Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre Inhalt Harry Harun Behr Minarett............................................ Seite 1 Ayse Uygun-Altunbas Islamische Religionspädagogik Ansätze für ihre Konzeptualisierung .......................... Seite 2 Leila Djahani-Gürsoy Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen..... Seite 14 Ramin Massarrat Die Frage nach der Existenz des Bösen im islamischen Religionsunterricht Lösungsansätze durch Texte aus dem Sufismus . ............................... Seite 28 Harry Harun Behr und andere „Nehmt mich ruhig ran!“ Bericht zu einem interreligiösen und fachdidaktischen Seminar an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo............................................. Seite 41 Zu den Autoren / Impressum..... Seite 51 Heft 6 • Dez. 2009 • 3. Jg. Zeitschrift für die Religionslehre des Islam ZRLI Harry Harun Behr Minarett, das, arabisch TnCËÆ (manāra, „Leuchte“, auch mi’dhana, „von wo der Ruf zum Gebet zu hören ist“), türkisch minare; erhöhter Teil einer Moschee (arabisch k`tÆ ; masdschid, „Ort des Gebets in Niederwerfung vor Gott“, vgl. im Koran 13:15). Muhammad bestimmt einen stimmgewaltigen Schwarzen, Bilal ibn Rabah al-Habaschi, den „Abbessinier“, als ersten Muezzin in Medina. Bilal gehört zu den sieben ersten Gefolgsleuten Muhammads aus der mekkanischen Frühzeit. Zum Gebetsruf besteigt er eine einfache Plattform auf der Mauer der Prophetenmoschee. Das Minarett als beleuchteter Turm neben der Moschee entsteht vermutlich zu Beginn des 8. Jh. n. Chr. in Damaskus (Umayyadenmoschee). Zum Aspekt der Kennzeichnung als Gotteshaus treten damit Funktionen hinzu, die mit erweiterten Dienstleistungen (Unterkunft, Verpflegung) einer Moschee zu tun haben. Fortan dient das Minarett auch als Leuchtturm zur Orientierung für Karawanen (bzw. bei Hafenmoscheen an der Küste für die Seefahrt). Im Laufe der Zeit verbinden sich mit dem Minarett unterschiedliche zeichenhafte Aufladungen, etwa als Sinnbild des Glaubenslichts (vgl. im Koran 24:35). Von besonderer Tragweite ist die Verbindung mit Halbmond und Stern als Symbol des Islams, das oft die Minarettspitze schmückt. Der Halbmond geht wohl auf das Monatssymbol antiker Mondkalender zurück, der Stern verweist auf Salomo, aber auch auf Maria. Der Legende nach steht auch ein Traumgesicht des Gründers der osmanischen Dynastie, Gazi Osman I., Pate (spätes 13. Jhdt. n. Chr.). Seitdem stellen Anzahl und Höhe der Minarette auch Machtzeichen des Potentaten dar (Mekka: 9 Minarette; Marokko und Algerien: Minarette mit über 200 Metern Höhe), können also Ausweis vor allem innerislamischen Hegemonialdenkens sein. Seit kurzem steht das Minarett zudem als Symbol für die Neurose eines europäischen Volkes, das schöne Uhren produziert, aber auch Käse. Seite 2 Ayse Uygun-Altunbas Islamische Religionspädagogik Ansätze für ihre Konzeptualisierung Einleitung Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung einer umfangreicheren wissenschaftlichen Arbeit. Damit möchte ich, was mögliche Konzeptualisierungen von islamischer Religionspädagogik angeht, einen Diskussionsbeitrag leisten. Das Thema Bildung und Erziehung der muslimischen Kinder nach eigenen religiösen Normen beschäftigte längere Zeit die nach Deutschland eingewanderten Arbeitsmigranten. Zunächst behalfen sie sich, wie oben schon angedeutet, mit den Moscheegründungen einhergehend einen Islamunterricht anzubieten, um ihre Kinder nach ihren eigenen religiösen und kulturellen Grundsätzen zu erziehen. Angesichts der defizitären Lage in den Moscheen wurde seitens der Muslime ein entsprechendes Interesse an der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts gegenüber den Kultusministerien der Bundesländer geäußert. Die ersten Forderungen begannen Ende der 70er Jahre. Doch die Einführung Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik eines islamischen Religionsunterrichts ließ auf sich warten, und die Debatten um dieses Thema werden zum Teil sehr kontrovers geführt. Trotz einiger Hürden, die einer Einführung im Rahmen des Regelunterrichts (im Sinne der Verfassung nach Art. 7.3 des GG) an deutschen Schulen auf dem Weg stehen, ist man sich mehr oder weniger über dessen Einführung einig. In den verschiedenen Bundesländern werden unterschiedliche Modelle von islamischem Religionsunterricht angeboten. Die unterschiedlichen Modelle (islamkundlich orientiert, am Bekenntnis orientiert) unterliegen den länderspezifischen Verordnungen der Kultusministerien und können sich voneinander unterscheiden. In diesem Zusammenhang stellt gerade die Ausbildung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer für den islamischen Religionsunterricht eine besondere Herausforderung dar. Die Etablierung der vier Studiengänge in Deutschland, in denen „islamische Theologie“/„islamische Wissenschaften" angeboten werden, ist jüngeren Datums. Das Fach „Islamische Religionspädagogik“ ist in diesem Zusammenhang erst im Entstehen begriffen. Und genau an diesen Punkt knüpfte ich im Rahmen meiner Untersuchung an, deren zentrale Fragen lauten: Was macht das fachliche Profil einer islamischen Religionspädagogik aus? Was sind ihre Bildungs- und Erziehungsziele? Welche Fachdidaktik ist für uns erkennbar? Die Ergründung von islamischreligionspädagogischen Konzepten, die ich in den jeweiligen Instituten an Hand von Experteninterviews entwickelt habe, steht hierbei im Vordergrund. Es wurde mit dieser Untersuchung erläutert, welche Werthaltungen und Beobachtungen, typische Erfahrungen und Positionen die Experten vertreten und welche Interpretationen und Konstruktionen hinsichtlich einer islamischen Religionspädagogik erkennbar gemacht werden. Als Auswertungsgrundlage dienten die Interviewtexte. Ein Kernproblem der Untersuchung ist sowohl ihr theologisches als auch pädagogisches Interesse. Der