Zeitschrift für die Religionslehre des Islam IZRL

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Interdisziplinäres Zentrum für
Islamische Religionslehre
Inhalt
Harry Harun Behr
Minarett............................................ Seite 1
Ayse Uygun-Altunbas
Islamische Religionspädagogik
Ansätze für ihre
Konzeptualisierung .......................... Seite 2
Leila Djahani-Gürsoy
Die pädagogische Tradition
des Islams in ihren Anfängen..... Seite 14
Ramin Massarrat
Die Frage nach der Existenz des Bösen
im islamischen Religionsunterricht
Lösungsansätze durch Texte aus
dem Sufismus . ............................... Seite 28
Harry Harun Behr und andere
„Nehmt mich ruhig ran!“
Bericht zu einem interreligiösen und
fachdidaktischen Seminar an der
Deutschen Evangelischen Oberschule
in Kairo............................................. Seite 41
Zu den Autoren / Impressum..... Seite 51
Heft 6 • Dez. 2009 • 3. Jg.
Zeitschrift
für die
Religionslehre des Islam
ZRLI
Harry Harun Behr
Minarett,
das, arabisch TnCËÆ (manāra, „Leuchte“, auch mi’dhana, „von wo der Ruf
zum Gebet zu hören ist“), türkisch
minare; erhöhter Teil einer Moschee
(arabisch k`tÆ ; masdschid, „Ort des
Gebets in Niederwerfung vor Gott“,
vgl. im Koran 13:15). Muhammad
bestimmt einen stimmgewaltigen
Schwarzen, Bilal ibn Rabah al-Habaschi, den „Abbessinier“, als ersten
Muezzin in Medina. Bilal gehört
zu den sieben ersten Gefolgsleuten
Muhammads aus der mekkanischen
Frühzeit. Zum Gebetsruf besteigt
er eine einfache Plattform auf der
Mauer der Prophetenmoschee. Das
Minarett als beleuchteter Turm
neben der Moschee entsteht vermutlich zu Beginn des 8. Jh. n. Chr. in
Damaskus (Umayyadenmoschee).
Zum Aspekt der Kennzeichnung als
Gotteshaus treten damit Funktionen
hinzu, die mit erweiterten Dienstleistungen (Unterkunft, Verpflegung)
einer Moschee zu tun haben. Fortan
dient das Minarett auch als Leuchtturm zur Orientierung für Karawanen (bzw. bei Hafenmoscheen
an der Küste für die Seefahrt). Im
Laufe der Zeit verbinden sich mit
dem Minarett unterschiedliche
zeichenhafte Aufladungen, etwa als
Sinnbild des Glaubenslichts (vgl.
im Koran 24:35). Von besonderer
Tragweite ist die Verbindung mit
Halbmond und Stern als Symbol
des Islams, das oft die Minarettspitze schmückt. Der Halbmond geht
wohl auf das Monatssymbol antiker
Mondkalender zurück, der Stern
verweist auf Salomo, aber auch auf
Maria. Der Legende nach steht auch
ein Traumgesicht des Gründers der
osmanischen Dynastie, Gazi Osman
I., Pate (spätes 13. Jhdt. n. Chr.).
Seitdem stellen Anzahl und Höhe der
Minarette auch Machtzeichen des
Potentaten dar (Mekka: 9 Minarette;
Marokko und Algerien: Minarette
mit über 200 Metern Höhe), können also Ausweis vor allem innerislamischen Hegemonialdenkens
sein. Seit kurzem steht das Minarett
zudem als Symbol für die Neurose
eines europäischen Volkes, das schöne Uhren produziert, aber auch Käse.
Seite 2
Ayse Uygun-Altunbas
Islamische Religionspädagogik
Ansätze für ihre Konzeptualisierung
Einleitung
Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung einer umfangreicheren
wissenschaftlichen Arbeit. Damit
möchte ich, was mögliche Konzeptualisierungen von islamischer
Religionspädagogik angeht, einen Diskussionsbeitrag leisten.
Das Thema Bildung und Erziehung
der muslimischen Kinder nach eigenen religiösen Normen beschäftigte
längere Zeit die nach Deutschland
eingewanderten Arbeitsmigranten.
Zunächst behalfen sie sich, wie oben
schon angedeutet, mit den Moscheegründungen einhergehend einen
Islamunterricht anzubieten, um ihre
Kinder nach ihren eigenen religiösen
und kulturellen Grundsätzen zu
erziehen. Angesichts der defizitären
Lage in den Moscheen wurde seitens
der Muslime ein entsprechendes
Interesse an der Einführung eines
islamischen Religionsunterrichts
gegenüber den Kultusministerien der
Bundesländer geäußert. Die ersten
Forderungen begannen Ende der
70er Jahre. Doch die Einführung
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
eines islamischen Religionsunterrichts ließ auf sich warten, und die
Debatten um dieses Thema werden
zum Teil sehr kontrovers geführt.
Trotz einiger Hürden, die einer
Einführung im Rahmen des Regelunterrichts (im Sinne der Verfassung
nach Art. 7.3 des GG) an deutschen
Schulen auf dem Weg stehen, ist
man sich mehr oder weniger über
dessen Einführung einig. In den
verschiedenen Bundesländern werden
unterschiedliche Modelle von islamischem Religionsunterricht angeboten. Die unterschiedlichen Modelle (islamkundlich orientiert, am
Bekenntnis orientiert) unterliegen
den länderspezifischen Verordnungen
der Kultusministerien und können
sich voneinander unterscheiden.
In diesem Zusammenhang stellt
gerade die Ausbildung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer für
den islamischen Religionsunterricht eine besondere Herausforderung dar. Die Etablierung der vier
Studiengänge in Deutschland, in
denen „islamische Theologie“/„islamische Wissenschaften" angeboten
werden, ist jüngeren Datums. Das
Fach „Islamische Religionspädagogik“ ist in diesem Zusammenhang erst im Entstehen begriffen.
Und genau an diesen Punkt knüpfte
ich im Rahmen meiner Untersuchung an, deren zentrale Fragen
lauten: Was macht das fachliche
Profil einer islamischen Religionspädagogik aus? Was sind ihre Bildungs- und Erziehungsziele? Welche
Fachdidaktik ist für uns erkennbar?
Die Ergründung von islamischreligionspädagogischen Konzepten,
die ich in den jeweiligen Instituten
an Hand von Experteninterviews
entwickelt habe, steht hierbei im
Vordergrund. Es wurde mit dieser
Untersuchung erläutert, welche
Werthaltungen und Beobachtungen,
typische Erfahrungen und Positionen
die Experten vertreten und welche
Interpretationen und Konstruktionen
hinsichtlich einer islamischen Religionspädagogik erkennbar gemacht
werden. Als Auswertungsgrundlage dienten die Interviewtexte. Ein
Kernproblem der Untersuchung ist
sowohl ihr theologisches als auch
pädagogisches Interesse. Der Forschungsstand im Bereich der islamischen Religionspädagogik ist noch
nicht weit entwickelt; folglich war
es schwierig, theoretische Bezüge
herzustellen. Gerade die Kategorienentwicklung, welche im weiteren
Verlauf näher erläutert wird, stellte
eine besondere Herausforderung dar.
Die Interviews führte ich mit vier
Experten an deutschlandweit vier
verschiedenen Hochschulen durch.
Hier ist nur von Experte A, Experte B und Experte C die Rede,
ohne Erwähnung des Namens, des
Hochschulstandortes oder der Berücksichtigung des Geschlechts.
Das Interview mit Experten D
wurde nicht berücksichtigt.
Seite 3
Zum Forschungsdesign
nicht möglich. Folglich stellte sich
die Kategorienentwicklung als ein
Die empirischen Daten für die
besonderes Problem dar. Es wurUntersuchung wurden durch das
de versucht, anhand von allgemein
halbstandardisierte Leitfadeninterdefinierten Begriffen wie „Religiview erhoben, wodurch die Offenheit onspädagogik“ oder „Bildungs- und
des Interviewverlaufs gewährleistet
Erziehungsziele“ Kategorien zu entwurde. Die angewandte Methode
wickeln. Die Begründung für deren
des „halbstandardisierenden ExperAuswahl bzw. für die Konstruktion
teninterviews“ beruht nach Meuser
des Fragebogens lässt sich vorrangig
und Nagel (2002) auf dem Interesse, aus dem Erkenntnisinteresse ablei„Strukturen und Strukturzusamten, die einer, zumindest in ihren
menhänge des Expertenwissens/
Grundzügen, (religions)pädago-handelns“ zu analysieren. Nicht
gischen Konzeption zugrunde liegen
die Person/der Experte mit seinen
muss. Die anhand eines InterviewOrientierungen und Einstellungen
leitfadens konstruierten Fragen sind
stehen im Vordergrund, sondern es
in vier Themenbereiche gegliedert:
ist der konzeptionelle oder institu1) Konzeption / Inhalte/ Grundlationelle Zusammenhang, um den
gen – Islamische Religionspädagogik,
es vordergründig bei der Unter2) Theorie / Praxisverhältnis – Resuchung geht. Es wird eine interligionsunterricht in der Schule, 3)
pretative Auswertungsstrategie als
Hochschulstruktur / Institution, und
Entdeckungsstrategie zur Auswerdamit verbunden 4) Zukunftsfragen.
tung des Datenmaterials verwendet.
Den Themenbereichen konnten nach
Nicht der Bezug zu einer Theorie,
einem ersten Auswertungsschritt
sondern der Vergleich des Untereinzelne dazugehörende Aspekte
suchungsgegenstandes anhand von
zugeordnet werden: zu 1): Bildungs„Beobachtungskategorien“ lässt auf
und Erziehungsziele, Islamische
die Erforschung desselben abzielen
Quellen (Lerninhalte) und Fragen
(vgl. Meuser / Nagel 1997, 481).
des Fachprofils einer islamischen
Religionspädagogik (InterdisziplinaWie bereits erwähnt, ist eine theorität); zu 2): Didaktik, curriculare
riegeleitete Untersuchung aufgrund
Rahmenpläne, Forschungsprojekte
mangelnder Forschungsbeiträge um
in den Schulen und Fragen der
den islamischen Religionsunterricht
Qualifikation der Lehrkräfte; zu 3):
/ oder fehlender islamisch-religiOrganisationsformen und Fragen der
onspädagogischer Referenztheorien
Kooperation mit den ReligionsgeAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
meinschaften; zu 4): die Etablierung
des Fachs, der Stand der Forschung
und Veränderungsmöglichkeiten.
Nicht die Person /
der Experte mit seinen
Orientierungen und
Einstellungen stehen
im Vordergrund,
sondern es ist der
konzeptionelle oder
institutionelle Zusammenhang, um den es
vordergründig bei der
Untersuchung geht.
Die Resultate der zusammenfassendstrukturierenden und inhaltsanalytischen Aufbereitung der Interviews
konnten zwar tabellarisch wiedergegeben werden, es wurde jedoch (aus
zeitlichen Gründen) bei der Auswertung hauptsächlich auf die oben
zuerst erwähnten Aspekte eingegangen. Das heißt: Es wurde vorerst den
beiden Kategorien „Fachprofil einer
islamischen Religionspädagogik“ und
„Erziehungs- und Bildungsziele“ der
Vorrang eingeräumt. Hierzu erscheinen Begriffsklärungen sinnvoll.
Seite 4
Zur begrifflichen Klärung
Religionspädagogik
Die Religionspädagogik wird als
die Lehre von den Zielen, Möglichkeiten, Inhalten und Methoden
der religiösen Erziehung betrachtet. Sowohl die Erziehungswissenschaften als auch die Theologie
sind Bezugswissenschaften, auf die
eine Religionspädagogik angewiesen ist. Die Religionspädagogik ist
fachlich nicht ausschließlich pädagogisch, sondern „vor allem in
der Thematisierung der religiösen
Erziehung in öffentlichen Schulen
(Staatskirchenrecht) an den Vorgaben der großen Konfessionen und
ihrer Pädagogik, die sich seit langem
schon als evangelische, katholische
oder jüdische Pädagogik selbständig entwickelt haben, ausgerichtet“
(Tenorth / Tippelt 2007, 603 f.).
Die Vorgaben einer Konfession und
ihre jeweilige Auslegung bedingen
die Entwicklung einer Pädagogik,
die an öffentlichen Schulen gelehrt werden kann. Hinsichtlich
der islamischen Religion geht man
im Vergleich zu den anderen Religionen davon aus, dass sie sich
im Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindet. Hierbei spielen
mehrere Faktoren eine Rolle, die
nicht ausschließlich auf die Pluralität der Einstellungen bzw. die
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Sichtweisen oder die Vorgaben der
Religion zurückzuführen sind.
Bildung und Bildungsziel
Bildung ist ein zentraler Begriff der
erziehungswissenschaftlichen Fachsprache. Er charakterisiert die spezifische Tradition des wissenschaftlichen und öffentlichen Denkens
über Erziehung in Deutschland in
besonderer Weise. Für die Klärung
des Bildungsbegriffs sind Funktion,
Themen und Thematisierungsweisen, seine Geschichte innerhalb
und außerhalb der Pädagogik sowie
aktuelle theoretische Varianten und
Kontroversen zu unterscheiden (a. a.
O., 92). Die erstgenannten Aspekte
sind für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse.
Daher sollen sie hier einer näheren
Betrachtung unterzogen werden. Für
den Bildungsbegriff und seine Theorien werden mindestens vier nicht
aufeinander reduzierbare Themen
behandelt: „1. die Prozesse und
Normen, Formen und Ergebnisse der
Selbstkonstruktion des Menschen;
2. die Prinzipien der Gestaltung der
gesellschaftlichen Organisation des
Lehrens und Lernens; 3. eine Perspektive für die Selbstthematisierung
von Gesellschaften; 4. wesentliche
Möglichkeiten der kategorialen Orientierung der Humanwissenschaften“
(ebenda). Diese Themen werden von
Die Thematisierungsformen von Bildung sind
sehr breit, umfassend und
werden nicht selten mit
widersprüchlichen Ansprüchen diskutiert, gerade
wenn Bildung zugleich
Prozess und Produkt,
Ziel und Norm
oder Theorie und
Analyse bezeichnen soll.
den Erziehungswissenschaften aufgenommen, aber jeweils in spezifischer
Weise bearbeitet. Die Thematisierungsformen von Bildung sind sehr
breit, umfassend und werden nicht
selten mit widersprüchlichen Ansprüchen diskutiert, gerade wenn Bildung zugleich Prozess und Produkt,
Ziel und Norm oder Theorie und
Analyse bezeichnen soll. Zudem wird
von Pädagogen häufig der intensive,
theoretisch häufig nicht distinkte
Gebrauch in unterschiedlicher Referenz kritisiert (ebenda). Bildungsziele
formulieren Kenntnisse, Fähigkeiten,
Fertigkeiten und Kompetenzen, die
ein Lernender durch ein bestimmtes
Bildungsangebot erreichen soll.
Bildungsziele sind allgemein gehalten. Auf individueller Ebene und in
schulischen Lehrplänen und Curricula gibt es Lernziele (a. a. O., 118).
Erziehung und Erziehungsziele
Wie der Bildungsbegriff kann auch
der Erziehungsbegriff nicht eindeutig definiert werden. In der Erziehungswissenschaft findet sich keine
einheitliche und allseits anerkannte
Theorie der Erziehung. Die Abgrenzung zur „Bildung“ oder „Sozialisation“ ist nicht immer einhaltbar.
Erziehung wird als ein Prozess bezeichnet, der auf die Veränderung des
menschlichen Individuums bezogen
ist. Dieser wird lebensweltlich durch
Seite 5
Eltern oder beruflich durch Pädagogen gesteuert, aber auch der Prozess
der Selbsterziehung kann unter die
Kategorie „Erziehung“ eingeordnet
werden: „Erziehung [....] meint zentral diejenigen Akte, die sich auf das
heranwachsende Individuum richten
und dessen Entwicklung fördern
wollen. Träger und Subjekte dieser
Akte, deren Dauer und Ort, Mittel
und Ziele samt ihrer Legitimation
sowie die gesellschaftliche Funktion von Erziehung nicht festliegen,
unterliegen vielmehr historischem
Wandel. [...] Streng genommen lässt
sich Erziehung nicht definieren,
Praktiker und Theoretiker der Erziehung legen sich je nach eigener Sicht
auf einen Erziehungsbegriff fest.
Die Erziehungstatsache selbst kann
beschrieben, verstanden, geplant,
organisiert oder konstruiert werden“
(Miller-Kipp/Oelkers 2007, 204).
Die Autoren definieren Erziehungsziele folgendermaßen: „Erziehungsziele stellen normative Vorgriffe dar.
Sie bedürfen der Begründung und
der Legitimation. Erziehungsziele
werden im Blick auf den Zögling
oder im Blick auf Kultur und Gesellschaft vorgetragen. [....] Erziehungsziele bezeichnen Tugenden, soziale
Einstellungen, moralisches Verhalten
oder körperliche oder geistige Fähigkeiten. Systembezogen handelt es
sich um die Übertragung oder ErhalAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
tung von Normen und Werten, kollektiven Einstellungen, Tüchtigkeiten
usw. Ein eigenes Problem ist die
Realisierung oder Durchsetzung von
Erziehungszielen“ (a. a. O., 205f ).
2
Im Kontext einer
„Religionspädagogik“,
die wie beschrieben in
ihren Bezügen sowohl auf
die Erziehungswissenschaften als auch auf die
Theologien angewiesen
ist, läuft das darauf
hinaus, dass die normativen Vorgaben aus
den Grundlagen der
Religion des Islam
abgeleitet werden.
Erziehungswissenschaftliche
Grundbegriffe und Religionspädagogik
Sowohl Erziehung als auch Bildung
und ihre Ziele können, wie erläutert, nicht eindeutig definiert werden. Sie sind normativ bestimmt
und bedürfen der Begründung und
der Legitimation. Sie werden entsprechend im Blick auf die Kultur
und Gesellschaft vorgetragen und
können Fähigkeiten, soziale Einstellungen, tugendhaftes Verhalten,
Erhaltung von Normen und Werten
und ähnliche Kategorien bedeuten.
Im Kontext einer „Religionspädagogik“, die wie beschrieben in
ihren Bezügen sowohl auf die Erziehungswissenschaften als auch
auf die Theologien angewiesen
ist, läuft das darauf hinaus, dass
die normativen Vorgaben aus den
Grundlagen der Religion des Islam
abgeleitet werden. Die Thematisierungsformen können, wie aus der
Erläuterung der beiden Begriffe
hervorgeht, unterschiedlich ausfallen.
Religionspädagogik wurde als die
„Lehre von den Zielen, Themen
und Möglichkeiten, Inhalten und
Methoden der religiösen Erziehung“
gekennzeichnet. Bei der Konstruktion des Interviewleitfadens wurden
deshalb zur Klärung dieser Aspekte
Seite 6
Fragen entwickelt, die helfen sollten,
mögliche islamisch-religionspädagogische Konzepte und ihre Begründungszusammenhänge zu erhellen.
Die „Eckpunkte“ und
„Faktoren“ einer
islamischen Religionspädagogik sind zum einen
die Berücksichtigung der
Lebenswirklichkeit der
Schüler, und zum anderen
eine gut funktionierende
Theologie des Islam
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Zur Datenauswertung
der Schüler, und zum anderen eine
gut funktionierende Theologie des
Ein thematischer Vergleich des nach
Islam, welche sich diskursiv aus den
Themen und Kategorien geordneten kulturellen Segmenten der GesellMaterials ermöglicht es, die Geschaft heraus, in die sie hineinwirkt,
meinsamkeiten und Unterschiede zu entwickeln soll. Der Theologiebezug
rekonstruieren bzw. darzustellen. Das und der kindliche Lebensweltbebezieht sich auf Erfahrungen, Beobzug stehen somit im Vordergrund.
achtungen, Interpretationen, Konstruktionen, Verfahrensregeln und
Die theologische Eignung und die
Normen der Entscheidungsfindung,
Kenntnis pädagogischer Prinzipien
Werthaltungen und Positionen,
ist eine Selbstverständlichkeit. Man
Handlungsmaximen und Konzepte
müsse ein theologisches Studium
der Funktionsausübung des Experabsolviert haben und darüber hitenwissen (vgl. Meuser/ Nagel 2002, naus pädagogische, erziehungswis87). Aufgrund der Komplexität und
senschaftliche Prinzipien kennen,
der Fülle der Themen, die in dieum der Religionspädagogik gerecht
sem Rahmen nicht behandelt werzu werden. Die Betonung liegt bei
den können, sind zwei Kategorien
einem der Experten bei den „islahier vordergründig einer näheren
mischen Wissenschaften“ (er zieht
Betrachtung unterzogen worden:
diesen Begriff dem der „Theologie“
1. das Fachprofil einer islamischen
vor). Er verweist mehrmals auf die
Religionspädagogik, d.h. das was
„islamischen Wissenschaften“ als
sie ausmachen könnte, und 2. ihre
einen Hauptgegenstand der islaBildungs- und Erziehungsziele.
mischen Religionspädagogik. Umgekehrt könne man keinen fachlichen
Inhalt im islamischen Religionsun1. Fachprofil einer islamischen
terricht vermitteln, ohne dass die
Religionspädagogik
religionsdidaktischen bzw. religiEin Vergleich der entsprechenden
onspädagogischen Erkenntnisse und
Textpassagen zur islamischen Religi- Erfahrungen berücksichtigt werden.
onspädagogik gestattet es, folgende
Die beiden Teilaspekte (TheologiebeGemeinsamkeiten herausstellen:
zug und Lebensweltbezug) der islaDie „Eckpunkte“ und „Faktoren“
mischen Religionspädagogik werden
einer islamischen Religionspädavon allen drei Experten betont. Dies
gogik sind zum einen die Berückist als Gemeinsamkeit der Experten
sichtigung der Lebenswirklichkeit
zu unterstreichen. Dennoch sind
Seite 7
bei einer genaueren Untersuchung
der Texteinheiten unterschiedliche
Akzentuierungen festzustellen.
War für den Experten A bei der
Definition einer islamischen Religionspädagogik die Bezüge zur Theologie und zur Lebenswirklichkeit
der Schülerinnen und Schüler von
Bedeutung, so ist eine unterschiedlich akzentuierte Definition beim
Experten B vorzufinden. Er spricht
von verschiedenen Grundlagen,
und zwar die glaubens- und handlungsorientierte, die soziale und die
pädagogisch-fachdidaktische einer
islamischen Religionspädagogik,
was im Vergleich zu den Aussagen
des Experten A differenzierter dargestellt wird. Der Zusammenhang
zwischen dem Individuum, das für
die religiöse Sozialisation vorbereitet
werden soll, und der Religion mit
ihren Glaubensinhalten, religiösen
Handlungsnormen und Ethik wird
hier unterstrichen, um die dazu
notwendige religionspädagogische
Kompetenz deutlich zu machen.
Die Äußerungen des Experten C
sind in diesem Zusammenhang
eher auf das Unterrichtsgeschehen
und nicht in Abstraktion auf den
Fachbereich „islamische Religionspädagogik“ bezogen. Die Islamische
Erziehungs- und Bildungslehre bzw.
der Religionsunterricht sollen auf
dem Koran aufgebaut werden. Die
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Moralvorstellung, die Kerninhalte
und die theologischen Vorstellungen
müssten „logischerweise kindgerecht,
auch altersgerecht“ verarbeitet werden und dann „pädagogisch sinnvoll
und didaktisch sinnvoll weitergegeben“ werden. Die Experten sind sich
darin einig, dass sich die „Islamische
Religionspädagogik“ in der Anfangsphase ihrer Entwicklung befindet.
Daneben kristallisieren sich folgende
unterschiedliche Sichtweisen heraus: Für den Experten A erschien
es sinnvoll, dass man die Geschichte
der Theologie und der Pädagogik
im Islam bei der Entwicklung einer islamischen Religionspädagogik
berücksichtigt, da diese eine je eigene
Entwicklungsgeschichte hätten. Es
sei bisher viel gedacht und konzeptuell viel gemacht, entdeckt und entwickelt worden und diese Erkenntnisse dürften nicht verloren gehen.
Der Experte B hält es für wichtig, bei
der Entwicklung einer islamischen
Religionspädagogik gegenüber allen
(westlichen) religionspädagogischen
Ansätzen offen zu sein („gegenüber
den islamischen sowieso“), sofern
sie islamisch-religionspädagogisch
relevant sind: die Erfahrungen, die
Erkenntnisse, die neuesten Forschungsergebnisse der Sozial- und
Geisteswissenschaften. Eine etwas
andere Position vertritt der Experte
Die Experten
sind sich darin einig,
dass sich die
„Islamische Religionspädagogik“ in der
Anfangsphase ihrer
Entwicklung befindet.
C. Er ist der Auffassung, dass das
Modell der Religionspädagogik in
Deutschland ausgeprägt und fortentwickelt ist, und man könne in
das Modell islamische Elemente
einsetzen und integrieren. Hierbei
macht er die folgende Bemerkung:
„Wie können wir islamische Inhalte
in das zum Tage stehende Modell, ja
einsetzen und integrieren. Das ergibt
dann eine so genannte islamische
Religionspädagogik [....Sie würde
sich....] natürlich nicht komplett
von einer christlichen oder jüdischen
Religionspädagogik unterscheiden,
aber sie hat natürlich andere Elemente, weil bestimmte Voraussetzungen bei uns einfach anders sind“.
