aus Mangel an Publikationsmöglichkeiten - oftmals zu Prioritätsstreitigkeiten. Aus mathematischen, aber auch physikalischen Gründen war gerade die Zykloide damals ein häufiger Gegenstand der Untersuchung und gab Anlaß zum Streit. Galilei, Torricelli, Viviani, Johann und Jakob Bernoulli, Pascal und Christiaan Huygens, Abb. 181 Leibniz und Newton und viele andere haben ihre Eigenschaften studiert. Wegen dieser Streitigkeiten, die mit der Untersuchung der Zykloide zusammenhingen, nannte man sie die Helena der Geometer, und in Anspielung an das Urteil des Paris in der Antike auch la pomme de discorde, den Apfel der Zwietracht. Sicher rechtfertigen auch die vielen schönen Eigenschaften der Zykloide den Vergleich mit der Gemahlin des Menelaos, des Königs von Sparta, die als die schönste Frau des Altertums galt und deren Entführung durch Paris der Anlaß zum Trojanischen Krieg war, in dem die großen Helden der Antike miteinander rangen. Auch Pierre de Fermat hat sich mit ihr beschäftigt, wie du ja aus dem Buch von Bell weißt, und zwar war er in der Lage, die Tangente an diese Kurve zu konstruieren. Wie er das im Fall der Zykloide genau gemacht hat, weiß ich nicht. Doch die generelle Methode, die er benutzte, die ist bekannt und eng verwandt mit seinem Verfahren zur Bestimmung von Maxima und Minima. Ich will den Gedankengang an der Parabel erklären.“ John Wye ging zur Tafel und zeichnete eine Parallele zur Geraden durch den Berührpunkt P(4; 6) ein, und zwar durch den Achsenpunkt A(4 + e; 0).(Abb. 182) „Dieses e ist kleine positive Zahl, vergleichbar mit unserem ∆x. Die Methode besteht darin, die sogenannte Subtangente zu bestimmen, das ist die Strecke auf der x-Achse zwischen dem Schnittpunkt der Tangente mit der x-Achse und dem Fußpunkt des Lotes vom Berührpunkt auf diese Achse. In unserer Skizze ist die Subtangente die Strecke s von 1 bis 4. 7 6 5 4 3 2 1 0 1 2 3 4 5 6 7 x 428 Wir können nun folgende Proportion aufstellen: f ( x ) f ( x + e) = . Hieraus ergibt sich die zugehörige s s+e Produktgleichung (s + e)f(x) = sf(x + e). Wegen f(x) = 14 x 2 + 2 erhalten wir dann: y 7 P 6 (s + e)( 14 x 2 + 2 ) = s[( 14 ( x + e) 2 + 2].” John Wye drückte Jean die Kreide in die Hand und forderte sie auf weiterzurechnen. 1 4 2 x s + 2s + 1 x2 e 4 1 x2e 4 + 2e = + 2e = 1 4 1 2 5 4 2 x s+ esx + 1 2 1 4 esx + 1 4 2 e s + 2s 3 2 es „Als nächstes würde Fermat beide Seiten durch e 2 t teilen. 1 4 x2 + 2 = 1 2 sx + 1 4 es 1 und dann e gleich 0 setzen. Für x gleich 4 erhält er dann 4+e s s = 3.“ 0 1 2 3 4 5 6 7 x „Und das ist in Übereinstimmung mit unserer früheren Rechnung“, stellte Jean befriedigt fest, „denn da Abb. 182 hatte die Tangente die Gleichung y = 2x - 2 und die schneidet die x-Achse im Punkt A(1; 0). Aber du hast mir noch gar nicht gesagt, um welche Kurve es sich bei der Zykloide handelt.“ „Am besten erkläre ich dir das an Hand dieser Folienkopie, die ich mal angefertigt habe (Abb. 183). Stell’ dir vor, der Kreis, der die x-Achse in A berührt, wird auf der Achse abgerollt. Die Kurve, die der Punkt A dabei beschreibt, nennt man Rollkurve oder Zykloide. Nach einer vollen Umdrehung liegt der Punkt A wieder auf der Achse. In der Position A1 hat sich der Kreis um ungefähr 270° gedreht. Die Probleme, mit denen sich die Mathematiker damals befaßten, waren u. a. die Bestimmung der Bogenlänge und des Flächeninhalts unter der Kurve. Und natürlich die von dir angesprochene Frage nach der Tangentenkonstruktion an die Zykloide in einem beliebigen Punkt. Eingezeichnet ist die Tangente im Punkt A2 (Abb. 183). Die Länge eines Bogens beträgt 8r und die Fläche unter einem Bogen ist dreimal so groß wie die Fläche des abrollenden Kreises. Aber das kann ich mit den dir bekannten Hilfsmitteln nicht beweisen. Anders steht es mit der Tangentenkonstruktion. Wie allerdings Fermat die Sache angepackt hat, das – ich sagte es schon - weiß ich nicht.