Forschungsstand im Bereich der islamischen Religionspädagogik ist noch nicht weit entwickelt; folglich war es schwierig, theoretische Bezüge herzustellen. Gerade die Kategorienentwicklung, welche im weiteren Verlauf näher erläutert wird, stellte eine besondere Herausforderung dar. Die Interviews führte ich mit vier Experten an deutschlandweit vier verschiedenen Hochschulen durch. Hier ist nur von Experte A, Experte B und Experte C die Rede, ohne Erwähnung des Namens, des Hochschulstandortes oder der Berücksichtigung des Geschlechts. Das Interview mit Experten D wurde nicht berücksichtigt. Seite 3 Zum Forschungsdesign nicht möglich. Folglich stellte sich die Kategorienentwicklung als ein Die empirischen Daten für die besonderes Problem dar. Es wurUntersuchung wurden durch das de versucht, anhand von allgemein halbstandardisierte Leitfadeninterdefinierten Begriffen wie „Religiview erhoben, wodurch die Offenheit onspädagogik“ oder „Bildungs- und des Interviewverlaufs gewährleistet Erziehungsziele“ Kategorien zu entwurde. Die angewandte Methode wickeln. Die Begründung für deren des „halbstandardisierenden ExperAuswahl bzw. für die Konstruktion teninterviews“ beruht nach Meuser des Fragebogens lässt sich vorrangig und Nagel (2002) auf dem Interesse, aus dem Erkenntnisinteresse ablei„Strukturen und Strukturzusamten, die einer, zumindest in ihren menhänge des Expertenwissens/ Grundzügen, (religions)pädago-handelns“ zu analysieren. Nicht gischen Konzeption zugrunde liegen die Person/der Experte mit seinen muss. Die anhand eines InterviewOrientierungen und Einstellungen leitfadens konstruierten Fragen sind stehen im Vordergrund, sondern es in vier Themenbereiche gegliedert: ist der konzeptionelle oder institu1) Konzeption / Inhalte/ Grundlationelle Zusammenhang, um den gen – Islamische Religionspädagogik, es vordergründig bei der Unter2) Theorie / Praxisverhältnis – Resuchung geht. Es wird eine interligionsunterricht in der Schule, 3) pretative Auswertungsstrategie als Hochschulstruktur / Institution, und Entdeckungsstrategie zur Auswerdamit verbunden 4) Zukunftsfragen. tung des Datenmaterials verwendet. Den Themenbereichen konnten nach Nicht der Bezug zu einer Theorie, einem ersten Auswertungsschritt sondern der Vergleich des Untereinzelne dazugehörende Aspekte suchungsgegenstandes anhand von zugeordnet werden: zu 1): Bildungs„Beobachtungskategorien“ lässt auf und Erziehungsziele, Islamische die Erforschung desselben abzielen Quellen (Lerninhalte) und Fragen (vgl. Meuser / Nagel 1997, 481). des Fachprofils einer islamischen Religionspädagogik (InterdisziplinaWie bereits erwähnt, ist eine theorität); zu 2): Didaktik, curriculare riegeleitete Untersuchung aufgrund Rahmenpläne, Forschungsprojekte mangelnder Forschungsbeiträge um in den Schulen und Fragen der den islamischen Religionsunterricht Qualifikation der Lehrkräfte; zu 3): / oder fehlender islamisch-religiOrganisationsformen und Fragen der onspädagogischer Referenztheorien Kooperation mit den ReligionsgeAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik meinschaften; zu 4): die Etablierung des Fachs, der Stand der Forschung und Veränderungsmöglichkeiten. Nicht die Person / der Experte mit seinen Orientierungen und Einstellungen stehen im Vordergrund, sondern es ist der konzeptionelle oder institutionelle Zusammenhang, um den es vordergründig bei der Untersuchung geht. Die Resultate der zusammenfassendstrukturierenden und inhaltsanalytischen Aufbereitung der Interviews konnten zwar tabellarisch wiedergegeben werden, es wurde jedoch (aus zeitlichen Gründen) bei der Auswertung hauptsächlich auf die oben zuerst erwähnten Aspekte eingegangen. Das heißt: Es wurde vorerst den beiden Kategorien „Fachprofil einer islamischen Religionspädagogik“ und „Erziehungs- und Bildungsziele“ der Vorrang eingeräumt. Hierzu erscheinen Begriffsklärungen sinnvoll. Seite 4 Zur begrifflichen Klärung Religionspädagogik Die Religionspädagogik wird als die Lehre von den Zielen, Möglichkeiten, Inhalten und Methoden der religiösen Erziehung betrachtet. Sowohl die Erziehungswissenschaften als auch die Theologie sind Bezugswissenschaften, auf die eine Religionspädagogik angewiesen ist. Die Religionspädagogik ist fachlich nicht ausschließlich pädagogisch, sondern „vor allem in der Thematisierung der religiösen Erziehung in öffentlichen Schulen (Staatskirchenrecht) an den Vorgaben der großen Konfessionen und ihrer Pädagogik, die sich seit langem schon als evangelische, katholische oder jüdische Pädagogik selbständig entwickelt haben, ausgerichtet“ (Tenorth / Tippelt 2007, 603 f.). Die Vorgaben einer Konfession und ihre jeweilige Auslegung bedingen die Entwicklung einer Pädagogik, die an öffentlichen Schulen gelehrt werden kann. Hinsichtlich der islamischen Religion geht man im Vergleich zu den anderen Religionen davon aus, dass sie sich im Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindet. Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die nicht ausschließlich auf die Pluralität der Einstellungen bzw. die Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Sichtweisen oder die Vorgaben der Religion zurückzuführen sind. Bildung und Bildungsziel Bildung ist ein zentraler Begriff der erziehungswissenschaftlichen Fachsprache. Er charakterisiert die spezifische Tradition des wissenschaftlichen und öffentlichen Denkens über Erziehung in Deutschland in besonderer Weise. Für die Klärung des Bildungsbegriffs sind Funktion, Themen und Thematisierungsweisen, seine Geschichte innerhalb und außerhalb der Pädagogik sowie aktuelle theoretische Varianten und Kontroversen zu unterscheiden (a. a. O., 92). Die erstgenannten Aspekte sind für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse. Daher sollen sie hier einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Für den Bildungsbegriff und seine