Wie man sieht, haben die Experten
unterschiedliche Meinungen, wie
eine „islamische Religionspädagogik“
zu entwickeln wäre. Einen fundierten Ansatz sehen die Befragten
wohl auch in der Berücksichtigung
der Geschichte der Theologie und
der Pädagogik im Islam. In diesem
Zusammenhang stellt sich allerdings
die Frage, in welchem Maße und mit
welchen Konsequenzen Offenheit
gegenüber den Erkenntnissen der
Religionspädagogik anderer Religionen gewahrt werden kann, wenn
gleichzeitig grundlegende Aspekte
wie zum Beispiel das Gottesbild, die
Anthropologie, die Vorstellung vom
Prophetentum und andere Teile der
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Lehre auf eine eigene Art formuliert
werden. Das wird im Entwurf einer
eigenen Religionspädagogik seine
Spuren hinterlassen. Zu berücksichtigen ist ja auch die Historie der
jüdischen und christlichen Religionspädagogiken in ihrer je eigenen
Tradition als Wissenschaft und dem
je spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang. Hier liegen beim Islam
die Dinge zum großen Teil anders
[siehe dazu in diesem Heft auch den
Beitrag von Leila Djahani-Gürsoy].
Der Theologiebezug bzw. der Bezug zu den „islamischen Wissenschaften“ als ein Hauptgegenstand
der islamischen Religionspädagogik
steht einstimmig bei allen Experten im Vordergrund. Ein weiterer,
im Zusammenhang dazu stehender, einstimmig von allen Experten
benannter Aspekt ist die Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der
Schülerinnen und Schüler, gerade
weil der Islam in Europa keine lange
Geschichte bzw. Tradition aufweisen kann, dies jedoch mit wenigen
Ausnahmen. In der zweiten Kategorie des Interviews, in der die „islamischen Quellen“ behandelt werden,
werden die Lehrinhalte beschrieben,
die den Schülern lebensweltbezogen
nahe gebracht werden sollen. Die
Verknüpfung der Lebenswirklichkeit
der Schülerinnen und Schüler mit
islamischen Glaubensinhalten und
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Themen aus dem Koran und dem
Hadith (Sunna) soll einen wesentlichen Aspekt der islamischen Religionspädagogik darstellen. Auf diese
Weise könnten islamische Traditionen und Normen in Korrespondenz zu nicht-muslimischen gesellschaftlichen Realitäten gestellt und
zugleich die Rückbindung an die
Theologie des Islam gewahrt werden.
2. Bildungs- und Erziehungsziele
Im Interview A werden im Vergleich
zu den anderen beiden Interviews in
ihrer Beantwortung Bildungs- und
Erziehungsziele zunächst begrifflich
unterschieden. Mit dieser Unterscheidung wird das Bildungsziel
der Religionspädagogik, welche
an die theologische Anthropologie
gebunden ist und wie sie durch die
Religion entworfen wird, deutlich
gemacht. Der Mensch sei im Koran
(17. Sure, Vers 70) als ein Wesen
entworfen, das mit etwas Besonderem geadelt oder ausgezeichnet ist,
„mit Würde ausgestattet“. Der Tafsīr
(Kommentarwerke zum Koran)
würde in diesem Zusammenhang auf
den „Ādam“ als den Archetypus des
Menschen verweisen, der mit Sprachfähigkeit ausgestattet und somit in
der Lage ist, sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen.
Dies könnte bedeuten, dass der
Mensch die Fähigkeit besitzt, wil-
lentlich und intentional zu handeln
und Entscheidungen zu begründen,
zu treffen und danach zu handeln.
Ein oberes Bildungsziel sei demnach
die Autonomisierung des Subjekts,
die Stärkung des Schülers in seiner
Rolle als Individuum im Kontext
soziale Rollenprofile. Es gehe darum, ihn zuerst in seiner Gestalt als
Mensch zu sehen und nicht zuerst in
seinen funktionalen Ausprägungen,
zum Beispiel als Staatsbürger.
Erziehungsziele seien durch die
Erwartungshaltungen eines Kontextes mitbestimmt, an dem islamischer Unterricht oder Erziehung
stattfindet. Erziehungsziele, worunter Fähigkeiten, Fertigkeiten,
Kompetenzen und andere Verhaltensmerkmale fallen, seien Verhandlungssache unter Muslimen
und auch zwischen Muslimen und
Nicht-Muslimen. Dabei gehe es um
die gesellschaftlichen Segmente, in
denen der Unterricht stattfindet.
Der islamische Religionsunterricht
müsse an sozialethische Kontexte
angebunden werden, zum Beispiel an
die Frage der sozialen Gerechtigkeit:
Themen wie Arbeitslosigkeit, soziale
Schieflagen, Umweltzerstörung und
Verteilungsungerechtigkeiten würden
alle Menschen betreffen und nicht
nur die Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft. Folglich könnten
gemeinsame Ziele unter Verhandlung
mit verschiedenen Gruppierungen
definiert werden. Der Blickwinkel einer Pädagogik und Theologie
müsse der Mensch sein, weil es an
diesem Punkt um Themen geht, die
alle betreffen. Erziehungsziel in der
islamischen Pädagogik sei nicht, den
besseren Menschen zu kreieren, der
religiös, intellektuell und kulturell
der ungläubigen Gesellschaft überlegen ist. Religion soll Sinn stiften
und Positives abwerfen, nicht nur für
ihre Anhängerinnen und Anhänger,
sondern für alle Menschen insgesamt. Die Theologie im Rahmen der
Pädagogik und ihrer Formulierung
von Bildungs- und Erziehungszielen
sei dieser Prämisse unterworfen.
Man könne dabei auch nach Erziehungszielen im Wertediskurs fragen. Erziehungsziele hätten, wenn
sie formuliert werden, sehr viel mit
Verhalten zu tun, und Verhalten soll
einer bestimmten Werthaltung der
Person Ausdruck verleihen. Diese
Werthaltungen würden sich auf der
Grundlage des Korans beschreiben
lassen, zum Beispiel die Erziehung
zu drei zentralen Haltungen: die der
Achtsamkeit (arab. ihsān: Leben und
Handeln im Bewusstsein, dass Gott
Mitwisser ist; Ansatz der islamischen
Lehre vom Gewissen), die des Zutrauens (arab. tawakkul: Zutrauen
in Gott und darin, dass man etwas
schaffen und erfolgreich sein kann)
Seite 9
sowie die der Nachsicht im Sinne
von Milde (arab. līna: nicht auf Beharren fixiert miteinander umgehen).
Diese axiomatischen Wertbeschreibungen seien so wichtig, dass es keinen Lehrplaninhalt geben dürfe, die
einem dieser Kriterien zuwiderlaufe.
Im Interview B wird ähnlich wie
im Interview A festgestellt, dass
jede Gemeinschaft der Gläubigen
ihre Erziehungsziele im schulischen
Religionsunterricht selbst definieren
dürfen sollten. Die Schülerinnen
und Schüler sollen befähigt werden,
in ihrer Religion zu denken, über
ihre Religion zu sprechen und auf sie
bezogen zu handeln. Die Erziehung
zur Mündigkeit soll dabei im Vordergrund stehen. Ein soziales Ziel der
Religionspädagogik in der pluralen
Gesellschaft sei die Mitgestaltung
des friedlichen Miteinanders, des
Zusammenlebens von religiös, sozial
und politisch unterschiedlichen
Menschen. Die Frage des friedlichen
Miteinanders soll nicht nur anhand
der Religion, sondern anhand der
Ethik, anhand der Landesverfassung,
anhand der Menschenrechte, anhand
der gültigen rechtlichen Bedingungen und Bestimmungen beantwortet werden. Die Erziehungs- und
Bildungsziele im Islam seien folglich durch eine soziale und ethische
Orientierung der Religion, durch
die Diesseits- und JenseitsbezogenAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Dieser vollkommene
Mensch sei kein fertiges
Produkt. Vollkommenheit
sei nicht von der Religion
definiert, sondern auch
von der Gesellschaft mitbestimmt. Sie sei kontext- und zeitgebunden
und habe heute eine
andere Bedeutung als
in der Vergangenheit.
heit und durch den Monotheismus
bestimmt. Man könne im Islam von
Kernbegriffen religionspädagogischer
Konzeptionen ausgehen wie zum
Beispiel taqwā (höchstes, religiöses
und ethisches Verantwortungsbewusstsein erlangen), khilāfatul-lāh
und amāna (der Mensch als einer,
der im Sinne Gottes auf der Erde
handelt und der gegenüber Gott,
sich selbst und den Mitgeschöpfen
in die Pflicht genommen ist) sowie
al-insān al-kāmil (die Fähigkeit und
die Bedürftigkeit des Menschen, sich
durch Erziehung und Bildung zu
entwickeln und im Rahmen dessen,
was er leisten kann, Vollkommenheit
zu erlangen – was „in der Wiege“ beginne und „bis zum Grab“ andauere).
in ihren Werdegang zu einem Menschen begleiten, der sich ethisch,
religiös und wissenschaftlich verbessert, im gebotenen Sinne gut handelt
und die Vielfalt der Schöpfung und
die Rechte der Anderen achtet.
Die Erziehungsziele im Interview
C werden folgendermaßen erläutert: Primäres Ziel sei, erst mal den
Umgang mit islamischen Quellen
zu lehren. Nicht nur der Umgang,
sondern auch „was steht da darin“
(Inhalt- und Wissensvermittlung)
sollen „kindgerecht verpackt“ im islamischen Religionsunterricht vermittelt werden. Theologisch könne dies
folgendermaßen begründet werden:
Die Aneignung von Wissen im Sinne
von Bildung sei im Islam ein hohes
Zusammenfassend fügt der Experte B Gut. Das erste Wort, welches Muhinzu, dass der Islam darauf abziele,
hammad offenbart wurde, sei „Lies!“
einen möglichst vollkommenen
oder „Trage vor!“ oder auch „Sprich!“
Menschen zu erziehen. Dieser vollgewesen (vgl. Sure 96:1-5). Bildung
kommene Mensch sei kein fertiges
sei schon in der Entstehungsphase
Produkt. Vollkommenheit sei nicht
des Islam hoch anerkannt gewesen
von der Religion definiert, sondern
und Muhammad sei aufgefordert
auch von der Gesellschaft mitbeworden, sich selbst weiterzubilden
stimmt. Sie sei kontext- und zeitgeund seine Mitmenschen dazu zu
bunden und habe heute eine andere
ermutigen, ihm darin nachzueiBedeutung als in der Vergangenheit. fern. Diese Aufforderung sei auch
Diese Gegenwarts- und Zukunftsein Kernbereich des Glaubens.
fähigkeit sei im Islam vorhanden.
Die islamischen Religionspädagogen Auch Experte C weist darauf hin,
seien deshalb aufgefordert, diese
dass eines der wichtigsten ErzieFähigkeit des Islam zum Vorschein
hungs- und Bildungsziele, „das
zu bringen. Sie sollen die Lernenden Haupterziehungsziel“ sozusagen die
Seite 10
Erziehung zur Mündigkeit sei. Man
soll die Schüler in die Lage versetzen,
eigenverantwortlich und selbständig
Entscheidungen, vor allem religiöse
(!), zu treffen. Es sollen dazu die
Grundinformationen und das Rüstzeug geboten werden, die Freiheit des
Verstandes zu nutzen. Die Schüler
sollten sich ihre eigenen Meinungen
bilden können. Mit dem Begriff
der „kritischen Erziehung“ („sich
seine eigenen Gedanken machen,
sich seine eigene Meinung bilden“)
verwies Experte C auf ein Kernstück
der islamischen Erziehungs- und
Bildungslehre. Es müsse Wert gelegt
werden auf eine Erziehung zur nachfragenden Haltung zum Unterrichtsstoff, auch wenn es um islamische
Religionslehre im engeren Sinne, um
muslimische Lebensart, um muslimische Kulturräume und um die
Ideengeschichte des Islam gehe.
Vergleicht man die Interviews miteinander, so kann man Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen, die hier nun einer näheren
Betrachtung unterzogen werden.
Bildungsziel ist laut dem Experten
A die „Stärkung des Individuums“
in seiner Rolle als autonomes Subjekt. Die Untermauerung mit einem
koranischen Vers deutet auf eine
fundierte Herangehensweise hin. Ist
im Interview A von „Autonomisierung“ des Individuums die Rede, so
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
wird im Interview B von der Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler
gesprochen, über ihre Religion in
mündiger Verantwortung zu verfügen. Die Erziehung zur Mündigkeit
soll hier also im Vordergrund stehen.
Hier wird der Begriff „Erziehung“
im Gegensatz zum Begriff „Bildung“
im Interview A verwendet. Auch
im Interview C geht es um Erziehung zur Mündigkeit. Der Experte C beschreibt ausführlich (auch
unter Verwendung von Beispielen),
warum dies als „Haupterziehungsziel“ angesehen werden sollte. Er
betont besonders die „kritisch
reflektierende Haltung“ dem Unterrichtsstoff gegenüber, welche
die Selbständigkeit der Schüler im
Denken und Handeln stärken soll.
Ob dies mit dem Autonomiebegriff
in Interview A korreliert, müsste
erst noch nachgeprüft werden.
lischen Religionsunterricht selbst
definieren dürfen. Er spricht zwar
nicht explizit von einer Verhandlungssache zwischen verschiedenen
Gruppen, aber doch implizit von der
Möglichkeit der Beteiligung bei der
Definition von Erziehungszielen.
Experte A betont, dass Religion
sinnstiftend sein soll und Positives in
umfassenderem Sinne abwerfen solle,
und zwar nicht nur für die Anhängerinnen und Anhänger, sondern
für die Allgemeinheit. Alles andere,
die Theologie, die Pädagogik, die
Bildungs- und Erziehungsziele und
die Kompetenzbeschreibungen, seien
dem unterzuordnen. Damit steht
der Bezug zum Menschen in seiner
religiösen Dimension (unabhängig
von der Frage formaler Religionszugehörigkeit) für den Experten
A im Vordergrund. Erziehungsziel
in der islamischen Pädagogik sei
Laut dem Experten A seien Erzienicht, „den besseren Menschen zu
hungsziele durch die Erwartungskreieren, der religiös, intellektuell
haltungen eines Kontextes, an dem
und kulturell der ungläubigen Geislamischer Unterricht oder Erziesellschaft überlegen ist“. Ein wenig
hung stattfindet, stark mitbestimmt. Widerspruch dazu ist beim Experten
Hier gehe es grundsätzlich um eine
B herauszulesen, wenn er die Bemultilaterale Verhandlungssache
grifflichkeiten der Entwicklung bis
mit Blick auf den gesellschaftlichen
hin zur Vervollkommnung bedient.
Kontext des islamischen Religionsun- Hier wird von einem idealistischen
terrichts. Auch der Experte B äuKonzept im Sinne eines Leitbilds
ßert sich ähnlich zu diesem Thema:
ausgegangen, wobei Experte B
Jede Gemeinschaft der Gläubigen
nicht soweit geht, dies antithetisch
solle ihre Erziehungsziele im schuzur Gesellschaft mit ihren pluralen
Erziehungsziel in der
islamischen Pädagogik
sei nicht, „den besseren
Menschen zu kreieren, der
religiös, intellektuell und
kulturell der ungläubigen
Gesellschaft überlegen ist“.
Seite 11
Es hat den Anschein,
als ob sich die
jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven und
Positionen ergänzen,
auf die sich die Experten
stützen und berufen.
Glaubensausprägungen und auch
atheistischen Lebensentwürfen zu
stellen. Gemeint ist der „bessere
Mensch“ mit dem Anspruch, sich
zum Besseren zu entwickeln. Nicht
zuletzt ist für den Experten B ein
soziales Ziel der Religionspädagogik in der pluralen Gesellschaft die
Mitgestaltung des friedlichen Miteinanders, des Zusammenlebens
von religiös, sozial und politisch
unterschiedlichen Menschen. Die
Anbindung des islamischen Religionsunterrichts an sozialethische
Kontexte hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit etc. als verhandelbares
Erziehungsziel unter verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppierungen
findet man auch im Interview A.
Zum sozialen Aspekt der Religionspädagogik wurde seitens des Experten C keine Aussage gemacht.
Bei allen drei Experten lassen sich
unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Haltungen nachzeichnen, wenn es um Erziehungsziele
geht. Der Experte A spricht von
„axiomatischen Werthaltungen“,
wenn es um die Grundlegung von
Erziehungszielen geht. Diese Wertbeschreibungen, die er mit islamischen
Quellen belegt, seien so wichtig, dass
es keinen Lehrplaninhalt geben dürfe, der diesen Kriterien widerspreche.
Bezeichnend ist, wie im Interview B
auf die wichtigsten Grundlagen des
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Islam bei der Bestimmung von Erziehungs- und Bildungszielen verwiesen
wird: Erziehungs- und Bildungsziele
seien durch eine soziale und ethische
Orientierung der Religion, ihre
Diesseits- und Jenseitsbezogenheit
und den Monotheismus bestimmt.
Es hat den Anschein, als ob sich die
jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven und Positionen ergänzen,
auf die sich die Experten stützen
und berufen. Die „Werthaltungen“
im Interview A und die Konzepte
im Interview B sind grundlegende
Eigenschaften eines „Gläubigen“,
in welchen sich die sozialethischen
Normen des Korans widerspiegeln.
Einen wesentlichen Einschnitt
könnte das Konzept des al-insān
al-kāmil darstellen, das der Experte
B bemüht, da es in der Regel mit
der mystischen Tradition des Islam
in Verbindung gebracht und deshalb von vielen Gelehrten in der
islamischen Welt kritisiert wird.
definitionen vorgestellten, der allgemeinen Pädagogik entlehnten
Begriffe werden nun in Bezug zu
den beiden entworfenen zentralen
Merkmalen der islamischen Religionspädagogik, Bildung und Erziehung gesetzt. Da in dieser Arbeit
nicht von theoretischen Konzepten ausgegangen wurde, erschien
für die Kategorienbildung und
ihre Begründung die Auswahl von
grundlegenden Begriffen sinnvoll,
machte aber eine theoretisch orientierte Bezugnahme schwierig. Dies
soll zunächst anhand der beiden
Begriffe Bildungs- und Erziehungsziele deutlich gemacht werden:
Die sehr allgemein definierten erziehungswissenschaftlichen Begriffe
sind, was ihre Definition angeht,
stark von normativen Vorstellungen
geleitet und nicht eindeutig festlegbar. Die Argumente, die in diesem
Zusammenhang benannt werden,
können wie folgt aufgelistet werden:
Erziehungs- und BildungsdebatIn einem nächsten Schritt werden die ten sind stark normativ bestimmt,
benannten Kategorien erziehungsaffirmativ oder kritisch, primär in
wissenschaftlich konzeptualisiert,
der Konstruktion von Idealen des
d.h. all die den Interviewtexten
Menschen oder in Entwürfen als
entnommenen Begriffe und Überlegitim geltender Welten engagiert
schriften werden nun in erziehungs(vgl. Tenorth / Tippelt 2007, 92).
wissenschaftliche übersetzt, um einen Die Thematisierungsformen von
Anschluss der Interpretationen an
Bildung sind sehr breit, umfassend
allgemeine disziplinäre Diskussionen und werden nicht selten mit widerzu ermöglichen. Die in den Begriffs- sprüchlichen Ansprüchen diskutiert,
Seite 12
gerade wenn Bildung zugleich Prozess und Produkt, Ziel und Norm,
Theorie und Analyse darstellen soll
(ebenda). „Erziehungsziele stellen
normative Vorgriffe dar. Sie bedürfen
der Begründung und der Legitimation. Erziehungsziele werden im Blick
auf den Zögling oder im Blick auf
Kultur und Gesellschaft vorgetragen.
[....] Erziehungsziele bezeichnen
Tugenden, soziale Einstellungen, moralisches Verhalten oder körperliche
oder geistige Fähigkeiten. Systembezogen handelt es sich um die Übertragung oder Erhaltung von Normen
und Werten, kollektiven Einstellungen, Tüchtigkeiten usw. Ein eigenes Problem ist die Realisierung oder
Durchsetzung von Erziehungszielen“
(Miller-Kipp / Oelkers 2007, 205f ).
Es zeichnet sich ab, dass beide Begriffe mit unterschiedlichen Gehalten (Themen, Normen, Zielen,
Prozessvorgaben etc.) gefüllt und
definiert werden. Diese Möglichkeit
haben die Experten anhand ihrer
Aussagen und Positionen in den
Interviews veranschaulicht. Wie aus
ihnen deutlich hervorgeht, verweist
die Pluralität der Erklärungs- und
Deutungsweisen der Erziehungs- und
Bildungsziele auf vielfältige Möglichkeiten einer islamisch- religionspädagogischen Konzeptualisierung.
Diese Ergebnisse spiegeln im Grunde
die Diskussion um die erziehungsAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Schlussbemerkung
wissenschaftlichen Begriffe wider,
die, wie es scheint, im religionspädagogischen Kontext ebenso unterschiedlich thematisiert werden wie
in den Erziehungswissenschaften.
Diese Ergebnisse
spiegeln im Grunde die
Diskussion um die erziehungswissenschaftlichen
Begriffe wider, die, wie es
scheint, im religionspädagogischen Kontext ebenso
unterschiedlich thematisiert werden wie in den
Erziehungswissenschaften.
Es wurde versucht, mögliche Konzeptionen islamischer Religionspädagogik zu ergründen. Es konnten Ergebnisse verzeichnet werden, welche
die Grund legenden Profile der islamischen Religionspädagogik kennzeichnen. Interessant wäre gewesen,
vor allem noch die weiteren wichtigen Aspekte der Religionspädagogik
zu analysieren, zum Beispiel die „didaktische Konzeption“ oder die „islamischen Quellen“, welche die Lerninhalte im Unterricht bilden. Dazu
wäre aber eine tiefere Beschäftigung
mit Ansätzen aus der Didaktik und
aus der Curriculumforschung – bzw.
die Auseinandersetzung bezogen auf
die islamischen Quellen mit theologischen Themen – notwendig gewesen. Im Rahmen der in Rede stehenden Arbeit hätte diese Fragestellung
aber nicht bearbeitet werden können,
zumal die Auseinandersetzung mit
diesen Themen einer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung bedarf.
Auch die Analyse der anderen Themenbereiche, die in den Interviews
behandelt worden sind, könnte
Aufschluss darüber geben, wie die
Zukunft einer islamischen Religionspädagogik aussehen wird. Das
Erforschen vom Theorie-Praxisverhältnis des IRU könnte interessante
Aufschlüsse über Verbesserungs- und
Seite 13
Veränderungsmöglichkeiten sowohl
in der Theorie als auch in der Praxis
bieten. Der Etablierung des Fachs
„islamische Religionspädagogik“ bzw.
die Verknüpfung der Fächer Theologie und Pädagogik könnten eine
Frage der Zeit und der finanziellen
Ressourcen sein. Die Entstehung
universitärer Strukturen, die das
momentan Provisorische ersetzen, ist
eine wünschenswerte Veränderung,
die alle Experten für erstrebenswert
erachten. Dabei ist es wichtig, dass
zum einen eine klassische islamische
Theologie mit unterschiedlichen
Schwerpunktbildungen und zum
anderen eine Religionspädagogik
entstehen. Das Vorhandensein von
finanziellen Mitteln könnte eine
solche Weiterentwicklung begünstigen. Hierzu äußerten die Experten
unterschiedliche Meinungen: Ihre
Vorschläge reichten von der Gründung von muslimischen Stiftungswesen bis hin zur Drittmittelanwerbung. Die Investition in Forschung
und Lehre (z.B. durch Promotionsprojekte, Habilitationen) ist eine
wesentlich Voraussetzung, die über
die Zukunft der islamischen Religionspädagogik entscheiden wird.
Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik
Literatur
Meuser, Michael & Nagel, Ulrike
(1997): Das Experteninterview – Wissenssoziologische
Voraussetzungen und methodische Durchführung. In: Fiebertshäuser Barbara, Prengel
Annedore (Hrsg.) Handbuch
Qualitative Forschungsmethoden
in der Erziehungswissenschaft.
Juventa Verlag. München.
Meuser Michael & Nagel Ulrike
(2002): ExpertInneninterviews –
vielfach erprobt, wenig bedacht.
Ein Beitrag zur qualitativen
Methodendiskussion. In: Bogner,
Alexander; Littig Beate; Menz
Wolfgang (Hrsg.) Das Experteninterview. Theorie, Methode,
Anwendung. Opladen. S. 71- 93
Miller-Kipp Gisela & Oelkers
Jürgen (2007): Erziehung. In:
Tenorth, Heinz-Elmar / Tippelt, Rudolf (Hrsg.) Lexikon
Pädagogik. Beltz Verlag. Weinheim und Basel. S. 204-211.
Tenorth, Heinz-Elmar / Tippelt,
Rudolf (Hrsg.) (2007): Lexikon Pädagogik. Beltz Verlag. Weinheim und Basel.
Seite 14
Leila Djahani-Gürsoy
Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
1
Vorbemerkung
Es ist sehr schwierig, den Begriff
der Pädagogik genau zu definieren
und einzugrenzen. Häufig sind die
Übergänge fließend. Die zahlreichen
Werke, die sich dem umfangreichen
Thema der Pädagogik und Didaktik angenommen haben, erklären
und analysieren, basierend auf
den Anweisungen im Koran und
der prophetischen Tradition (sunna), Lehrmethoden, die Art und
Weise, wie das Lernen stattfinden
sollte und die Ziele der Bildung.
