GASTEDITORIAL TIERethik 7. Jahrgang 2015/1 Heft 10, S. 7-10 Das Stellung nehmende Tier und die Moral Bernd Ladwig Manche Tiere haben moralische Rechte. Wir Menschen sind schließlich selbst Tiere, Trockennasenaffen aus der Ordnung der Primaten, und wer wollte bestreiten, dass wir moralische Rechte haben? Wir glauben, bestimmte Arten der Achtung und der Rücksicht stehen uns zu, auch unabhängig davon, was das positive Recht in einem Land oder zwischen den Staaten besagt. Warum aber haben nur manche Tiere Rechte und nicht alle, die etwas empfinden und erleben können? Ist das nicht willkürlich? Gewiss, wir sind besondere Tiere. Aber das ist wiederum nichts Besonderes: Alle Tiere sind irgendwie besonders, alle Arten unterscheiden sich auch voneinander: Menschen können mit ihrer Sprache Sinnfragen wälzen, Fledermäuse mit ihrem Echolot Opfer orten. Zugleich stehen alle Arten in Beziehungen naturgeschichtlicher Kontinuität zueinander. Der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren ist, wie Charles Darwin schrieb, „nur graduell, nicht grundsätzlich“. Diese Darwinsche Grundeinsicht wird durch immer neue, etwa tierethologische Entdeckungen gestützt und vertieft. Ein vermeintliches Monopol des Menschen nach dem anderen, von der Intentionalität über das schlussfolgernde Denken bis zum Werkzeuggebrauch, fällt in sich zusammen. Der Tierethik kann das nur recht sein. Die biologisch nachweisbare Nähe zwischen uns und anderen Tieren soll dafür sprechen, dass wir auch moralisch gesehen nicht so besonders sind, wie wir gern denken. Ein naturalistisches Menschenbild soll das Eintreten für moralische Rechte auch anderer Tiere beglaubigen. Damit es das kann, darf es allerdings für ein menschliches Monopol nicht blind sein. Wir sind die einzigen Tiere, die sich reflexiv fragen können, was sie denken oder tun sollen. Wir sind unseren Eindrücken und Strebungen nicht ausgeliefert, wir können uns urteilend zu ihnen verhalten und sie unter dem Eindruck fremder Hinterfragung korrigieren. Nur wir sind darum sinnvolle Adressaten für Kritik. Einen Löwen kann man nicht sinnvoll tadeln, weil er für die Folgen seines Verhaltens nur kausal SIND WIR TIERE? TIERethik, 7. Jg. 10(2015/1) | 7 | | Bernd Ladwig zuständig ist. Weil der Mensch aber nicht nur ein Tier, sondern ein Stellung nehmendes Tier ist, trägt er auch normative Verantwortung. Nur er kommt folglich auch als Subjekt moralischen Urteilens und Handelns in Frage. Er allein kann aus Einsicht Rücksicht üben. Als Stellung nehmende Tiere spielen wir eine moralische Doppelrolle. Wir sind moralfähig und moralbedürftig: Akteure wie Nutznießer kategorisch geschuldeter Rücksicht und Achtung. Und moralbedürftig sind wir nicht nur mit Blick auf die höheren Vermögen der Sprachlichkeit, der Rationalität und der Vernunft, die unsere Fähigkeit zur Moral ausmachen. Wir sind es auch, weil wir leiblich existierende leidensfähige, endliche und bindungsbedürftige Kreaturen sind. Diese Eigenschaften verbinden uns mit vielen anderen Tieren. Und sie begrenzen substantiell die Möglichkeit, etwas als gut oder schlecht zu beurteilen. Bernard Gert hat darauf hingewiesen, dass mündige Menschen zu allen möglichen Gütern auch Nein sagen können, zu manchen aber nur, sofern sie besondere und überwiegende Gründe zu haben glauben. Ein rationaler Mensch wird etwa körperliche Unversehrtheit, Schmerzfreiheit, Handlungsfähigkeit, Lust und Genuss nur verschmähen, wenn er begründet glaubt, die Vermeidung anderer Grundübel oder die Erlangung anderer Grundgüter rechtfertige den Verzicht. Nicht einmal das eigene bewusste Leben müssen wir unbedingt bewahren wollen, aber gewiss wäre es irrational, für eine Nichtigkeit in den Tod zu gehen. Wir betrachten den eigenen Tod als ultimatives Opfer, gerade weil wir glauben, nur ein größtmögliches anderes Gut könne ihn rechtfertigen. Diese Überlegung hilft uns, den moralischen Schritt über die Gattungsgrenze zu tun. Denn das für uns Rationale hängt auch von Merkmalen ab, die wir mit anderen Tieren teilen. Stellen wir uns dazu vor, wir führten einen Diskurs über moralische Rechte: Woraufhin schulden wir einander Rücksicht und Achtung? Sicher auch mit Blick auf Interessen, die über den Kreis der möglichen Diskursteilnehmer und sogar aller