UniForum Wissenschaft und Forschung – Lehre und Studium Genetik des Übergewichts Extremformen des Übergewichts nehmen zu – inzwischen ist ein Körpergewicht von 150 Kilogramm bei Jugendlichen keine Seltenheit mehr. Im Rahmen des Deutschen Humangenom-Projekts wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Suche nach Erbanlagen, die für Fettleibigkeit prädisponieren, mit 3,5 Millionen Mark fördern. Die Federführung in diesem Projekt haben Professor Johannes Hebebrand und Dr. Anke Hinney von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters der Philipps-Universität. Der Löwenanteil von knapp zwei Millionen Mark fließt an Forscher in Marburg. Aus Marburg sind noch beteiligt das Institut für Medizinische Biometrie und Epidemiologie, das Zentrum für Humangenetik und das Fachgebiet Tierphysiologie. Angesichts der Zunahme übergewichtiger Kinder und Erwachsener gerade in den letzten zwei Jahrzehnten fällt es zunächst schwer nachzuvollziehen, dass erblichen Faktoren eine bedeutsame Rolle für die Entstehung von Übergewicht zukommt. Der Vorgang ist jedoch vermutlich vergleichbar mit der Zunahme der Körperlänge: Über zwei Jahrhunderte hinweg hat die durchschnittliche Körpergröße der Deutschen zugenommen – ein Prozess, der erst vor kurzem zum Stillstand gekommen ist. In einer Gesellschaft, in der Hunger zum Fremdwort geworden ist, hat sich hier offenbar das volle genetische Potenzial im Körperlängenwachstum entfaltet. Ähnliches gilt möglicherweise für das Körpergewicht: Auch hier kommen die Erbanlagen erst voll zum Tragen, wenn ihre Wirkung nicht mehr durch Nahrungsmangel eingeschränkt wird. Möglicherweise sind derartige Erbanlagen überhaupt erst so häufig geworden, Foto: Walter Bundesforschungsministerium fördert Marburger Wissenschaftler mit zwei Millionen Mark Fettleibigkeit: genetisch bedingt oder Folge von Überfütterung? da sie in früheren Jahrhunderten das Überleben einer Hungerkatastrophe ermöglichten. Gerade das Überangebot an preiswerten und schmackhaften Nahrungsmitteln und die sitzende Tätigkeit, die unseren Lebensstil in modernen Industriegesellschaften charakterisieren, begünstigen, dass sich solche Erbanlagen auswirken, die eine erhöhte Fettmasse bedingen. Da Studien unter anderem aus Marburg eine Zunahme von Extremformen des Übergewichts bei Kindern belegen, ist angesichts der erst in der jüngeren Vergangenheit aufgekommenen sozialen Diskriminierung von Menschen mit Fettleibigkeit auch nicht auszuschließen, dass heute vermehrt Partnerschaften zwischen übergewichtigen Individuen geschlossen werden. Deren Kinder weisen eine starke genetische Belastung auf. Die Entstehung von Übergewicht ist in Deutschland ein vernachlässigtes Forschungsgebiet. Eine der wenigen Ausnahmen bildet an der Philipps-Universität die Kli- nische Forschergruppe „Genetische Mechanismen der Gewichtsregulation“. Professor Hebebrand versucht hier mit seinen Mitarbeitern Erbanlagen zu identifizieren, die für Übergewicht prädisponieren. Diese Suche wird durch die komplette Sequenzierung des menschlichen Erbmaterials ungemein erleichtert. Anders als Medienberichte suggerieren, liegt erst von den Chromosomen 21 und 22 – bis auf winzige Abschnitte – die vollständige, geordnete Sequenz vor. Die übrigen Chromosomen sind zwar auch schon in allen Teilen sequenziert worden, jedoch gleichen die Daten einem riesigen Puzzle, das noch zusammengesetzt werden muss. Als Vorarbeit gibt es jedoch von allen Chromosomen Karten, die so genannte Mikrosatelliten verzeichnen. Das sind unverwechselbare Abschnitte im Genom, die als Orientierungspunkte dienen. Einige tausend dieser Mikrosatelliten sind identifiziert worden, die sich wie ein Raster über das Genom verteilen. Sie werden von den Genetikern so ähnlich benutzt, wie ein Plan von einem U-Bahn-Netz, auf dem auch nur die Haltestellen verzeichnet sind. In diesem Fall liegt ebenfalls nur die Abfolge der Bahnhöfe fest, über den Verlauf der U-BahnLinie zwischen den Haltestellen sagt eine solche Karte jedoch nichts. In Marburg sind bisher rund hundert Familien mit mindestens zwei übergewichtigen Kindern untersucht worden. Als Geschwister teilen sie 50 Prozent des Erbmaterials miteinander. Tauchen bestimmte Chromosomenabschnitte, die mit den Mikrosatelliten erkannt werden, häufiger als in 50 Prozent der Fälle bei beiden Geschwistern auf, liegt der Verdacht nahe, dass in der Nähe dieser Orientierungsmarken die gesuchten Erbanlagen für Übergewicht zu finden sein müssen. In der Sprache der Genetiker „koppeln“ diese Abschnitte miteinander. Allerdings können die verdächtigen Regionen durchaus noch bis zu 300 Gene umfassen. Weltweit sind bislang schon zahlreiche derartige Regionen identifiziert worden. Die in dem Forschungsverbund zusammengeschlossenen Gruppen (Jena, Bad Nauheim, Heidelberg, Ulm) werden in den nächsten Jahren versuchen, die in diesen Regionen liegenden Erbanlagen zu identifizieren. Es scheint also nicht das „Übergewichts-Gen“ zu geben, sondern es gibt eine Vielzahl von Erbanlagen, die Fettleibigkeit auslösen können. Damit Übergewicht entstehen kann, müssen in aller Regel mehrere derartige Erbanlagen vorhanden sein. Kennt man erst mal die Gene, so lässt sich die Biochemie der Entstehung von Übergewicht viel leichter durchschauen. Vielleicht findet sich so auch ein Ansatzpunkt, um Medikamente gegen Fettleibigkeit zu entwickeln. utz 21