“ „Wir brauchen doch nur die Steigung im Punkt A2 berechnen, aber...“, Jean zögerte, „da müssen wir erst die Gleichung der Zykloide aufstellen.“ „Ja, und wie du auf der Folienkopie siehst, benutzt man dazu zweckmäßigerweise eine Parameterdarstellung, wie du sie früher schon mal bei der Sekantendarstellung kennen gelernt hast5. Als Parameter kann man den Winkel t verwenden, um den sich der Rollkreis gedreht hat.“ „Dann gilt t = AMB“, bemerkte Jean, „und die Koordinaten von A sind als Strecken interpretierbar (Abb. 184).“ „Und welche sind das?“ Jean betrachtete die neue Zeichnung. „Es gilt xA = OB – MC und yA = MB + CA, wobei MB = r gilt. Außerdem ist die Strecke OB gleich der Länge des Bogens BA, also OB = rt, wenn man t im Bogenmaß angibt. Abb. 183 Aber MC?“ Sie erkannte zwar an der Zeichnung, daß MC = r·cos AMC, aber cos ( AMC + 90°). Was sollte das sein: cos 135° oder auch cos 5? 429 Auf eine entsprechende Bemerkung hin lächelte John Wye und meinte: „Was sagt denn dein Taschenrechner dazu?“ Etwas verdutzt tippte Jean die Zahlen ein: cos 135° = - 0,70711. Dann schaltete sie auf das Bogenmaß um: cos 5 = 0,28366. Wieso akzeptierte der Rechner diese Werte? „Weißt du, Jean“, begann Dr. Wye, „das ist so wie bei der Tangente.“ Diesen Zusammenhang verstand Jean nun überhaupt nicht. Abb. 184 „In der Elementarmathematik“, fuhr John Wye fort, „da kennt man zunächst nur die Tangente an einen Kreis. Mit Hilfe der Differentialrechnung haben wir dann Tangente mit Hilfe der Steigung für Graphen differenzierbarer Funktionen definiert. Und eben hast du gesehen, daß dies eine sinnvolle Erweiterung des Tangentenbegriffs ist, denn, auf den Kreis angewandt, führt die neue Definition zum gleichen Ergebnis wie die alte.“ „Du meinst, wir sollten sin und cos neu definieren oder besser die Begriffe so verallgemeinern, daß, auf das rechtwinklige Dreieck angewandt, wir die alte Definition zurückerhalten?“ Dr. Wye wiegte sein Haupt. „Ja, so könnte man es beschreiben. Und zwar zeichnen wir zu diesem Zweck einen Einheitskreis in ein Koordinatensystem, so daß sein Mittelpunkt M auf den Ursprung O fällt. Der Kreis hat dann die Gleichung x2 + y2 = r2. Die Koordinaten eines beliebigen Punktes P auf dem Umfang dieses Kreises, dessen Radius man zur Einheit der Längenmessung macht, lassen sich dann als sin f und cos f interpretieren, wobei f der Winkel ist, den die positive x-Achse und die Strecke MP miteinander bilden. MP bezeichnet man auch als Radiusvektor, der im Gegenuhrzeigersinn um O rotiert. Auf diese Weise erhalten wir Sinus- und Kosinuswerte für beliebig große Winkel, die alle im Intervall [-1; 1] liegen. Wir wollen aber nur Winkel zwischen 0° und 360° betrachten.“(Abb. 185) John Wye ging zur Tafel und zeichnete die folgende Tabelle an. sin f cos f f = 0° 0 1 0°< f <90° 0 bis 1 1 bis 0 f = 90° 1 0 90°< f 180° f = 180° 180°< f <270° f = 270° 270°< f <360° f = 360° 1 bis 0 0 0 bis -1 -1 -1 bis 0 0 0 bis -1 -1 -1 bis 0 0 0 bis 1 1 John Wye zeigte auf die Zeichnung mit dem Einheitskreis. „Wenn du das rechtwinklige Dreieck mit dem Winkel α um 90° drehst, dann kannst du leicht cos(90° + α ) und sin(90° + α ) bestimmen.