Darunter fallen eine große Anzahl
von Veröffentlichungen über den
Schulunterricht und seine Methodik:
Muslime, die über ihre Schulzeit
schreiben; Aussagen, die das Verhältnis zwischen Kind und Eltern thematisieren; die höhere Schulbildung;
Lehren und Lernen und die entsprechende Methodik; Bildungs- und
Erziehungswesen; grundsätzliche und
nicht grundsätzliche Wissenschaften;
Pädagogik im weiteren Sinne verstanden als Ethik; die Entlohnung
des Unterrichtens; Strafen und viele
andere mehr (vgl. Daiber 2007, 1-8).
Dieser Beitrag soll einen Einblick in
die pädagogischen Ansichten und
Philosophien liefern, die von einigen großen muslimischen Denkern
des klassischen Islams befürwortet
wurden, und dadurch zeigen, dass
diese Gelehrten einen bedeutenden
Beitrag zu verschiedenen Bereichen
der Pädagogik und Didaktik geleistet haben. Außerdem soll gezeigt
werden, wie der Koran und die
Tradition des Propheten Muhammad
die Grundideen der islamischen
Pädagogik geliefert und die großen
Gelehrten stark geprägt haben. Dabei
möchte ich weniger auf das Leben
der einzelnen Gelehrten eingehen, als
vielmehr auf ihre Werke zu sprechen
kommen, die für die Geschichte der
Pädagogik von beachtlicher Bedeutung waren und immer noch sind.
Über die pädagogischen Leistungen
der Vergangenheit herrscht allgemein
ein mangelndes Bewusstsein. Häufig befassen sich Studien im Westen
über Pädagogik mit den griechischrömischen und jüdisch-christlichen
Grundlagen einer europäischen
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
Geschichte des Lernens, während
pädagogische Konzepte und Praxen
anderer Kulturen und Zivilisationen
keine angemessene Anerkennung
finden. Da die Studie über pädagogisches Denken ein Grundwerkzeug
für ein besseres Verständnis der
Kulturen, Zivilisationen und Religionen ist, besteht die Notwendigkeit,
auch eine kritische, unvoreingenommene und systematische Erforschung
der verschiedenen Werte, Ideen und
Anschauungen des Islams zu unternehmen, besonders solcher, die
sich auf pädagogische Theorien und
Philosophien beziehen und die von
muslimischen Gelehrten entwickelt
wurden (vgl. Günther 2006 a, 367).
Zwei Auffälligkeiten lassen sich bei
diesen mittelalterlichen arabischen
Texten über Pädagogik beobachten.
Zum einen wurden Elemente der
alten arabischen und persischen Kultur und das griechisch-hellenistische
Erbe geschickt an die islamischpädagogische Theorie angepasst und
eingegliedert. Zum anderen gab es
zwischen dem 8. und 16. Jhdt. n.
Chr. eine fortdauernde Tradition arabisch-islamischer Wissenschaften, die
sich mit pädagogischen und didaktischen Themen befassten und eine
Mischung von theologischen Einstellungen, ethnischen Abstammungen
und geographischen Zugehörigkeiten
widerspiegeln. Obwohl viele dieser
Gelehrten unterrichteten, war keiner
von ihnen Spezialist in der Erziehungswissenschaft. Dennoch trugen
ihre Ideen und Philosophien viel zu
dem bei, was als klassisch-pädagogische Tradition des Islams benannt
werden kann (a. a. O., 368f.).
Das lebenslange Lernen ist ein charakteristisches Ideal der islamischen
Frömmigkeit und bildet die Grundlage für das Konzept der islamischen
Pädagogik. Während das Hauptinteresse dem Vertiefen des religiösen Glaubens im Einzelnen galt,
erweiterte sich der Bereich dieses
Konzeptes auch auf die Vereinigung
verschiedener weltlicher Disziplinen,
da es darauf zielte, beruhend auf den
Tugenden des Islams, innerhalb der
muslimischen Gemeinschaft inte-
Seite 15
grierte Persönlichkeiten zu entwickeln. Diese allgemeine Vorstellung
ist zurückzuführen auf die Theorie
und Praxis sowohl der grundlegenden, als auch der höheren Bildung im Islam. Offensichtlich wird
das im Koran und der prophetischen
Tradition. Aber auch in zahlreichen
Sprichwörtern und Aphorismen ist
diese hohe Achtung, die dem Wissen und der Bildung im Islam gewährt wird, deutlich zu erkennen.
2
Ursprünge in Koran und
prophetischer Tradition (sunna)
Neben der Allmacht Gottes spielt im
Koran keine der göttlichen Eigenschaften eine so bedeutende Rolle
wie seine Allwissenheit. Er weiß
nicht nur alles, was geschieht, sondern ist auch Quell und Ursprung
allen Wissens (vgl. Fück 1999, 1).
Verdeutlicht wird dies in der Sure
96, Vers 1-5, die traditionell als
erste Offenbarung an den Propheten Muhammad angesehen wird:
„Trag (Worte der Schrift) vor! Dein
höchst edelmütiger Herr (oder:
Dein Herr, edelmütig wie niemand
auf der Welt) ist es ja, der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt
hat (oder: der durch das Schreibrohr gelehrt hat), den Menschen
gelehrt hat, was er (zuvor) nicht
wusste“ (alle Koranübersetzungen
dieses Beitrags nach Paret 2001).
Sie lässt darauf schließen, dass Gott
der Menschheit die „Heilige Schrift“
oder „Schreiben“ lehrte. Diese Verse
scheinen darauf hinzuweisen, dass
der Islam von Anfang an das Vermitteln und Erwerben von (religiösem)
Wissen, das Lernen und die Bildung
vorrangig behandelte. Bereits hier
wird Gott nicht nur als Schöpfer
des Menschen, sondern auch als
sein unbestrittener, oberster Leh-
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
rer bezeichnet (vgl. Günther 2005
a, 641). Wie bei den vorherigen
Propheten besteht die Aufgabe des
Gesandten Muhammad darin, den
Menschen Gottes Zeichen vorzutragen und sie „Buch“ und „Weisheit“
zu lehren: „Und lass, Herr, unter
ihnen (d. h. unseren Nachkommen)
einen Gesandten aus ihren eigenen
Reihen auftreten, der ihnen deine
Verse (w. Zeichen) verliest, sie die
Schrift und die Weisheit lehrt [...]“
(2:129). Dazu wurde er zuerst aufgefordert, der Offenbarung aufmerksam zuzuhören. Erst dann sollte er
rezitieren und den göttlichen Text
selbst lesen, um von seiner Bedeutung durch Erklärung zu lernen
und schließlich Gottes Botschaft
zu vermitteln und andere zu lehren
(75:15-18). Diese „göttlich eingeführte“ Methode des Unterrichtens
hatte einen erheblichen Einfluss
auf die Vermittlung von Wissen
und auf die Bildung im Allgemeinen (vgl. Günther 2005 a, 641).
Aber nicht nur Propheten und
gottesfürchtige Männer verdanken
ihr Wissen Gott. Jeder, der schreiben kann, hat es von ihm gelernt:
„Ihr Gläubigen! Wenn ihr auf eine
bestimmte Frist ein Schuldverhältnis eingeht, dann schreibt es auf!
Und ein Schreiber soll (es) in eurem
Beisein aufschreiben, so wie es recht
und billig ist. Und kein Schreiber
Aber auch in zahlreichen
Sprichwörtern und
Aphorismen ist diese
hohe Achtung, die dem
Wissen und der Bildung
im Islam gewährt wird,
deutlich zu erkennen.
Seite 16
Die meisten der
zahlreichen Passagen im
Koran, die sich auf das
Lehren beziehen, sind der
gründlichen Anweisung
der Gläubigen im
Glauben und ihrer
spirituellen Entwicklung
als Individuen und
Mitglieder der
Gemeinschaft gewidmet.
soll sich weigern zu schreiben, so
wie Gott es ihn gelehrt hat (d. h.
von der Schreibkunst, die Gott ihn
gelehrt hat, Gebrauch zu machen).
Er soll schreiben. Und der Schuldner soll diktieren und Gott, seinen
Herrn, fürchten und nichts davon
abzwacken [...]“ (2:282). Dieser Vers
weist außerdem ausdrücklich auf die
Notwendigkeit von Leuten hin, die
des Schreibens mächtig sind, und auf
die Wichtigkeit schriftlicher Dokumente und auf die Praxis des Schreibens und Diktierens. Darüber hinaus
hat Gott die Menschen Beredsamkeit (55:3-4) und die Kunst, Tiere
zur Jagd abzurichten (5:4) gelehrt.
Auch die Magie geht auf ihn zurück
(2:101-102) (vgl. Fück 1999, 1-5).
Neben dem rein religiösen Inhalt,
der die Einheit und Majestät Gottes
verkündet, betont die Botschaft des
Korans den hohen Stellenwert des
Lernens und verbindet es mit Weisheit. Natürlich war dieses Lernen
an erster Stelle mit der göttlichen
Offenbarung, ihrem Verständnis
und ihrer Verbreitung durch Predigen und Lehren verknüpft. Der
Koran präsentiert Muhammad als
Lehrer seiner göttlichen Botschaft.
Aber er ist ein Lehrer, der, anders
als andere, keinen Lohn für seine
Arbeit erwartet. Somit wurde das
Verbreiten des neuen Glaubens von
zwei praktischen Maßnahmen mit
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
spezieller pädagogischer Bedeutung
begleitet. Es wurden gebildete Gläubige gebraucht, um Analphabeten zu
unterrichten, und zusätzlich wurden
nur gebildete Prediger zu neuen Gemeinschaften gesandt, die den Islam
angenommen hatten. Diese Männer
waren die ersten Lehrer, so wie die
Plätze des Gottesdienstes, die Moscheen, die ersten Schulen im Islam
wurden (vgl. Tibawi 1972, 23f.).
Alles menschliche Wissen gilt als
von Gott gegeben; somit ist es offensichtlich, dass Menschen nicht
mehr als Gott wissen können: „Oder
wollt ihr (vielleicht sagen), Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und die
Stämme (Israels) seien Juden oder
Christen gewesen? Sag: Wisst ihr
besser Bescheid, oder Gott? [...]“
(2:140). Selbst die Engel wissen nur,
was Gott sie gelehrt hat (2:30-32).
Nichts von dem göttlichen Wissen
kann gewusst werden, außer Gott
will es (2:255). Die Propheten sind
im Besitz von Wissen, das von Gott
zu ihnen gekommen ist und das gewöhnliche Menschen nicht besitzen
(7:62) (vgl. Rosenthal 1970, 29).
meinschaft gewidmet. Diese Stellen
behandeln den Unterricht im Glauben, den Gottesdienst und andere
Aspekte des religiösen Lebens. Andere Passagen wiederum liefern genaue
Anweisungen über säkulare Angelegenheiten wie zwischenmenschliche
Beziehungen, politische, soziale
und rechtliche Dinge. Themen, die
sich auf das Unterrichten beziehen,
lassen sich in Versen finden, die
Unterrichtsprinzipien, bestimmte
Methoden und Techniken und pädagogische und didaktische Elemente
in einem allgemeineren Sinn behandeln (vgl. Günther 2006 b, 200).
Es gibt einige besondere Prinzipien
der islamischen Bildung, die der
Koran bereits deutlich hervorhebt.
Es ist z. B. eine Grundvoraussetzung
bzw. ein Grundprinzip, die Leute in
ihrer eigenen Sprache zu unterrichten: „Und wir haben keinen Gesandten (zu irgendeinem Volk) geschickt,
außer (mit einer Verkündigung) in
der Sprache seines Volkes, damit er
ihnen (d. h. seinen Volksgenossen)
Klarheit gibt. [...]“ (14:4). Weitere
Unterrichtsprinzipien, auf die der
Koran hinzuweisen scheint, hier
Die meisten der zahlreichen Passagen natürlich besonders im Hinblick
im Koran, die sich auf das Lehren be- auf das religiöse Wissen, sind Aufziehen, sind der gründlichen Anwei- merksamkeit (7:204, 50:37), Geduld
sung der Gläubigen im Glauben und (17:11, 75:16), den Verstand zu
ihrer spirituellen Entwicklung als
schulen und das Gedächtnis durch
Individuen und Mitglieder der Gelautes (Vor)lesen, Wiederholen und
Seite 17
Nachdenken zu verbessern (4:82,
38:29, 47:24, 87:6), Vernunft und
Verständnis (8:22), nur über Themen
zu streiten bzw. zu diskutieren, in denen man bewandert ist (3:66, 17:36,
24:15, 22:3), in einer höflichen
Art und Weise zu argumentieren
(16:125, 29:46) und generell eine
höfliche Ausdrucksweise zu gebrauchen (17:53) (vgl. Al-Gisr 1968,
18ff. und Günther 2006 b, 203).
Zusätzlich gibt es aber noch zahlreiche textliche Charakteristika und
literarische Einfälle, die sich als
anspruchsvolle pädagogische und
didaktische Mittel herausstellen. Beispiele dafür sind rhetorische Fragen,
Textelemente, die bereits kraftvolle
Aussagen zusätzlich bekräftigen,
Mittel wie Beweise und Erklärungen
und schließlich literarische Zeichen
wie Parallelen, Wiederholungen,
Metaphern, Parabeln und Vergleiche (vgl. Behr 2009, 174ff.). Wenn
Unterricht und Lernen in einem
weiteren Sinne verstanden werden
sollte, würden sich die pädagogischen und didaktischen Elemente
im Koran zu Themen wie die Entwicklungsstadien, Gewohnheiten
des Menschen, seine Sozialisation,
ethische Normen und Werte bezogen auf Bildung und Erziehung,
und menschliche Psychologie ausweiten (Günther 2006 b, 204).
Neben dem Koran gibt es noch zahllose Aussprüche aus der Tradition
des Propheten Muhammad [hadīth,
pl. ahādīth; die ursprünglich von der
Verfasserin verwendete Umschrift nach
den Standards der Morgenländischen
Gesellschaft wurde für diesen Zeitschriftenbeitrag an eine vereinfachte
Umschrift angepasst] und Sprichwörter bzw. Redensarten, die ebenfalls
dazu ermutigen, nach Wissen zu streben und das Lernen zu fördern. An
dieser Stelle möchte ich nur einige
wenige, aber sehr bekannte und bedeutende Aussprüche des Propheten
hinzufügen: „Wissen zu erwerben ist
Pflicht für jeden Muslim, Mann oder
Frau!“; „Strebt nach Wissen vom Tag
eurer Geburt bis zum Tag eures Sterbens!“; „Sucht nach Wissen, selbst
im fernen China!“ (übers. n. Günther 2006 a, 368). Weitere Aussprüche besagen: „Am Tage des Gerichts
wiegt die Tinte des Lernenden und
Lehrenden das Blut des Märtyrers
auf.“, „Weisheit und Gelehrsamkeit
verleihen dem Angesehenen mehr
Ansehen, und sie erheben den Sklaven auf die Rangstufe des Königs.“,
„Behandelt die reichen und die armen Lernenden gleich, wenn sie vor
euch sitzen, um zu lernen!“ (übers.
n. Shalaby 1954, 162 und 264).
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
3
Die Literatur bedeutender
Gelehrter des klassischen Islam
mit dem 9. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden, uns heute
immer noch betreffen können.
3.1 Ibn Sahnūn (ÉÒËds ÌQH; ca. 817870 n. Chr.)
Muhammad Ibn Sahnūn lebte im
9. Jahrhundert und war ein arabischer Jurist und oberster Richter
der Mālikiten. Er war offenbar der
erste muslimische Gelehrte, der ein
„Handbuch“ für Lehrer geschrieben
hatte. Geboren wurde er in Kairuan,
einer Stadt in Tunesien, und lebte
dort auch die meiste Zeit seines Lebens. Diese Stadt war zu seiner Zeit
ein wirtschaftliches, kulturelles und
intellektuelles Zentrum der magrebinischen („westlichen“) Länder des
islamischen Reiches. Sein Werk ist
die früheste Abhandlung über Lehrer
und trägt den Titel „Verhaltensregeln
für Lehrer“ (ādāb al-mucallimīn). Es
handelt sich hierbei um einen rechtlichen Aufsatz, der von einem rein
religiösen Standpunkt aus geschrieben ist. Er befasst sich mit Themen,
denen Lehrer in Grundschulen
während des Unterrichtens begegnen
können. Dieses Werk ist ein Dokument von beachtlicher Bedeutung
für die Geschichte der Pädagogik.
Der Verfasser liefert uns eine Idee
von den Anfängen der pädagogischen
Theorie und der Lehrplanentwicklung im Islam, während er zugleich
zeigt, dass bestimmte Probleme, die
Die ersten vier Kapitel seiner Abhandlung basieren auf der prophetischen Tradition, die von den
Werten und Vorzügen des Lehrens
und Lernens des Korans und der
gerechten Behandlung der Schüler
von Seiten ihrer Lehrer handeln.
Die verbleibenden sechs Kapitel
präsentieren Fragen, die Ibn Sahnūn
stellte, und die Antworten, die ihm
von seinem Vater Sahnūn bin Sacīd
at-Tanūkhī (776-854 n. Chr.) gegeben wurden – der war ein geachteter
Jurist seiner Zeit und wird heute
noch als bedeutende Autorität im
mālikitischen Recht anerkannt. Ibn
Sahnūn bietet den Grundschullehrern eine Reihe von konkreten
Anweisungen und Regeln, die sich
von Aspekten des Lehrplans und der
Prüfungen bis hin zum praktischen,
rechtlichen Ratschlag erstrecken, z.
B. in Angelegenheiten wie der Anstellung und Bezahlung des Lehrers,
der Organisation des Unterrichts, der
Arbeit des Lehrers mit den Schülern,
der Beaufsichtigung der Schüler, der
angemessenen Behandlung der Schüler (z. B. wie man mit Streitigkeiten
zwischen den Schülern umgehen
soll), Klassenraum- und Unterrichtsausstattung und dem Schulabschluss.
Seite 18
Der Lehrplan, den Ibn Sahnūn vertritt, ist gewissermaßen repräsentativ
für die klassisch-islamische Grundschule, die Kinder ab einem Alter
von sechs oder sieben Jahren aufnahmen. Das Werk umfasst Pflichtfächer, wie die präzise Aussprache und
das Auswendiglernen des Korans, die
Pflichten des Gottesdienstes, Lesen
und Schreiben und zudem gutes Benehmen, da diese als Verpflichtungen
gegenüber Gott angesehen wurden.
Des weiteren gibt es eine Reihe empfohlener Fächer wie die Grundlagen
der arabischen Sprache und Grammatik, Kalligraphie, Arithmetik,
Poesie, vorausgesetzt die Verse sind
moralisch annehmbar, Sprichwörter,
historische Berichte und Legenden.
Ibn Sahnūn zitiert Grundsätze, die
auf den Propheten Muhammad zurückgeführt werden und die die entscheidende Bedeutung hervorheben,
dass eine religiös orientierte Ausbildung im Islam das Lernen und Auswendiglernen des Koran als selbstverständlich voraussetzt (vgl. Günther
2006 a, 369f. und Günther 2005 b,
92-99). Beispiele dafür sind: „Der
Beste von euch ist der, der den Koran
lernt und lehrt.“, „Wer den Koran
in jungen Jahren lernt, dem geht er
in Fleisch und Blut über. Wer ihn
aber im Alter lernt und nicht aufgibt,
auch wenn ihn das Gedächtnis immer wieder im Stich lässt, der erhält
dafür den doppelten Lohn.“, „Be-
fasst euch mit dem Koran, denn das
reinigt euch von Falschheit so wie
Feuer den Rost vom Eisen brennt.“
(Ibn Sahnūn, ādāb al-mucallimīn,
übers. n. Günther 2005 b, 101).
Erwachsene Briefe zu schreiben. Ein
fairer Wettbewerb wird erwünscht,
da er zur Gestaltung des Charakters
der Schüler und zu ihrer allgemeinen
intellektuellen Entwicklung beiträgt.
Ibn Sahnūn betont an mehreren
Stellen in seinem Buch, dass Bescheidenheit, Geduld und Leidenschaft für das Arbeiten mit Kindern
unerlässliche Qualifikationen für
Lehrer sind. Diese Ansichten stützt
er wiederum auf prophetische Traditionen. Doch er berichtet auch,
dass körperliche Strafen im Islam
des Mittelalters üblich waren, um
das Verhalten des Kindes zu berichtigen. Aber er besteht ausdrücklich
darauf, dass die Bestrafung nicht die
Grenze überschreiten sollte und dass
das Kind nicht ernsthaft geschädigt
werden dürfe. Eine Strafe dürfe nur
im Interesse des Schülers verhängt
werden, nicht aus Ärger und Unmut
– ein für damalige Verhältnisse vermutlich fortschrittlicher Ratschlag.
Andere Regeln betreffen eine Vielfalt
von Angelegenheiten. Den Lehrern rät er, Mädchen und Jungen
nicht zusammen zu unterrichten, da
gemischte Klassen die jungen Leute ungünstig beeinflussen könnten.
Diese Aussage von Ibn Sahnūn
scheint erstens darauf hinzudeuten,
dass Bildung nicht nur für Jungen
gedacht war und zweitens, dass
Koedukation in den Schulen bis zu
einem gewissen Grade üblich war.
Obwohl sich durch die klassische
Epoche hindurch die meisten pädagogischen Texte von muslimischen
Gelehrten ausschließlich mit dem
Unterricht von Jungen und männlichen Studenten befassten, gibt es
keinen klaren Beweis, besonders in
historischen und biographischen
Quellen, dass Mädchen und Frauen
zu irgendeiner Zeit vom Unterricht
der elementaren und der höheren
Schulen ausgeschlossen gewesen
wären. Zudem war die Erziehung der
Mädchen nicht immer auf die moralischen Aspekte begrenzt, wie das
innerhalb ihrer Familien vorgesehen
war. Ibn Sahnūn betont schließlich
noch, dass die Kinder von Christen
den Koran nicht lernen sollten. Dies
Was die praktischen Seiten des Unterrichtens und Lernens anbetrifft,
empfiehlt er Lehrern, die Schüler
dazu zu ermutigen, alleine und
gemeinsam mit anderen zu lernen,
aber auch Situationen zu schaffen,
die ihren Verstand herausfordern.
Eine Methode, die er vorschlägt, ist
z. B. das gegenseitige Diktieren, und
für fortgeschrittenere Schüler, an
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
Ibn Sahnūn
betont an mehreren
Stellen in seinem Buch,
dass Bescheidenheit,
Geduld und Leidenschaft
für das Arbeiten mit
Kindern unerlässliche
Qualifikationen für
Lehrer sind.
Seite 19
scheint ein Indiz dafür zu sein, dass
Kinder von Muslimen und Christen
gemeinsam die gleichen Klassen
besuchten (vgl. Günther 2006 a,
370f. und Günther 2005 b, 99ff.).
3.2 al-Dschāhidh («cC`ÂB; ca. 776868 n. Chr.)
Abu cUthmān al-Basrī, genannt
„al-Dschāhidh“, war ein berühmter
Mann der Literatur, Theologe und
wahrscheinlich äthiopischer Herkunft. Er wurde in Basra (Irak)
geboren, einer damals ethnisch und
intellektuell vielfältigen Stadt, die
seinen Geist geprägt hat und ihn
durch sein Leben und seine wissenschaftliche Karriere hindurch inspiriert hat. Sein Werk „Das Buch der
Lehrer“ (kitāb al-mucallimīn) ist von
einem literarisch-philosophischen
Standpunkt aus geschrieben und
befasst sich größtenteils mit Fragen
des Lernens und Unterrichtens an
den höheren Schulen. Es konnte
kein vollständiger Text des Buches
erhalten werden. Verschiedene
Fragmente dieses Werkes wurden in
vier Manuskripten in Kairo, Istanbul, London und Mosul entdeckt
(vgl. Günther 2005 b, 110ff.).
Des weiteren betont er den
grundlegenden Einfluss,
den das Schreiben auf die
menschliche Zivilisation
gehabt hat, und bezeichnet das Schreiben und
Aufzeichnen von Daten als
„Pfeiler“, auf denen die
Gegenwart und die
Zukunft der
Zivilisation ruhen.
In seinem Aufsatz verteidigt er
nicht nur die Schullehrer, sondern
tritt sogar vehement für sie ein und
betont ihre Überlegenheit allen
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
anderen Arten von Lehrern und
Erziehern gegenüber. Al-Dschāhidh
stellt Lehrer als intelligente, gewissenhafte und fleißige Menschen dar,
die leidenschaftlich ihrem Beruf
gegenüberstehen und mit ihren
Studenten leiden, wenn sie nicht
wie erwartet Fortschritte machen.
Eltern sollten daher nicht die Lehrer
dafür verantwortlich machen, wenn
ihr Kind in der Schule nur langsam
vorankommt. Stattdessen sollten
sie die geistigen Fähigkeiten ihrer
Nachkommen berücksichtigen.
Des weiteren betont er den grundlegenden Einfluss, den das Schreiben
auf die menschliche Zivilisation gehabt hat, und bezeichnet das Schreiben und Aufzeichnen von Daten als
„Pfeiler“, auf denen die Gegenwart
und die Zukunft der Zivilisation
ruhen. Er erklärt zudem, dass die
großen Denker und Forscher der
Vergangenheit das Auswendiglernen
ablehnten, da dadurch der Verstand
nicht mehr unterscheiden könne
und sich einfach auf das verlasse, was
die Vorgänger erreicht haben, ohne
Versuche zu unternehmen, selbst
zu Schlussfolgerungen zu kommen.
Dennoch hält al-Dschāhidh fest,
dass ein gutes Gedächtnis nötig und
wertvoll für den Lernprozess ist.
