Buddhistische Innenansichten

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Buddhistische Innenansichten:
Bewusstsein, Geist, Selbst und Person
Peter Vollbrecht, Esslingen
Manche Kulturklischees haben eine lange Karriere hinter sich. Indien, das Land
der Gurus und Fakire, so hatte man es schon zu Zeiten Alexanders des Großen
gesehen, als der um 326 v. Chr. durch Nordindien zog. In Taxila im heutigen
Punjab kam es zu einer Art Gastdozentur eines indischen Philosophen im Heer
des Alexander. Die Griechen wollten die indische Denkweise kennen lernen,
und so zog Kalanos, wie ihn die spätere griechische Geschichtsschreibung genannt hatte, mit den Hellenen durch die Lande. In Persien erklärte Kalanos, er
wolle aus dem Leben scheiden. Selbst Alexander konnte ihn davon nicht abhalten, Kalanos orderte einen Scheiterhaufen, setzte sich oben auf, verschenkte all
seine Habseligkeiten und ließ sich im asketischen Schneidersitz bei lebendigem
Leibe und ohne mit der Wimper zu zucken verbrennen. Den Griechen, die ja
selber von der weltabgekehrten Philosophie der Kyniker inspiriert waren, wie
vom Tonnenphilosophen Diogenes etwa, - den Griechen galt diese selbstlose
Haltung des Kalanos als eine ganz besondere Seelengröße.
1. Fragmentiertes Ich – diskontinuierte Natur: die Gegenwartshorizonte, an die sich die buddhistische Philosophie anschließen
lässt
Nun, ohne die Leistung des Kalanos schmälern zu wollen: mich persönlich interessieren an der indischen Philosophie – Kalanos war ein Brahmane gewesen,
also ein Hindu und kein Buddhist – mich persönlich interessieren weniger die
okkulten esoterischen Praktiken. Mich interessiert die andersartige Textur des
indischen Denkens. Innerhalb der großen indischen Systeme sind uns die bud-
dhistischen Strömungen noch einmal fremder als die brahmanischen Upanishaden oder die Bhagavad Gita. Aber diese Fremdheit entsteht doch auf dem Boden
einer uns vertrauten Philosophie. Denn der Buddhismus entwickelt eine schwer
verständliche Ontologie auf der Basis einer uns sehr wohl verständlichen Epistemologie. Der erkenntnistheoretische Standpunkt aller Buddhismen ist nämlich
ein radikaler Empirismus, ja ein Sensualismus. Ihm begegnen wir bekanntlich in
unserer westlichen Tradition etwa in George Berkleys berühmten Diktum esse
est percipi. Die Weltphänomene treten primär als nackte Sinnesdaten auf. Sinnesdaten machen aber noch keine Welt. Um die Sinnesdaten zu subjektunabhängigen Gegenständen zu konfigurieren, bringt das Bewusstsein eine metaphysikbeladene substanzontologische Interpretation ein, die scharf der buddhistischen Kritik anheimfällt. Und sie, diese Kritik, öffnet dann in einem ersten
Schritt für eine Prozessontologie, in der alles, was existiert, Beziehung ist – und
keine Substanz, die Beziehung dann etwa stiftet. Eine Prozessontologie, die den
permanenten Wechsel von Entstehen und Vergehen betont, um dann in einem
zweiten Schritt zu einer Ontologie der Leerheit vorzustoßen, der berühmtberüchtigten shunyata, dem schwierigsten und nicht nur für westliche Ohren
schwerverständlichstem Lehrstück der buddhistischen Philosophie. Darauf
komme ich später noch zurück, hier sei nur angedeutet, dass genau dieses Vexierbild von Fremdheit und Vertrautheit die Modernität der buddhistischen Philosophien ausmacht. Der Buddhismus erweist nämlich mit seinem Sensualismus
und seiner Prozessontologie eine faszinierende Anschlussfähigkeit an die Entwicklungen in Kunst und Wissenschaft des 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Was immer man über die vielfältigen Entwicklungen der letzten einhundert Jahre sagen mag – die wirklich bahnbrechenden Innovationen in der Mathematiktheorie, der nachklassischen Physik, der biologischen Wissenschaften sowie
len, weltgeschichtlichen Vorgangs, in dessen Verlauf neue Bilder des Menschen
Seite
Paradigmenwechsel. Wir alle sind derzeit Zeugen eines atemberaubend schnel-
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in den modernen Strömungen in der Kunst zeigen allesamt einen aufregenden
und der Natur im Entstehen sind. Sie lassen sich mit zwei Schlagwörtern charakterisieren: die Fragmentierung des Ich und die Diskontinuierung der Natur. Das
erste gehört zum heute schon klassischen Themenkanon moderner Kunst, das
zweite, die Diskontinuierung von Natur, gewinnt gerade erst seine Konturen.
Hinter dem ersten Donnerwort steht eine uns allen bekannte Entwicklung in der
langen Geschichte der Selbstinterpretation des Menschen, die an die bekannten
drei Kränkungen der menschlichen Eigenliebe, die Sigmund Freud auflistete,
eine vierte anschließt. Vertrieben aus dem räumlichen Zentrum des Universums
durch Kopernikus, entthront in seiner Sonderstellung im Kreis des Lebendigen
durch Darwin und unterkellert mit dem dunklen Unbewussten durch Freud, beschleunigt sich die Geschichte der Dezentrierung des menschlichen Selbst durch
die avantgardistische Kunst des Symbolismus, des Nouveau Roman, der postmodernen Spielereien und anderer Kunstrichtungen. Sie alle brechen mit der
herkömmlichen Erzählweise in Wort und Bild, sie multiplizieren die narrativen
Achsen zu einem hochkomplexen, unüberschaubaren und mehrdimensionalen
Geflecht. Und dabei spiegeln sie notabene eine neue Soziologie des Ich, in der
viele Provinzen des Selbst von einem gesellschaftlichen Körper übernommen
werden, so dass, wie Robert Musil es in seinem Jahrhundertroman treffend formulierte, „Eigenschaften ohne Mann“ entstanden sind, die frei flottieren und
sich Personen suchen zwecks temporärer und alsbald wieder aufzukündigender
Trägerschaft. Die Frauen unter Ihnen sind übrigens durch die geschlechtliche
Fixierung in Musils pointiertem Hieb auf die Massengesellschaft keineswegs
aus dem Schneider, denn auch die im Feminismus tobenden Schlachten zwischen biologischem und kulturellem Geschlecht, von weißem und postkolonialem Feminismus könnte man unter dieser Perspektive in die Großthese von der
Fragmentierung des Ich einrücken. Nichts ist mehr ganz, nichts ist mehr organi-
Seite
kümmert von sich redet, der ist ein herzerfrischender Komiker.