Theorien werden mindestens vier nicht aufeinander reduzierbare Themen behandelt: „1. die Prozesse und Normen, Formen und Ergebnisse der Selbstkonstruktion des Menschen; 2. die Prinzipien der Gestaltung der gesellschaftlichen Organisation des Lehrens und Lernens; 3. eine Perspektive für die Selbstthematisierung von Gesellschaften; 4. wesentliche Möglichkeiten der kategorialen Orientierung der Humanwissenschaften“ (ebenda). Diese Themen werden von Die Thematisierungsformen von Bildung sind sehr breit, umfassend und werden nicht selten mit widersprüchlichen Ansprüchen diskutiert, gerade wenn Bildung zugleich Prozess und Produkt, Ziel und Norm oder Theorie und Analyse bezeichnen soll. den Erziehungswissenschaften aufgenommen, aber jeweils in spezifischer Weise bearbeitet. Die Thematisierungsformen von Bildung sind sehr breit, umfassend und werden nicht selten mit widersprüchlichen Ansprüchen diskutiert, gerade wenn Bildung zugleich Prozess und Produkt, Ziel und Norm oder Theorie und Analyse bezeichnen soll. Zudem wird von Pädagogen häufig der intensive, theoretisch häufig nicht distinkte Gebrauch in unterschiedlicher Referenz kritisiert (ebenda). Bildungsziele formulieren Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen, die ein Lernender durch ein bestimmtes Bildungsangebot erreichen soll. Bildungsziele sind allgemein gehalten. Auf individueller Ebene und in schulischen Lehrplänen und Curricula gibt es Lernziele (a. a. O., 118). Erziehung und Erziehungsziele Wie der Bildungsbegriff kann auch der Erziehungsbegriff nicht eindeutig definiert werden. In der Erziehungswissenschaft findet sich keine einheitliche und allseits anerkannte Theorie der Erziehung. Die Abgrenzung zur „Bildung“ oder „Sozialisation“ ist nicht immer einhaltbar. Erziehung wird als ein Prozess bezeichnet, der auf die Veränderung des menschlichen Individuums bezogen ist. Dieser wird lebensweltlich durch Seite 5 Eltern oder beruflich durch Pädagogen gesteuert, aber auch der Prozess der Selbsterziehung kann unter die Kategorie „Erziehung“ eingeordnet werden: „Erziehung [....] meint zentral diejenigen Akte, die sich auf das heranwachsende Individuum richten und dessen Entwicklung fördern wollen. Träger und Subjekte dieser Akte, deren Dauer und Ort, Mittel und Ziele samt ihrer Legitimation sowie die gesellschaftliche Funktion von Erziehung nicht festliegen, unterliegen vielmehr historischem Wandel. [...] Streng genommen lässt sich Erziehung nicht definieren, Praktiker und Theoretiker der Erziehung legen sich je nach eigener Sicht auf einen Erziehungsbegriff fest. Die Erziehungstatsache selbst kann beschrieben, verstanden, geplant, organisiert oder konstruiert werden“ (Miller-Kipp/Oelkers 2007, 204). Die Autoren definieren Erziehungsziele folgendermaßen: „Erziehungsziele stellen normative Vorgriffe dar. Sie bedürfen der Begründung und der Legitimation. Erziehungsziele werden im Blick auf den Zögling oder im Blick auf Kultur und Gesellschaft vorgetragen. [....] Erziehungsziele bezeichnen Tugenden, soziale Einstellungen, moralisches Verhalten oder körperliche oder geistige Fähigkeiten. Systembezogen handelt es sich um die Übertragung oder ErhalAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik tung von Normen und Werten, kollektiven Einstellungen, Tüchtigkeiten usw. Ein eigenes Problem ist die Realisierung oder Durchsetzung von Erziehungszielen“ (a. a. O., 205f ). 2 Im Kontext einer „Religionspädagogik“, die wie beschrieben in ihren Bezügen sowohl auf die Erziehungswissenschaften als auch auf die Theologien angewiesen ist, läuft das darauf hinaus, dass die normativen Vorgaben aus den Grundlagen der Religion des Islam abgeleitet werden. Erziehungswissenschaftliche Grundbegriffe und Religionspädagogik Sowohl Erziehung als auch Bildung und ihre Ziele können, wie erläutert, nicht eindeutig definiert werden. Sie sind normativ bestimmt und bedürfen der Begründung und der Legitimation. Sie werden entsprechend im Blick auf die Kultur und Gesellschaft vorgetragen und können Fähigkeiten, soziale Einstellungen, tugendhaftes Verhalten, Erhaltung von Normen und Werten und ähnliche Kategorien bedeuten. Im Kontext einer „Religionspädagogik“, die wie beschrieben in ihren Bezügen sowohl auf die Erziehungswissenschaften als auch auf die Theologien angewiesen ist, läuft das darauf hinaus, dass die normativen Vorgaben aus den Grundlagen der Religion des Islam abgeleitet werden. Die Thematisierungsformen können, wie aus der Erläuterung der beiden Begriffe hervorgeht, unterschiedlich ausfallen. Religionspädagogik wurde als die „Lehre von den Zielen, Themen und Möglichkeiten, Inhalten und Methoden der religiösen Erziehung“ gekennzeichnet. Bei der Konstruktion des Interviewleitfadens wurden deshalb zur Klärung dieser Aspekte Seite 6 Fragen entwickelt, die helfen sollten, mögliche islamisch-religionspädagogische Konzepte und ihre Begründungszusammenhänge zu erhellen. Die „Eckpunkte“ und „Faktoren“ einer islamischen Religionspädagogik sind zum einen die Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der Schüler, und zum anderen eine gut funktionierende Theologie des Islam Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Zur Datenauswertung der Schüler, und zum anderen eine gut funktionierende Theologie des Ein thematischer Vergleich des nach Islam, welche sich diskursiv aus den Themen und Kategorien geordneten kulturellen Segmenten der GesellMaterials ermöglicht es, die Geschaft heraus, in die sie hineinwirkt, meinsamkeiten und Unterschiede zu entwickeln soll. Der Theologiebezug rekonstruieren bzw. darzustellen. Das und der kindliche Lebensweltbebezieht sich auf Erfahrungen, Beobzug stehen somit im Vordergrund. achtungen, Interpretationen, Konstruktionen, Verfahrensregeln und Die theologische Eignung und die Normen der Entscheidungsfindung, Kenntnis pädagogischer