36 Eigenwerte und Eigenvektoren 36 161 Eigenwerte und Eigenvektoren Viele Probleme in Naturwissenschaften und Technik, insbesondere Schwingungsprobleme, führen auf das Problem der Bestimmung von Eigenwerten. 36.1 Definition. Es seien E ein Vektorraum über K und T ∈ L(E) ein linearer Operator auf E . Für eine Zahl λ ∈ K heißt E(T ; λ) := N(λI − T ) = {x ∈ E | T x = λx} (1) Eigenraum von T in λ . Die Zahl λ ∈ K heißt Eigenwert von T , falls E(T ; λ) 6= {0} gilt. In diesem Fall heißen die Elemente von E(T ; λ)\{0} Eigenvektoren von T zum Eigenwert λ ∈ K . Die Menge aller Eigenwerte von T heißt Spektrum σ(T ) von T . Weiter heißt γ(T ; λ) := dim E(T ; λ) (2) geometrische Vielfachheit des Eigenwerts λ ∈ σ(T ) . 36.2 Bemerkungen. a) Ein Vektor 0 6= v ∈ E ist also genau dann Eigenvektor von T ∈ L(E) zum Eigenwert λ ∈ K , wenn T v = λv gilt. b) Für eine quadratische Matrix A ∈ Kn×n lassen sich die soeben definierten Begriffe genauso oder durch Anwendung auf L(A) ∈ L(Kn ) erklären. c) Ähnliche Matrizen besitzen die gleichen Eigenwerte. Ist in der Tat B = S −1 AS und Av = λv für v 6= 0 , so folgt BS −1 v = λS −1 v und S −1 v 6= 0 . 36.3 Beispiele. a) Für A = 2 0 0 3 ! gilt Ae1 = 2e1 und Ae2 = 3e2 . b) Allgemeiner gilt für eine Diagonalmatrix D = λ1 0 . . . 0 0 λ2 · · · 0 .. . . . . . . . .. . 0 · · · 0 λn := diag(λ1 , . . . , λn ) offenbar Dej = λj ej ; die Einheitsvektoren ej sind also Eigenvektoren zu den Eigenwerten λj . d c) Es sei λ ∈ K Eigenwert des Operators dx auf Rm [x] . Aus P ′ = λP folgt P (k) = λk P für alle k ∈ N , also λm+1 = 0 und somit λ = 0 . Es gilt also d d d σ( dx ) = {0} ; nach 20.5 hat man E( dx ; 0) = R0 [x] und γ( dx ; 0) = 1 . 36.4 Satz. Es seien E ein Vektorraum mit dim E = n < ∞ und T ∈ L(E) . Eine Zahl λ ∈ K ist genau dann Eigenwert von T , wenn det(λI − T ) = 0 ist. Beweis. Nach Definition 36.1 ist λ ∈ K genau dann ein Eigenwert von T , wenn λI − T nicht injektiv ist. Die Behauptung folgt somit aus Satz 35.13. 162 V. Lineare Algebra 36.5 Charakteristisches Polynom. a) Es ist χT (λ) := det(λI − T ) ∈ Kn [λ] ein Polynom vom Grad n in λ , wie man induktiv anhand einer Matrix-Darstellung von T sieht. χT heißt charakteristisches Polynom von T . b) Es gilt also σ(T ) = {λ ∈ K | χT (λ) = 0} . Somit hat T höchstens n Eigenwerte. c) Nach dem Fundamentalsatz der Algebra 8.3 hat T mindestens einen Eigenwert in C . Nach Satz 8.5 zerfällt χT über C in Linearfaktoren, d. h. es gilt χT (λ) = r Q (λ − λj )αj j=1 für σ(T ) = {λ1 , . . . , λr } und r P j=1 αj = n . (3) Die Nullstellenordnung α(T ; λj ) = αj von χT in λj ∈ σ(T ) heißt algebraische Vielfachheit dieses Eigenwerts. ! ! 1 1 λ − 1 −1 36.6 Beispiel. Für A = ist λI − A = und somit 0 2 0 λ−2 χA (λ) = det(λI − A) = (λ − 1)(λ − 2) . Folglich gilt σ(A) = {1, 2} . !Wir bestim0 −1 men zugehörige Eigenvektoren: Für λ1 = 1 ist ist I − A = und somit 0 −1 ! 1 −1 und (1, 1)⊤ ein Eigenvektor zum (I − A)e1 = 0 . Weiter ist 2I − A = 0 0 Eigenwert 2 . ! 