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siert um einen Schwerpunkt, das Ich ein Scherbenhaufen, und wer weiter unbe-
Die modernen Subjektivitätskonzepte wären also die eine der Diskussionslagen,
an die sich die buddhistischen Philosophien von Ich, Selbst und Person anschließen lassen. Die andere betrifft den Naturbegriff. Ihn hatte ich unter das
Schlagwort von der Diskontinuierung der Natur gestellt. Angesichts der Fragmentierung des Ich erscheint die Natur allerdings noch halbwegs im Lot. Immer
noch gilt das Wort Carl Friedrich von Weizsäckers, die Natur bilde eine Einheit.
Aber unserem Blick auf die Natur zeigt sich quantenphysikalisch ein irisierendes
Kippbild, das uns mal eine Substanzontologie und mal eine Prozessontologie
zeigt, Korpuskel und Welle. Das wäre nichts weiter als ein Sprachproblem, es
wäre nur ein Problem unserer methodischen Denkwerkzeuge, stünde nicht ineins
damit die heilige Kuh unserer Ratio auf dem Spiel, die diamantharte Notwendigkeit, jene unbeugsame Messlatte der Naturgesetzlichkeit, die nun quantenphysikalisch in einer statistischen Wahrscheinlichkeitswelle verplätschert. Doch
damit nicht genug: die Überzeugung, die Natur mache keine plötzlichen, ungesetzlichen und damit unberechenbaren Sprünge (natura non facit saltum), kommt
auch von Seiten der Evolutionsbiologie unter Druck. Mutationen ereignen sich
durch sogenannte Fulgurationen, plötzliche und prinzipiell unvorhersehbare
Veränderungen in der kopierten DNS. Eine Zone der Unbestimmtheit plagt auch
die Chaostheorie – alles, wie ich zugebe, unverdaute Erkenntnisse der modernen Physik, die die nassforsche These von der diskontinuierlichen Natur abstützen.
Die buddhistische Philosophie lässt sich an die beiden erwähnten Gegenwartsdiagnosen anschließen. Die These von der Fragmentierung des Ich wird uns dabei
etwas tiefer in die buddhistische Philosophie hineinführen. Nach einiger Wegstrecke werden wir dann am Ende den naturwissenschaftlichen Strang wieder
aufgreifen können. Richten Sie sich nun also auf eine etwas größere Gedanken-
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weilen.
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reise ein, machen Sie es sich bequem, ich werde bemüht sein, Sie nicht zu lang-
2. Personales Bewusstsein und apersonale Erleuchtung
Buddhistische Innenansichten – der Titel soll andeuten, dass es um buddhistische Positionen geht, die wir jetzt betrachten, aber auch, dass unser Scheinwerfer sich auf das Innenleben des Menschen richtet, auf mentale Zustände und
Prozesse. Die buddhistische Philosophie – ich werde übrigens die Frage jetzt
nicht erörtern, ob der Buddhismus eher Philosophie, eher Psychologie oder eher
Religion sei – der Buddhismus erweist vor allem in der Innenpolitik des Selbst
seine Stärken, weniger in der Außenpolitik, weniger also auf den sozialen und
politischen Feldern. Der Westen, so sagte es der Dalai Lama einmal, habe ein
hochdifferenziertes Vokabular für die äußere Welt entwickelt, der Buddhismus
dagegen eines für die innere Welt.
Alles sei Bewusstsein, so pflegten die Geshes ihre Vorträge einzuleiten, die Professoren am Institute for Buddhist Dialectics in Dharamsala im indischen Himalaya, wo die tibetische Exilregierung ihren Sitz hat. Alles sei Bewusstsein:
die sinnlichen Eindrücke, mit denen die Dinge zu uns sprechen, die Akte des
Begehrens, mit denen wir die Dinge für uns tanzen lassen, die Weltinterpretationen, mit denen wir die Dinge kommandieren, ja auch das Handeln habe einen
Fußabdruck im Bewusstsein, von wo es seinen Gang in die Welt nehme. Für
diese vier Provinzen des Bewusstseins, ja für Bewusstsein überhaupt verwendet
die buddhistische Philosophie den Sanskrit-Terminus vijñāna. Vijñāna ist aber
ist nur die erste Stufe der bewussten Welt, es wird überstiegen von prajñā, einer
weitaus vollkommeneren Einsicht, die im Zustand der Erleuchtung, bodhi, erreicht wird. Vijñāna, prajñā, bodhi, das ist der Weg von einem dem Empirischen
verhafteten Erkennen zur kosmischen Erleuchtung, von einem endlichen Bewusstsein zu einem über die Grenzen von Zeit und Raum hinwegströmenden,
Erkenntnis, Einsicht, Erleuchtung, lassen Sie mich den Dreischritt in der menta-
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len Welt einmal der Einfachheit halber mit den deutschen Termini kennzeich-
Seite
sich verströmenden und nirvanisch verlöschenden Geist.
nen. Was findet sich parallel dazu in der westlichen Tradition? Ich folge der
Kantischen Systematik und schlage vor: Verstandeserkenntnis, Vernunfterkenntnis und, als Pendant zum buddhistischen bodhi, das Vernunftideal der
Weisheit. Von bodhi aber unterscheidet sich die Weisheit in einem signifikanten
Punkt: Die Erleuchtung führt mental über das Weltliche hinaus. Deshalb gilt es
im Buddhismus als Zeichen der Unverständigkeit, wenn über die Erleuchtung
gesprochen wird. Buddha Shakyamuni ist der Schweigende, der zwar viele
Lehrreden gehalten hat, der aber immer dann, wenn es an den eigentlichen Kern
der Lehre geht, einen Bann des Schweigens an zwei Adressen gereichtet hat: an
die meditativen Erlebnisse sowie an die, wie er sagte, zweifelsüchtige Philosophie. Von Meditation und Erleuchtung ist deshalb nicht zu reden, weil alles Reden im Bereich der Trennungen und damit in der unerleuchteten Welt verbleibt.