Andernfalls würden die Ergebnisse
jeglicher Bemühung nur von kurzer
Dauer sein (vgl. Günther 2006 a,
371f. und Günther 2005 b, 114f.):
„Gegen das Auswendiglernen zu sein
gründet in der Befürchtung, nur zu
imitieren, wohingegen das ableitende
Nachdenken die geeignete Art des
Denkens ist, die nötige Zuversicht
in das erarbeitete Wissen und in das
eigene Können hervorzubringen.
Es trifft zu, dass der Lernende das
schlussfolgernde Denken nicht üben
kann, wenn er nur auswendig lernt.
Andererseits vernachlässigt er sein
Gedächtnis, wenn er gar nicht auswendig lernt und nur Schlüsse zieht.
Vernachlässigt er das schöpferische
Nachdenken, versiegen ihm die
Ideen, und vernachlässigt er das Auswendiglernen, vergisst er seine Ideen“
(al-Dschāhidh, kitāb al-mucallimīn,
übers. n. Günther 2005 b, 121).
Al-Dschāhidh zählt die Hauptfächer
für Schüler in folgender Reihenfolge
auf: Schreiben, Arithmetik, Recht,
die Säulen der Religion, der Koran,
Grammatik, Prosodie und Poesie.
Weitere Fächer, die unterrichtet
werden müssen, umfassen logische
Argumentation, Polo, Bogenschießen, Reitkunst, Musik, Schach und
andere Spiele. Er schlägt auch vor,
die Studenten mit den Aussagen und
Argumenten berühmter Schreiber,
ihrem eleganten Schreibstil und
ihrem großen Wortschatz vertraut zu
machen. Ferner sollten die Studenten
darin unterrichtet werden, wie sie
Seite 20
sich selbst in einer Weise ausdrücken können, die die Leute ohne
jeglichen Bedarf an zusätzlichen
Erklärungen und Kommentaren
verstehen können. Lehrer sollten
dabei ein gutes Beispiel bieten. Er
empfiehlt den Lehrern, insbesondere
die geistige Fähigkeit der Studenten
in Betracht zu ziehen. Daher sollten
Lehrer eine Sprache gebrauchen,
die für die Studenten verständlich
ist. Außerdem sollten sie ihre Studenten freundlich und liebevoll
behandeln und versuchen ihr Herz
zu gewinnen (vgl. Günther 2006 a,
372f. und Günther 2005 b, 117ff.).
schaften für die höhere Schulbildung
vorschlugen. Die „fremden“ Wissenschaften waren diejenigen, die
sich auf griechische Philosophie und
Wissenschaft gründeten, und die
religiösen Wissenschaften basierten
auf dem Koran und seiner Interpretation (vgl. Walzer 1965, 778f.).
Der Lehrplan al-Fārābīs beschreibt
und bestätigt die Unterscheidung
zwischen menschlichem und göttlichem Wissen. Einige bestimmte
Ideen seiner Theorie vom Unterricht
sind in seiner Abhandlung „Die
Darlegung“ (al-burhān) zu finden.
Sie sind Teil seiner Diskussion über
Logik. Er beginnt mit der Erklärung,
3.3 al-Fārābī (ØQBo·ÂB; ca. 870dass arabische Termini wie taclīm
950 n. Chr.)
(„Unterricht“, „Kenntnis“, „AusAbū Nasr al-Fārābī, im mittelalterbildung“) und talqīn („Belehrung“,
lichen Europa bekannt als Alfarabius „Unterweisung“), häufig unpräzise
oder Avennasar, wird als einer der
gebraucht und manchmal auch vereinflussreichsten Philosophen angese- mischt bzw. verwechselt werden mit
hen und als einer der ersten, die sich dem, was als „allgemeine Erziehung“,
wirklich mit dem Thema Logik im
„Verbesserung des Charakters“ und
Islam befasst haben. Er war vermut„Schulung rechten Verhaltens“
lich türkischer Herkunft und wurde
(ta‘dīb) oder „Gewöhnung“ (ta‘wīd)
in Turkistan geboren (der Name
bezeichnet werden kann. Taclīm
verweist auf eine heutige afghanische führt seiner Definition nach zum
Provinz), lebte aber viele Jahre in
Verständnis oder zu einer Begabung
Bagdad und Aleppo (Syrien). Er
für das Erlangen von Verständnis,
starb in Damaskus im Alter von etwa während talqīn, dessen Ziel nicht
80 Jahren. Al-Fārābī war unter den
der Erwerb von Wissen ist, zu einem
ersten muslimischen Gelehrten, die
starken oder stärkeren Charakter
einen geschlossenen Lehrplan der
führt. Der ungenaue Gebrauch dieser
„fremden“ und religiösen WissenBegriffe hindere die Menschen aber
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
daran, richtig zwischen den verschiedenen Methoden zu unterscheiden,
die notwendig für den Erwerb von
Wissen, für die Gewohnheiten, die
Fertigkeiten oder die starken Charakterzüge seien. Al-Fārābī betont
zudem, dass solche terminologische
Präzision eine grundlegende Voraussetzung des Lernens im Allgemeinen
ist, da Klarheit im Ausdruck die
Klarheit in den Ideen und somit
im Lernen fördert. Dies sind Gründe genug für ihn, die Bezeichnung
„Unterricht“ präziser zu definieren.
Seiner Auffassung nach gibt es einen
göttlichen und einen menschlichen
Unterricht, wobei er sich hier nur
mit dem menschlichen Unterricht
befasst (vgl. Günther 2006 a, 373f.
und Haddad 1989, 123-127).
Laut al-Fārābī beschäftigt sich
menschliches Unterrichten mit
menschlichem Verständnis und sollte
somit im Rahmen der Philosophie
untersucht werden. Des weiteren ist
für ihn menschlicher Unterricht eine
Betätigung, die auf ein bestimmtes
Ziel und Ende hinzielt, nämlich die
Erkenntnis (macrifa) von Dingen, die
vorher nicht gewusst wurden. Dieser
Unterricht erfordert eine Art von
vorausgehendem oder anfänglichem
Wissen, auf dem man aufbauen
kann; er baut auf der Tatsache auf,
dass die Vermehrung von Wissen
ein natürliches Bedürfnis des Men-
Daher sollten Lehrer
eine Sprache gebrauchen,
die für die Studenten
verständlich ist.
Außerdem sollten sie
ihre Studenten
freundlich und liebevoll
behandeln und versuchen
ihr Herz zu gewinnen
Seite 21
„Lehren geschieht durch
Versprachlichung oder
Veranschaulichung. Im
Falle der Versprachlichung
bedient sich der Lehrer
dezidierter Begriffe und
Aussagen, in letzterem
Falle wird er von den
Schülern beobachtet: wie
er etwas tut, wie er einer
Sache gegenübertritt.“
schen ist; er zieht in Betracht, dass
die Befriedigung dieses Bedürfnisses
mit dem Bewusstsein des Lernenden
korreliert, im Grunde nichts zu
wissen; er erkennt an, dass Unwissenheit eine notwendige Bedingung
oder Komponente des Unterrichts
ist, denn sie ist die Stufe, auf welcher der Unterricht beginnt (vgl.
Günther 2006 a, 375. und Haddad
1989, 126). Eine Person dazu zu
bringen, sich an zuvor erworbenes
Wissen zu erinnern, dessen sie sich
nicht mehr bewusst ist, könne folglich nicht als „Unterricht“ im Sinne
von taclīm bezeichnet werden.
und dieser Begriff muss sich im
Innern abbilden lassen; b) anwendbar machen, was sich im Innern
abbildet. Es gibt zwei Wege, eine
Sache begreifbar zu machen: a) sie
in ihrer Charakteristik durch den
Verstand erschließen lassen, und b)
sie durch Beobachtung und Nachahmen verstehen lassen. Auch für die
Anwendbarkeit gibt es zwei Wege: a)
das Vorführen und b) das Überzeugen (übers. nach Mahdi 1962, 44).
Wie zu erkennen ist, wird Unterricht
ausdrücklich als ein interaktiver
Prozess gedacht, der den Lehrer und
den Studenten miteinbezieht. WähWas den Unterricht als Prozess und
rend es die Pflicht des Lehrers ist,
Situation angeht, bemerkt al-Fārābī
dem Schüler neues Wissen zu verallgemein: „Lehren geschieht durch
mitteln, und zwar auf eine Art und
Versprachlichung oder Veranschauli- Weise, die er verstehen kann, ist es
chung. Im Falle der Versprachlichung die Pflicht des Schülers, aktiv mit
bedient sich der Lehrer dezidierter
neuen Fakten zu arbeiten, bis er sie
Begriffe und Aussagen, in letztein Zusammenhängen benutzen kann,
rem Falle wird er von den Schülern
die sich von denen unterscheiden,
beobachtet: wie er etwas tut, wie
die ihm zuvor demonstriert wurden.
er einer Sache gegenübertritt. Die
Dieses wechselseitige Element im
Schüler werden dazu tendieren, ihn
Lernprozess erlaubt dem Unterricht,
zu imitieren, da sie beim Beobachstudentisch-orientiert zu sein, denn
ten bereits innerlich imitieren, und
es ist das Ziel des Lehrers, die Entdesie werden die Dinge so tun wie sie
ckungsreise des Studenten zu erleiches am Vorbild gesehen haben“ (altern. Al-Fārābī betont außerdem,
Fārābī, kitāb al-alfādh al-musta‘mala dass der Lehrer das Verständnis und
fīl-mantiq, übers. n. Günther 2006
die Vorstellungskraft des Studenten
a, 375). Er ergänzt: „Jeder Lernfördern sollte, indem er z. B. die zu
aufbau beruht auf zweierlei: a) was
unterrichtende Sache beschreiben
gelehrt wird, muss begreifbar sein,
und definieren sollte, während er
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
dabei verschiedene Methoden der Erklärung benutzt. Lehrer sollten sich
in dieser Hinsicht auf Methoden und
Techniken verlassen, zum Beispiel
Klassifizierung, Induktion, Analogie
und Syllogismus. Diese Methoden
helfen dem Studenten, sich mit dem
Essentiellen und Exemplarischen
vertraut zu machen, ein Verständnis
zu erarbeiten und Wissen gesichert
zu erwerben. Zusätzlich helfen diese
Techniken, neue Informationen zu
integrieren. Jedoch sollte diese Art
von Unterricht nur bei solchen Studenten genutzt werden, die erfahren und stark genug sind, „direkt“
angesprochen zu werden, so dass
der Lehrer die Lernenden auf das
eigentliche Thema hin konzentrieren kann, ohne in Erklärungen und
Kommentare abschweifen zu müssen.
Dies würde nämlich dazu führen,
dass man zu weit vom eigentlichen
Thema abkommt und die Studenten
eher verwirrter als kenntnisreicher
wären. Sie würden Zeit verlieren
beim Versuch, alles zu integrieren,
was der Lehrer gesagt hat, und sie
würden sich schließlich entmutigen lassen (vgl. Günther 2006 a,
375f. und Haddad 1989, 134ff.).
Seite 22
3.4 Ibn Sīnā (CË×s ÌQH; ca. 9801037 n. Chr.)
Ibn Sīnā (auch Abu cAli Sīnā) war
ein bedeutender muslimischer Arzt,
Philosoph, Naturwissenschaftler
und Verwaltungsbeamter und im
Westen bekannt als Avicenna. Er
wurde in der Nähe von Buchara im
heutigen Usbekistan geboren. Er
verließ nie die östlichen Teile der
islamischen Länder und verbrachte
seine produktivsten Jahre in Iran, in
Städten wie Isfahan und Hamadan.
Obwohl Persisch seine Muttersprache war, schrieb er seine wichtigsten
Werke in arabischer Sprache.
Ibn Sīnā stellte sich eine Welt vor,
die auf zwei Pfeilern ruht, zum einen
auf der griechischen Philosophie und
zum anderen auf der koranischen
Offenbarung und den Tugenden des
Islams. Durch das Verbinden der
Philosophie mit dem Studium der
Natur und durch das Verständnis
davon, dass die Vollkommenheit
der Menschen im Wissen und der
Handlung liegt, nahm Ibn Sīnā
geschickt Grundprinzipien der alten
griechischen Philosophie auf. Daher
spiegelt sein allgemeines Lernkonzept auch Grundsätze von Aristoteles
wider (vgl. Goichon 1971, 941).
Ibn Sīnā galt als eine sehr spirituelle und ethische Person; er war der
Meinung, Lehren und Lernen sollten
auch dazu führen, den Glauben
tief in der Seele des Individuums
zu verwurzeln. Dennoch sind seine spezielleren Diskussionen über
Bildung und Erziehung im Wesentlichen eher medizinischer oder
psychologischer Natur. Er war der
Ansicht, dass der eigentliche Prozess
des Wissens mit den fünf Sinnen
beginnt: Hören, Fühlen, Riechen,
Schmecken und Sehen. Durch die
Seele haben Menschen zwei intellektuelle Fähigkeiten: den praktischen
und den theoretischen Intellekt.
Während der praktische Intellekt die
körperlichen Bewegungen bestimmt,
steuert der theoretische Intellekt das
logische Denken und die Denkprozesse innerhalb der Seele. Ibn Sīnā
betont hierbei, dass der theoretische
Intellekt vier verschiedene Prozesse
miteinschließt, die nur für Menschen charakteristisch sind und ihn
somit von den Tieren unterscheiden. Diese Prozesse umfassen a) das
Potential, Wissen zu erwerben; b)
die Fähigkeit, erworbenes Wissen
zu nutzen und wirklich zu denken;
c) die Fähigkeit, eine intellektuelle
Aktivität zu bewirken, um komplexe Gedanken zu verstehen, und
schließlich d) die Fähigkeit, Wissen
zu verinnerlichen. Diese Fähigkeit
erhalten zu haben und imstande
zu sein, davon einen angemessenen
Gebrauch zu machen, bedeutet die
höchste Stufe des Lernens erreicht zu
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
haben. Sinneserfahrungen spornen
die Kinder dazu an, Dinge zu erkennen, zu vergleichen und zu klassifizieren, wenn sie die Welt um sich
herum erkunden und erschließen.
Sein spezielles Interesse, gerade
die jungen Leute zu bilden bzw.
zu erziehen, wird auch in seinem
„Kanon der Medizin“ (al-qānūn
fit-tibb) offensichtlich, einer Zusammenfassung allen medizinischen
Wissens seiner Zeit. Hier befasst
er sich mit der Kindererziehung
als Teil seiner Diskussion über die
vier Stadien des Lebens. Einblicke
in bestimmte physische, emotionale und intellektuelle Aspekte der
Kindesentwicklung bilden für ihn
den Ausgangspunkt, um Aspekte zu
untersuchen, die von allgemeiner
Bedeutung für die Erziehung in der
Zeit von der frühen Kindheit bis
zur Adoleszenz sind (vgl. Günther
2006 a, 376ff.): „Der Schlüssel liegt
hier in der Berücksichtigung der
Gefühle und ihrer Kontrolle. Kinder
dürfen nicht ihren Emotionen wie
Hass oder Furcht oder Krankheiten
und Schlaflosigkeit ausgeliefert
sein. Ihnen soll darum zugestanden
werden, was sie gesunden lässt, was
ihnen Freude bereitet und sie anregt.
Was Abscheu erregt, soll von ihnen ferngehalten werden. Das hat
zwei Auswirkungen. Erstens: Das
Bewusstsein wächst und verbindet
sich von Beginn mit guten Gefühlen und Erinnerungen, was es dafür
empfänglich und dazu bereit macht,
das Gute zu tun. Zweitens profitiert davon der Körper: Schlechte
Angewohnheiten und Gedanken
beeinträchtigen das körperliche
und gesundheitliche Gleichgewicht,
ebenso wie ein schlechter körperlicher Zustand die inneren Zustände
zum Schlechten beeinflusst […]
Folglich führt ein guter Haushalt
in den Emotionen zu geistiger und
körperlicher Gesundheit gleichermaßen“ (übers. n. Ibn Sīnā, al-qānūn
fit-tibb, s. Günther 2006 a, 378).
Ibn Sīnā bekräftigt, dass die Berücksichtigung der Charakteristika
des menschlichen Intellekts äußerst
wichtig in der Kindererziehung
ist. Außerdem scheint er darauf zu
schließen, dass die Art und Weise,
wie sich ein Kind entwickelt, eine
direkte Auswirkung auf sein Lernen
hat. Er macht auf stabile emotionale
Bedingungen aufmerksam, da diese
die physische und mentale Entwicklung des Kindes schützen. Daneben
empfiehlt er, dass Kinder mit dem
Besuch der Schule beginnen sollten,
wenn sie sowohl physisch stark als
auch geistig reif genug sind. Das
schließt mit ein, dass Kinder die nötigen Sprachkenntnisse bzw. Sprachfertigkeiten besitzen und dazu fähig
Seite 23
sein müssen, sich zu konzentrieren
und zu verstehen. Dies ist seiner
Ansicht nach normalerweise im Alter
von sechs Jahren der Fall. Die Harmonie zwischen den physischen und
geistigen Komponenten der Bildung
bleibt eine wichtige Voraussetzung in
allen Stadien des Lernens. Folglich
rät er den Lehrern dazu, den „natürlichen“ intellektuellen Fähigkeiten
der Schüler große Aufmerksamkeit
zu schenken und Fächer auszuwählen, die zu der geistigen Fähigkeit
und Bildungsstufe der Schüler passen. Alle Hindernisse auf dem Weg
des Lernens müssen aus dem Weg geräumt werden, und das Lernen muss
zu einem interessanten, erfreulichen
und spannenden Erlebnis für die
Schüler gemacht werden. Mithin gilt
Ibn Sīnā als ein früher Verfechter der
notwendigen materiellen Lernvoraussetzungen und des Lernens durch das
hinreichend geeignete Arrangement
Was den Lehrplan anbetrifft, so lässt
sich aus Ibn Sīnās „Das Buch der
Leitung“ (kitāb as-siyāsa) folgern,
dass das Lehren des Korans einen
gewissen Vorrang hat. Das bedeutet
auch, traditionell die Schüler mit
dem Auswendiglernen beginnen zu
lassen und sie im Lesen und Schreiben und in den Grundprinzipien des
Glaubens zu unterrichten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang
ist, dass er auf ein pädagogisches
Prinzip hinweist, wenn er den Lehrern empfiehlt, das Lesen- und
Schreibenlernen miteinander zu verbinden: Der Lehrer soll Buchstaben
an die Tafel schreiben, bis die Schüler vertraut mit ihnen sind, und dann
soll er die Buchstaben abschreiben
lassen, bis sie wissen, wie man sie
schreibt. Ibn Sīnā folgert an dieser
Stelle außerdem, dass das Studium
der Heiligen Schrift junge Lernende
mit aller Beredsamkeit und Deutung
der Dinge ausstattet, die sie im jungen Stadium des Lernens brauchen.
Die verschiedenen philologischen
und thematischen Aspekte, die durch
das Lernen und Studieren des Korans auftauchen, regen das Denken
an und helfen, die mentalen Fähigkeiten der Schüler zu steigern. Die
Heilige Schrift ist für ihn allgemein
eine große Quelle, um Kinder Ethik,
Traditionen, Moral und gutes Benehmen zu lehren. Wie die Mehrheit der
muslimischen Denker der Frühzeit
und der Klassischen Zeit schätzt Ibn
Sīnā die Poesie als Mittel der Bildung
hoch ein. In der Kindererziehung ist
Poesie aus mehreren Gründen wichtig: In ihr sei die Sprache nach ästhetischen Prinzipien ausgewogen und
die zusammengesetzte Struktur wohl
durchdacht und organisiert, was
die Gedächtnisleistung der Kinder
begünstige, ihren Verstand trainiere
und sie schließlich darauf vorbereite,
komplexere Zusammenhänge zu
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
Die verschiedenen
philologischen und
thematischen Aspekte,
die durch das Lernen und
Studieren des Korans
auftauchen, regen das
Denken an und helfen,
die mentalen Fähigkeiten
der Schüler zu steigern.
verstehen. Des weiteren mache die
Poesie die Schüler mit rhetorischen
Prinzipien vertraut, was ihnen dabei
helfe, eine geeignete Ausdrucksweise
zu benutzen, ihre Fantasie zu fördern
und ihren intellektuellen Horizont
zu erweitern. Außerdem seien Poesierezitationen angenehme Erlebnisse,
die das Lernen interessant, lebendig
und erfreulich sowohl für den Rezitator als auch den Zuhörer machten.
Was den Unterricht der Schüler
in der Schule angeht, betont Ibn
Sīnā, dass Kinder die Klasse mit
gleichaltrigen Schülern besuchen
sollten. Zudem hebt er hervor, dass
Kommunikation und Diskussionen
unter Kindern ihrem Verstand nutze
und dabei helfe, Konflikte zu lösen.
Schließlich betont er ausdrücklich,
dass Lehrer tugendhafte Menschen
mit einem lobenswerten Charakter
und im Besitz von pädagogischen
Fähigkeiten und Fertigkeiten im
Umgang mit Kindern sein müssen
(vgl. Günther 2006 a, 378ff.): „Wer
Kinder erzieht und unterrichtet, soll
der Religion mit Verstand und Hingabe folgen (dhūd-dīn), moralische
und ethische Prinzipien einhalten,
professionell im Umgang mit Kindern sein, würdevoll, bescheiden und
ernsthaft auftreten, Abstand halten
zum Üblen und Ungesunden, nicht
trinken, wach und aufmerksam, ehrbar, freundlich, höflich und gesittet
Seite 24
sein […]“ (Ibn Sīnā, kitāb as-siyāsa,
übers. n. Günther 2006 a, 380).
Pädagogen wider und nicht bloß
die allgemeinen oder idealistischen
Aussagen eines frommen Gelehrten.
3.5 al-Ghazālī (ØÂBq³ÂB; ca. 10581111 n. Chr.)
Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī gilt als einer der
größten, vielleicht sogar der größte
Theologe im Islam, ein Mystiker und
religiöser Reformer. Er wurde in Tus
in der Nähe der Stadt Maschhad in
Iran geboren. Er und sein jüngerer
Bruder Ahmad (später selbst ein
bekannter Mystiker) waren schon
in jungen Jahren Waisen geworden.
Er verbrachte die meiste Zeit seiner
Ausbildung und seiner weiterführenden Studien in Nischapur und
Bagdad. 1091, im Alter von 33
Jahren, nahm er den Posten als oberster Lehrer auf der neu gegründeten
Nidhāmīya-Universität (U×ÆC«ËÂB) an,
der berühmtesten Institution der
höheren Bildung in Bagdad und vielleicht in der gesamten islamischen
Welt im 11. Jahrhundert. Bis 1095
arbeitete er dort als Professor für
kanonisches islamisches Recht und
hielt Vorträge vor Hunderten von
Studenten. Zu einem späteren Zeitpunkt nahm er das Unterrichten
wieder auf, zuerst in Nischapur und
später in Tus. Seine pädagogischen
Ideen spiegeln daher wirkliche
Lehrerfahrung und die pädagogische
Fachkenntnis eines bedeutenden
Al-Ghazālī nähert sich der Frage des
Lernens aus einer deutlich anderen
Perspektive. Er ist allgemein bekannt
dafür, griechische Logik als neutrales
Instrument des Lernens angenommen zu haben. In seinen mystischen
Werken begegnen uns zwei Punkte
von Bedeutung für die Pädagogik,
zum einen die Eingliederung von im
Grunde ethischen Werten Aristoteles
in eine islamische Art und Weise,
und zum anderen seine Betonung
darauf, dass der Pfad zur mystischen
Gotteserkenntnis mit dem traditionellen islamischen Glauben beginnen muss (vgl. Günther 2006 a,
380f. und Günther 2005 a, 643).
Sein Verständnis von
Bildung und Erziehung
als (An)leitung und nicht
als Zurechtweisung
wurde zu einem wichtigen
pädagogischen Prinzip,
das in vielen klassischen
Schriften über islamische
Bildung auftaucht.
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
Er wird als einer der großen Urheber
klassisch-pädagogischer Philosophie
und Ethik des Islam angesehen. Sein
Verständnis von Bildung und Erziehung als (An)leitung und nicht
als Zurechtweisung wurde zu einem
wichtigen pädagogischen Prinzip, das
in vielen klassischen Schriften über
islamische Bildung auftaucht. Seine
einflussreichsten und bedeutendsten
Ansichten über das Lehren und Lernen lassen sich in seinem Werk „Die
Wiederbelebung der Wissenschaften
von der Religion“ (ihyā‘ culūmuddīn) finden (vgl. Watt 1965,
1038ff.). Es spiegelt seine tiefe Überzeugung wider, dass religiöses Wissen
und Bildung Mittel für die Menschen sind, in dieser Welt Seelenheil
für die kommende Welt zu erlangen.
Seine theologisch-mystische Annäherung an das Thema Lernen zeigt
sich z. B. in seiner Vorstellung vom
Herzen und von den Menschen.
Für al-Ghazālī ist das Herz der Hort
transzendenter geistiger Wahrnehmung, der mit dem physischen Herz
verbunden ist. Diese Wahrnehmung
ist das Wesen des Menschen, der
versteht, lernt und weiß (vgl. Obermann 1921, 313f.). Daher braucht
seiner Meinung nach das Herz des
Kindes eine spezielle Fürsorge und
Aufmerksamkeit. Für ihn ist das
Herz des Kindes ein kostbares Juwel,
neutral, im Sinne der tabula rasa frei
von allen Eindrücken und empfänglich für jeden Eindruck und jede
Neigung, der es näher gebracht wird.