“ Jean drehte in Gedanken das Dreieck und kam zu dem Ergebnis: „Es gilt cos (90° + α ) = - sin α und sin(90° + α ) = cos α .“ Sie überlegte, wie sie das auf den Rollkreis anwenden konnte. MC = rcos AMC. Also MC = rsin t, denn t = AMC + 90°. „Es gilt x = rt – rsin t“, stellte sie fest, „und da CA = rsin AMC, folgt CA = - rcos t, also y = r – rcos t, wie behauptet.“ Zufrieden notierte sie sich die Ergebnisse, aber dann – und die Enttäuschung war ihrer Stimme anzuhören – meinte sie: „Jetzt haben wir die Parameterdarstellung der Zykloidengleichung gefunden, aber die Tangente kann ich immer noch nicht konstruieren. da ich die Ableitung nicht bestimmen kann.“ „Was nicht ist, kann ja noch werden“, lachte Dr. Wye und ging zu Tafel. Abb. 185 430 „Wir könnten versuchen, eine Funktionsgleichung zu bekommen, dadurch daß wir versuchen, den Parameter t zu eliminieren. Die Gleichung x = rt – rsin t läßt sich aber nicht nach t auflösen. Es läßt sich allerdings x als Funktion von y darstellen, aber auch dazu brauchten wir die Umkehrfunktion von cos, die du nicht kennst. Andererseits zeigt die graphische Darstellung der Zykloide, daß eine Funktion vorliegt. Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen eine Relation R, in unserem Fall die Relation Z = {(x, y)| x = r(t – sin t) und y = r(1 – cos t)}, eine Funktion f: x → y ist, wenn der Parameter t ein nichtleeres Intervall I durchläuft. Dieses Intervall I ist der Durchschnitt der Definitionsmengen Dx und Dy, also hier der Definitionsmengen von x = r(t – sin t) und von y = r(1 – cos t). Eine solche Funktion f existiert, wenn es zu keinem Parameterwert t aus I zwei verschiedene x-Werte gibt. Da nun f: x = r(t – sin t) im Innern von I, I = ]0; 2 π [, eine streng monotone Funktion ist, wie wir noch sehen werden, ist diese Bedingung erfüllt.“ Dr. Wye machte eine Pause und drehte sich um, weil er bemerkte, daß Jean etwas in seinen Rechner eingab. Er blickte auf den Schirm und mußte laut lachen. Jean hatte die Funktion f: t → r(t – sin t) eingeben, um die strenge Monotonie im Intervall ]0; 2 π [ zu überprüfen.(Abb. 186). „So geht’s auch, ich wollte das eigentlich über die Ableitung beweisen. Es existiert also die zu f inverse Funktion, auch wenn wir ihren Funktionsterm nicht explizit angeben können: t = f-1(x). Dies setzen wir jetzt in den Funktionsterm von y: y = r(1 – cos t) ein und erhalten mit y[f-1(x)] die gewünschte Darstellung der Funktion f(x).“ „y[f-1(x)] könnten wir doch nach der Kettenregel ableiten, oder?“ y = x - sin x Dr. Wye nickte zustimmend. 1 „Die Ableitung von t = f-1(x) ist nach dem Satz über die Ableitung ϕ& (t) der inversen Funktion, wenn wir die Ableitung nach t durch einen Punkt und nicht durch einen Strich kennzeichnen. Wir erhalten dann nach der Kettenregel für die ψ& ( t ) gesuchte Ableitung: f ′( x ) = .“ Abb. 186 ϕ& ( t ) „Jetzt fehlt nur noch die Ableitung der trigonometrischen Funktionen“, stöhnte Jean. Dr. Wye wandte sich wieder der Tafel zu und schrieb: y 1,8π 1,4π 1,0π 0,6π 0,2π 0 0,2π 0,6π 1,0π 1,4π 1,8π x lim x →x 0 sin x − sin x 0 sin( x 0 + h ) − sin x 0 = lim h → 0 x − x0 h Jean erinnerte sich an die Formel sin (a + b) = (sin a)(cos b) + (sin b)(cos a)6 und führte die folgende Umformung durch. sin( x 0 + h ) − sin x 0 sin x 0 cos h + sin h cos x 0 − sin x 0 sin x 0 (cos h − 1) + sin h cos x 0 lim = lim = lim h →0 h →0 h →0 h h h „Einen entsprechenden Satz kann man übrigens auch für cos(a + b) aufstellen, wenn man a durch 90° + a ersetzt. Es ergibt sich dann cos(a + b) = (cos a)(cos b) – (sin a)(sin b). Setzt man jetzt für a und b α2 ein und beachtet die Gleichung sin2x + cos2x = 1, erhält man cos a - 1 = - 2sin2 „Dann kann ich ja (cos h − 1) durch –2sin lim h →0 2 h 2 α 2 .