Prinzipien Werthaltungen und Positionen, ist eine Selbstverständlichkeit. Man Handlungsmaximen und Konzepte müsse ein theologisches Studium der Funktionsausübung des Experabsolviert haben und darüber hitenwissen (vgl. Meuser/ Nagel 2002, naus pädagogische, erziehungswis87). Aufgrund der Komplexität und senschaftliche Prinzipien kennen, der Fülle der Themen, die in dieum der Religionspädagogik gerecht sem Rahmen nicht behandelt werzu werden. Die Betonung liegt bei den können, sind zwei Kategorien einem der Experten bei den „islahier vordergründig einer näheren mischen Wissenschaften“ (er zieht Betrachtung unterzogen worden: diesen Begriff dem der „Theologie“ 1. das Fachprofil einer islamischen vor). Er verweist mehrmals auf die Religionspädagogik, d.h. das was „islamischen Wissenschaften“ als sie ausmachen könnte, und 2. ihre einen Hauptgegenstand der islaBildungs- und Erziehungsziele. mischen Religionspädagogik. Umgekehrt könne man keinen fachlichen Inhalt im islamischen Religionsun1. Fachprofil einer islamischen terricht vermitteln, ohne dass die Religionspädagogik religionsdidaktischen bzw. religiEin Vergleich der entsprechenden onspädagogischen Erkenntnisse und Textpassagen zur islamischen Religi- Erfahrungen berücksichtigt werden. onspädagogik gestattet es, folgende Die beiden Teilaspekte (TheologiebeGemeinsamkeiten herausstellen: zug und Lebensweltbezug) der islaDie „Eckpunkte“ und „Faktoren“ mischen Religionspädagogik werden einer islamischen Religionspädavon allen drei Experten betont. Dies gogik sind zum einen die Berückist als Gemeinsamkeit der Experten sichtigung der Lebenswirklichkeit zu unterstreichen. Dennoch sind Seite 7 bei einer genaueren Untersuchung der Texteinheiten unterschiedliche Akzentuierungen festzustellen. War für den Experten A bei der Definition einer islamischen Religionspädagogik die Bezüge zur Theologie und zur Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler von Bedeutung, so ist eine unterschiedlich akzentuierte Definition beim Experten B vorzufinden. Er spricht von verschiedenen Grundlagen, und zwar die glaubens- und handlungsorientierte, die soziale und die pädagogisch-fachdidaktische einer islamischen Religionspädagogik, was im Vergleich zu den Aussagen des Experten A differenzierter dargestellt wird. Der Zusammenhang zwischen dem Individuum, das für die religiöse Sozialisation vorbereitet werden soll, und der Religion mit ihren Glaubensinhalten, religiösen Handlungsnormen und Ethik wird hier unterstrichen, um die dazu notwendige religionspädagogische Kompetenz deutlich zu machen. Die Äußerungen des Experten C sind in diesem Zusammenhang eher auf das Unterrichtsgeschehen und nicht in Abstraktion auf den Fachbereich „islamische Religionspädagogik“ bezogen. Die Islamische Erziehungs- und Bildungslehre bzw. der Religionsunterricht sollen auf dem Koran aufgebaut werden. Die Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Moralvorstellung, die Kerninhalte und die theologischen Vorstellungen müssten „logischerweise kindgerecht, auch altersgerecht“ verarbeitet werden und dann „pädagogisch sinnvoll und didaktisch sinnvoll weitergegeben“ werden. Die Experten sind sich darin einig, dass sich die „Islamische Religionspädagogik“ in der Anfangsphase ihrer Entwicklung befindet. Daneben kristallisieren sich folgende unterschiedliche Sichtweisen heraus: Für den Experten A erschien es sinnvoll, dass man die Geschichte der Theologie und der Pädagogik im Islam bei der Entwicklung einer islamischen Religionspädagogik berücksichtigt, da diese eine je eigene Entwicklungsgeschichte hätten. Es sei bisher viel gedacht und konzeptuell viel gemacht, entdeckt und entwickelt worden und diese Erkenntnisse dürften nicht verloren gehen. Der Experte B hält es für wichtig, bei der Entwicklung einer islamischen Religionspädagogik gegenüber allen (westlichen) religionspädagogischen Ansätzen offen zu sein („gegenüber den islamischen sowieso“), sofern sie islamisch-religionspädagogisch relevant sind: die Erfahrungen, die Erkenntnisse, die neuesten Forschungsergebnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften. Eine etwas andere Position vertritt der Experte Die Experten sind sich darin einig, dass sich die „Islamische Religionspädagogik“ in der Anfangsphase ihrer Entwicklung befindet. C. Er ist der Auffassung, dass das Modell der Religionspädagogik in Deutschland ausgeprägt und fortentwickelt ist, und man könne in das Modell islamische Elemente einsetzen und integrieren. Hierbei macht er die folgende Bemerkung: „Wie können wir islamische Inhalte in das zum Tage stehende Modell, ja einsetzen und integrieren. Das ergibt dann eine so genannte islamische Religionspädagogik [....Sie würde sich....] natürlich nicht komplett von einer christlichen oder jüdischen Religionspädagogik unterscheiden, aber sie hat natürlich andere Elemente, weil bestimmte Voraussetzungen bei uns einfach anders sind“. Wie man sieht, haben die Experten unterschiedliche Meinungen, wie eine „islamische Religionspädagogik“ zu entwickeln wäre. Einen fundierten Ansatz sehen die Befragten wohl auch in der Berücksichtigung der Geschichte der Theologie und der Pädagogik im Islam. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, in welchem Maße und mit welchen Konsequenzen Offenheit gegenüber den Erkenntnissen der Religionspädagogik anderer Religionen gewahrt werden kann, wenn gleichzeitig grundlegende Aspekte wie zum Beispiel das Gottesbild, die Anthropologie, die Vorstellung vom Prophetentum und andere Teile der Seite 8 Lehre auf eine eigene Art formuliert werden. Das wird im Entwurf einer eigenen Religionspädagogik seine Spuren hinterlassen. Zu berücksichtigen ist ja auch die Historie der jüdischen und christlichen Religionspädagogiken in ihrer je eigenen Tradition als Wissenschaft und dem je spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang. Hier liegen beim Islam die Dinge zum großen Teil anders [siehe dazu in diesem Heft auch den Beitrag von Leila Djahani-Gürsoy]. Der Theologiebezug bzw. der Bezug zu den „islamischen Wissenschaften“ als ein Hauptgegenstand der islamischen Religionspädagogik steht einstimmig bei allen Experten im Vordergrund. Ein weiterer, im Zusammenhang dazu stehender, einstimmig von allen Experten benannter Aspekt ist die Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler, gerade weil der Islam in Europa keine lange Geschichte bzw. Tradition aufweisen kann, dies jedoch mit wenigen Ausnahmen. In der zweiten Kategorie des Interviews, in der die „islamischen Quellen“ behandelt werden, werden die Lehrinhalte beschrieben, die den Schülern lebensweltbezogen nahe gebracht werden sollen. Die Verknüpfung der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler mit islamischen Glaubensinhalten und Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Themen aus dem Koran und dem Hadith (Sunna) soll einen wesentlichen Aspekt der islamischen Religionspädagogik darstellen. Auf diese Weise könnten islamische Traditionen und Normen in Korrespondenz zu nicht-muslimischen gesellschaftlichen Realitäten gestellt und zugleich die Rückbindung an die Theologie des Islam gewahrt werden. 2. Bildungs- und Erziehungsziele Im Interview A werden im Vergleich zu den anderen beiden Interviews in ihrer Beantwortung Bildungs- und Erziehungsziele zunächst begrifflich unterschieden. Mit dieser Unterscheidung wird das Bildungsziel der Religionspädagogik, welche an die theologische Anthropologie gebunden ist und wie sie durch die Religion entworfen wird, deutlich gemacht. Der Mensch sei im Koran (17. Sure, Vers 70) als ein Wesen entworfen, das mit etwas Besonderem geadelt oder ausgezeichnet ist, „mit Würde ausgestattet“. Der Tafsīr (Kommentarwerke zum Koran) würde in diesem Zusammenhang auf den „Ādam“ als den Archetypus des Menschen verweisen, der mit Sprachfähigkeit ausgestattet und somit in der Lage ist, sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Dies könnte bedeuten, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, wil- lentlich und intentional zu handeln und Entscheidungen zu begründen, zu treffen und danach zu handeln. Ein oberes Bildungsziel sei demnach die Autonomisierung des Subjekts, die Stärkung des Schülers in seiner Rolle als Individuum im Kontext soziale Rollenprofile. Es gehe darum, ihn zuerst in seiner Gestalt als Mensch zu sehen und nicht zuerst in seinen funktionalen Ausprägungen, zum Beispiel als Staatsbürger. Erziehungsziele seien durch die Erwartungshaltungen eines Kontextes mitbestimmt, an dem islamischer Unterricht oder Erziehung stattfindet. Erziehungsziele, worunter Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen und andere Verhaltensmerkmale fallen, seien Verhandlungssache unter Muslimen und auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Dabei gehe es um die gesellschaftlichen Segmente, in denen der Unterricht stattfindet. Der islamische Religionsunterricht müsse an sozialethische Kontexte angebunden werden, zum Beispiel an die Frage der sozialen Gerechtigkeit: Themen wie Arbeitslosigkeit, soziale Schieflagen, Umweltzerstörung und Verteilungsungerechtigkeiten würden alle Menschen betreffen und nicht nur die Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft. Folglich könnten gemeinsame Ziele unter Verhandlung mit verschiedenen Gruppierungen definiert werden. Der Blickwinkel einer Pädagogik und Theologie müsse der Mensch sein, weil es an diesem Punkt um Themen geht, die alle betreffen. Erziehungsziel in der islamischen Pädagogik sei nicht, den besseren Menschen zu kreieren, der religiös, intellektuell und kulturell der ungläubigen Gesellschaft überlegen ist. Religion soll Sinn stiften und Positives abwerfen, nicht nur für ihre Anhängerinnen und Anhänger, sondern für alle Menschen insgesamt. Die Theologie im Rahmen der Pädagogik und ihrer Formulierung von Bildungs- und Erziehungszielen sei dieser Prämisse unterworfen. Man könne dabei auch nach Erziehungszielen im Wertediskurs fragen. Erziehungsziele hätten, wenn sie formuliert werden, sehr viel mit Verhalten zu tun, und Verhalten soll einer bestimmten Werthaltung der Person Ausdruck verleihen. Diese Werthaltungen würden sich auf der Grundlage des Korans beschreiben lassen, zum Beispiel die Erziehung zu drei zentralen Haltungen: die der Achtsamkeit (arab. ihsān: Leben und Handeln im Bewusstsein, dass Gott Mitwisser ist; Ansatz der islamischen Lehre vom Gewissen), die des Zutrauens (arab. tawakkul: Zutrauen in Gott und darin, dass man etwas schaffen und erfolgreich sein kann) Seite 9 sowie die der Nachsicht im Sinne von Milde (arab. līna: nicht auf Beharren fixiert miteinander umgehen). Diese axiomatischen Wertbeschreibungen seien so wichtig, dass es keinen Lehrplaninhalt geben dürfe, die einem dieser Kriterien zuwiderlaufe. Im Interview B wird ähnlich wie im Interview A festgestellt, dass jede Gemeinschaft der Gläubigen ihre Erziehungsziele im schulischen Religionsunterricht selbst definieren dürfen sollten. Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, in ihrer Religion zu denken, über ihre Religion zu sprechen und auf sie bezogen zu handeln. Die Erziehung zur Mündigkeit soll dabei im Vordergrund stehen. Ein soziales Ziel der Religionspädagogik in der pluralen Gesellschaft sei die Mitgestaltung des friedlichen Miteinanders, des Zusammenlebens von religiös, sozial und politisch unterschiedlichen Menschen. Die Frage des friedlichen Miteinanders soll nicht nur anhand der Religion, sondern anhand der Ethik, anhand der Landesverfassung, anhand der Menschenrechte, anhand der gültigen rechtlichen Bedingungen und Bestimmungen beantwortet werden. Die Erziehungs- und Bildungsziele im Islam seien folglich durch eine soziale und ethische Orientierung der Religion, durch die Diesseits- und JenseitsbezogenAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Dieser vollkommene Mensch sei kein fertiges Produkt. Vollkommenheit sei nicht von der Religion definiert, sondern auch von der Gesellschaft mitbestimmt. Sie sei kontext- und zeitgebunden und habe heute eine andere Bedeutung als in der Vergangenheit. heit und durch den Monotheismus bestimmt. Man könne im Islam von Kernbegriffen religionspädagogischer Konzeptionen ausgehen wie zum Beispiel taqwā (höchstes, religiöses und ethisches Verantwortungsbewusstsein erlangen), khilāfatul-lāh und amāna (der Mensch als einer, der im Sinne Gottes auf der Erde handelt und der gegenüber Gott, sich selbst und den Mitgeschöpfen in die Pflicht genommen ist) sowie al-insān al-kāmil (die Fähigkeit und die Bedürftigkeit des Menschen, sich durch Erziehung und Bildung zu entwickeln und im Rahmen dessen, was er leisten kann, Vollkommenheit zu erlangen – was „in der Wiege“ beginne und „bis zum Grab“ andauere). in ihren Werdegang zu einem Menschen begleiten, der sich ethisch, religiös und wissenschaftlich verbessert, im gebotenen Sinne gut handelt und die Vielfalt der Schöpfung und die Rechte der Anderen achtet. Die Erziehungsziele im Interview C werden folgendermaßen erläutert: Primäres Ziel sei, erst mal den Umgang mit islamischen Quellen zu lehren. Nicht nur der Umgang, sondern auch „was steht da darin“ (Inhalt- und Wissensvermittlung) sollen „kindgerecht verpackt“ im islamischen Religionsunterricht vermittelt werden. Theologisch könne dies folgendermaßen begründet werden: Die Aneignung von Wissen im Sinne von Bildung sei im Islam ein hohes Zusammenfassend fügt der Experte B Gut. Das erste Wort, welches Muhinzu, dass der Islam darauf abziele, hammad offenbart wurde, sei „Lies!“ einen möglichst vollkommenen oder „Trage vor!“ oder auch „Sprich!“ Menschen zu erziehen. Dieser vollgewesen (vgl. Sure 96:1-5). Bildung kommene Mensch sei kein fertiges sei schon in der Entstehungsphase Produkt. Vollkommenheit sei nicht des Islam hoch anerkannt gewesen von der Religion definiert, sondern und Muhammad sei aufgefordert auch von der Gesellschaft mitbeworden, sich selbst weiterzubilden stimmt. Sie sei kontext- und zeitgeund seine Mitmenschen dazu zu bunden und habe heute eine andere ermutigen, ihm darin nachzueiBedeutung als in der Vergangenheit. fern. Diese Aufforderung sei auch Diese Gegenwarts- und Zukunftsein Kernbereich des Glaubens. fähigkeit sei im Islam vorhanden. Die islamischen Religionspädagogen Auch Experte C weist darauf hin, seien deshalb aufgefordert, diese dass eines der wichtigsten ErzieFähigkeit des Islam zum Vorschein hungs- und Bildungsziele, „das zu bringen. Sie sollen die Lernenden Haupterziehungsziel“ sozusagen die Seite 10 Erziehung zur Mündigkeit sei. Man soll die Schüler in die Lage versetzen, eigenverantwortlich und selbständig Entscheidungen, vor allem religiöse (!), zu treffen. Es sollen dazu die Grundinformationen und das Rüstzeug geboten werden, die Freiheit des Verstandes zu nutzen. Die Schüler sollten sich ihre eigenen Meinungen bilden können. Mit dem Begriff der „kritischen Erziehung“ („sich seine eigenen Gedanken machen, sich seine eigene Meinung bilden“) verwies Experte C auf ein Kernstück der islamischen Erziehungs- und Bildungslehre. Es müsse Wert gelegt werden auf eine Erziehung zur nachfragenden Haltung zum Unterrichtsstoff, auch wenn es um islamische Religionslehre im engeren Sinne, um muslimische Lebensart, um muslimische Kulturräume und um die Ideengeschichte des Islam gehe. Vergleicht man die Interviews miteinander, so kann man Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen, die hier nun einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Bildungsziel ist laut dem Experten A die „Stärkung des Individuums“ in seiner Rolle als autonomes Subjekt. Die Untermauerung mit einem koranischen Vers deutet auf eine fundierte Herangehensweise hin. Ist im Interview A von „Autonomisierung“ des Individuums die Rede, so Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik wird im Interview B von der Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler gesprochen, über ihre Religion in mündiger Verantwortung zu verfügen. Die Erziehung zur Mündigkeit soll hier also im Vordergrund stehen. Hier wird der Begriff „Erziehung“ im Gegensatz zum Begriff „Bildung“ im Interview A verwendet. Auch im Interview C geht es um Erziehung zur Mündigkeit. Der Experte C beschreibt ausführlich (auch unter Verwendung von Beispielen), warum dies als „Haupterziehungsziel“ angesehen werden sollte. Er betont besonders die „kritisch reflektierende Haltung“ dem Unterrichtsstoff gegenüber, welche die Selbständigkeit der Schüler im Denken und Handeln stärken soll. Ob dies mit dem Autonomiebegriff in Interview A korreliert, müsste erst noch nachgeprüft werden. lischen Religionsunterricht selbst definieren dürfen. Er spricht zwar nicht explizit von einer Verhandlungssache zwischen verschiedenen Gruppen, aber doch implizit von der Möglichkeit der Beteiligung bei der Definition von Erziehungszielen. Experte A betont, dass Religion sinnstiftend sein soll und Positives in umfassenderem Sinne abwerfen solle, und zwar nicht nur für die Anhängerinnen und Anhänger, sondern für die Allgemeinheit. Alles andere, die Theologie, die Pädagogik, die Bildungs- und Erziehungsziele und die Kompetenzbeschreibungen, seien dem unterzuordnen. Damit steht der Bezug zum Menschen in seiner religiösen Dimension (unabhängig von der Frage formaler Religionszugehörigkeit) für den Experten A im Vordergrund. Erziehungsziel in der islamischen Pädagogik sei Laut dem Experten A seien Erzienicht, „den besseren Menschen zu hungsziele durch die Erwartungskreieren, der religiös, intellektuell haltungen eines Kontextes, an dem und kulturell