Wenn man das Kind an Gutes gewöhnt, wird es in einen glücklichen
Zustand in dieser und der nächsten
Welt hineinwachsen, und seine Eltern und Lehrer werden teilhaben an
dieser Belohnung. Aber wenn man
es an Schlechtes gewöhnt und das
Kind sich selbst überlassen wird „wie
ein Tier“, wird es unglücklich sein,
und seine Eltern und Lehrer werden
die Verantwortung dafür tragen.
Seite 25
Al-Ghazālī hebt hervor, dass für ihn
wahres Wissen nicht einfach ein
Auswendiglernen von angesammelten
Fakten bedeutet, sondern ein Licht,
das das Herz überflutet. Deshalb
ist das erste und wichtigste Ziel des
Lernens das Studium des Göttlichen.
Er ermahnt daher seine Studenten,
Kenntnis über das Jenseits zu erlangen, da die edelste aller Disziplinen
das Wissen über Gott sei. Aber dennoch verachtet und vernachlässigt er
nicht die anderen Bereiche der Wissenschaft. Da alle, die Gott durch
Wissen ganz gleich welcher Art suchen, eine gesegnete Reise unternehmen, bietet al-Ghazālī sowohl denjenigen Hilfe, die die Reise beginnen,
als auch denjenigen, die andere auf
dem mystischen Pfad des Lernens
leiten. Zu diesem Zweck widmete er
sein erstes Kapitel den „Vorzügen des
Wissens, Lehrens und Lernens“ (fadl
al-cilm wat-taclīm wat-tacallum), das
in Kapitel fünf („Verhaltensregeln für
Schüler und Lehrer“; ādāb al-mutac
allim wal-mucallim) von einer großen Liste von Empfehlungen über die
Pflichten und das richtige Verhalten
von Schülern und Lehrern gefolgt
wird (vgl. Günther 2006 a, 381f.).
Al-Ghazālī gibt die Verhaltensregeln
für Schüler bzw. Studenten in zehn
Punkten an. Zunächst muss der
Schüler seine Seele reinigen, indem
er sich von schlechten Gewohnheiten
und unangenehmen Charaktereigen-
schaften befreit. Des weiteren soll
er sich so weit wie möglich von den
Ereignissen der Welt zurückziehen,
da die Verbindungen zu Familie und
Land ihn davon abbringen könnten,
sich voll und ganz auf das Lernen zu
konzentrieren: „Das Wissen ergibt
für einen Menschen nichts, so lange
er sich ihm nicht ergibt“ (Al-Ghazālī,
ihyā‘ culūmud-dīn, übers. n. Günther
2006 a, 383). Der Lernende soll akzeptieren, was sein Lehrer ihn lehrt,
seinen Ratschlag annehmen und seiner Leitung vertrauen: „Der Schüler
sei seinem Lehrer wie der weiche Boden dem reichen Regen, den er ganz
und gar in sich aufnimmt“ (ebenda).
Der Schüler soll die sich widersprechenden Meinungen anderer
in seinem Fach ignorieren und sich
auf das Beherrschen dessen konzentrieren, was ihm von seinem Lehrer
vorgegeben wird. Zusätzlich sollte er
sicherstellen, dass der Lehrer seiner Wahl seine eigene Richtung der
Argumentation verfolgt und nicht
fortwährend die Meinungen anderer zum Ausdruck bringt. Weiterhin
soll er sich vergewissern, dass ihm
nach und nach alle Bereiche des
Wissens vertraut werden, denn alle
Wissensgebiete sind miteinander
verbunden und bauen aufeinander
auf. Der Schüler sollte nicht versuchen, alles sofort zu lernen, sondern
sein Studium zu ordnen, indem
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
er zunächst mit den wichtigsten
Disziplinen beginnt. Der unmittelbare Vorsatz des Schülers sollte
die Erlangung von innerer Tugendhaftigkeit sein und sein höchstes
Ziel die Annäherung zu Gott und
geistige Perfektion (ebenda).
Der Lehrer dagegen sollte mitfühlend und verständnisvoll zu seinen
Schülern sein und sie wie seine
eigenen Kinder behandeln; er sollte
dem Beispiel des Propheten Muhammad folgen und ohne Besoldung
unterrichten; er sollte nicht nach
Anerkennung für seine Dienste
streben; er muss sicherstellen, dass
jeder seiner Schüler richtig eingestuft
wird; er muss seine Schüler davon
überzeugen, schlechte Gewohnheiten aufzugeben, aber nicht auf
eine vorwurfsvolle Art und Weise,
sondern durch feine Andeutungen,
da die direkte Ansprache häufig zu
Trotzreaktionen führen könne. Der
Lehrer sollte außerdem sicherstellen,
dass der Lehrplan für den Unterricht
und die Prüfungen nicht zu schwierig sind, denn das Erfolgserlebnis ist
für die Schüler sehr wichtig; er sollte
auf die Schüler Rücksicht nehmen,
die Schwierigkeiten beim Lernen
haben und langsamer vorankommen,
und der Lehrer sollte das praktizieren und leben, was er kennt und
lehrt und nicht seinem Verhalten
oder seiner Arbeit gestatten, dem
zu widersprechen (a.a.O., 384).
Al-Ghazālīs Aufzählung von Ratschlägen markiert deutlich den Höhepunkt der klassisch-islamischen,
pädagogischen Tradition. Er kümmert sich leidenschaftlich um seine
Studenten und versucht ihnen dabei
zu helfen, sich zu verwirklichen. Seine pädagogischen Ideen haben nichts
an Bedeutung über die Jahrhunderte verloren und sind auch heute
noch ansprechend (a.a.O., 384).
Seite 26
4
Schlussbetrachtung
Entsprechend würden
heutige Pädagogen
einen Nutzen davon
haben, die Vorstellung
wieder hervorzuheben,
dass das Unterrichten
ein sorgsamer Beruf ist
Dieser Aufsatz skizziert in aller gebotenen Kürze die Anfänge islamischer
Pädagogik nach. Die Ursprünge
im Koran und in der Tradition des
Propheten Muhammad, die Prinzipien bedeutender muslimischer
Gelehrter der klassischen Epoche
und entsprechende Zitate wurden als
eine zusammenfassende Übersicht
aufgeführt. Der Schwerpunkt lag
dabei auf den Grundprinzipien der
islamisch-pädagogischen Theorie.
Es hat sich herausgestellt, dass das
Thema islamische Pädagogik bis
jetzt kaum untersucht worden ist
und leider auch nur ein kleiner Teil
dieser pädagogischen Texte veröffentlicht wurde. Die Informationen
über sie sind ziemlich zerstreut in
verschiedenen Quellen zu finden.
Dabei verdienen diese frühen Werke
Anerkennung für ihren Beitrag zur
Geschichte der Pädagogik im Allgemeinen wie auch der islamischen
Religionspädagogik im Besonderen.
Sie repräsentieren die frühesten
Versuche muslimischer Wissenschaft, sich mit pädagogischen und
methodischen Fragen zu befassen.
Bereits der Koran betont deutlich
den hohen Stellenwert des Lernens
und liefert einige Grundprinzipien
Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen
der islamischen Bildung. Auch die
zahlreichen Aussprüche des Propheten Muhammad ermutigen, nach
Wissen zu streben und das Lernen zu
fördern. Mit den großen Gelehrten
des klassischen Islams entwickelte
sich dann langsam die pädagogische
Theorie mit ihren verschiedenen
Prinzipien. Ibn Sahnūn verfasste die
früheste Abhandlung über Lehrer. Er
lieferte eine Idee von den Anfängen
der Lehrplanentwicklung und eine
Reihe von konkreten Anweisungen
besonders für Grundschullehrer. AlDschāhidh befasste sich größtenteils
mit Fragen des Lernens und Unterrichtens der höheren Schulbildung
und betonte die wichtige Rolle und
die hohe Stellung des Lehrers. AlFārābī thematisierte als erster die
philosophischen Aspekte des Verstehens und der sprachlichen Definition als Grundlage des Lernprozesses
und verstand Lehren und Lernen als
Interaktionsprozess zwischen Lehrendem und Lernendem. Ibn Sīnā
nahm Grundprinzipien der alten
griechischen Philosophie auf und
näherte sich dem Thema der Bildung
und Erziehung eher aus medizinischpsychologischer Sicht. Und alGhazālī schließlich, einer der großen
Urheber klassisch-pädagogischer
Philosophie und Ethik, verstand Bildung und Erziehung als Leitung und
nicht als Zurechtweisung und stellte
genaue Verhaltensregeln für Leh-
rer und Schüler auf. Die Theorien
dieser bedeutenden muslimischen
Gelehrten des klassischen Islams sind
Ideen von großem Anklang auch für
den modernen Pädagogen, da die
ethischen und emotionalen Aspekte
des Lernens fast verschwunden zu
sein scheinen in unserer technisch
orientierten und bürokratischen
Welt. Entsprechend würden heutige Pädagogen einen Nutzen davon
haben, die Vorstellung wieder hervorzuheben, dass das Unterrichten
ein sorgsamer Beruf ist (vgl. Günther
2006 a, 386). Aber wie bereits erwähnt, ist das Thema der islamischen
Pädagogik unerschöpflich und bietet
noch viele interessante Anknüpfungspunkte und neue Erkenntnisse
über die Geschichte der Pädagogik.
Seite 27
Literatur
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Wandel des Lehrerbildes im Islam
mit besonderem Blick auf die
deutsche Situation. In: Harry Harun Behr, Daniel
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Seite 28
Ramin Massarrat
»Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Lösungsansätze durch Texte aus dem Sufismus
Wie weit darf gegangen
werden, das Gesicherte
in der eigenen Religion
zu hinterfragen,
zu reflektieren und dies
den unterschiedlichen
Lernertypen, die es
vermutlich auch mit Blick
auf das religiöse Lernen
gibt, für die konkrete
Situation aufzubereiten
und anzubieten?
1
Einleitung
Wer an deutschen Universitäten eine
Islamlehrer-Ausbildung erfolgreich
durchläuft, hat im Regelfall auf
diesem Wege jede Menge Rüstzeug
mit auf den Weg bekommen: Fundierte Kenntnisse der islamischen
Glaubenslehre und den Umriss des
Lebenswegs, der Sira, des Gesandten Gottes Muhammad, ArabischGrundkenntnisse, Grundzüge der
anderen beiden Buch-Religionen
Christentum und Judentum, eingehende Kenntnis des Lehrplans und
ein Schulpraktikum. Spätestens in
der Schule aber, in der real existierenden Welt der Schüler und in der
Konfrontation von Theorie und
Praxis zeigt sich, dass auch die beste
theoretische Bildung nicht auf alle
erdenklichen Situationen vorbereiten
kann, selbst wenn sie einen zweifellos unschätzbar großen Beitrag
zur Bewältigung der in der Praxis
auftauchenden Probleme und Fragestellungen leistet. Jeder Lehrer wird
sicherlich im Laufe seines Arbeitslebens mit essenziellen Schülerfragen
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
konfrontiert, deren Beantwortung
situations- oder inhaltsbedingt auch
nach langen Berufsjahren eine Herausforderung darstellen kann. In
dem einen Fach wird dies seltener,
im anderen häufiger der Fall sein.
Das Fach aber, das die stärkste
Frequentierung heikler Sinnfragen
naturgegeben geradezu anzieht, ist
zweifellos konfessionsübergreifend
der Religionsunterricht. Immerhin
werden hier Themen wie Leben und
Tod, Leben nach dem Tod oder auch
Fragen aller Art über Gott und seine
Gesandten behandelt. Eine Frage
ist dabei unvermeidbar und zu allen
Zeiten aktuell: Warum gibt es das
Böse, wenn Gott doch das Gute will?
Diese Frage ist vermutlich die Frage
überhaupt für die meisten Schüler in
der weltlich geprägten Moderne, da
sie wie keine andere den Glauben an
jede zuvorderst durch Gott definierte
Religion ins Wanken bringen kann.
Und keine andere Frage bringt so
viel Zweifel und Verzweiflung hervor
und ist so schwer zu beantworten,
denn ohne das Böse gäbe es auch
keine Hölle, keinen Teufel, keine
Folter oder Phosphorbomben auf
wehrlose Menschen, auf die schwächsten der Schwachen, die Kinder.
Es mag im Zeitalter der elektronischen Medien und des weiter
abnehmenden Interesses am Lesen
unter Jugendlichen schwerer sein
als zu anderen Zeiten, aber: Texte
einzubringen kann für die Beantwortung der Frage nach dem Bösen
aus der islamischen Sicht eine hervorragende Aufklärungsarbeit leisten. So ist das Werk „Fihi Ma Fihi“
(Schimmel, Annemarie: Maulana
Djalaluddin: Von allem und vom
Einen, München 1988) des großen
Sufi-Meisters, Gelehrten und Dichters Maulana Dschalaluddin Balchi
eine großartige Textgrundlage, die
besonders in einer der Abhandlungen auf unvergleichliche Art und
Weise diese hochkomplexe Frage in
einer gleichermaßen schönen und
Seite 29
kräftigen, sowie einfachen und gut
verständlichen Sprache auch für
die Schüler zu beantworten helfen
kann. Der 1207 in Balch, im heutigen Afghanistan geborene und
1273 in Konya, der heutigen Türkei
gestorbene „Balchi“ ist im Westen
meist besser bekannt als „Rumi“.
2
Lehrplanbezug
Die im Folgenden vorgestellten
Texte betreffen allesamt das Kapitel
Glaubenslehre aus dem Lehrplan
für den Islamischen Unterricht in
Bayern, wo es unter anderem heißt:
„Gott liebt seine Geschöpfe; Gott
ist gerecht und barmherzig […]
Gott ist allmächtig; Gott ist allgegenwärtig“ (Download via www.izir.
uni-erlangen.de). Die oben angesprochenen Fragen der Schüler deuten
auf die Existenz des Bösen und den
scheinbaren Widerspruch mit Gottes
Allmacht und seiner Liebe zu den
Geschöpfen. Das muss von Seiten
der Lehrkraft ernst genommen, analysiert und beantwortet werden. Die
Herausforderung liegt darin zu versuchen, das Paradoxon des liebenden
und allmächtigen und des gleichzeitig das Böse wollenden, aber nicht
billigenden Gottes mit Hilfe von entsprechend geeigneten Texten einzufangen – vielleicht sogar aufzulösen.
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
3
»Das Böse« – der polarisierende
Begriff schlechthin
Ob Wikipedia die erste Adresse ist,
sich kundig zu machen, kann diskutiert werden. Fest steht: Es ist das
von Schülern meistgenutzten Internet-Lexikon, und dort finden sich
kurze Definitionen wie etwa die folgende: „Das Böse […] ist der Gegenbegriff zum Guten und ein zentrales
Konzept der Philosophie- und Religionsgeschichte (http://de.wikipedia.
org zu „das Böse“ vom 27.12.2009).
Googeln die Schüler weiter, dann
stoßen sie auf Texte von Lehrern und
ihren eigenen Webseiten oder christlich, wenn nicht evangelikal angehauchten Anbietern wie zum Beispiel
Steve Kumar (Publikation: Christianity für Sceptics; Peabody/Massachusetts 2000), dessen Texte paradigmatisch sind für ein ganzes Genre
christlicher „Antwort-Strategie“
auf die existenziellen menschlichen
Anfragen an die Welt und an Gott.
Beispiel: „Wenn es Gott gibt, warum
gibt es dann das Böse? […] Nichts
bringt unser Dasein so durcheinander wie die tragische Realität des
Bösen. Die Qual, die die Menschheit
quält, ist denn auch Qual […] Wie
oft hört man Aussagen wie: ,Ich habe
an Gott geglaubt, bis mein Kind
bei einem Autounfall umkam.‘ […]
Wenn es einen Gott gibt, warum
hat er erlaubt, dass Leute wie Hitler,
Stalin, Idi Amin, Pol Pot und Osama Bin Laden Unschuldige töten?
[…] Zahlreiche Philosophen haben
schon über die Frage nach dem
Bösen diskutiert; Theologen haben
eine Vielzahl von ,Lösungen‘ vorgeschlagen, Skeptiker berufen sich
häufig darauf, um ihren Unglauben
vorzubringen. […] Die Existenz des
Bösen ist denn auch eines der größten Hindernisse für den Glauben an
Gott. […] Es ist kein Problem, das
nur dem christlichen Glauben eigen
wäre, wie R. C. Sprout so treffend
feststellte: ,So muss sich denn jede
philosophische Theorie irgendwie
damit auseinandersetzen‘ […].“
Derlei von Autoren wie Kumar und
anderen vorgebrachte Argumente
scheinen der christlichen Theologie
ein schlechtes Zeugnis im Umgang
mit dem Bösen ausstellen zu wollen.
Mehr oder weniger wird damit die
Unfähigkeit der Theologie heraus
gezeichnet, das Böse sinnvoll in das
theologische Gerüst einzuordnen.
Zum Problem für die Schüler wird
dabei, dass sie zu den eigentlichen
theologischen Expertisen nicht vorstoßen – oder aber sie nicht erkennen: Was, wenn es in der Theologie
gar nicht darum gehen kann, mit
Blick auf das Böse sinnhafte Konstruktionen zu formulieren? Was,
wenn jedes gelehrte Traktat letztlich
Seite 30
auch einer Art Rechtfertigung des
Bösen mitliefert und deshalb die
Sprachlosigkeit angesagter ist als die
Eloquenz? Oder ist das nicht bereits
eine spezifisch christliche Herangehensweise? Womöglich geht der
Islam damit ganz anders um – und
liegen hier vielleicht die tieferen
Ursachen, dass sich mit Blick auf
das in der Welt vorfindliche Leid für
Muslime nie die Frage nach der Verhältnisbestimmung in dem gestellt
hat, was Gott kann und was er will?
4
Was sagen muslimische Theologen
und Philosophen zum »Bösen«?
„Navid Kermani
erweiterte die Perspektiven
auf das Böse um jene der
islamischen Tradition.
Er schilderte die eindrucksvollen Versuche einer
,häretischen Frömmigkeit‘,
das Leiden der Menschen
und die Vorstellungen
göttlicher Allmacht im
Medium der Anklage
Gottes miteinander
zu versöhnen.“
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Für große Teile der islamischen Theologie und Philosophie, wenn nicht
sogar für die überwältigende Mehrheit, scheint zu gelten: Die Frage
nach dem Bösen hat kaum den Stellenwert erhalten, der ihr angemessen wäre. Auch bei tonangebenden
islamischen Theologen und Denkern
bzw. Philosophen der heutigen Zeit
scheint dieses Thema eher halbherzig
angegangen zu werden. Zumindest
hört man in den vielen Reden und
Predigten nur äußerst selten etwas
dazu, und wenn es doch einmal
angesprochen wird, dann ist das, was
da gesagt wird, für philosophisch
neugierige Schüler kaum erhellend.
Exemplarisch für die Schlichtheit,
mit der auch seitens islamischer
Theologen nach einer Erklärung
für die Existenz des Bösen gesucht
wird, standen die Qadariten (eine
Bewegung aus dem islamischen
Mittelalter, die dem Menschen völlige Willensfreiheit zusprach): „Die
Selbstverantwortung […] dass Gott
nur das Gute, der Mensch dagegen
das Böse tue, vertraten die Qadariten…“ (Figl, Johann: Handbuch
Religionswissenschaft, Innsbruck
2003, S.444). Auch heute noch argumentieren muslimische Theologen
oftmals ähnlich einfach. Dabei übersehen sie den Widerspruch, dass Gott
allmächtig ist und deshalb eigentlich
das Böse nicht zulassen dürfte, wenn
er nur das Gute wolle. Auch muslimische Denker wie der Schriftsteller
Navid Kermani, der oft als der Prototyp des im Westen lebenden muslimischen Intellektuellen gesehen wird
(jedenfalls so lange seine persönliche
Meinung genehm ist), schaffen es
nicht, zur Aufklärung des Themas
beizutragen. So soll er bei einem
Vortrag die islamische Sichtweise in
für westlich-muslimische Intellektuelle auf fast schon beispielhafte
Weise simplifiziert haben: „Navid
Kermani erweiterte die Perspektiven
auf das Böse um jene der islamischen
Tradition. Er schilderte die eindrucksvollen Versuche einer ,häretischen Frömmigkeit‘, das Leiden
der Menschen und die Vorstellungen
göttlicher Allmacht im Medium
der Anklage Gottes miteinander zu
versöhnen.“ (http://idw-online.de/
pages/de/news282851, Pressemitteilung via Webseite des Informationsdienst Wissenschaft e.V. an der Universität Bayreuth vom 13.10.2008).
Es greift allerdings viel zu kurz, wenn
die sufische Literatur das nur auf den
Aspekt der Anklage Gottes bezüglich des Bösen reduziert, welches
er geschaffen hat. Im folgenden
Kapitel soll deshalb noch einmal
Seite 31
verdeutlicht werden, wie sehr gerade
die junge muslimische Generation
(ebenso wie die nichtmuslimische
Generation Jugendlicher und junger
Erwachsener) im Angesicht täglich
neuer Horrormeldungen zu Recht
Antworten zu den vielen Fragen
verlangt, die das Böse betreffen.
Die in diesem Abschnitt eingebrachten Beispiele, wie Theologen
und Philosophen aus dem christlich
dominierten westlichen Kulturkreis
und der Mainstream der islamischen
Theologie das Böse im Zusammenhang mit dem Glauben bzw. NichtGlauben an einen ansonsten gütigen
Gott sehen, könnten sicher durch
eine Vertiefung des Themas umfangreicher behandelt und ausführlicher
mit der genauen Interpretation
weiterer christlicher, muslimischer
und andersgläubiger Theologen,
Dichter und Philosophen verglichen
werden. Das würde allerdings sowohl den Rahmen dieses Beitrags
sprengen, wie auch den Blick vom
eigentlich ins Auge gefassten Ziel
ablenken. Deshalb soll im Folgenden
eine bewusst subjektive Sichtweise
der sufisch-islamischen Richtung
eingebracht werden, um einen
gangbaren Lösungsansatz finden zu
können, Schülern des Islamischen
Religionsunterrichts die Existenz
des Bösen nachvollziehbar zu erklären. Im Mittelpunkt soll hier nicht
die wissenschaftliche Diskussion
stehen, sondern die Diskussion
möglicher pädagogischer Konzepte
zur praktischen Anwendung gut
verständlicher und altersgerechter
Texte in der Schule. Hochtrabende
philosophische oder trockene wissenschaftliche Abhandlungen scheinen für diese Zwecke ungeeignet.
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
5
»Das Böse« – Ein Problem für den
Glauben an den gütigen Gott
im Islam?
Gebote und Verbote
und ihre Einhaltung
setzen einen Prozess
voraus, bei dem das
„Warum“ oder „Wozu“
vor dem „Wie“ kommt.
Das hat weit reichende
Konsequenzen, zum
Beispiel: Gebet ohne
Glaube ist ohne Wert,
umgekehrt ist es
aber nicht so.
Für viele Kinder muslimischen
Glaubens brennt die Frage, warum
es das Böse gibt, seit dem Wiederaufflammen vieler Konflikte auf den
Nägeln: der Nahostkonflikt im Jahr
2000, die Terroranschläge vom 11.
September 2001 in New York, die
Kriege gegen Afghanistan (seit 2001)
und gegen den Irak (2003), die ständigen Kriegsdrohungen gegen Iran,
die Kriege im Libanon (2006) und in
Gaza (2008/09), sowie die ständige
direkte und indirekte Gleichsetzung
von Islam mit Terror und dem Bösen
schlechthin. Eine medial vergiftete
Schülerin der achten Klasse fragte an:
„Stimmt es, dass ich zu einer gewalttätigen Religion gehöre?“. Die Fragen
nach der Unvereinbarkeit zwischen
Sichtbarem und Erhofften, wie sie
in den einschlägigen Szenarien von
Krieg, Vertreibung, Hunger und
Folter, aber auch Naturkatastrophen
zu Tage zu treten scheint, macht das
Ringen um die geeigneten pädagogischen Strategien drängender.
Dabei stellen sie die Lehrkraft im
islamischen Religionsunterricht,
übrigens genau wie bei anderskonfessionellem Religionsunterricht, vor
eine große, wenn nicht die größte
Seite 32
Oder wir sagen:
Gott will Glauben,
nun kann Glauben
nur bestehen nach
Unglauben, so dass
Unglaube eine
Voraussetzung für
Glauben ist.
Herausforderung – auch mit Blick
auf die eigene, persönliche Orientierung. Denn schließlich erwarten
die Schüler in ihrer Mehrzahl, dass
ein Religionslehrer in der Lage ist,
die Dinge zu erklären, die Zweifel
auszuräumen und nicht etwa seinen eigenen Unsicherheiten ausgeliefert zu sein. Es wäre nun sicher
auch keine Schande und nur allzu
menschlich, wenn der Lehrer selbst
im Zweifel wäre, was diese Fragen
angeht. Aber letztlich bestünde das
Risiko, dass die Lehrkraft ein gutes
Stück ihrer Glaubwürdigkeit und
wohl auch ihrer Autorität verlöre,
wenn sie solch grundlegende Fragen nicht wenigstens ansatzweise
zu beantworten in der Lage wäre.
Die Vermittlung des vom Lehrplan
vorgeschriebenen Stoffs würde dadurch sicher nicht leichter, ganz im
Gegenteil: Wenn diese bohrenden
Fragen nicht beantwortet werden,
wird sicher bei vielen Schülern dann
die Frage danach auftauchen, ob
die Beschulung in Religion für sie
überhaupt Sinn macht. Denn ohne
die feste Überzeugung oder den gefestigten Glauben machen alle weiter
gehenden religiösen Regeln nicht
wirklich Sinn. Die Gebote und Verbote wurden den Muslimen in einem
langen Zeitraum von 23 Jahren, in
denen der Koran entstand, langsam
und Schritt für Schritt beigebracht,
so dass sie nicht überfordert werden
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
sollten. Das Verbot von Alkohol und
Glücksspiel beispielsweise wurde
erst relativ spät implementiert.