“ ersetzen“, stellte Jean fest und begann zu schreiben. − 2 sin x 0 sin 2 h2 + sin h cos x 0 sin x 0 (cos h − 1) + sin h cos x 0 = lim h →0 h h John Wye nickte zustimmend. „Aber um den Grenzwert zu bestimmen, müssen wir das noch umstellen.“ lim h →0 − 2 sin x 0 sin 2 h 2 h + sin h cos x 0 = lim h →0 = lim h →0 sin 2 h 2 sin h 2 h 2 (− sin x 0 ) + lim h →0 h 2 sin h cos x 0 h sin h2 (− sin x 0 ) + lim h →0 sin h cos x 0 h Jean betrachtete die letzte Gleichung. sin x − sin x 0 sin x = 1 gilt und somit der erste Summand gleich 0 ist, erhalten wir lim = cos x0.“ „Da lim x →0 x → x x x − x0 0 „Richtig, und“, ein vielsagendes Lächeln glitt über Johns Gesicht, „in entsprechender Weise läßt sich zeigen: 431 lim x →x 0 cos x − cos x 0 = - sin x0.“ x − x0 „Dann kann ich ja jetzt die Steigung der Zykloide bestimmen, den wir hatten ja für t ≠ 0 f ′( x ) = ψ& ( t ) , wobei ϕ& ( t ) y(t) = r(1 – cos t) und f(t) = r(t – sin t).“ Sie begann die Ableitungen zu bilden: ψ& ( t ) = rsin t und ϕ& ( t ) = r(1-cos t), also f ′( x ) = t sin t . Sie blickte auf 1 - cos t den Nenner. 1 – cos t, war das nicht gleich 2sin2 2 ? „Die Beziehung haben wir doch eben verwendet“, bestätigte Dr. Wye, „und wenn du denselben Trick...“ „Du meinst in der Formel für sin( α + β ) beide Winkel durch 2t ersetzen?“ unterbrach ihn Jean. „Ja, dann erhältst du auch die Gleichung sin t = 2sin 2t cos 2t “. „Also gilt f ′( x ) = cos 2t = cot 2t “, faßte Jean zusammen, „aber kann ich denn jetzt in einem beliebigen P(x; y) sin 2t der Zykloide zum Kreis mit dem Radius r die Tangente konstruieren?“ „Das sind zwei Probleme, Jean, die Gleichung der Tangente aufstellen und an die gezeichnete Zykloide die Tangente konstruieren. Angenommen, die Koordinaten des Punktes P seien bekannt. Aus y = r(1 – cos t) kannst du mit deinem Rechner t berechen, z. Bsp. für r = 2 und y = 1,5 ergibt sich t = 1,3181. Übrigens aus ϕ& ( t ) = r(1-cos t) folgt, daß ϕ& ( t ) für alle t aus ]0; 2 π [ positiv und mit hin f(t) eine streng monoton ansteigende Funktion ist, was du ja eben schon sozusagen experimentell bestätigt hast.“ Schnell hatte Jean die Zahlen in ihren Taschenrechner eingegeben. „Dann hat P die Abszisse 0,6997 und die Gleichung der Tangente lautet y = 1,2910x + 0,5966.“ „Und wie steht es mit der geometrischen Konstruktion?“ wollte John Wye nun wissen. Die Blätter mit den Zykloiden lagen noch auf dem Tisch (Abb. 183 und 184), und es sah so aus, als ob die Senkrechte auf der Tangenten im Berührpunkt die x-Achse in dem Punkt traf, in dem der Rollkreis die Achse berührte. Jean äußerte eine entsprechende Vermutung. „Ja, die Senkrechte nennt man auch Normale, und die geht durch diesen Punkt“, bestätigte Dr. Wye, „mit Hilfe der Normalengleichung ist das leicht zu bestätigen.“ Das ließ sich Jean nicht zweimal sagen und begann zu rechnen. yA − y 1 cos t − 1 =m;m== ; xA = rt - rsin t und yA = r – rcos t f ′( x ) sin t xA − x Durch Einsetzen erhielt sie Gleichung [(r – rcos t) –y]sin t = [(rt - rsin t) – x](cos t - 1) „Da der Punkt B auf der x-Achse liegt, gilt y = 0. Also muß gelten r(1 – cos t)sin t = [x + r(sin t –t)](1 – cos t). und die Gleichung muß ich jetzt nach x auflösen.