Deshalb trägt auch der philosophische Zweifel, so wertvoll er auch ist, uns nicht
aus der leidvollen Welt hinaus. Aus buddhistischer Sicht sind wir Philosophierende dann diskreditiert, wenn wir uns hemmungslos dem Rausch des Zweifelns
anheimgeben. Denn der eigentliche Sinn und Zweck der buddhistischen Lehre
ist es, den Menschen von seinem Leid zu befreien. Und zur Verdeutlichung erzählt der Buddha das Gleichnis von einem Menschen, der von einem Pfeil getroffen zu Boden fällt. Würde man ihm alle Fragen beantworten wollen, die der
Verletzte äußert, Fragen nach der Art des Pfeils, der ihm im Fleische steckt,
nach der Absicht, mit der geschossen wurde, nach Abschusswinkel und Sehnenspannung und dergleichen mehr, dann würde der Verletzte über all diesen Antworten versterben. Nein, primär komme es auf das Heil der Lehre an und nicht
auf kühne Philosopheme. Von Weisheit im westlich-philosophischen Sinne unterscheidet sich bodhi, die Erleuchtung, aber auch noch in einer anderen, wesentlichen Hinsicht: die Erleuchtung lässt Bewusstsein hinter sich, bodhi ist
postkognitiv. Es übersteigt das Wissen und damit auch die Philosophie. Drüber
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hinaus ist bodhi aber auch apersonal. Was soll das bedeuten?
Nun, ein erstes Verständnis der Apersonalität von bodhi erschließt sich uns,
wenn wir den trivialen Umstand bedenken, dass Bewusstsein einen Träger benötigt, einen lebenden Organismus. Das muss kein menschlicher Organismus sein,
auch manche Tiere verfügen ja über Bewusstsein, ja sogar Selbstbewusstsein.
Aber ein Träger, der ist unabdingbar. Gehen wir zum menschlichen Organismus:
hier wäre der Träger die Person mit ausgebildetem Ichbewusstsein. Sie interpretiert und versteht sich selbst als ein substanzielles Selbst mit akzidentell wechselnden empirischen Zuständen, den mentalen Akten. Dieses Selbst halte sich
stabil, robust und identisch beim Wechsel der empirischen Zustände. Der Buddhismus attackiert vehement diese metaphysische Fassung des Leib-SeeleProblems, die er aus den Upanishaden kennt, der philosophischen Schicht des
Veda, des großen Textkorpus der Brahmanen, der Hindus also. Dort kreist alles
um atman, die Individualseele, sowie um deren Identität mit der Weltseele,
brahman. In der erwähnten Apersonalität von bodhi, dem Erleuchtungswissen,
möchte der Buddhismus seine Wahrheit über das Selbst aussprechen. Sie lautet:
Die Annahme eines konsistenten, substanziellen Selbst, eines atman, ist ein
schwerwiegender Irrtum, der den leidvollen Zustand der Lebewesen zu verantworten hat. Aus ihm ergeben sich Gier, Daseinsdurst, Herrschaft, Ängste, Leid
und Verzweiflung. Ließe sich dieser schwerwiegende Irrtum korrigieren, ließe
sich eine Anatman-Lehre formulieren, dann wäre dies gleichbedeutend mit der
Befreiung vom Leid. Doch welcher Weg wäre dabei zu gehen, um das Bewusstsein auf eine tiefere, das Bewusstsein übersteigende Einsicht hin zu überschreiten und damit auch die sich immer wieder aufdrängende, auch Buddhisten sich
aufdrängende, weil wohl in der biologischen Evolution verwurzelte Überzeugung eines konsistenten, robusten Ich überwinden zu können?
Der Buddha beantwortete sie in einer klassischen Rede, die er in Benares gehal-
stück seiner Lehre. Die Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten gehört auch heute
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Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten bekannt geworden und bildet das Herz-
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ten hat kurz nach seiner eigenen Erleuchtung, - sie ist unter dem Namen der
noch zum Katechismus aller buddhistischen Schulen, sei es der TheravadaSchulen oder der Mahayana-Schulen. Im Zen-Buddhismus spielt sie allerdings
keine Rolle mehr, was der radikalen antitheoretischen Grundhaltung des Zen
geschuldet ist. Ich will die Vier Wahrheiten uns nicht im Einzelnen durchkonjugieren, uns interessiert vor allem die zweite der Vier Edlen Wahrheiten, wir gleiten übrigens mit unseren Überlegungen zur Apersonalität von bodhi schon seit
einigen Sätzen über die Tastatur der zweiten edlen Wahrheit, die die Ursachen
des Leidens analysiert. Und dabei entfaltet sie eine physikalische Theorie und
eine Subjektivitätstheorie. Also doch Theorie und Philosophie, werden Sie sagen, und ja, tatsächlich: der Weg zur höchsten Einsicht, zur Erleuchtung, führt
über die Philosophie. Das rationale Nachdenken ist gleichsam die Eintrittskarte
in die buddhistische Welt, aber, und das ist entscheidend, das rationale Nachdenken wird von Anbeginn an begleitet und flankiert von meditativer Praxis.
Und die meditative Praxis unterstützt die kognitiven Anstrengungen genau dort,
wo das Verständnis besonders schwer fällt und wo sich Fehldeutungen und Irrtümer einschleichen könnten, würden wir allein der Macht unserer Kognition
vertrauen. Mir allerdings bleibt hier nur die philosophische Darstellung, und die
muss ohne Meditation notwendigerweise einseitig bleiben.
3. Leer an substanziellem Selbst
Eine physikalische Theorie und eine Subjektivitätstheorie – wie geht beides zusammen? Sie spüren vielleicht hier, in diesem Stadium meines Diskurses, die
nachbarschaftliche Nähe der eingangs angeschlagenen Akkorde aus moderner
Physik und der modernen conditio humana, mit denen ich ja den gegenwartsakzentuierten Anschluss der buddhistischen Philosophien an unsere eigene intel-
schränkt?
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theorie, wo und wie ist in der buddhistischen Lehre beides miteinander ver-
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lektuelle Kultur suchte. Eine physikalische Theorie also und eine Subjektivitäts-
Nun, die physikalische Theorie ist konzentriert in der Lehre vom abhängigen
Entstehen, die im Englischen die bessere Fassung bietet: ‚co-dependent arising‘
heißt hier der Terminus für den Sanskrit-Begriff pratītya-samutpāda. Und darin
sind zwei Theoreme enthalten. Einmal das Theorem des strikten Determinismus,
so wie wir ihn aus der Newtonschen Naturauffassung her kennen: durchgängige
und lückenlose Kausalketten durchziehen die Weltlinien der Ereignisse. Dann,
zweitens: Die Kausalkette lässt mit einem Ereignis ein anderes entstehen. Hier
wird das In-die-Existenz-Treten eigens hervorgehoben, was hinwiederum bedeutet, dass eines sein Entstehen und Bestehen einem anderen verdankt. Kein Phänomen ist autark, es ist leer von einen eigenständigen Sein oder Selbst. Ihr Wesen besteht nicht in einem substanziellen Sein, sondern in der Leerheit, shunyata.