Da die religiösen Regeln, wie es der
Islam lehrt, von Gott selbst stammen, liegt darin ja die Erkenntnis einer tiefen göttliche Weisheit: Gebote
und Verbote und ihre Einhaltung
setzen einen Prozess voraus, bei dem
das „Warum“ oder „Wozu“ vor dem
„Wie“ kommt. Das hat weit reichende Konsequenzen, zum Beispiel:
Gebet ohne Glaube ist ohne Wert,
umgekehrt ist es aber nicht so. Denn
glauben, wenn es ein substanzieller
Glauben sein soll, gehört unveräußerlich zum Leben als Muslim, die
Gebete aber sind zeitlich und räumlich begrenzt. Maulana sagt dazu:
„Jemand fragte: Was gibt es, das
edler als das Ritualgebet wäre? Eine
Antwort ist, wie ich schon gesagt
habe, dass die Seele des Gebets besser
ist als das Gebet, wie ich damals
erklärt habe. Die zweite Antwort ist,
dass der Glaube besser als das Gebet
ist. Denn das Ritualgebet besteht aus
fünf Pflichtgebeten im Laufe von
Tag und Nacht, während der Glaube
eine fortwährende Pflicht ist. Das
Gebet kann um einer gültigen Entschuldigung willen unterlassen und
durch Spezialerlaubnis verschoben
werden […]; der andere Vorzug, den
der Glaube gegenüber dem Gebet
hat, ist, dass man den Glauben um
keiner Entschuldigung willen aufgeben und ihn nicht durch einen
Dispens aufschieben kann. Wiederum ist Glaube ohne Gebet nützlich,
während Gebet ohne Glauben keinen
Nutzen bringt, etwa das Gebet in
Falschheit.“ (Schimmel 1988, 97).
Übertragen auf den Islamunterricht
bedeutet dies, dass der Sinn der fünf
Säulen des Islams insgesamt auf dem
Verständnis der ersten Säule, des
Glaubensbekenntnisses (der Schahada), beruht. Wie in dem Beispiel
oben klar geworden ist, ist der
Glaube etwas, das nicht aufgeschoben werden kann. Die anderen vier
religiösen Pflichten, die hier durch
die Säulen repräsentiert werden,
können jedoch unter bestimmten
Bedingungen durchaus ausgesetzt
werden. Vielleicht wäre es deshalb
ohnehin sinnvoller, vom Glauben als
dem eigentlichen Fundament und
von den vier folgenden Pflichten
als den darauf errichteten Säulen
zu sprechen. Aus dieser Metaphorik
geht nun wiederum hervor, dass das
Fundament so stabil sein muss, dass
es die (anderen) vier Säulen überhaupt tragen kann. Andernfalls würden diese im weichen Untergrund
des Zweifels und der Unsicherheit
einsacken. Das Fundament eines
Hauses sollte stabil genug sein, um
Erschütterungen standhalten zu können. Immerhin unterscheidet auch
Seite 33
der Koran zwischen den Dimensionen des sichtbaren Vollzugs in der
Religionsausübung und der inneren
Dimension des Subjekts (vgl. 49:14).
Ein Beben für das Fundament des
Glaubens stellt die Frage nach dem
Bösen dar. Denn das Paradoxon, dass
Gott das Böse wolle und auch wieder
nicht, das Streben seiner Geschöpfe
nach dem Bösen nicht billige, aber
zu verzeihen in der Lage sei, ist mit
logischen Argumenten allein schwer
zu erklären und bestenfalls zu beschreiben. Genau dies allerdings ist
immer wieder besonders den SufiMeistern gelungen, so dass es sich
anbietet, Texte aus solchen Quellen
großer Lehrmeister, wie Maulana
Djalaluddin Balchi, für den Unterricht nutzbar zu machen und den
Schülern dadurch eine Hilfestellung
zur Beantwortung solch komplexer Fragestellungen zu geben.
6
»Das Böse« aus Sicht Maulanas
In Abschnitt 46 des Werkes "Fihi ma
Fihi" von Maulana findet sich dank
der sehr guten Übersetzung Annemarie Schimmels ein hervorragender
Text, dessen Verständnis für keinen
Schüler ein Problem darstellen sollte
und der einiges an Erhellung zum
Thema beitragen kann: „Gott der
Erhabene will Gutes und Böses, aber
er billigt nur das Gute. Denn er
hat gesagt: ,Ich war ein verborgener
Schatz und wollte erkannt werden‘.
Gott der Erhabene will zweifellos
befehlen und verbieten. Ein Befehl
ist nur stichhaltig, wenn der, dem
befohlen wird, das, was ihm befohlen wird, nicht will. […] Nun muss
man für den Befehl, Gutes zu tun,
und das Verbot, nichts Schlechtes
zu tun, unbedingt eine Seele haben,
die Böses begehrt. Die Existenz einer
solchen Seele zu wollen, bedeutet,
Böses zu wollen. Aber Er billigt das
Böse nicht; sonst hätte Er das Gute
nicht befohlen. Vergleichbar damit ist, dass, wenn einer zu lehren
wünscht, so wünscht er, dass der
Schüler unwissend sei, weil man
nicht lehren kann, außer wenn der
Schüler unwissend sei, und etwas zu
wünschen bedeutet auch die Voraussetzungen dafür zu wünschen. Aber
der Lehrer billigt die Unwissenheit
des Schülers nicht, sonst würde er
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Als Arbeitsanregung
soll an der Tafel stehen:
Warum gibt es das Böse,
wo Gott doch
den Menschen
empfiehlt, Gutes zu tun?
ihn nicht lehren. Ebenso wünscht
der Arzt, dass die Leute krank seien,
wenn er seine Heilkunst praktizieren will, weil er seine Heilkunst
nicht zeigen kann, wenn die Leute
nicht krank sind. Aber er billigt es
nicht, dass die Leute krank sind,
sonst würde er sie nicht versorgen
und behandeln. Ebenso wünscht der
Bäcker, dass die Leute hungrig sind,
damit er seinen Beruf ausüben und
seinen Lebensunterhalt finden kann,
aber er billigt nicht, dass sie hungrig
sind, sonst würde er kein Brot verkaufen. […] Begreife also, dass Gott
Böses einerseits will und andererseits
nicht will. Der Opponent sagt: ,Gott
will Böses auf keinerlei Art.‘ Das ist
unmöglich, dass er etwas wolle und
nicht seine Voraussetzungen wolle.
[…] Also: Das Böse wird um etwas
anderes willen gewollt. Wir sagen
weiter: Wenn Gott alles Gute will,
und zu den guten Dingen gehört die
Ablehnung des Bösen, und so will Er
die Ablehnung des Bösen – nun kann
Böses nicht abgewehrt werden, ohne
dass es existiere. Oder wir sagen:
Gott will Glauben, nun kann Glauben nur bestehen nach Unglauben,
so dass Unglaube eine Voraussetzung
für Glauben ist. Also ist das Wollen
von Bösem nur dann hässlich, wenn
es um seiner selbst willen gewollt
wird; wenn es jedoch um etwas anderen willen gewollt wird, dann ist
es nicht hässlich“ (a.a.O., 291 f.).
Seite 34
In diesem Text ist es Maulana in
beispielloser Art und Weise gelungen, den scheinbaren Widerspruch
von Gottes Willen in Bezug auf das
Gute und das Böse zu entschleiern.
Mit Hilfe des Vergleichs vom Lehrer, Arzt oder Bäcker, die berufsbedingt eine bestimmte Disposition
wollen (Unwissenheit, Krankheit,
Hunger), sie aber gleichzeitig nicht
billigen und lösen wollen, gelingt es
ihm fast spielerisch, das komplexe
Thema in eine einfache und für
jedermann gut verständliche Sprache zu fassen. Sicherlich wird dieser
Text nicht ohne Einfluss auf die
Gedankenwelt der Schüler bleiben.
7
Skizze einer Schuldoppelstunde
zum Maulana-Text
Wie die Stunde
ganz konkret zu planen ist,
hängt also sehr
wesentlich von der
Spezifität der jeweiligen
Klasse ab, die von
Jahrgang zu Jahrgang,
oft auch innerhalb eines
Jahrgangs, stark von der
Nächsten abweichen kann.
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Schritte als Aufhänger dienen, um
die Antworten den Fragen entsprechend geben zu können. Eventuell
können bestimmte Aspekte schon
Wie könnte aber nun eine Schulam Anfang der Stunde von den
stunde für die höheren JahrgangsSchülern selbst erkannt und beantstufen aussehen, in dem diese
wortet werden, so dass im weiteren
Frage angesprochen wird, so dass
Verlauf der Stunde andere Bereiche
dieser Text sinnvoll eingebaut werdes Themas ausführlicher behandelt
den kann? Darauf soll folgender
werden können. Diese VorgehensGrobentwurf Antwort geben:
weise bietet sich besonders deshalb
an, da das Thema sehr umfangreich
Nach der Begrüßung schreibt die
und die Zeit zur Bearbeitung beLehrkraft an die Tafel den Begriff
grenzt ist. Für diesen zweiten Teil
„das Böse“ und fordert die Schüler
sollten, der speziellen Situation
in dem Zusammenhang auf, alles zu
der jeweiligen Klasse Rechnung
nennen, was ihnen spontan zu dietragend, wieder ungefähr fünf bis
sem Begriff einfällt. Sollten die Schü- zehn Minuten vorgesehen werden.
ler durch diesen einen Begriff allein
nicht hinreichend für Antworten
Als nächstes sollen die Schüler
inspiriert worden sein, so kann auch nun eine kurze schriftliche Skizder Begriff „das Gute“ und wahlwei- ze verfassen. Als Arbeitsanregung
se auch noch oben in der Mitte (und soll an der Tafel stehen: Warum
über den beiden anderen Begriffen,
gibt es das Böse, wo Gott doch
welche seitlich unten rechts und
den Menschen empfiehlt, Gutes zu
links davon stehen) „Gott und…“
tun? Alternativ dazu, wieder der
hinzugefügt werden, um den Assovorhergegangenen Situation entziationen der Schüler nachzuhelfen,
sprechend, könnten auch folgende
allerdings nur wenn nötig. Dieser
Anregungen gegeben werden: Gott
Part sollte mindestens fünf, höchhat das Gute erschaffen, weil…
stens aber zehn Minuten dauern.
Gott hat das Böse erschaffen, weil…
Für das Schreiben sollen ungefähr
Anschließend sollen die Schüler über zehn Minuten eingeplant werden.
die Stichworte, die auf der Tafel den
Begriffen zugeordnet wurden, disNun sollen die Schüler ihre Gedankutieren und Fragen formulieren.
ken vortragen und anschließend
Diese Fragen sollen für die folgenden darüber diskutieren. Danach haben
Seite 35
sich die Schüler eine kurze Pause
verdient.
In der zweiten Stunde soll nun zur
Textarbeit übergegangen werden.
Dazu bietet sich an, die Arbeitsumstände zu ändern, also beispielsweise
einen Stuhlkreis zu bilden oder, falls
vorhanden, den Teppich auszurollen und auf dem Boden Platz zu
nehmen. Für den zweiten Teil sind
die Hefte nicht nötig. Die Schüler
sollen sich nun ganz auf den Text
konzentrieren und können sich
selbstverständlich aber Textstellen
anstreichen. Eine Möglichkeit der
Bearbeitung ist nun, dass der Text,
ohne vorher in Stillarbeit gelesen
worden zu sein, von einer/m Schüler/in oder mehreren Schülern laut
vorgelesen wird, um im Anschluss
direkt in die Diskussion einzusteigen. Der Vorteil bei dieser Methode
wäre, dass sehr viel Zeit zum Diskutieren bliebe. Ein Nachteil könnte
sein, dass der/die eine oder andere
beim Vorlesen des Textes abschaltet und nachher bei der Diskussion
nicht genau weiß, worum es geht.
Deshalb wäre eine zweite Möglichkeit, den Text vorher in Stillarbeit
lesen zu lassen, eventuell vor der
Pause an den Tischen, um ihn anschließend noch einmal laut vortragen zu lassen und dann darüber
zu diskutieren. Der Vorteil könnte
hier sein, dass die Schüler sich doch
intensiver mit dem Inhalt beschäftigen. Eine dritte Möglichkeit wäre,
die Schüler in Arbeitsgruppen (zu
zweit, zu dritt oder zu viert) einzuteilen. In diesen könnten die Schüler
nach vorangegangener Lektüre im
Stillen in der Gruppe diskutieren,
um ihre Ergebnisse anschließend in
der Klasse zu präsentieren und zur
Diskussion zu stellen. Der Vorteil
dieser Methode wäre sicherlich, dass
diejenigen Schüler, die sich nicht
trauen, vor 20 oder 25 Personen ihre
Meinung kundzutun, sich in einer
kleinen Gruppe wesentlich leichter
überwinden können, ja fast schon
gezwungen sind, etwas zu sagen. In
jedem Fall würde die gesamte zweite
Stunde zur Bearbeitung benötigt.
Eine weitere Alternative, die sich
für den gesamten Verlauf der Doppelstunde ergibt, wäre, die Schüler schon in der ersten Stunde im
Anschluss an den Aufsatz in zwei
Gruppen einzuteilen, um ihnen
fünf Minuten Zeit zu geben, Argumente zu sammeln für jeweils eine
der zwei Behauptungen: a) Gott
will das Böse (um des Guten willen)
und b) Gott will das Böse in keiner
Hinsicht; eine solche Diskussionsform könnte sinnvoll sein, wenn
bereits am Anfang der Stunde bzw.
im Vorfeld solche zwei Meinungen
als Gegensatz zwischen zwei größeren Gruppen innerhalb der Klasse
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
auszumachen wären. Wie die Stunde
ganz konkret zu planen ist, hängt
also sehr wesentlich von der Spezifität der jeweiligen Klasse ab, die
von Jahrgang zu Jahrgang, oft auch
innerhalb eines Jahrgangs, stark von
der Nächsten abweichen kann.
Auch wenn es sicher
Schüler geben mag, die
durch Lyrik schlecht oder
gar nicht erreichbar sind,
so ist es doch den Versuch
wert, besonders diejenigen
unter den Schülern einer
Klasse zu erreichen, die
sich durch sufisch-lyrische
Texte ansprechen lassen.
Seite 36
8
Vertiefung des Themas
Im Optimalfall
erkennen die Schüler,
dass es Gott gegenüber
ungerecht ist zu klagen, solange ihm nicht
hinreichend Dank für
seine Wohltaten
ausgesprochen oder
entgegengebracht
worden ist.
Sollte der Diskussions- und vor
allem Lernbedarf zum Thema noch
nicht gestillt sein, bieten sich weitere Texte zur Vertiefung an. Für
überdurchschnittlich auffassungsstarke Klassen bietet sich hier unter
anderem ein Text des Sufis Abd
al-Qadir Gilani an (geb. um 1080
in der Provinz Gilan, im heutigen
Iran, gest. ca. 1166 in Bagdad). Der
Titel lautet „Darüber, dass das Gute
und das Böse zwei Früchte sind“
(al-Gilani, Abd al-Qadir: Enthüllungen des Verborgenen. Köln
1085, 70). Auch wenn die deutsche
Übersetzung von Alma Giese hervorragend ist, so sind der Inhalt und
der Stil doch ungleich schwieriger,
als es bei dem einfacher gehaltenen Text Maulanas der Fall ist.
Für normale, also eher durchschnittliche, aber auch für „schwächere“
Klassen bietet sich hingegen an,
die deutsche Übersetzung des Gulistan (deutsch: Rosengarten) des
iranischen Sufi-Dichters Muslih
bzw. Muscharraf ad-Din cAbdullah
Sacdi (geb. um 1190 und gest. um
1290 in Schiraz) heranzuziehen.
Nicht dass das Niveau dieser Lyrik
dementsprechend „schwächer“ bzw.
niedriger wäre, sie ist allerdings
doch einfacher gehalten und auch
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
für diejenigen, die zum ersten Mal
mit Texten aus dem Sufismus konfrontiert werden, leicht zugänglich.
Die Texte Gilanis dahingegen setzen
ein gewisses Vorwissen voraus.
9
Die Schuld der Dankbarkeit
gegenüber Gott: Ein Text von Sacdi
Sacdi gibt gleich mit den ersten
Sätzen in der Vorrede zum „Rosengarten“ eine Antwort auf die ewige
Frage der an Gott Zweifelnden:
„Warum nur sollte ich Gott dienen
und danken, wenn Er doch so viel
Leid zulässt?“. Er dreht den Blickwinkel um 180 Grad und verweist
auf die Wohltaten, die Gott dem
Menschen in jeder Sekunde zukommen lässt: „Dank gebührt dem Herrn
– Mächtig und erhaben ist er! – für
seine Wohltaten! Der Gehorsam zu
ihm trägt dazu bei, dass man ihm
näherkommt, und ihm zu danken
vermehrt noch seine Huld! Ein jeder
Atemzug wirkt, wenn er eingezogen
wird, verlängernd für das Leben und,
wenn er ausgeatmet wird, für den
Körper erfrischend. Darum enthält
jeder Atemzug auch zwei Gaben
der Huld, und auf einer jeden Gabe
ruht eine Dankesschuld!“ (Graf, Carl
Heinrich: Übersetzung von Muslih
ad-Din Sacdis „Der Rosengarten“.
Leipzig/Weimar 1982, S. 7). Die
Quintessenz dieses Abschnitts fasst
er in folgendem Vers zusammen:
„Wer kann dem Herrn mit Mund
und Händen den schuldgen Dank
vollkommen spenden?“ (ebenda).
Seite 37
Sacdi weist den Leser bzw. Zuhörer
darauf hin, zunächst das Wunder der
eigenen Erschaffung zu begreifen,
um das Verhältnis von Wohltat und
Leid richtig einordnen zu können.
Denn was bedeutet Leid, so intensiv
es auch immer subjektiv wie objektiv
einem Menschen geschehen mag, im
Vergleich zu der Wohltat, die dem
Menschen mit jedem Atemzug zugute kommt? Es ist ja durchaus auch
eher die Regel, dass Menschen, die
viel Leid durchlitten haben, gottesfürchtiger, oder besser: dankbarer
sind als diejenigen, welche weniger
Leid erfahren haben. Letzere beschweren sich nur allzu oft über die
Leiden anderer, während sie gleichzeitig nicht in der Lage zu sein scheinen, für das ihnen selber zugefallene
große Glück unzähliger Wohltaten
danken zu können. Sacdi ruft in
Erinnerung, dass die Menschen
zunächst für die eigene Fehlerhaftigkeit bei Gott um Verzeihung bitten
sollen, denn dessen Huld ist so groß,
dass er selbst den Sündern das tägliche Brot nicht entzieht (ebenda).
So ist dieser Text durchaus geeignet, nicht bei der Erklärung des
Bösen stehen zu bleiben, sondern
positivistisch das Vorhandensein
des Guten aus der Selbstverständlichkeit heraus zu neuer Wertschätzung durch die Schüler zu führen.
Denn die ständige Wohltat des
Selbstverständlichen überwiegt in
jedem Fall die Leiden, welche den
Menschen heimsuchen können.
10
Grobskizze einer Schulstunde
zur Vorrede Sacdis
Dieser Text eignet sich sowohl als
Weiterführung der Thematik des
Bösen wie auch als Einstieg in das
gleiche oder in ein ähnliches Themenfeld, wie Dankbarkeit und
Dienst zu Ehren Gottes im Islam.
Schüler fragen durchaus, warum sie
Gott überhaupt dankbar sein und
ihm dienen sollten. Darauf zu verweisen, dass er es befohlen hat, ist
zwar inhaltlich richtig. Es spricht
aber einiges dafür, sich an den Rat
der großen Weisen aus dem Herzen
der islamischen Kulturgeschichte
zu halten und den Schülern mehr
zu verraten. Auch wenn es sicher
Schüler geben mag, die durch Lyrik
schlecht oder gar nicht erreichbar
sind, so ist es doch den Versuch
wert, besonders diejenigen unter den
Schülern einer Klasse zu erreichen,
die sich durch sufisch-lyrische Texte
ansprechen lassen. Das Potenzial,
sich ein Verständnis dieser Texte
zu erschließen, hat prinzipiell jeder
Schüler, auch wenn es bei dem einen
oder anderen verdeckt sein mag.
Zur Planung der Stunde (in diesem
Fall, wegen der Kürze des Textes,
nur eine Schulstunde) bieten sich
wieder mehrere Möglichkeiten der
Herangehensweise an, die wieder
von verschiedenen Fragen abhängen
wie: a) Wie ist die Klasse bis dahin
einzuordnen? Ist es eher eine ruhige,
unruhige, diskussionsfreudige oder
eher stille Gruppe? Nehmen nur
einige wenige an den Diskussionen
teil oder eine größere Anzahl von
Schülern? b) Soll der Text nur als
Fortsetzung zum Thema des Bösen
gelesen werden oder auch als Einstieg in das Thema Dankbarkeit
Gott gegenüber bearbeitet werden?
Wenn wir aber davon ausgehen, dass
dieser Text als Vertiefung des besprochenen Themas gelten soll, könnte
die Stunde wie folgt aufgebaut sein:
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Die Lehrkraft fragt die Schüler,
welche Gründe ihnen einfallen,
Gott gegenüber Dankbarkeit auszudrücken. Die spontanen Einfälle
der Schüler werden von der Lehrkraft an der Tafel gesammelt (ca. 8
min). Die Lehrkraft teilt den Text
von Sacdi aus und lässt ihn von den
Schülern vorlesen (ca. 2 min). Mit
großer Wahrscheinlichkeit wird die
einfache Tatsache, dass bereits das
Ein- und Ausatmen, wie im Text
beschrieben, Dankbarkeit Gott gegenüber zur Folge haben müsste, für
die Schüler ein völlig neuer Aspekt
sein. Unter diesem Eindruck sollen
sie nun eine kurze Besinnung verschriftlichen mit der Überschrift:
Ich bin Gott dankbar, weil… (ca. 10
min). Einige Schüler können nun
ihre Notizen vorlesen (ca. 7 min).
Der Rest der Stunde soll noch einmal
für die Aufarbeitung der in den vorangegangenen drei Stunden durchgenommenen Themen Das Böse und
Dankbarkeit gegenüber Gott genutzt
werden. Die Schüler sollen in einer
offenen Diskussion miteinander
abwägen, ob sie die Nachteile durch
die Existenz des Bösen höher einstufen oder die Vorteile all der Gnadengaben Gottes, die zur Dankbarkeit
verpflichten. Im Klartext, die Schüler
sollen sich in diesem Zusammenhang
in differenziertem Denken üben,
in dem sie z.B. durch die besprochenen Unterrichtsinhalte erkennen
können, dass die Existenz des Bösen
im Großen und Ganzen der Sichtbarwerdung des Guten dient, da die
Existenz des Guten ohne das Böse
nicht möglich wäre. Im Optimalfall
erkennen die Schüler, dass es Gott
gegenüber ungerecht ist zu klagen,
solange ihm nicht hinreichend Dank
für seine Wohltaten ausgesprochen
oder entgegengebracht worden ist.
Seite 38
Da die besprochenen Themen einen
gewissen Tiefgang aufweisen, ist es
ratsam, nach einer Pause (in einer
Doppelstunde) mit einem anderen,
etwas „leichteren“ Thema fortzufahren, damit sich das Erarbeitete setzen
kann. Trotzdem bietet es sich an, den
besprochenen Themenkomplex noch
um eine Nuance zu erweitern, was
im Folgenden erläutert werden soll.
11
Die Gutes bewirkende Lüge
nach Sacdi
Eine weitere Möglichkeit der Vertiefung der Frage nach dem Bösen bietet ein weiterer Text Sacdis. Es ist die
berühmte erste Geschichte im „Rosengarten“ und behandelt die Frage,
ob eine Lüge wirklich in jedem Fall
böse ist, oder ob sie in Form einer
Notlüge nicht sogar Gutes bewirken
kann. Es kommt nicht selten vor,
dass auch schon die jüngeren Schüler danach fragen, wann sie lügen
dürften (und übrigens nicht, ob sie
lügen dürften): „Einst war ich zugegen, als ein König den Befehl zur
Hinrichtung eines Kriegsgefangenen
gab. Als dieser Unglückliche sich in
seiner verzweifelten Lage sah, fing er
an, in seiner Muttersprache Schmähungen und Lästerungen gegen den
König auszustoßen. Denn wie sagt
das Sprichwort? Wer keine Hoffnung
mehr für sein Leben hegt, der sagt alles, was er auf dem Herzen trägt. […]
Der König fragte, was das bedeute.
Ein edel gesinnter Wesir aus seinem
Gefolge antwortete: O Herr, er sagt:
Bei denen, die ihren Zorn unterdrücken und den Menschen verzeihen!
Allah liebt die Gütigen! Da hatte der
König Mitleid mit ihm und schenkte
ihm das Leben. Ein anderer Wesir
aber, der jenem edel gesinnten Wesir
nicht wohlgesonnen war, meinte: Für
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Da runzelte der König
die Stirn über diese
Rede und sprach:
Mir hat die Lüge,
die ich gehört habe,
besser gefallen
als die Wahrheit,
die du gesagt hast.
Leute unseres Standes ziemt es sich
nicht, vor dem König die Unwahrheit zu sagen. Jener Kerl nämlich hat
den König geschmäht und unziemliche Worte gebraucht. Da runzelte
der König die Stirn über diese Rede
und sprach: Mir hat die Lüge, die
ich gehört habe, besser gefallen als
die Wahrheit, die du gesagt hast.