“ „So? Wenn du genau hinsiehst, stellts du fest, daß rt die Gleichung erfüllt.“ „Stimmt, rt ist also die Abszisse des Punktes B, und das ist auch der Bogen, den der Punkt A durchlaufen hat bzw. der Winkel, um den sich der Rollkreis gedreht hat, wenn man im Bogenmaß mißt.“ Sie betrachtete die Zeichnungen. „Für die Konstruktion der Tangenten an die Zykloide im Punkt A mit Hilfe der Normalen müßte ich diesen Punkt B(rt; 0) aber kennen. Dazu brauche ich wiederum den Rollkreis durch A, von dem ich aber nur den Radius r kenne.“ John Wye hörte amüsiert zu. Nach einer kurzen Pause fragte er: „Kannst du den Mittelpunkt M des Rollkreises denn nicht bestimmen?“ Jetzt fiel der Groschen. „Klar, erste Bestimmungslinie ist die Parallele zur x-Achse im Abstand r und die zweite ist der Kreis um A mit dem Radius r. Von M fälle ich das Lot auf die Achse und erhalte B. Die Senkrechte auf BA in A ist dann die gesuchte Tangente.“ „Gut“, scherzte Dr. Wye, „Fermat hätte sicher seine helle Freude an dir.“ Befriedigt verabschiedete sich Jean und fuhr mit dem Bus nach Hause. Nach dem Abendessen erzählte sie ihrem Vater von ihrem Besuch bei Onkel John und dem Tangentenproblem. Sie erwähnte auch, daß im Zusammenhang mit der Zykloide in einem Buch die Rede von Brachistochrone und Tautochrone die Rede gewesen sei. Aber damit könne sie nicht viel anfangen, auch wenn sie die ursprüngliche Bedeutung der Wortbestandteile im Griechischen kenne. „Ja“, erklärte Karl Icks, „brachistos, das ist ein unregelmäßiger Superlativ von brachys7, was kurz bedeutet. Galilei stellte sich die Frage, welche Form die Kurve hat, auf der ein Körper unter der Einwirkung der Schwerkraft auf einer vertikalen Ebene in kürzester Zeit von A nach B gelangt.“ 432 Als er Jeans Gesicht sah, nahm er ein Blatt Papier zur Hand und machte eine Skizze.(Abb. 187) „Stell’ dir vor, eine Kugel wird in A losgelassen und läuft durch eine Fallrinne von A nach B. Erstaunlicherweise ist die Kugel bei der Rinne, welche die Form eines halben Zykloidenbogens hat, schneller in B als bei der geraden Rinne. Das hängt damit zusammen, daß sie anfangs schneller fällt und so die Zeit für den längeren Weg kompensiert. Man kann zeigen, daß von allen Formen, welche man der Rinne geben kann, die Fallzeit bei der Zykloidenform am kürzesten ist. Bei der Geraden ist die Fallzeit um ca. 18 % länger.“ „Und warum spricht man von einer Tautochronen“? „Nun Chronos bedeutet im Griechischen Zeit8, und Tauto kommt von dem griechischen Wort für dasselbe.9 Diese Bezeichnung rührt daher, daß die Zeit bis zum Erreichen des Punktes B vom Startpunkt auf der Zykloiden unabhängig ist, die Kugel braucht immer dieselbe Zeit.. Diese Eigenschaft der Kurve wurde von dem Holländer Christiaan Huygens im Jahre 1659 gefunden, der sie für die Konstruktion sehr genau gehender Pendeluhren ausnutzte. Abb. 187 Die Frage nach der Kurvenform der Brachistochrone, der schnellsten Bahn sozusagen, wurde 1696 u.a. von dem Schweizer Mathematiker Johann Bernoulli beantwortet.“ 433 1 E. T. Bell, Die großen Mathematiker, Düsseldorf 1967, 1. Aufl. S. 91 2 Euklid, Elemente, III, Def. 2 EÙqe‹a kÚklou ™f£ptesqai lšgetai, ¼tij ¡ptomšnh týu kÚklou kaˆ ™kballomšnh oÙ tšmnei tÕn kÚklon. Man sagt, eine Gerade berührt einen Kreis, wenn sie ihn trifft und nicht schneidet, auch wenn man sie weiter auszieht. 3 vgl. Kapitel 47 4 vgl. Kapitel 53 5 vgl. Kapitel 59 6 vgl. Kapitel 46 7 bracÚj,gr. kurz, br£cistoj, der kürzeste. 8 Ð crÒnoj, gr. die Zeit 9 tÕ aÙtÒ, taÙtÒ (Krasis), gr. dasselbe 434