der ungläubigen Geislamischer Unterricht oder Erziesellschaft überlegen ist“. Ein wenig hung stattfindet, stark mitbestimmt. Widerspruch dazu ist beim Experten Hier gehe es grundsätzlich um eine B herauszulesen, wenn er die Bemultilaterale Verhandlungssache grifflichkeiten der Entwicklung bis mit Blick auf den gesellschaftlichen hin zur Vervollkommnung bedient. Kontext des islamischen Religionsun- Hier wird von einem idealistischen terrichts. Auch der Experte B äuKonzept im Sinne eines Leitbilds ßert sich ähnlich zu diesem Thema: ausgegangen, wobei Experte B Jede Gemeinschaft der Gläubigen nicht soweit geht, dies antithetisch solle ihre Erziehungsziele im schuzur Gesellschaft mit ihren pluralen Erziehungsziel in der islamischen Pädagogik sei nicht, „den besseren Menschen zu kreieren, der religiös, intellektuell und kulturell der ungläubigen Gesellschaft überlegen ist“. Seite 11 Es hat den Anschein, als ob sich die jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven und Positionen ergänzen, auf die sich die Experten stützen und berufen. Glaubensausprägungen und auch atheistischen Lebensentwürfen zu stellen. Gemeint ist der „bessere Mensch“ mit dem Anspruch, sich zum Besseren zu entwickeln. Nicht zuletzt ist für den Experten B ein soziales Ziel der Religionspädagogik in der pluralen Gesellschaft die Mitgestaltung des friedlichen Miteinanders, des Zusammenlebens von religiös, sozial und politisch unterschiedlichen Menschen. Die Anbindung des islamischen Religionsunterrichts an sozialethische Kontexte hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit etc. als verhandelbares Erziehungsziel unter verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen findet man auch im Interview A. Zum sozialen Aspekt der Religionspädagogik wurde seitens des Experten C keine Aussage gemacht. Bei allen drei Experten lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Haltungen nachzeichnen, wenn es um Erziehungsziele geht. Der Experte A spricht von „axiomatischen Werthaltungen“, wenn es um die Grundlegung von Erziehungszielen geht. Diese Wertbeschreibungen, die er mit islamischen Quellen belegt, seien so wichtig, dass es keinen Lehrplaninhalt geben dürfe, der diesen Kriterien widerspreche. Bezeichnend ist, wie im Interview B auf die wichtigsten Grundlagen des Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Islam bei der Bestimmung von Erziehungs- und Bildungszielen verwiesen wird: Erziehungs- und Bildungsziele seien durch eine soziale und ethische Orientierung der Religion, ihre Diesseits- und Jenseitsbezogenheit und den Monotheismus bestimmt. Es hat den Anschein, als ob sich die jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven und Positionen ergänzen, auf die sich die Experten stützen und berufen. Die „Werthaltungen“ im Interview A und die Konzepte im Interview B sind grundlegende Eigenschaften eines „Gläubigen“, in welchen sich die sozialethischen Normen des Korans widerspiegeln. Einen wesentlichen Einschnitt könnte das Konzept des al-insān al-kāmil darstellen, das der Experte B bemüht, da es in der Regel mit der mystischen Tradition des Islam in Verbindung gebracht und deshalb von vielen Gelehrten in der islamischen Welt kritisiert wird. definitionen vorgestellten, der allgemeinen Pädagogik entlehnten Begriffe werden nun in Bezug zu den beiden entworfenen zentralen Merkmalen der islamischen Religionspädagogik, Bildung und Erziehung gesetzt. Da in dieser Arbeit nicht von theoretischen Konzepten ausgegangen wurde, erschien für die Kategorienbildung und ihre Begründung die Auswahl von grundlegenden Begriffen sinnvoll, machte aber eine theoretisch orientierte Bezugnahme schwierig. Dies soll zunächst anhand der beiden Begriffe Bildungs- und Erziehungsziele deutlich gemacht werden: Die sehr allgemein definierten erziehungswissenschaftlichen Begriffe sind, was ihre Definition angeht, stark von normativen Vorstellungen geleitet und nicht eindeutig festlegbar. Die Argumente, die in diesem Zusammenhang benannt werden, können wie folgt aufgelistet werden: Erziehungs- und BildungsdebatIn einem nächsten Schritt werden die ten sind stark normativ bestimmt, benannten Kategorien erziehungsaffirmativ oder kritisch, primär in wissenschaftlich konzeptualisiert, der Konstruktion von Idealen des d.h. all die den Interviewtexten Menschen oder in Entwürfen als entnommenen Begriffe und Überlegitim geltender Welten engagiert schriften werden nun in erziehungs(vgl. Tenorth / Tippelt 2007, 92). wissenschaftliche übersetzt, um einen Die Thematisierungsformen von Anschluss der Interpretationen an Bildung sind sehr breit, umfassend allgemeine disziplinäre Diskussionen und werden nicht selten mit widerzu ermöglichen. Die in den Begriffs- sprüchlichen Ansprüchen diskutiert, Seite 12 gerade wenn Bildung zugleich Prozess und Produkt, Ziel und Norm, Theorie und Analyse darstellen soll (ebenda). „Erziehungsziele stellen normative Vorgriffe dar. Sie bedürfen der Begründung und der Legitimation. Erziehungsziele werden im Blick auf den Zögling oder im Blick auf Kultur und Gesellschaft vorgetragen. [....] Erziehungsziele bezeichnen Tugenden, soziale Einstellungen, moralisches Verhalten oder körperliche oder geistige Fähigkeiten. Systembezogen handelt es sich um die Übertragung oder Erhaltung von Normen und Werten, kollektiven Einstellungen, Tüchtigkeiten usw. Ein eigenes Problem ist die Realisierung oder Durchsetzung von Erziehungszielen“ (Miller-Kipp / Oelkers 2007, 205f ). Es zeichnet sich ab, dass beide Begriffe mit unterschiedlichen Gehalten (Themen, Normen, Zielen, Prozessvorgaben etc.) gefüllt und definiert werden. Diese Möglichkeit haben die Experten anhand ihrer Aussagen und Positionen in den Interviews veranschaulicht. Wie aus ihnen deutlich hervorgeht, verweist die Pluralität der Erklärungs- und Deutungsweisen der Erziehungs- und