0 1 36.7 Beispiel. a) Für A = ist χA (λ) = det λI − A = λ2 + 1 . Somit −1 0 besitzt A keine reellen Eigenwerte. Wegen A cos ϕ sin ϕ ! = sin ϕ − cos ϕ ! cos(ϕ − π2 ) sin(ϕ − π2 ) = ! , ϕ ∈ R, beschreibt A die Drehung der Ebene R2 um den Winkel − π2 und besitzt daher offenbar keine reellen Eigenvektoren. Die komplexen Eigenwerte sind λ1 = i und λ2 = −i ! . Wir bestimmen zugehörige i −1 und (1, i)⊤ ein Eigenvektor. Eigenvektoren: Für λ1 = i ist i · I − A = 1 i ! −i −1 und (1, −i)⊤ ein Eigenvektor. Für λ2 = −i ist −i · I − A = 1 −i 1 2 3 λ−1 −2 36.8 Beispiel. a) Für A = 4 3 −2 gilt χA (λ) = (λ − 5) −4 λ−3 0 0 5 (λ − 5)(λ2 − 4λ − 5) = (λ + 1)(λ − 5)2 . = −2 −2 −3 ⊤ b) Für λ1 = −1 hat man −I − A = −4 −4 2 , und (1, −1, 0) ist ein 0 0 −6 Eigenvektor. 36 Eigenwerte und Eigenvektoren 163 4 −2 −3 c) Für λ2 = 5 hat die Matrix 5I − A = −4 2 2 den Rang 2 ; trotz 0 0 0 α(A; 5) = 2 gibt es also nur einen linear unabhängigen Eigenvektor, nämlich (1, 2, 0)⊤ . 36.9 Definition. Es sei E ein Vektorraum mit dim E = n < ∞ . Ein linearer Operator T ∈ L(E) heißt diagonalisierbar, wenn E eine Basis aus Eigenvektoren von T besitzt. 36.10 Beispiele und Bemerkungen. a) Ist V = {v1 , . . . , vn } eine Basis von E mit T vj = λj vj für j = 1, . . . , n , so ist MV (T ) = diag(λ1 , . . . , λn ) eine Diagonalmatrix. Eine Matrix A ∈ Kn×n ist genau dann diagonalisierbar, wenn sie zu einer Diagonalmatrix ähnlich ist. d aus Beispiel 36.4 und die Matrix aus Beispiel 36.8 sind nicht b) Der Operator dx diagonalisierbar. Die Matrix aus Beispiel 36.7 ist über C diagonalisierbar, die aus Beispiel 36.6 auch über R . c) Eine Matrix A ∈ Kn×n sei diagonalisierbar mit S −1 AS = D = diag(λ1 , . . . , λn ) . Dann gilt ASej = SDej = λj Sej , d. h. wir können als Spalten von S linear unabhängige Eigenvektoren von A wählen. ! 1 1 aus Beispiel 36.6 ist wählen wir S = d) Für die Matrix A = 0 2 ! 1 −1 −1 sowie S −1 AS = diag(1, 2) . und erhalten S = 0 1 1 1 0 1 ! 36.11 Satz. Es seien E ein Vektorraum und T ∈ L(E) . Eigenvektoren {v1 , . . . , vr } zu verschiedenen Eigenwerten {λ1 , . . . , λr } sind linear unabhängig. Beweis. Andernfalls hat man vk = αj ∈ K . Aus 0 = (λk I − T )vk = P j6=k P j6=k αj vj für ein 1 ≤ k ≤ r und geeignete αj (λk − λj ) vj folgt dann αj = 0 für j 6= k , also der Widerspruch vk = 0 . 36.12 Folgerung. Es sei E ein Vektorraum mit dim E = n < ∞ . Ein Operator T ∈ L(E) mit n verschiedenen Eigenwerten ist diagonalisierbar. 36.13 Satz. Es seien E ein Vektorraum mit dim E = n < ∞ und T ∈ L(E) . a) Dann gilt γ(T ; µ) ≤ α(T ; µ) für alle µ ∈ σ(T ) . (4) b) Es ist T genau dann diagonalisierbar, wenn γ(T ; µ) = α(T ; µ) für alle Eigenwerte µ ∈ σ(T ) gilt. 164 V. Lineare Algebra Beweis. a) Wir wählen eine Basis {v1 , . . . , vr } von E(T ; µ) und ergänzen diese ! µEr ∗ durch {vr+1 , . . . , vn } zu einer Basis von E . Dann hat A := MV (T ) = 0 ∗ r Block-Stufenform, und χT (λ) = det(λI − A) enthält den Faktor (λ − µ) . b) ⇒ “ ist klar, da die Aussage für Diagonalmatrizen offenbar richtig ist. ” r Q (λ − λj )αj wie in (3). Für Basen Vj = {vj,1, . . . , vj,αj } ⇐ “: Es sei χT (λ) = ” j=1 von E(T ; λj ) sind dann die Vektoren in V := V1 ∪ . . . ∪ Vr linear unabhängig: Aus αj r P P j=1 k=1 βj,k vj,k = 0 folgt αj P βj,k vj,k = 0 für alle j aus Satz 36.11 und dann βj,k = 0 k=1 für alle j und k . Da V genau n Vektoren enthält, ist V eine Basis von E . Ein Eigenwert µ ∈ σ(T ) heißt halbeinfach, wenn γ(T ; µ) = α(T ; µ) gilt. Somit ist T genau dann diagonalisierbar, wenn alle Eigenwerte halbeinfach sind.