Jene beabsichtigte etwas Gutes, diese
aber ist aus Bosheit hervorgegangen.
Und viele Weise haben übereinstimmend festgestellt, dass eine Lüge,
welche Gutes bezweckt, besser sein
kann als eine Wahrheit, hinter der
sich Unheil verbirgt“ (a.a.O., 25).
Diese Anekdote zeigt eindringlich
die Komplexität des Themas auf. Das
Böse und das Gute sind eben nicht
immer so einfach in Schwarz und
Weiß aufzuteilen. Besonders nicht,
wenn Wahrheit und Lüge ideologisiert werden und nur die äußere
Wahrheit und Lüge beachtet wird.
Der Gesandte Gottes Muhammad
hat gesagt: „Alle Taten werden nach
der Absicht beurteilt...“ (zu finden
in den Vierzig Hadithen nach Imam
Nawawi). Und genau dieser Sinnspruch wird hier auf die beste Art
und Weise bestätigt. Für das vorliegende Thema aber ist besonders
festzuhalten: Es gibt Situationen, in
denen verhilft die Lüge zur Wahrheit in ihrem Sinne des Guten. Von
daher dient diese Geschichte wie
Seite 39
kaum eine andere als Impuls zum
Lernen von differenzierter Weltwahrnehmung und als Gegengift für
Paragraphenreiterei und den Wortwörtlichkeitsfetischismus mit Blick
auf die Schriftexegese. Der Begriff
der Notlüge, genauer der „Gutes
bewirkenden Lüge“ (dorughe maslahat amiz) ist im Persischen bis heute
nicht zufällig ein häufig benutzter
Begriff; wer des Persischen mächtig
ist, weiß auch, woher dieses geflügelte Wort stammt. Und ebenfalls
nicht ohne Grund begegnet diese
Geschichte einem jeden iranischen
Schüler in seiner Laufbahn mindestens einmal in seiner Schulkarriere.
Sie sollte eigentlich verpflichtend
auch jedem Schüler hierzulande
nahegebracht werden, ob im Religions-, Ethik- oder sonstigen Unterricht. Schließlich ist es wohl für
jeden jungen Menschen eine der
großen Fragen, unter welchen Voraussetzungen eine Lüge erlaubt sein
kann, anstatt immer nur auf dem
abstrakt Prinzipiellen zu beharren.
12
Grobskizze einer Schuldoppelstunde zu Sacdis Text zur Lüge
im Guten
Der Begriff der Notlüge,
genauer der „Gutes
bewirkenden Lüge“
(dorughe maslahat amiz)
ist im Persischen bis heute
nicht zufällig ein häufig
benutzter Begriff;
wer des Persischen
mächtig ist, weiß auch,
woher dieses
geflügelte Wort stammt.
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
Wie könnte nun eine Stunde aussehen, die dieses behandelt? Auch
hier gilt, dass die konkrete Planung
von einigen Faktoren abhängig ist.
Deshalb soll hier eine der Möglichkeiten dargestellt werden, wie der
vorangegangene Text in einer Doppelstunde bearbeitet werden könnte.
Die Lehrkraft teilt die Klasse in zwei
Gruppen ein. Eine Gruppe soll die
Meinung begründen, warum das
Lügen generell schlecht und abzulehnen sei, und die andere Gruppe
soll die Ansicht verteidigen, dass
das Lügen erlaubt sein kann und
in manchem Fall sogar moralische
Pflicht ist. Bevor die Diskussion
beginnt, sollen sich die Schüler in
Zweier-, Dreier-, oder Vierergruppen
zusammensetzen und Argumente für
den jeweiligen Standpunkt sammeln.
Für das Sammeln der Argumente
können ungefähr 10 Minuten und
für die Diskussion 10-15 Minuten
vorgesehen werden. Für die Diskussion sollten entweder ein Hufeisen,
ein Kreis oder zwei sich gegenüberliegende Tischreihen gebildet
werden, so dass sich alle Schüler
direkt sehen können. Während der
Diskussion sammelt die Lehrkraft die
Argumente beider Seiten (entweder
in einem Heft oder an der Tafel),
um gegebenenfalls nachzuhaken.
Anschließend sollen die Schüler
ihren eventuell nach der Diskussion differenzierten Standpunkt
in einem kurzen Exposé zusammenfassen (Bearbeitungszeit ca. 10
min) und das danach auswahlweise
vortragen. Allerdings sollte dieser Teil höchstens 10 – 15 Minuten einnehmen und danach eine
kurze Pause eingelegt werden.
Im nächsten Schritt sollen die Schüler den Text von Sacdi zur Lüge im
Guten erst im Stillen und dann noch
einmal laut lesen (Bearbeitungszeit ca. 10 Minuten). Im Anschluss
soll unter dem Eindruck der neuen
Anregungen nochmals diskutiert
werden, dieses Mal allerdings ohne
feste Gruppeneinteilung. Die Schüler sollen in diesem letzten Arbeitsschritt noch einmal ihre vor der
Stunde gedachten Überzeugungen
bestätigen, festigen oder aber kritisch hinterfragen. Ziel ist es, den
Schülern Fingerspitzengefühl und
die Fähigkeit nahezubringen, zu
differenzieren. Außerdem sollen sie
lernen, von absoluten Lösungsansätzen und Denkweisen zumindest
ein Stück weit, wie sehr es in einer
Doppelstunde möglich ist, Abstand
zu nehmen. Dazu sind sicher auch,
Seite 40
2
Da diese Texte
nach knapp achthundert
Jahren noch immer
rezipiert werden und sich
auch heute steigender
Beliebtheit erfreuen,
gibt es gute Gründe zur
an den Text angelehnt, Anregungen
seitens der Lehrkraft sinnvoll. Eine
sinnvolle Frage wäre: Könnt ihr
Euch vergleichbare Situationen
vorstellen, in denen eine Lüge, die
Gutes bewirkt im Sinne der tieferen
Wahrheit, sogar zur Pflicht werden
kann? Sowohl als Muslime, als auch
nach allgemeingültigen Werten als
Mensch, sollen die Schüler in die
Lage versetzt werden, durch die Auseinandersetzung mit der Frage nach
der Legitimität oder Illegitimität
einer Lüge bzw. Notlüge nach dieser
Doppelstunde intensiver das Schema des Schwarz-Weiß-Denkens zu
überdenken. Für den Diskussionsteil
sollte der Rest der zweiten Stunde
veranschlagt werden. Auch hier empfiehlt es sich, einen Stuhlkreis zu bilden oder auf den Teppich zu gehen.
positiven Annahme,
sie für den Unterricht
nutzen zu können.
Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts
13
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wurde das Problem des großen und immer jungen
Themas des „Bösen“ im Zusammenhang mit religiösen Diskussionen
erarbeitet. Die Frage, wie der gütige
und liebende Gott gleichzeitig Böses
zulassen kann, bewegt seit alters her
die Menschen und ist bis heute wohl
eines der meistdiskutierten Gesprächsthemen der Menschheit. Mit
Sicherheit aber ist es eine der Fragen,
an der sich auf Gott Ausgerichtete
und atheistisch Eingestellte unterschiedlich abarbeiten. Hier scheint
eine Art Trennlinie zu verlaufen. In
den ersten Kapiteln wurde hervorgehoben, dass die Einwände gegen
die Existenz eines gütigen Gottes
im christlichen Kulturkreis wie auch
in der innerislamischen Diskussion
nicht unbekannt sind. In den anschließenden Kapiteln wurde aufgezeigt, dass in der populären sufischen
Literatur und Dichtung der islamischen Welt Texte vorhanden sind,
die sich eignen, im Unterricht eingesetzt zu werden. Beispielhaft wurden
hier Texte der persischen Dichtung,
etwa Maulana und Sacdi ausgesucht;
es schlossen sich grobe Skizzen für
die Planung von Schulstunden an.
Dieser Beitrag wollte weder den
Anspruch erheben, die Thematik in
ihrer umfassenden theologischen,
philosophischen oder literarischen
Diskussion aufzuzeigen. Es war auch
nicht die Absicht, hier den einzig
gangbaren Lösungsweg anzubieten.
Allerdings sind einerseits die vorgestellten Meinungen durchaus exemplarisch für die vorherrschenden
Ansichten, und andererseits war das
Ziel ohnehin ein anderes: Es sollten
für den Unterricht gute und verständliche Texte als Grundlage zur
Beantwortung essenziellster Schülerfragen vorgestellt werden. Da
diese Texte nach knapp achthundert
Jahren noch immer rezipiert werden
und sich auch heute steigender Beliebtheit erfreuen, gibt es gute Gründe zur positiven Annahme, sie für
den Unterricht nutzen zu können.
Ein durchaus erstrebenswertes Ziel
für die Zukunft wäre außerdem, in
Projekten gemeinsam mit Klassen aus
anderskonfessionellem Unterricht
sowie des Ethik-Unterrichts die hier
vorgestellten Texte mit einzubringen und im interreligiösen Dialog
Akzente zu setzen. So könnten der
Gedankenaustausch zwischen den
Schülern der verschiedenen Religionen bzw. Weltanschauungen angestoßen und dabei neue, interessante
Dialogthemen erschlossen werden.
Seite 41
Harry Harun Behr
unter Mitarbeit von (in alphabetischer Reihenfolge) A. Ahmed, Sr. Ancilla, Sr. Angela, Sr. Cornelia, M. Dawam, H. Galal, M. Ghattas, R. Grätz, H. Hefni, W. Höhl, N. Krinziner, S. Mahgoub, A. Matyba, A. Ohnheiser, R. Petereit, F. van der Velden
„Nehmt mich ruhig ran!“
Bericht zu einem interreligiösen und fachdidaktischen Seminar an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Giza/Kairo
Das Setting
Unter diesem Motto, das auf eine
Textstelle des Korans verweist, fand
vom 7. bis 9. Oktober 2008 in den
Räumlichkeiten der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo eine
regionale Fortbildung für sechzehn
Deutsch sprechende Lehrkräfte mit
unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten statt. Die Besonderheit: Diese Lehrkräfte versehen an Deutschen
Schulen in vom Islam geprägten
sozialen Kontexten ihren entsprechenden Religionsunterricht, zum
Beispiel in Istanbul, Alexandria oder
Kairo; andere lehren an deutschen
Schulen in Beirut, Damaskus, Amman oder Teheran. Die Fortbildung
wurde geleitet von Prof. Dr. Harry
Harun Behr (Islamische Religionslehre, Interdisziplinäres Zentrum für
Islamische Religionslehre, Universität
Erlangen-Nürnberg/Deutschland)
und gemeinsam mit Frank van der
Velden, (Deutsche Schule der Borromäerinnen, Deutsche Evangelische
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Oberschule in Kairo), durchgeführt.
Die Kurssprache war Deutsch.
Die im Titel erwähnte Textstelle des
Korans (4:82) wie auch ähnliche
(47:24, 7:179, 39:22) fordern zur
aufmerksamen Auseinandersetzung
mit den Inhalten des Korans auf;
frei und summarisch ins Deutsche übertragen: „Prüft den Koran,
denkt über ihn nach, macht euch
Gedanken, verschließt euch nicht,
öffnet euch – eure Augen sehen,
eure Ohren hören, aber es sind am
Ende eure Herzen, die verstehen.“
Das Motto lässt sich also durchaus
auch als den Hinweis lesen, dass
dem Koran nur gerecht wird, wer
sich ernsthaft auf die Begegnung
mit ihm einlässt – dies durchaus in
guter Streitkultur, aber auch mit
dem notwendigen Takt, wie es in
den einschlägigen arabischen Attribuierungen zum Ausdruck kommt:
ahsan – auf die beste Art, ablagh –
auf gehobenem Niveau, und ahkam
– mit der Kraft der Weisheit und der
guten Absicht. Immerhin verweist
die reiche kulturelle und philosophische Tradition des Islams auch
auf den Koran als „Heilige Schrift“
in ihrer ästhetischen Dimension.
Das Ziel der Fortbildung war, gemeinsam pädagogische Diskurs- und
Handlungsstrategien einer zeitgemäßen und schülernahen Schrifthermeneutik zu erarbeiten und sie
im Unterricht mit den 12. Klassen
(im Schnitt 25 Schüler, zwei Drittel
muslimisch, ein Drittel gemischt) zu
erproben. Das besondere Augenmerk
lag auf der geschärften theologischen
Kontur. Das führt mit Blick auf die
interreligiöse Dimension zunächst zu
einer Verhältnisbestimmung zwischen dem, was als trennend und was
als verbindend wahrgenommen wird.
Die subjektive Signatur dieser Verhältnisbestimmung scheint stärker
zu sein als ihre jeweilige theologische
Objektivierung. Das deutet auf den
spezifischen Bereich des interreligiösen Lernens, der sich nicht dadurch
bedienen lässt, dass ausreichend über
die jeweils „anderen“ religiösen Deutungssysteme referiert wird. Hier ist,
wenn religiöses Lernen erreicht werden soll, die originale Begegnung erforderlich – mit allen Risiken, denn
zur Originalität solcher Begegnung
gehört die gesamte Palette des Zwischenmenschlichen zwischen gesicherter Information und Tageslaune.
Die Lerngruppen waren multireligiös
zusammengesetzt, da sie im Regelfall im Rahmen des Projekts „Kooperativer Religionsunterricht“ der
Deutschen Evangelischen Oberschule
unterrichtet wurden (im team-teaching mit den verschiedenen Religionslehrern). Dieser Unterricht feiert
inzwischen sein zehnjähriges Jubiläum (siehe den Exkursionshinweis am
Seite 42
Die pädagogischen
Diskursstrategien haben
also auch etwas mit
einer Verlangsamung
durch persönliche
Aufrichtigkeit,
Nachdenklichkeit und
wissenschaftlicher
Sorgfalt zu tun.
Ende dieses Beitrags), so dass das Seminar auf einen reichen Erfahrungsschatz seiner Teilnehmerinnen und
Teilnehmer aufbauen konnte. An der
Studiengruppe nahmen muslimische,
katholische, evangelische und koptische Lehrkräfte teil – die philosophische und philologische Fraktion
des Lehrerzimmers nicht zu vergessen, mithin das kritische Korrektiv
säkularer Voten. Zielführend für das
gesamte Projekt war das Experiment
in seiner interreligiösen Dimension
unter besonderer Berücksichtigung
heutiger Bildungskontexte – besonders natürlich der schulischen. Aber
auch der soziokulturelle Kontext
des Gastlandes Ägypten kam nicht
zu kurz: Die Schüler, ihre Eltern
und die interessierte Öffentlichkeit
wurden im Rahmen eines Abendvortrags mit lebhafter Diskussion
in das Projekt mit einbezogen. Eine
besondere Rolle spielte dabei ein
Faktor, der die hier beschriebene Unterrichtskonstellation mitbestimmt
und der in den gegenwärtigen Diskursen um bekenntnisorientierten
Religionsunterricht noch zu wenig
berücksichtigt wird, nämlich eine
nicht-islamische Religion im sozialen
Kontext einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu unterrichten.
Derlei verweist auch auf die generelle soziokulturelle und psychosoziale
Lage der Angehörigen der betrof-
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
fenen Religionsgemeinschaften. Dass
der Islam eine friedliebende Religion
sei, die keine Unterdrückung Andersgläubiger dulde, wollten einige der
Seminarteilnehmerinnen den beiden
muslimischen Fachkollegen nicht
unwidersprochen zugestehen, obwohl die sich redlich mühten. Einige
wussten zu berichten, wie sie sich
immer wieder der Situation ausgesetzt sähen, von Muslimen pauschal
als „Ungläubige“ bezeichnet zu werden. Beide Parteien dieser Interaktion, Christen und Muslime, griffen
dabei auf die arabische Vokabel kāfir
zu und verwendeten die defizitäre
deutsche Übersetzung „Ungläubiger“
(siehe dazu diese Zeitschrift, Heft 3,
Jahrgang 2, Juli 2008, Seite 26 ff.).
Folglich verfingen sich beide in ihren
jeweiligen Fehlkonstruktionen. Aufgabe der Moderation war es, solche
grundsätzlichen Konfliktlinien, die
sich ja auch unter der multireligiösen
Schülerschaft auftun, auf drei Ebenen zu bearbeiten: die vorbehaltlose
Berücksichtigung der persönlichen
Situation der Betroffenen und ihre
wahrgenommenen Lebenswirklichkeiten, die begleitende Informierung
durch die korrigierten Lehraussagen
aus den jeweiligen religiösen Systemen und drittens die Diskussion
möglicher Führungsstrategien, und
zwar sowohl hinsichtlich der persönlichen Situation wie auch der
professionellen: Welche pädagogischen Handlungsstrategien greifen in diesem Fall im Unterricht?
Die besondere Herausforderung des
Modells der kooperativen religiösen Beschulung liegt nicht zuletzt
auch darin, dass prekäre Anfragen
wie die nach der Verhältnisbestimmung von muslimischer Mehrheit
und nicht-muslimischer Minderheit zum Beispiel ad hoc aus dem
Unterrichtsdiskurs hervorgehen
können. Sie erwischen die Lehrkraft
dort, wo zunächst eine gründliche
Recherche anstünde. Die pädagogischen Diskursstrategien haben
also auch etwas mit einer Verlangsamung durch persönliche Aufrichtigkeit, Nachdenklichkeit und
wissenschaftlicher Sorgfalt zu tun.
Im Religionsunterricht der höheren
Jahrgangsstufen geht es bevorzugt
um die jugendlichen Fragen des
Menschseins, nach der Welt und
nach Gott. Auch das Ringen um einen trag- und konfliktfähigen Modus
des Zusammenlebens in der globalen, religiös pluralen Zivilgesellschaft
ist Thema. Dabei wird von Seiten der
betroffenen Schüler die urbane Mitgesellschaft Kairos als in religiöser
Hinsicht offener wahrgenommen,
als das in den Medien außerhalb
dieses Raums seinen Niederschlag
findet. Zu berücksichtigen ist da-
Seite 43
bei aber, dass die in Rede stehende
Klientel aus den gehobenen Schichten der Stadt stammt, die schon
vom Grundsatz her als weltoffener
und kosmopolitischer eingestellt
gelten. Allein von der Sachkenntnis und der Allgemeinbildung, aber
auch hinsichtlich der Fähigkeit zum
philosophischen Gespräch war das
allgemeine und fachliche Niveau der
12. Jahrgangsstufen überragend. Das
wirft zudem ein besonderes Licht
auf die pädagogische Führung der
Deutschen Evangelischen Oberschule
und die für ein Seminar dieser Art
glückhaften Bedingungen vor Ort.
Eine Vermutung
Die existentiellen, im theologischen
und philosophischen Denken wurzelnden neugierigen Anfragen der
Schülerinnen und Schüler gründen
vermutlich in Prozessen, wie sie auch
im katholischen, evangelischen oder
islamischen Religionsunterricht in
Deutschland und anderswo zu beobachten sind. Für den islamischen
Religionsunterricht muss diese
Gemeinsamkeit besonders betont
werden, da neuerdings die These
kursiert, muslimischen Jugendliche
seien heute tendenziell konservativer als ihre Eltern, der Islam stelle
wegen seiner restriktiven Lehre ein
Verständigungshindernis dar und
es finde ein Rückzug in die eigene
muslimisch-kulturelle Kapsel statt.
Das ist überraschenderweise nicht
etwa nur ein deutsches Thema.
Die Motive von Kulturtransmission
im Rahmen von Migration können
jetzt nicht diskutiert werden. Aber
muslimische Jugendliche (vermutlich
weltweit, wie das der Verfasser gegenwärtig nur impressionistisch anzeichnen kann) greifen für den religiösen
Selbstentwurf derzeit auf Alternativen zur kulturellen Selbstvergewisserung zu. Wenn es darum geht,
Muslim zu sein, stehen andere Dinge
im Vordergrund als die vermeintliche
Kugelverfasstheit der Alltagskul-
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Zu beobachten ist,
dass weniger die
klischeehaften Marker
„kultureller“ oder
„religiöser“ Identitäten
zutage treten,
sondern bestimmte,
im Kern rationale
Merkmale der Person.
tur des „Eigenen“. Zu beobachten
ist, dass weniger die klischeehaften
Marker „kultureller“ oder „religiöser“
Identitäten zutage treten, sondern
bestimmte im Kern rationale Merkmale der Person. Das gilt auch für
ihre relationalen Merkmale. Gemeint
sind damit die Perspektiven der
sozialen Selbstverortung, des Standpunkts und der Bewertung sowie des
Handelns. Die hier angesprochenen
Faktoren von Identität scheinen eher
netzwerkgebunden zu sein als rein
an die Ethnie, die Religionsgemeinschaft, die Sprachgemeinschaft oder
die Nation. Zu beobachten ist außerdem, dass die sozialen Bindungen jugendlicher Muslime pluraler werden,
ihre jeweiligen Intensitäten variabler,
die horizontale Mobilität im topografischen Raum größer, die vertikale
Mobilität im sozialen Raum durchlässiger und somit der primäre Quartierbezug – Kreuzberg in Berlin oder
Muhandisin in Kairo – schwächer.
Das setzt allerdings die Auswahl- und
Ausweichmöglichkeiten des urbanen
Raums voraus, die Kairo inzwischen
zweifelsfrei bereit hält. Kurzum:
Religiös zu sein bestimmt sich nicht
mehr nur allein durch Herkunft und
Zugehörigkeit, sondern durch den
Selbstentwurf des Subjekts, will heißen: durch die Reformulierung von
Religion und ihre aktive Aneignung.
Seite 44
Das kann von religiösen Gemeinschaften als Herausforderung wahrgenommen werden, vor allem wenn
das mit der Befürchtung gepaart ist,
die nachrückende Generation an
anderes als das Eigene zu verlieren.
Das führt immer wieder zu der Frage
zurück, wie religiöse Gemeinschaften
eigentlich mit dem umgehen, was
sie selbst als ihre Tradition, als ihr
genuin Eigenes betrachten. Diese
Anfrage kann sich durchaus kritisch
gestalten, vor allem wenn mit den
religiösen auch soziale Fragen verbunden sind. In diesem Zusammenhang spielt die Auseinandersetzung
mit der jeweiligen Zentralschrift
eine herausragende Rolle, da sie von
protektionistischer wie progressiver
Exegese gleichermaßen in Anspruch
genommen wird. Die Hermeneutik stellt also für die Methodik und
Didaktik des Religionsunterrichts
insofern eine besondere Herausforderung dar, als schriftreligiöse Motive
zu regelleitenden Prinzipien für das
Handeln werden können – im Guten
wie im Schlechten. Mit Blick auf den
Stellenwert des Korans als Schrift in
muslimischer Selbstwahrnehmung
lässt sich erahnen, dass sich das für
die Didaktik als Entscheidungs- und
Führungswissenschaft des islamischen Religionsunterrichts noch
einmal um Grade verschärfen kann.
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Der Seminarverlauf
Mit Blick auf den
Stellenwert des Korans als
Schrift in muslimischer
Selbstwahrnehmung lässt
sich erahnen, dass sich
das für die Didaktik als
Entscheidungs- und
Führungswissenschaft des
islamischen Religionsunterrichts noch einmal
um Grade
verschärfen kann.
Im Mittelpunkt des ersten Fortbildungstages stand eine exemplarische
Einführung in zentrale Elemente der
Koranerschließung: die historischen
und kulturräumlichen Bedingungen
seiner Entstehung, seine theologische
Stellung im Gesamtgefüge des Islams
als Lehre sowie sein literarischer
Charakter als Dokument spezifischer
Sprechersituationen und den damit
verbundenen Verhältnisbestimmungen zwischen Mensch und Gott,
Subjekt und Gemeinschaft, Glaube
und Tat, Glück und Leid, Welt und
Kosmos oder Leben und Tod. Einer besonderen Klärung zugeführt
wurde dabei die Prophetologie des
Korans: Die Dramaturgie seiner prophetischen Erzählungen beleuchtet
zunächst, und zwar ungeachtet der
theologischen Hermeneutik, wie in
der Zeit Muhammads auf die damals
vorfindlichen, mündlich tradierten
oder in anderem Schriftgut vorhandenen altprophetischen Gestalten
zugegriffen wurde, etwa im Sinne
einer „primären Korrelation“. Vereinfacht ausgedrückt: Wie der Koran von Noach berichtet, offenbart
zuerst etwas über Muhammad und
seine Situation. Beispiel: In Sure 11
(„Hūd“) wird von Vers 25 bis Vers
49 die Noachgeschichte entfaltet; die
Erzählung wird einmal in Vers 35
durch eine auf Muhammad bezoge-
ne Interjektion unterbrochen, dann
weitergeführt und am Ende in Vers
49 wieder auf Muhammad projiziert. Daraus resultiert eine doppelte,
„sekundäre Korrelation“ des heutigen Zugriffs auf diese Geschichte:
zum einen Noach und sein Disput
mit seinem Volk, zum anderen
Muhammad und sein Disput mit
seinen Widersachern – den eigentlichen Adressaten der Erzählung.
Mit Blick auf Prophetie wurde im
Seminar vereinbart, vergleichbare
Beispiele aus der Bibel parallel zu
führen. Es ging nicht um hermeneutische Prinzipien im Allgemeinen,
sondern um die Formulierung und
Hierarchisierung solcher Auslegungskriterien, die das Fachprofil von
Religionsunterricht im Rahmen des
gesamten schulischen Bildungs- und
Erziehungsauftrags mitbestimmen.