Die epistemologische Position des Buddhismus, ich sagte es schon, ist ein radikaler Empirismus, ja sogar ein Sensualismus. In den Kausalnexus verwoben ist
auch der Mensch, und zwar ganz und gar. Kein transzendentales Fenster öffnet
sich uns wie in der Kantischen Zwei-Welten-Lehre. Auch unser Denken und unsere Vernunft ist in diesem Sinne ein physikalisches Ereignis. Diese Position
macht den Buddhismus für die Neurowissenschaften interessant. Doch bleiben
wir in der buddhistischen Philosophie: körperliche und mentale Zustände werden ebenfalls regiert vom abhängigen Entstehen. Kein Ding und kein mentaler
Zustand ist aus sich selber. Die Welt ist durch und durch kontingent.
Aber selbstverständlich existieren die Dinge wie auch die mentalen Zustände
existieren, ja sogar das Selbst existiert. Das halten viele Schriften des Mahayana-Buddhismus eigens fest, so die Prajñāparamitā-Sūtren, die im 2. nachchristlichen Jahrhundert entstanden sind und wörtlich übersetzt heißen: Die Weisheit
des anderen Ufers, sie stellen grandiose Einübungen in die Kunst des parado-
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denschaftlich jede Verfestigung der buddhistischen Doktrin bekämpft. Auch
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xalen Redens dar. Oder das berühmte Ratnakūtah, der Juwelenhaufen, der lei-
Nagarjuna, der mastermind des Mahayana-Buddhismus haut mit seiner Lehre
vom mittleren Weg in dieselbe Kerbe: die Dinge sind und sie sind nicht, das Ich
ist und das Ich ist nicht, der Buddha ist und der Buddha ist nicht. Immer gelte es,
einen mittleren Weg zwischen den Extremen zu finden, und dazu müsse man
immer seinen Ausgang nehmen bei der konventionellen Sicht, den Existenzaussagen und der dort zugrundeliegenden Subtanzontologie. Das Ich und das Selbst
und die Person, sie existieren also zweifellos, wer hingegen die Existenz bezweifelt und sich vorstellend an die Leerheit wendet und an die Leerheit glaubt,
der sei verloren, erklärt der Buddha im Ratnakūtah. Weshalb? Nun, weil er aus
der Leerheit ein Konzept zimmert, einen Begriff. Die wahre Betrachtung muss
hingegen über das Korsett der Begriffe hinausgelangen. Hören Sie, als intellektuelle Kostprobe, die Lehre vom mittleren Weg:
‚Selbst (ātmā)', Kāśyapa, das ist ein Extrem. ,Nichtselbst (nairātmyam)',
Kāśyapa, das ist ein zweites Extrem. Was zwischen diesen beiden, dem
Selbst und Nichtselbst in der Mitte liegt, das ist formlos, unzeigbar, ohne
Erscheinungsbild, ohne Erkennen, ohne Halt und ohne Kennzeichen. Das
nennt man, Kāśyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung
der Gegebenheiten. […] ‚Richtiges Erkennen (bhūtacittam)', Kāśyapa, das
ist ein Extrem. ,Unrichtiges Erkennen', Kāśyapa, das ist ein zweites Extrem. Wo es, Kāśyapa, keinen Geist, kein Denken und kein Erkennen gibt,
das nennt man, Kāśyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. […] ,Sein’, Kāśyapa, das ist ein Extrem.
,Nichtsein’, Kāśyapa, das ist ein zweites Extrem. Was zwischen diesen beiden Extremen in der Mitte liegt, das nennt man, Kāśyapa, den mittleren
Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. (Ratnakūtah,
§§ 57, 58, 60. Zit. nach: Erich Frauwallner: Die Philosophie des Buddhismus. Berlin 1956, S. 164)
4. Das empirische Selbst
Grund zu suchen, auf dem wir stehen können. So wie es gerade um uns intellek-
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das Sagen ist erschüttert. Und so sind wir nun ausreichend verwirrt, um neuen
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Ja, sagen Sie selbst: was kann man dazu noch Sinnvolles sagen? Der Glaube an
tuell steht, das haben die Schüler des Buddha immer wieder erfahren müssen.
Kurz blitzt es auf, eine Einsicht formiert sich, doch nur für einen flüchtigen
Moment. Die wahre Einsicht, sie ist intellektuell nur ephemer zu haben. Oder
sagen wir es anders: sie ist nur zu erleben in der Fülle des sinnhaften Augenblicks, wenn die paradoxale Rede das Korsett der semantischen Grammatik zerbricht. Hier, an diesem so schwer zu beschreibenden Ort, hier haben wir den Unterschied von Orient und Okzident.
Doch wir wollen und müssen nun wieder zurück zur Sprache, zum Diskurs, zur
Philosophie. Lassen Sie mich gleichsam unterhalb der paradoxen Wahrheit des
mittleren Weges, des madhyamika, einzelne buddhistische Gewissheiten über
das Ich und das Selbst sammeln. Denn zweifellos, wir haben es gehört: das Ich
existiert. Nicht die Frage, ob es existiert, sondern die Frage, wie das Ich existiert,
ist von buddhistischem Interesse. Mir hat diese feine Differenzierung, aufgeschnappt von den Mönchen am Dalai-Lama-Institut in Dharamsala, die Augen
geöffnet für die Subtilitäten, in die die buddhistische Philosophie das Ich wattiert. Erste Antwort, modo negativo: das Ich existiert nicht als kernhaftes Selbst.
Wie lautet die Antwort positiv gewendet?
Der Buddha hatte den Begriff der Person in die sogenannten fünf Aneignungsgruppen (skandha) aufgefächert. Diese fünf Aneignungsgruppen konstituieren
so etwas wie die empirische Person. Sie sind: (1) Körperlichkeit, rupa auf
Sanskrit, das ist die physische Erscheinung der Person. Mit den (2) Empfindungen und Gefühlen, vedana auf Sanskrit, bindet sich die Person emotional an die
Welt. (3) Die Gestaltungen, samskara auf Sanskrit oder sankhara auf Pali sind
geistige Bildekräfte wie die Intentionen, die Interessen, die Motivationen, der
Wille. Sodann (4) die Wahrnehmung, die eine etwas unglückliche Übersetzung
Bewusstsein selbst, vijnana. Die Person, so lehrte der Buddha, sei nichts als das
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ves Moment mitgeht, und schließlich, als (5) fünfte Gruppe des Ergreifens, das
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des Terminus samjna darstellt, in dem ein starkes kognitives, nämlich denkakti-
Konglomerat dieser Aneignungsgruppen, dieser skandhas, es gebe dahinter kein
eigentliches Selbst, das als ein autonomer Regisseur die Aneignungsgruppen
dirigiere. Weshalb aber setzt der Buddhismus das personale Selbst mit Aneignungsgruppen gleich?