menschlichen Wesen hinausweisen. Diese Interessen geben uns gute Gründe für geschuldete Rücksicht. Dabei darf uns nicht stören, wer außerdem von unserer Begründung profitieren könnte. Allein der Inhalt eines gültigen Grundes entscheidet über die Bedingung moralischer Zugehörigkeit in der durch den Grund gegebenen Hinsicht. Und einzig die Tatsachen entscheiden, wer die Bedingung der Zugehörigkeit erfüllt. Nichttrivialer Schmerz zum Beispiel gehört zu den von Gert genannten Grundübeln. Das Interesse, ihn nicht ohne Not oder ‚höheren‘ Grund zu erleiden, gibt uns sicher einen Grund für gegenseitige Rücksicht. Dieser Grund gilt aber der Sache nach für alle Tiere, die | 8 | TIERethik, 7. Jg. 10(2015/1) SIND WIR TIERE? Gasteditorial | schmerzempfindlich sind wie wir selbst. Es wäre darum willkürlich, sie nicht in dieser einen Hinsicht grundsätzlich als Gleiche einzubeziehen. Gleiche moralisch relevante Interessen zählen gleich, egal, wessen Interessen es sind. Die Moral, die sich damit abzeichnet, bleibt in einem Sinne des Wortes anthropozentrisch: Wir kommen als mündige Menschen nicht umhin, selbst über die Hinsichten geschuldeter Rücksicht zu befinden. Aber dieser epistemologische Umstand rechtfertigt nicht den Schluss, dass auch nur die Subjekte moralischen Urteilens und Handelns dessen Nutznießer sein könnten. Die Reflexion auf unsere Tiernatur macht Hinsichten geschuldeter Rücksicht kenntlich, die über die Gattungsgrenze hinausgehen. Leiblich existierend, bleiben wir in moralisch erheblichen Hinsichten dem Tierreich, dem wir evolutionär entstammen, verbunden. Was uns aus ihm heraushebt, ist nicht zuletzt die mögliche Einsicht in die moralischen Folgen dieser Verbundenheit. Sie allerdings haben wir uns bislang nur in Ansätzen klargemacht. Gibt es also einen grundlegenden Unterschied zwischen Menschen und Tieren? Ja, nur menschliche Personen sind normativ zurechnungsfähig. Hat dieser Umstand moralische Bedeutung für unseren Umgang mit Tieren? Ja, weil er uns überhaupt erst die Möglichkeit verschafft, sie moralisch zu beachten. Handeln wir ihnen gegenüber rücksichtsvoller, wenn wir uns als Tiere betrachten? Nicht zwingend, aber jedenfalls brauchen wir diese Betrachtung, weil erst sie zu erkennen gibt, in welchen moralisch erheblichen Hinsichten andere Tiere so ähnlich sind wie wir. Das Bild des Menschen als eines Stellung nehmenden Tieres soll nicht den alten Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit, von Geist und Körper wiederbeleben. Im Gegenteil, es soll uns die Vernunft als verkörpert, die Sinnlichkeit als Sitz des Geistes begreiflich machen. Unsere Sonderrolle im Tierreich besteht wesentlich darin, dass wir uns zu Merkmalen, die unsere Kontinuität zu anderen biologischen Lebensformen verraten, urteilend und argumentierend verhalten können. Insofern stehen wir in der Natur und über der Natur zugleich. Die ‚anthropologische Differenz‘ ist zugleich der logische Ort, an dem wir der Gemeinsamkeit alles erlebensfähig Lebendigen gewahr werden – und aus ihr hoffentlich endlich die richtigen moralischen Schlüsse ziehen. SIND WIR TIERE? TIERethik, 7. Jg. 10(2015/1) | 9 | | Bernd Ladwig Zur Person Bernd Ladwig, Prof. Dr., geb. 1966, Professor für Politische Theorie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Gerechtigkeit und der Gleichheit, Menschenrechte und Menschenwürde, Tierrechte als Thema der politischen Philosophie, Gesellschaftstheorien der Moderne. Veröffentlichungen u.a.: Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen. Berlin 2000; Herausgeber (zusammen mit Dirk Jörke): Politische Anthropologie. Geschichte – Gegenwart – Möglichkeiten. Baden-Baden 2009; Menschenwürde als Grund für Menschenrechte? Eine Kritik an Kant und über Kant hinaus. In: Zeitschrift für Politische Theorie 1, 2010, 111-135; Menschenrechte, Institutionen und moralische Arbeitsteilung. In: Politische Vierteljahresschrift 55 (3), 2014, 472-492; Tierrechte ohne Staatsbürgerschaft. In: Mittelweg 36 (5), Oktober/November 2014, 27-44. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Bernd Ladwig Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Freie Universität Berlin Ihnestr. 22 14195 Berlin E-Mail: [email protected] | 10 | TIERethik, 7. Jg. 10(2015/1) SIND WIR TIERE?