Es zeigte sich, dass dieser pragmatische Rahmen auf die theologische
Diskursführung einen disziplinierenden Effekt hatte, was sich auch
auf die interreligiöse Kommunikation in der Gruppe auswirkte: Die
Seminarteilnehmer sahen sich durch
die Zielvorgabe eines gemeinsam
durchzuführenden Unterrichtsbeispiels in die Situation gestellt, sich
ganz im Habermasschen Sinne über
gemeinsame Erkenntnisse und Interessen zu verständigen. Das ging nur,
indem schrittweise auf apologetische
Seite 45
Zwischenrufe verzichtet wurde – ein
erfahrungsgestützter Lernprozess,
der vor allem in einem multireligiös
angelegten, kooperativ geführten Religionsunterricht wie in den oberen
Klassen an der DEO in Kairo zur
tragenden Säule wird. Dadurch wird,
das beunruhigt die Alteingesessenen
vielleicht, das Selbstverständliche
zum Zustimmungspflichtigen. Aber
genau dieses Spannungsverhältnis
tritt dem Schriftinterpreten auch
als eine grundlegende dramaturgische Linie aus Bibel oder Koran
entgegen. Durch die ideologisch
motivierte Vereinseitigung von
Schriftaussagen, mit der versucht
wird, dem aus dem Wege zu gehen,
wird diese Spannung noch erhöht.
Die Schülerinnen und Schüler
nehmen diese Spannung (Religion
in den Medien, in sozialen Netzwerken, als Gegenstand politischer
Diskurse…) vergleichsweise sensibel
wahr; sie haben deshalb viele Fragen.
12. Klassen gehalten; die Gruppen
entschieden selbst, welche ihrer
Mitglieder im Team den Unterricht
durchführten. Im Anschluss an den
Unterricht zogen sich die Seminarteilnehmer zu einer stillen, individualisierten Feeback-Einheit zurück,
deren verschriftlichte Ergebnisse
die Grundlage für das offen diskutierte Feedback tags darauf in der
gesamten Seminargruppe bildeten.
Zwischenfazit
Die Hermeneutik Heiliger Schriften
stellt für die Methodik und Didaktik
des Religionsunterrichts eine besondere Herausforderung dar. Schon in
den Binnendiskursen der jeweiligen
Theologien werden nicht nur Unterschiede in der methodischen Herangehensweise, sondern auch in der religiösen und kulturellen Erfahrung und
in der Weltwahrnehmung sichtbar.
Am dritten Seminartag schlossen sich Auf der Ebene des interreligiösen Ausan die detaillierte Auswertung einige tauschs wird zusätzlich deutlich, dass
Referate zur Allegorese (vom Wort
sich solche Unterschiede apologetisch,
zum Sinn), zum Johannes-Prolog
also auf die Abwehr des anderen
(Logos-Theologie und die Hermereligiösen Systems orientiert zuspitzen
neutik des Zweiten Testaments) und lassen. Sie können aber auch gegen
zur Moses-Konstruktion (Prophetodie vermeintlich häretische Konzeplogie und Historizität) an. Zum Abtion innerhalb des eigenen Systems
schluss führten die Veranstalter eine
und der eigenen Gemeinschaft gestandardisierte Evaluation durch. In
richtet sein. Als eine Gemeinsamkeit
einem öffentlichen Abendvortrag am der besonderen Art trat außerdem zu
letzten Seminartag in der DEO stell- Tage, dass sich die Vertreterinnen und
te der Referent interessierten Eltern, Vertreter einer Sinn stiftenden und
Schülern und Lehrkräften islamisch- auf Verständigung gerichteten SchriftDer zweite Seminartag entspann sich theologische Konzeptionen zu Fragen auslegung heute einer neuen Lust am
um die Entwicklung und die Durch- der religiösen Identität muslimischer Rigorosen gegenüber sehen, gleich
führung zweiter Unterrichtsentwürfe, Schülerinnen und Schüler vor.
welcher Religionszugehörigkeit.
zu Sure 5 im Koran und zum GleichDa wird bevorzugt nach der wortnis vom verlorenen Sohn in der
wörtlichen Schriftgestalt geschielt
Bibel. Zur praktischen Umsetzung
und das verlockende Angebot einer
wurde das Seminar in zwei Gruppen
vereinfachten Weltsicht gemacht.
eingeteilt, die jeweils religiös heteHier predigen die üblichen Verdächrogen zusammengesetzt waren. Die
tigen: die Guten gegen die Bösen,
beiden Unterrichtsstunden (je 90
der Osten gegen den Westen und die
Minuten) wurden parallel in zwei
wahre gegen die falsche Religion.
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Als eine Gemeinsamkeit
der besonderen Art trat
außerdem zu Tage, dass
sich die Vertreterinnen
und Vertreter einer Sinn
stiftenden und auf
Verständigung gerichteten Schriftauslegung
heute einer neuen Lust
am Rigorosen gegenüber
sehen, gleich welcher
Religionszugehörigkeit.
Seite 46
Das plurale
Religionsverständnis ist
dabei nicht nur Erfordernis
der interreligiösen
Begegnung, sondern
auch des Umgangs
innerhalb der eigenen
Religionsgemeinschaft
sowie der Duldsamkeit
des religiösen Subjekts
gegenüber sich selbst.
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Der kooperative Religionsunterricht hält dagegen und bietet die
Chance, die wirkliche Begegnung
einzuüben. Wozu? Um den religiösen Selbstentwurf nicht an Hand
der Schwächen des Gegenübers
und auf dessen Kosten zu errichten.
Damit wird die Begegnung natürlich auch zum Risiko. Hier aber gilt:
Wer wagt, gewinnt. Der Unterricht
kann seine einzigartigen Chancen
nämlich nur dann entfalten, wenn
er dabei hilft, auch die eigene religiöse Mitte zu finden und zu stärken.
Das plurale Religionsverständnis
ist dabei nicht nur Erfordernis der
interreligiösen Begegnung, sondern auch des Umgangs innerhalb
der eigenen Religionsgemeinschaft
sowie der Duldsamkeit des religiösen Subjekts gegenüber sich selbst.
Die inhaltliche Rahmung
Die Textarbeit in den Gruppen, die
dann auch den Unterricht vorbeIm Verlauf des Seminars wurden,
reiteten, entwickelte sich um die
auch auf der Grundlage der persönfolgenden Passagen: Psalm 36 und
lichen Erfahrungen der Teilnehmer,
Sure 24 (ein Praxisbericht aus einem
die folgenden grundsätzlichen Span- jesuitisch-muslimischen Wortgottesnungsfelder beschrieben, die ihren
dienst); der Umgang mit kritischen
jeweiligen Einfluss auf die SchriftTexten und ihrer Interpretation/
auslegung entfalten: 1) christlich und Korrelation (sog. Gewaltpassagen
muslimisch (theologisch, theologiewie in Sure 5 und im AT, Josua); ein
geschichtlich), 2) ägyptisch-christlich Praxisbericht über den Umgang mit
und ägyptisch-muslimisch (kulturden beiden Schutzsuren des Korans
räumlich), 3) arabisch und nicht-ara- (113, 114) in einer 9. Klasse einer
bisch (philologisch) sowie 4) östlich
Nürnberger Realschule (Islamischer
und westlich (ideengeschichtlich,
Religionsunterricht); Sure 31 des Koideologisch). Vor diesem Hintergrund rans und die Entwicklung des Motivs
wurde auch die Schrifthermeneutik
eines „authentischen Sprechers“.
in den verwendeten Lehrwerken
Von den Teilnehmerinnen und
(Unterrichtsmaterialien, SchulTeilnehmern wurde dazu verlangt,
bücher) in den Blick genommen.
die zahlreichen in der Literaturliste
Dabei wurden konkretere Elemente
angegebenen Texte zu lesen, die eigereligiöser Sinnkonstruktion diskunen Erfahrungsberichte zu verschrifttiert, die ihrerseits Spannungspole
lichen, eigene Lehrmaterialien auf
darstellen, zum Beispiel zwischen a)
die Frage von Schrifthermeneutik hin
Wortwörtlichkeit und Sprachbild
zu sichten und je ein persönliches
(inkl. Übersetzungsproblematik), b)
Exemplar einer deutschen Koranreligiöser Fachsprache und Alltagsübersetzung und einer deutschen
sprache (Begriffsbildung), c) erinBibelübersetzung bereitzuhalten.
nerter Geschichte und politischer
Wirklichkeit, d) idealisierter Rolle
und sozialer Wirklichkeit, e) Elternund Kindgeneration, f ) kulturellem
Beharren und religiösem Aufbruch,
g) Glaubensgewissheit und Kritik, h)
Abwehr und Neugier sowie i) Vision
und Alltagsbewältigung (christlichmuslimisches Zusammenleben).
Seite 47
Der Problemfall szenisches
Spiel
In diesem Zusammenhang wurde
eine Frage angeschnitten, wie sie immer wieder auch von muslimischen
Lehrkräften oder Studierenden des
Fachs Islamischen Religionslehre in
Deutschland gestellt wird: Wie
weit darf gegangen werden in der
szenischen Umsetzung von Korantexten? Kennen muslimische Kinder
Theaterspiele zu Texten aus dem
Koran? Gibt es szenische Darstellungen, die selbständige Deutungen erlauben? Die Annahme ist: Prophetengeschichten werden normalerweise erzählt, aber nicht dargestellt,
da das im Islam nicht üblich oder
sogar verboten sei. Allerdings sei
bekannt, dass zum Beispiel in Indonesien die Tradition des Schattenspiels oder der Darstellung mittels Handpuppen mit islamischen
Elementen verwoben wird.
Als Problem wurde dabei weniger
die Frage der religiösen Erlaubnis,
sondern eher die der Umsetzbarkeit
erkannt. Die eigentliche Herausforderung war nämlich, dass der Koran
szenisch schwer darzustellen ist, da
die Anzahl der Dialoge begrenzt ist.
Überwiegend werden Kerninhalte
entwickelt, die durch einzelne Sprecher vermittelt werden, und die szenische Gestaltung scheitert oft schon
an den reduzierten Informationen
zu den Personen, der Verortung und
der Dramatisierung. Zudem orientieren sich die Strukturprinzipien
koranischer Geschichten nicht an der
Chronologie der Ereignisse, sondern an der ihnen innenwohnenden
Typik. Die entscheidende Frage,
inwieweit dramaturgisch notwenige
Ergänzungen vorgenommen werden
dürfen, um das aufzufangen und
eine inszenierbare Episode zu entIn den 80er Jahren entstanden Ansät- falten, oder inwieweit die Dramatize im asiatischen und afrikanischen
sierung alternative Ereignisverläufe
Raum, islamische Prophetengeund deren Diskussion gestattet ist,
schichten entsprechend darzustellen, muss wohl vorerst in der Verantwas einen Streit unter einigen muswortung der Lehrkraft und ihrem
limischen Religionsgelehrten über
Gespür für das Machbare bleiben.
die Zulässigkeit auslöste. Die Motive
dieser Aktionen waren zum einen in
der islamischen Dacwa begründet,
zum anderen in von den Regierungen
initiierten Aufklärungskampagnen
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Die Durchführung gemeinsam
geplanten Unterrichts
im Rahmen der Gesundheitserziehung oder des Umweltmanagements.
Die eigentliche
Herausforderung war
nämlich, dass der Koran
szenisch schwer
darzustellen ist, da
die Anzahl der
Dialoge begrenzt ist.
Folgende Praxisteile fanden Eingang in den Unterricht: A. Die
Texterschließung der Verse 23
bis 58 aus der 5. Sure des Korans
mit Schwerpunkt auf den Versen
32 bis 33; B. das Gleichnis vom
Barmherzigen Vater in Lukas 15.
Die Textstelle der 5. Sure verweist
auf Kain und Abel und ist in etwa
nach dem Schema Präambel, Grundsatz und Ausführungsbestimmung
aufgebaut. Insbesondere Vers 32
ist nach dem 11. September 2001
immer wieder bemüht worden, um
die religiöse Legitimation von Gewalt sowohl zu begründen als auch
zu widerlegen. Im Seminar wurden
die biblischen Texte Exodus 20 und
21 sowie Matthäus 5 dazu in Bezug
gesetzt, um die Ambivalenzen des
Textbefunds als generalisierbares
Phänomen zu veranschaulichen.
Die in der Gruppe B avisierte Unterrichtseinheit ging von der Idee aus,
sich auch in einer religiös gemischten
Lerngruppe an eine szenische Umsetzung mit Dialogen aus der biblischen
oder koranischen Tradition heranzuwagen, die es möglich macht, einen
alternativen Ausgang der Geschichte
aufzuzeigen. Im Vorfeld allerdings
diskutierten die Seminarteilnehmer
Seite 48
intensiv über die Frage, inwieweit
dieser Zugang für die unterrichtliche Bearbeitung von Geschichten
aus dem Koran zur Verfügung stehe
– oder aber gegen die religiöse oder
kulturelle Etikette des Islams verstoße. Dabei konnte geklärt werden,
dass hier weder theologische noch
religionspädagogische Gründe für
einen restriktiven Umgang ins Feld
werden könnten. Allerdings sei man,
nicht zuletzt auch mit Blick auf das
nähere Umfeld, sehr wohl mit den
Vorbehalten vieler Muslime vertraut. Deshalb wurde beschlossen,
nicht gleich mit einer Erzählung
des Korans zu beginnen, sondern
sich zuerst an christlich-religionspädagogische Erfahrungen zu halten,
diesen Zugang einmal exemplarisch
an einem biblischen Text aufzuzeigen und dann mit allen Schülern
darüber ins Gespräch zu kommen,
wie sie das mit Blick auf ihre jeweils eigenen religiösen Traditionen
bewerten. Als Bewertungsimpulse
dienten zum einen die in den Schülergruppen erarbeiteten alternativen
Erzählverläufe (zum Beispiel der
Vater verzeiht nicht). Zum anderen
kamen die „Anwälte der Textadressaten“ zu Wort, die aus den Schülergruppen selbst heraus bestimmt
worden waren (zum Beispiel „Wir
verstehen nicht, warum der Vater
dem Gesetz nicht Genüge tut.“).
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Interreligiöses Lernen:
Beobachtungen und erste
Erkenntnisse
„Es ist ein toller Stil,
einmal von solchen
Texten aus auf die
Fragen zuzugehen,
die uns bewegen,
und nicht immer
nur umgekehrt!“
Als Lernziele im Sinne von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten
wurde für den Unterricht formuliert: die interreligiöse Kompetenz
durch die Erfahrung des narrativen
Wertes von Bibeltexten/Korantexten stärken, die in Beziehung zur
Person des Schülers treten; eine
gemeinsame Erfahrung von Muslimen und Christen ermöglichen
mit Blick auf die Frage, inwieweit
die situative Verhältnisbestimmung
von Gerechtigkeit und Gnade zum
Regelbruch führen kann; lernen, die
Perspektive des „abwesenden Dritten" zu beachten (Was ist ein Gleichnis? Für wen wurden Gleichnisse
gemacht? Wer sind die Adressaten?
Welche Drittwirkungen haben die
Texte in ihren ursprünglichen Sprecherkontexten entfaltet?); der Frage
nachspüren, inwieweit vor allem
mit Blick auf die Gattung „Heilige
Schrift“ vom „Recht des Textes“ auf
Unversehrtheit die Rede sein kann;
die eingeübten Regeln der interreligiösen Kommunikation beachten.
Die Schüler brachten das Thema
„Gewalt" von sich aus mit aktuellen
Vorgängen um Religion in Verbindung. Originalkommentar: „Es ist
ein toller Stil, einmal von solchen
Texten aus auf die Fragen zuzugehen,
die uns bewegen, und nicht immer
nur umgekehrt!“ Einige Schüler versuchten zu begründen, warum sie für
einen stärkeren Einfluss der Heiligen Schriften auf die Gesetzgebung
votieren würden; die entsprechenden
ordnungspolitischen Regelungen
sollten den Missbrauch von Religion wirksamer ausschließen. Hieran
schloss sich eine Diskussion um die
Grundlage von Bibel oder Koran für
heutige Verfassungsgegebenheiten an.
Wie erwartet entspann sich auch eine
Diskussion um die Legitimität der
Todesstrafe. Von Seiten einiger Schüler wurde zudem versucht, das AT
und das NT in ihrem wechselseitigen
Bezug zu trennen und die beiden
Textkompendien unabhängig voneinander zu interpretieren. Hier erwies
sich als hilfreich für die Debatte, dass
die christliche Lehrkraft den Zusammenhang der beiden Kompendien
für die hermeneutische Erschließung
verteidigte, und zwar am Beispiel des
Dekalogs. Damit gelang es ihr, die
religiöse Deutung hervorzuheben,
die ihrerseits von Seiten der muslimischen Schülerinnen und Schüler
aus der eigenen religiösen Perspektive
heraus zunächst in Frage gestellt worden war. Derlei authentische IchBotschaften der Lehrenden weckten
das Interesse auf Seiten der Schüler
besonders nachhaltig, diese Thema-
Seite 49
tik im Zuge einer weiter führenden
Unterrichtssequenz zu vertiefen.
Folgende Beobachtungen wurden
während des Unterrichts protokolliert: Die Schüler merkten an, dass
sie den Unterricht im Team mit drei
Lehrkräften als offen und anregend
und nicht etwa als majorisierend
empfanden. Die Diskussion war
lebendig und diszipliniert. Entscheidend war, dass die Schüler teilweise
über erhebliches Vorwissen verfügten, vor allem über die im Koran
entfaltete Geschichte um Kain und
Abel. Daran ließ sich nachzeichnen,
wie wichtig eine differenzierende,
religionspädagogisch begründete
Lesedidaktik für den Religionsunterricht ist. Eine zweite Säule sind
die begrifflich präzisen, gesicherten
und prüfbaren Bestände an Information über das religiöse System.
Weitere Säulen sind ein konstruktives Diskursklima mit FeedbackOrientierung sowie bestimmte
„Echtheits-Faktoren“ wie die theologische Authentizität in der Sache
oder die religiöse Grundhaltung
der Unterrichtenden (Bekenntnis,
Zustimmung, Widerspruch, Nachdenklichkeit, Hoffnung). Wenn diese
Dinge gewährleistet sind, überragen
die oben angesprochenen Chancen
die Risiken, so dass der Kooperative Religionsunterricht religiöses
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Lernen im Sinne von veränderten
Einstellungen bewirken kann. Wenn
allerdings die hier erwähnten Faktoren, die den Erfolg begünstigen,
nicht gegeben sind (die durch den
vorangegangenen Unterricht gut
informierte Schülerschaft, umfassend
ausgebildete Lehrkräfte, die organisatorische und ideelle Unterstützung
durch die Schulleitung und das gesamte Kollegium), dann besteht die
Gefahr, dass so ein Unterricht dabei
hilft, dort Mauern zu errichten,
wo sie eingerissen werden sollten.
Von welchen Mauern war im Seminar die Rede? Es ging um den
Umbau von Religion auf das tribale
Format, als Antwort auf die subjektiv wahrgenommenen und kollektiv
rückversicherten, nicht aber unbedingt realen Herausforderungen
der Globalisierung. Dieser Umbau
erfolgt gewöhnlich auf Kosten der
universalen Signatur der religiösen
Systeme, wenn von Religionen wie
dem Judentum, dem Christentum
oder dem Islam die Rede ist. Am
Ende droht der Ausverkauf von
Werten, die im religiös Gebotenen wurzeln und natürlich auf die
Gruppe rückbezogen sind, sich aber
in der Dimension des Universalen
bewähren müssen. Die interreligiöse Begegnung im gemeinsamen
Unterricht ist ein solcher Bewährungsraum. Die Seminarteilnehmer
gaben diesbezüglich zu Protokoll,
dass sie besonders für Jugendliche
das Risiko der religiösen und kulturellen Radikalisierung befürchten.
Diese Befürchtung bezog sich nicht
exklusiv auf muslimische Jugendliche, sondern neben anderen Religionen zum Beispiel auch auf neuere Erscheinungsformen eines sich
kämpferisch gebenden Atheismus.
Diese Befürchtungen wurden auf die
Beobachtung zurückgeführt, dass
sich Heranwachsende zwischen 10
und 20 auch jenseits von Religion
schon in einer Phase ihres Lebens
befinden, in der die anstrengende
Konsolidierung konkurrierender Rollenerwartungen gelingen soll. Diskutiert wurde auch, ob es mehr ist als
nur eine Impression, wie bereitwillig
moderne Gesellschaften ihre eigene
Repaganisierung betreiben und dabei
in überwunden geglaubte Muster
zurückfallen: die radikale Abwehr
des Fremden, die Majorisierung von
Grundrechten durch einen zunehmend irrationalen Konsens, allgemeiner Wachstumszwang und damit
Hand in Hand gehend die aggressive
Vermarktung des Menschen. Mensch
zu sein drohe dabei randständig zu
werden. Solche, die die Gesandten
Gottes unterstützen, ohne dafür
Lohn zu verlangen, kommen im
Koran ja „vom Rande der Stadt“
(36:20), und auch bei Amos sind sie
Wenn diese Dinge
gewährleistet sind,
überragen die oben
angesprochenen Chancen
die Risiken, so dass der
Kooperative Religionsunterricht religiöses
Lernen im Sinne von
veränderten Einstellungen
bewirken kann.
Seite 50
„vor den Toren.“ Noch aber sind die
Zeiten nicht „so böse, dass der Kluge
besser schweige“ (Amos 5,13). Im
Gegenteil: Die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer des Seminars gingen positiv gestimmt auseinander, ermutigt
durch einen klugen interreligiösen
Austausch, der sich in guten Unterrichtserfahrungen bestätigte. Womit
eine weitere Säule angesprochen
wäre, die für das Gelingen solcher
Projekte unerlässlich ist: „Sucht das
Gute und nicht das Böse, auf dass ihr
leben könnt“ (Amos 5,14), „steht ein
für das Gute, wehrt das Böse ab und
halte euch an Gott“ (Koran 3:110).
Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“
Exkursion nach Kairo
8.-16. April 2010
Auf dem Weg zu einer dialogischen Didaktik
im christlichen und islamischen Religionsunterricht
Tagung, Fachaustausch und Begegnung
an der Deutschen Evangelischen Oberschule
Die Deutsche Evangelische Oberschule
(DEO) Kairo ist eine der großen deutschen
Auslandsschulen mit dem Konzept einer
Begegnungsschule. Dort wird Religionsunterricht als Kooperationsfach von
christlichen und muslimischen Lehrkräften erteilt. 10 Jahre nach Beginn der
Projektphase sollen sich LehrerInnen, Studierende und ProfessorInnen des katholischen, evangelischen und islamischen
Religionsunterrichts aus Deutschland mit
SchülerInnen und FachkollegInnen der
DEO Kairo über Chancen und Herausfor-
derungen einer dialogischen Didaktik
„zwischen“ islamischer und christlicher
Religionspädagogik austauschen. Im
Zusammenwirken verschiedener Phasen
der Lehrerbildung erhalten die Teilnehmenden wertvolle Impulse für ihre
weitere Tätigkeit in Studium, universitärer
Lehre und Schule. Neben Fachreferaten
sind unterrichtsspezifische Gruppenarbeiten sowie eine Dokumentation und
Präsentation der Ergebnisse in den außerschulischen Bereich der deutschsprachigen Kulturszene von Kairo geplant.
Seite 51
Zu den Autorinnen und Autoren
Harry Harun Behr, geboren 1962, ist
Inhaber der Professur für Islamische
Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Er konvertierte 1980 zum Islam. Von
1993 bis 2005 war er in München im
Schuldienst tätig. 2005 promovierte
Behr zum Thema „Curriculum Islamunterricht“ an der Universität Bayreuth.
Sein Forschungsschwerpunkt liegt im
Bereich von Islam und Unterricht.
Leila Djahani-Gürsoy, geb. 1982,
studierte Orientalistik, Pädagogik und
Vergleichende Religionswissenschaft in
Frankfurt a. M. sowie Islamische Religionslehre am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre an
der FAU in Nürnberg. Ihr Forschungsinteresse liegt in der Geschichte der
pädagogischen Theorie des Islams und
ihrer Relevanz für gegenwärtige islamisch-religionspädagogischen Diskurse.
Ramin Massarrat, geboren 1974, absolvierte ein Studium in Iranistik, Pädagogik
und Islamkunde an der Universität Bamberg und studierte Islamische Religionslehre am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre an der
FAU in Nürnberg. Er forscht zur klassischen persischen Literatur und erteilt
derzeit Islamischen Unterricht an verschiedenen Standorten im Nürnberger
Land und im Kreis Neustadt an der Aisch.
Ayse Uygun-Altunbas, geboren 1977,
hat Erziehungswissenschaften und
Soziologie an der Ruprecht-KarlsUniversität in Heidelberg studiert. Sie
forscht zu Fragen der Werteerziehung
und -bildung im Islam und der religiösen Sozialisation von muslimischen
Jugendlichen in ihren Familien.
Herausgegeben von
Harry Harun Behr
(v.i.S.d.P.)
Emel und Amin Rochdi
Interdisziplinäres Zentrum für
Islamische Religionslehre
an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg
Regensburger Straße 160
90478 Nürnberg
Telefon 0911 5302-607
www.izir.de
Satz und Layout:
Yasmine Behr
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unter der Voraussetzung erlaubt, dass Namen von
Autoren und Rechtsinhabern genannt sind und die
Nutzung nicht kommerziell erfolgt. Eine Weitergabe
ist nur unter gleichen Bedingungen gestattet. Die
gesetzlichen Schranken des Urheberrechts bleiben
hiervon unangetastet. Nähere Informationen unter
www.creativecommons.org
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