Nun, lassen Sie mich die Antwort darauf in einer eigenen kleinen Phantasie beschreiben. Ich versuche, mich in eine bewusste Intelligenz hineinzuversetzen,
das fällt nicht besonders schwer, das ist kein Hexenwerk. Das sind wir ja alle,
jeder von uns. Jede dieser bewussten Intelligenzen – und das gilt umso stärker
noch von den höheren Formen von Bewusstsein, von Selbstbewusstsein also –
findet sich als eine Identität vor, die wie ein fester Kern auftritt und die Welt
sich gegenüber hat. Ich finde einen festen Stand in mir, ich schaue wie aus einem Gehäuse hinaus und sehe dort ebenfalls Einzelnes, das mir als Einzelnes
begegnet oder das sich zu Gruppen und Ereignissen arrangiert. Wie dem auch
sei, ich fahre hinaus aus dem Gehäuse meiner Identität, ich betaste die Welt, ich
nehme sie wahr mit meinen Sinnen, ich werfe meine Willenskraft hinaus in die
Welt, ich bekunde denen dort draußen einige meiner Gefühle, andere halte ich
zurück, wieder andere meiner Gefühle schwingen wie ein Nachhall der Welt in
mir, oft unverstanden und bisweilen sogar beängstigend. Ich habe ein eindeutiges Körpergefühl, ich weiß, wo ich aufhöre und wo die Außenwelt beginnt. Und
mit meinen geistigen Kräften hantiere ich in einem Bewusstseinsraum, den kein
anderer teilt, ja, mit meinem Verstand fahre ich in die Welt hinaus wie mit meinen Sinnen, nur weiter kann ich ihn ausziehen als die Arme, ich kann mit ihm
dort noch sehen und folglich auch handeln, wo meine Augenkraft längst schon
aufgehört hat. Aber die Strategie, mit der ich aus meinem Gehäuse hinausfahre,
diese Strategie ist jedes Mal dieselbe: ich trachte danach, mir Welt anzueignen
und mich dabei von allem anderen abzugrenzen. Ich will Welt konsumieren, oh-
Seite
ten, diese Verhältnisse bekräftige ich in jeder meiner Handlungen. Mein eigenes
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ne dabei mich aufzulösen in ihr, nein, die Verhältnisse festgestampfter Identitä-
Bewusstsein ist wie eine Burg, auf der ich mich verschanze und von der ich
meine Ausfälle wage.
Das Ich als Konglomerat von Aneignungsgruppen – der Terminus skandha oder
upādānaskandhāh betont die weltimperiale Strategie des Ich. Ich hafte an mir
selbst wie auch an der Welt an. Und das ist leiderzeugend. Davon spricht ein
weiteres kanonisches Sutra, das Sutra des Lastträgers. Bhārahārasūtram. Ich
zeige es Ihnen auf einer Folie:
So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene in Śrāvastī, im
Jetavana, dem Garten des Anāthapindada. Da sprach der Erhabene zu
den Mönchen:
„Ich will euch, ihr Mönche, die Last darlegen, das Aufnehmen der
Last, das Ablegen der Last und den Träger der Last. Hört also und
achtet wohl und gut darauf. Ich werde zu euch sprechen.
Was ist die Last? Die fünf Gruppen des Ergreifens (upādānaskandhāh). Welche fünf? Die Körperlichkeit als Gruppe des Ergreifens, die
Empfindung als Gruppe des Ergreifens, das Bewußtsein als Gruppe
des Ergreifens, die Gestaltungen als Gruppe des Ergreifens und das
Erkennen als Gruppe des Ergreifens.
Was ist das Aufnehmen der Last? Es ist der Durst, der zur Wiedergeburt führt, der von Wohlgefallen und Begierde begleitet da und dort
Gefallen findet.
Was ist das Ablegen der Last? Es ist das restlose Aufgeben, das Zurückweisen, das Abschütteln, das Schwinden, die Ablehnung, die
Aufhebung, das Versiegen, das Untergehen des Durstes, der zur Wiedergeburt führt, der von Wohlgefallen und Begierde begleitet da und
dort Gefallen findet.
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Darauf sprach der Erhabene noch folgende Verse: "Wenn man die
schwere Last abgelegt hat, darf man sie nicht wieder neuerlich aufnehmen. Die schwere Last bringt großes Leid, das Ablegen der Last
bringt große Freude. Man muß allen Durst vernichten, dann schwin-
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Wer ist der Träger der Last? Darauf wäre zu antworten: die Person, d.
h. jener Ehrwürdige, der diesen und diesen Namen trägt, der solcher
Abkunft ist, aus diesem und diesem Geschlechte stammt, solche Nahrung zu sich nimmt, solche Lust und solches Leid empfindet, dessen
Leben soundso lange dauert, der soundso lange besteht, und dessen
Lebenszeit soundso begrenzt ist. Das nennt man die Last, das Aufnehmen der Last, das Ablegen der Last und den Träger der Last."
den alle Gestaltungen. Wenn man die restlichen Objekte klar erkennt,
dann gibt es keine Wiedergeburt mehr."
Dies sprach der Erhabene. Freudig begrüßten die Mönche die Rede
des Erhabenen.
Zentral in diesem Sutra sind die 5 skandhas, die Aneignungsgruppen, von denen
ja gerade ausführlicher die Rede war, und sodann der Durst, tanha. Der Durst ist
Daseinsdurst wie auch Welthunger. Anhaften also an sich selbst und an den
Weltphänomenen. Der Daseinsdurst wirft uns das Problem unserer Endlichkeit
und des Todes auf, der Daseinsdurst erzeugt also leidhafte Existenzängste. Der
Welthunger dagegen gebiert die Gier, die uns rastlos und maßlos von Weltphänomen zu Weltphänomen hasten lässt und uns zu Getriebenen macht, die ihre
Autonomie preisgegeben haben. Das wäre also die Last, von der das Sutra
spricht, und das Ablegen der Last erfolgt vom Versiegen des Durstes her. Es ist
buddhistische Überzeugung, dass die Grammatik des kernhaften Selbst den
Welthunger verantwortet, infolgedessen führt der Weg zum Ablegen der Last
nur über eine grundlegende Veränderung im Selbstverständnis des Ich.
5. Personalistische Strömungen im Buddhismus
Ich habe Ihnen nur die Hälfte des Sutras gezeigt. Es ist ja mit Sutra des Lastträgers betitelt. Wo aber findet sich der Träger? Nun, dazu gleich mehr, die Ihnen
verschwiegene Passage hat zu einer unorthodoxen Lesart geführt. Natürlich
möchte ich mit Ihnen nun auch noch diesen Weg gehen, doch bevor ich dazu
aufbreche, seien ein paar kurze Bemerkungen zur Schulentwicklung im Buddhismus angebracht.
Als der Buddha starb, da hatte er keinen seiner Mönche zum Nachfolger erko-
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Lieblingsschüler Ananda sprach er:
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ren. Es sei alles gesagt, meinte er, er habe nichts zurückgehalten. Zu seinem
Wer es so meint, Ananda, ‚Ich will die Gemeinde der Mönche leiten’,
oder ‚Nach mir soll die Gemeinde der Mönche sich richten’, der
möchte über die Gemeinde der Mönche sein Wort sprechen. Der Vollendete aber, Ananda, meint es nicht so ... So verharrt denn also, Ananda, dass Ihr eure eigene Leuchte und eure eigne Zuflucht seid, dass
nichts anderes eure Zuflucht ist, dass die Lehre eure Leuchte, die Lehre eure Zuflucht, nichts anderes eure Zuflucht ist...“
(Dighanikaya, Nr. 16. Zitiert nach: Die Reden des Buddha. Übersetzt
und eingeleitet von Hermann Oldenberg, Freiburg 2000, S. 144f )
Die Lehre selbst solle also die letzte Autorität bleiben, nicht aber eine Führerpersönlichkeit oder eine Institution. Zudem hatte der Buddha vor der Zweifelsucht gewarnt, vor einer überstarken Ausrichtung auf philosophische Fragen. Er
liebte keine abstrakten Debatten, er wollte vor allem eine Heilslehre in die Welt
bringen. Andererseits hatte er ja auf dem Sterbebett seine Mönche ausdrücklich
an die Lehre verwiesen, dort würden sie alles finden, was sie brauchten. Der
Buddha hatte damit der buddhistischen Philosophie den Weg gewiesen, als
gleichsam postmortale Epoche des Buddhismus. Solange er gelebt hatte, brauchte es der Philosophie nicht, nun aber, wo die Mönche nur auf ihr Verständnis der
Lehre verwiesen waren, nun stellte sich plötzlich eine philosophische Situation
dar. Diese philosophische Situation aber brachte wie automatisch den Pluralismus der Meinungen zum brodeln, und dadurch entstanden die philosophischen
Schulen. Die Buddhismen, um es etwas überpointiert zu sagen, sind ein Resultat
eines veränderten Klimas: der Buddhismus trat in sein philosophisches Zeitalter
ein.
Die philosophische Schulbildung setzte mit dem Verlauf des zweiten Konzils in
Vaiśālī ein, das etwa einhundert Jahre nach dem Tod des Buddha stattgefunden
hatte, 380 oder 381 v. Chr. Es wurde auch als das Trennungskonzil bekannt, auf
dem sich zwei Hauptrichtungen herausbildeten, die sich später dann zum
Doch später dann ging es philosophischer zu Sache, die Debatten fokussierten
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ten trugen noch überwiegend soteriologische Meinungsverschiedenheiten aus.
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Theravada und Mahayana-Buddhismus herausbildeten. Die anfänglichen Debat-
sich auf die Frage nach dem Selbst sowie auf die Frage nach der Natur des
Wirklichen. Um etwa 280 v. Chr. entwickelte sich aus der sogenannten Schule
der Älteren, des Sthaviravāda, der Urform des Theravada-Buddhismus, die Lehre von der Person. Sie geht auf einen Philosophen namens Vatsīputriya zurück
und ist unter dem Namen Pudgalavāda bekannt geworden. Und nun kann ich
die vorhin verschwiegene Passage aus dem Sutra des Lastträgers aufdecken.
Wer ist der Träger der Last? Darauf wäre zu antworten: die Person, d.
h. jener Ehrwürdige, der diesen und diesen Namen trägt, der solcher
Abkunft ist, aus diesem und diesem Geschlechte stammt, solche Nahrung zu sich nimmt, solche Lust und solches Leid empfindet, dessen
Leben soundso lange dauert, der soundso lange besteht, und dessen
Lebenszeit soundso begrenzt ist. Das nennt man die Last, das Aufnehmen der Last, das Ablegen der Last und den Träger der Last."
Vatsīputriya ließ sich von diesem Sutra inspirieren zu seiner Lehre von der Person. Er sann nämlich über die Frage nach, wie man begreifen solle, weshalb sich
überhaupt jemand auf den buddhistischen Weg begibt, wenn doch die Erleuchtung und das Eingehen in das Nirwana dieser Person offenbart, dass sie bislang
fälschlicherweise geglaubt hat, sie sei eine Person. Anders gesagt: wenn „ich“ es
nicht mehr bin, der des Nirwana teilhaftig wird, dann werde „ich“ um den Lohn
des ganzen Weges betrogen. Zwar kann man immer noch argumentieren, das
Vokabular von Arbeit und Lohn sei völlig unzutreffend, um den Glanz des Nirwana zu fassen. Aber Vatsīputriya war mit dieser Wendung, mit dieser sprachphilosophische Wendung des Problems nicht mehr zufrieden. Er sann auf eine
andere Lösung. Er meinte, es gebe eine unerkennbare Person, die als Träger des
Karma fungiere und die durch die einzelnen samsarischen Existenzen wandere.
Diese Person werde also jeweils wieder geboren, sie übernehme das aus früheren Existenzen angehäufte Karma, und sie sei es auch, die die Befreiung vom
Samsara erlangen und die im erlösten Zustande dann in Nirvana fortbestehen
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könne.
Die Schwierigkeit, vor der sich Vatsīputriya sah, war die folgende: wenn der
Buddha doch ausdrücklich die Person als Agglomerat der fünf Aneignungsgruppen verstanden und gelehrt hatte, so musste seine, des Vatsīputriya Lehre, damit
kompatibel sein. Es gebe also eine Person, so lehrte er, die mit den Aneignungsgruppen nicht verschieden ist, die mit ihnen aber auch nicht identisch ist. Das ist
nicht leicht zu verstehen, aber vielleicht können wir uns mit einer uns bekannten
Brücke behelfen, die da lautet: das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner
Teile. Die fünf Aneignungsgruppen bilden ja ein Ganzes, und dieses Ganze sei
die Person, die über eine einzelne samsarische Existenz hinaus Bestand hat. Dieses Ganze gewinnt aber keine eigene Unabhängigkeit gegenüber den Teilen, die
Person steht und fällt mit den Aneignungsgruppen, sie ist keine unabhängige
Instanz.
6. Buddhistische Positionen der Subjektivität
In der Welt des philosophischen Diskurses bringt mitunter ein kleines Steinchen
einen ganzen Hang ins Rollen. Sehr bald kam die gerade kurz umrissene Position des Pudgalavāda unter Druck, denn man sah in ihr die Anatman-Lehre des
Buddha unterhöhlt. Und so formierte sich – gleichsam als Korrektur – gegen
244 v.Chr. die Schule des Sarvāstivāda. Der Name leitet sich ab von sarvam
asti, was soviel wie „alles existiert“ bedeutet. Sie setzte alles daran, die Anatman-Lehre des Buddha philosophisch zu untermauern. Ich will dem jetzt nicht
mehr im Detail nachgehen, uns genügt ein skizzenhafter Blick über die Grundidee dieser Schule. Sie verwirft die Person als Träger der Last und ersetzt sie
durch sogenannte dharmas. Der Sanskritausdruck dhar bedeutet so viel wie
‚tragen‘, er ist überaus schillernd, denn auch die Lehre des Buddha wird als
rie des Demokrit, nur dass sie keinen physikalischen, sondern einen psychischen
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auch das dharma als kleinstes psychisches Element, ganz ähnlich der Atomtheo-
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Buddha-Dharma bezeichnet. Die Sarvāstivāda-Schule versteht darüber hinaus
Atomismus vertritt. In aufwändigen Herleitungen begründet sie, wie die gesamte
psychische Realität, also die Welt des Bewusstseins, ja die gesamte Welt der
fünf Aneignungsgruppen, wie also diese psychische Welt als Konfiguration aus
insgesamt 75 dharmas aufgebaut ist. Diese dharmas gehören aber auch hinwiederum der Welt der Illusionen an. Wenn also, um ein Beispiel zu geben, die
Buddhisten sich des historischen Buddha Shakyamuni erinnern oder den kommenden Buddha Maitreya erwarten, dann tritt bei ihnen der dharma der Erinnerung oder Erwartung in Aktion, - während es doch ausgemacht bleibt, dass Buddha Shakyamuni in das Parivirvana eingegangen ist und somit nicht mehr in der
Welt der Ereignisse existent ist. Anders gesagt: für Buddha Shakyamuni haben
die dharmas aufgehört zu existieren, nicht aber für das unerleuchtete Leben.
Nun, auch diese Vorstellung einer psychischen Dharma-Realität geriet in den
Verdacht, der Upanishaden-Lehre vom atman die Hintertür zu öffnen, und das
bereitete den Boden für die vielleicht modernste Subjektivitätstheorie des Buddhismus, die Schule des Sautrāntika.
Der Name dieser Schule ist wiederum Programm. Sautrāntika, das ist die Rückkehr zu den Sūtras als der allein verbindlichen Autorität für die Lehre. Aber das
nur am Rande, wenden wir unsere Aufmerksamkeit gleich ihrer innovativen
Idee. Subjektivität, das sei keine über die Zeit hinweg stabil sich haltende Identität, sondern ein unablässiger Fluss von kurzen Momenten, die einander ablösen
und die jeweils ihre Nachfolger determinieren. So entstehe ein Bewusstseinsstrom. Dieser Bewusstseinsstrom finde sein Pendant, seine Parallele, als eine Art
Weltstrom. Auch die Welt sei ein Strom von kurzen Augenblicken, die sich kontinuieren und eine Weltlinie bilden, ein Strom von kurzen Augenblicken, die ein
Kontinuum bilden. Das Sautrāntika vertritt dabei, jene Parallele von Bewusst-
selbst ist. Unsere Denkprozesse sind demnach kein Abbild der äußeren Realität,
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lich keine objektive Gegebenheit ist, sondern eine Projektion des Bewusstseins
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seinsstrom und Weltstrom vor Augen, die Auffassung, dass der Weltstrom letzt-
vielmehr laufen sie in einer eigenen Gedankenreihe ab, und zwar nach einer eigenen Logik. Es ist, als wäre das Bewusstsein eine Art Welt in der Welt, ein
Kasten im Kasten, und was wir für die äußere Welt halten, das erschließen wir
uns ganz aus unserer inneren. „Es gibt zwischen außen und innen keine Ursachenkette, durch die etwa das Leiden, das im inneren empfunden wird, hervorgerufen wird,“ so kommentiert der Indologe Heinrich Zimmer das Sautrāntika,
und er fährt fort: „Die Qualen der Hölle, die Freuden des Himmels und die gemischten Gaben der Welt, sie alle sind gleichermaßen Denkbilder, erzeugt nicht
durch äußere Tatsachen, sondern durch vorausgehende geistige Ursachen, wobei
jede Gedankenkette die mehr oder minder dauerhafte Macht einer besonderen
Art von Unwissenheit oder Verzauberung darstellt.“ ( Heinrich Zimmer: Philosophie und Religion Indiens. Frankfurt 1973, S. 459f)
Nun, beenden wir hier unseren kurzen Rundgang durch die Welt der philosophischen Subjektivitätstheorien des Buddhismus. Sie alle versuchen, philosophisch
in jene Zwischenzone vorzustoßen, die der Buddha mit seiner paradoxen Lehre
vom mittleren Weg markiert hatte. Zur Erinnerung sei das Sutra noch einmal
zitiert:
‚Selbst (ātmā)', Kāśyapa, das ist ein Extrem. ,Nichtselbst (nairātmyam)',
Kāśyapa, das ist ein zweites Extrem. Was zwischen diesen beiden, dem
Selbst und Nichtselbst in der Mitte liegt, das ist formlos, unzeigbar, ohne
Erscheinungsbild, ohne Erkennen, ohne Halt und ohne Kennzeichen. Das
nennt man, Kāśyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung
der Gegebenheiten.
Die Subjektivitätsphilosophien versuchen demnach, mit ihren Theoremen diese
Mitte zu bebildern. Also zu zeigen, was sich nicht zeigen lässt. Und darin liegt
eine Pointe, auf die ich ganz am Ende meines Vortrages noch zu sprechen kom-
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me.
7. Buddhismus und Neurophilosophie
Zu Beginn meines Vortrages habe ich ein persönliches Bekenntnis abgelegt, als
ich sagte, mich interessiere vor allem die Anschlussfähigkeit der buddhistischen
Philosophie an die intellektuell-wissenschaftliche Situation unserer Gegenwart.
Daraufhin möchte ich nun meinen Vortrag runden.
Nach dem kleinen Streifzug durch die Subjektivitätstheorien bietet sich der
Übergang zu neurophilosophischen Konzepten von Selbstbewusstsein geradezu
an.
Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist das Selbst ein biologisches Datenformat.
Für den interzellulären Informationsaustausch im Neuronengefüge ist die Natur
äußerst konservativ verfahren, sie hat seit Anbeginn an, seit der Evolution von
Nervensystemen, immer dasselbe Modell angewandt. Innovativ aber ist die Natur im Aufbau von Bewusstsein, denn dabei hat sie erfolgreich die Konstruktion
der Selbstanwendung verfolgt, indem sie Repräsentationen und Metarepräsentationen übereinander stapelte. Um eine Größendimension dazu einmal anzugeben: Wenn man den Informationsfluss innerhalb des Cortex mit demjenigen Informationsfluss vergleicht, der von anderen Hirnpartien in den Cortex gelangt,
dann kommt man auf ein Verhältnis von 100.000 zu 1. Das bedeutet, etwas vereinfacht gesagt: unser Kopf beschäftigt sich 100.000 mal intensiver mit sich
selbst als mit den Informationen, die von der Außenwelt in ihn einströmen. Aus
naturwissenschaftlicher Sicht entstehen Bewusstsein und Selbstbewusstsein allein durch die gigantische Pyramide von Metarepräsentationen. Gleichwohl: das
Ganze ist und bleibt ein physikalisch-chemisches System. Das Resultat aber ist
die Welt bewussten Lebens mit der Evidenz eines erlebenden Ich bei den
chem Vokabular, denn der Beschreibung fehlt der Marker der Jemeinigkeit. Die
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meine Rotempfindung. Ein Quale ist nicht beschreibbar mit naturwissenschaftli-
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höchstentwickelten Spezies. Und dieses Ich erlebt Qualia, wie zum Beispiel
Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive können prinzipiell
nicht in ein Meta-Vokabular überführt werden. Hier gibt es also ein epistemisches Übersetzungsproblem.
Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger hat seine Theorie des Ego-Tunnels
genau auf die epistemische Kante jenes Übersetzungsproblems genäht. Die Evolution, so seine These, hat physikalische Systeme geschaffen, die in ihren Metarepräsentationen die robuste Fiktion eines Selbst erzeugen. Das Selbst kann
nicht durchschauen, dass es fiktiv ist. Fiktiv, das soll heißen: das phänomenale
Selbstmodell hat ein Bild erzeugt, das Bild eines Selbst und eines narrativ gestalteten subjektiven Lebens. Aus eigenen Ressourcen kann das Selbst seinen
Bildcharakter und damit die Genese seiner Erzeugung nicht einsehen, es verbleibt aus Gründen der Stabilität in einem geschlossenen Raum, in einem EgoTunnel. Das Selbst verfügt über keine Möglichkeit, mithilfe einer MetaRepräsentation seinen Bildcharakter zu entlarven.
Nun, die buddhistische Philosophie setzt genau hier an. Ihr Ziel ist es, die atman-Vorstellung zu erschüttern. Das Selbst, das atman, ist ein Bild und nichts
weiter. Zudem ist es ein irriges Bild, es ist eine Vorstellung, die leiderzeugend
sei. Dabei darf man das, was der Buddhismus unter Leid, dukha, versteht, nicht
auf körperliches oder mentales Leid verkürzen. Über das individuelle Leid hinaus reicht das universelle oder das essentielle Leid, das die schmerzvolle Erfahrung meint, dass alles Leben in den karmischen Kreislauf von Werden und Vergehen eingespannt ist, dass wir alle unsere Rollen spielen müssen und dass wir
dem Maskenspiel des Lebens verhaftet sind. Doch zurück zur Hauptlinie: die
buddhistischen Schulen versuchen allesamt, den Bildcharakter des Selbst zu
demaskieren, indem sie erklären, wie dieser Bildcharakter zustande kommt. Ob
wusstseinsstrom, in all diese Modelle bieten Erklärungsbilder, deren Bildcharak-
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Selbst der fünf Aneignungsgruppen, ob als illusorische dharmas oder als Be-
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als ephemeren und fragilen Hauch von personaler Ganzheit des empirischen
ter zwar durchschaut ist für den Philosophen, die aber vom konventionellen Bewusstsein zu festen Wesenheiten versteift werden, womit die Illusion eines
Selbst erzeugt wird.
Die buddhistische Philosophie möchte also, wie die Neurowissenschaften auch,
hinter die Bühne zu schauen, auf der das Selbst agiert. Vorhin sagte ich, dem Ich
sei es aus eigenen Ressourcen nicht möglich, sein robustes Selbst infrage zu
stellen. Steht das nun nicht im Widerspruch zur Aussage, die buddhistische Philosophie wie auch die Neurowissenschaften täten genau dies, nämlich die Infragestellung des robusten Ich? Nun, der Widerspruch löst sich auf, wenn man darauf achtet, dass Philosophie und Wissenschaften zu Metareflexionen nur aus
theoretischer Distanz fähig sind, also nur aus der Dritten-Person-Perspektive.
Die Erste-Person-Perspektive bleibt davon unberührt. Anders gesagt: selbst die
überzeugendste Theorie bleibt Theorie. Selbst das überzeugendste Argument
kann das Erleben eines robusten Selbst nicht erschüttern.
Kehren wir ein letztes Mal zur buddhistischen Tradition zurück. Der Buddha hat
die anatman-Überzeugung durch sein Erleuchtungserlebnis erlangt, durch vierzigtätige Meditation unter dem Bodhi-Baum. Das buddhistische anatman ist
demnach nicht die Frucht einer philosophischen Theorie oder einer wissenschaftlichen Forschung, sondern eines meditativen Erlebnisses. Das robuste
Selbst stellt sich nicht durch Metarepräsentationen infrage, sondern durch das
Stillstellen, das Auslöschen von Repräsentationen. Anders gesagt: die buddhistische Erfahrung durchbricht den Königsweg, auf dem die biologische Entwicklung das Selbst evolviert hat. Als ein Spätprodukt der Evolution des Selbst muss
man auch die Philosophie ansehen, denn auch die Philosophie folgt dem Modell
von Metarepräsentationen in der Variante der Metareflexionen. Auch die Philo-
Seite
atemraubenden Begriff von Praxis.
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sophie wird letztlich durchbrochen. Und das öffnet für einen ganz neuen und
Es wäre eine eigene, reizvolle und gewiss faszinierende Aufgabe, hier, an diesem Punkt meines Diskurses, einen Begriff von philosophischer Praxis zu entwickeln, der dieser Entmachtung des Philosophischen Raum gibt.
Wie dieser Begriff philosophischer Praxis aussieht und ob sich sinnvoll mit ihm
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arbeiten lässt, vermag ich selbst nicht zu überschauen.
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