Bildungsziele auf vielfältige Möglichkeiten einer islamisch- religionspädagogischen Konzeptualisierung. Diese Ergebnisse spiegeln im Grunde die Diskussion um die erziehungsAyse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Schlussbemerkung wissenschaftlichen Begriffe wider, die, wie es scheint, im religionspädagogischen Kontext ebenso unterschiedlich thematisiert werden wie in den Erziehungswissenschaften. Diese Ergebnisse spiegeln im Grunde die Diskussion um die erziehungswissenschaftlichen Begriffe wider, die, wie es scheint, im religionspädagogischen Kontext ebenso unterschiedlich thematisiert werden wie in den Erziehungswissenschaften. Es wurde versucht, mögliche Konzeptionen islamischer Religionspädagogik zu ergründen. Es konnten Ergebnisse verzeichnet werden, welche die Grund legenden Profile der islamischen Religionspädagogik kennzeichnen. Interessant wäre gewesen, vor allem noch die weiteren wichtigen Aspekte der Religionspädagogik zu analysieren, zum Beispiel die „didaktische Konzeption“ oder die „islamischen Quellen“, welche die Lerninhalte im Unterricht bilden. Dazu wäre aber eine tiefere Beschäftigung mit Ansätzen aus der Didaktik und aus der Curriculumforschung – bzw. die Auseinandersetzung bezogen auf die islamischen Quellen mit theologischen Themen – notwendig gewesen. Im Rahmen der in Rede stehenden Arbeit hätte diese Fragestellung aber nicht bearbeitet werden können, zumal die Auseinandersetzung mit diesen Themen einer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung bedarf. Auch die Analyse der anderen Themenbereiche, die in den Interviews behandelt worden sind, könnte Aufschluss darüber geben, wie die Zukunft einer islamischen Religionspädagogik aussehen wird. Das Erforschen vom Theorie-Praxisverhältnis des IRU könnte interessante Aufschlüsse über Verbesserungs- und Seite 13 Veränderungsmöglichkeiten sowohl in der Theorie als auch in der Praxis bieten. Der Etablierung des Fachs „islamische Religionspädagogik“ bzw. die Verknüpfung der Fächer Theologie und Pädagogik könnten eine Frage der Zeit und der finanziellen Ressourcen sein. Die Entstehung universitärer Strukturen, die das momentan Provisorische ersetzen, ist eine wünschenswerte Veränderung, die alle Experten für erstrebenswert erachten. Dabei ist es wichtig, dass zum einen eine klassische islamische Theologie mit unterschiedlichen Schwerpunktbildungen und zum anderen eine Religionspädagogik entstehen. Das Vorhandensein von finanziellen Mitteln könnte eine solche Weiterentwicklung begünstigen. Hierzu äußerten die Experten unterschiedliche Meinungen: Ihre Vorschläge reichten von der Gründung von muslimischen Stiftungswesen bis hin zur Drittmittelanwerbung. Die Investition in Forschung und Lehre (z.B. durch Promotionsprojekte, Habilitationen) ist eine wesentlich Voraussetzung, die über die Zukunft der islamischen Religionspädagogik entscheiden wird. Ayse Uygun-Altunbas: Islamische Religionspädagogik Literatur Meuser, Michael & Nagel, Ulrike (1997): Das Experteninterview – Wissenssoziologische Voraussetzungen und methodische Durchführung. In: Fiebertshäuser Barbara, Prengel Annedore (Hrsg.) Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Juventa Verlag. München. Meuser Michael & Nagel Ulrike (2002): ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, Alexander; Littig Beate; Menz Wolfgang (Hrsg.) Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen. S. 71- 93 Miller-Kipp Gisela & Oelkers Jürgen (2007): Erziehung. In: Tenorth, Heinz-Elmar / Tippelt, Rudolf (Hrsg.) Lexikon Pädagogik. Beltz Verlag. Weinheim und Basel. S. 204-211. Tenorth, Heinz-Elmar / Tippelt, Rudolf (Hrsg.) (2007): Lexikon Pädagogik. Beltz Verlag. Weinheim und Basel. Seite 14 Leila Djahani-Gürsoy Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen 1 Vorbemerkung Es ist sehr schwierig, den Begriff der Pädagogik genau zu definieren und einzugrenzen. Häufig sind die Übergänge fließend. Die zahlreichen Werke, die sich dem umfangreichen Thema der Pädagogik und Didaktik angenommen haben, erklären und analysieren, basierend auf den Anweisungen im Koran und der prophetischen Tradition (sunna), Lehrmethoden, die Art und Weise, wie das Lernen stattfinden sollte und die Ziele der Bildung. Darunter fallen eine große Anzahl von Veröffentlichungen über den Schulunterricht und seine Methodik: Muslime, die über ihre Schulzeit schreiben; Aussagen, die das Verhältnis zwischen Kind und Eltern thematisieren; die höhere Schulbildung; Lehren und Lernen und die entsprechende Methodik; Bildungs- und Erziehungswesen; grundsätzliche und nicht grundsätzliche Wissenschaften; Pädagogik im weiteren Sinne verstanden als Ethik; die Entlohnung des Unterrichtens; Strafen und viele andere mehr (vgl. Daiber 2007, 1-8). Dieser Beitrag soll einen Einblick in die pädagogischen Ansichten und Philosophien liefern, die von einigen großen muslimischen Denkern des klassischen Islams befürwortet wurden, und dadurch zeigen, dass diese Gelehrten einen bedeutenden Beitrag zu verschiedenen Bereichen der Pädagogik und Didaktik geleistet haben. Außerdem soll gezeigt werden, wie der Koran und die Tradition des Propheten Muhammad die Grundideen der islamischen Pädagogik geliefert und die großen Gelehrten stark geprägt haben. Dabei möchte ich weniger auf das Leben der einzelnen Gelehrten eingehen, als vielmehr auf ihre Werke zu sprechen kommen, die für die Geschichte der Pädagogik von beachtlicher Bedeutung waren und immer noch sind. Über die pädagogischen Leistungen der Vergangenheit herrscht allgemein ein mangelndes Bewusstsein. Häufig befassen sich Studien im Westen über Pädagogik mit den griechischrömischen und jüdisch-christlichen Grundlagen einer europäischen Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen Geschichte des Lernens, während pädagogische Konzepte und Praxen anderer Kulturen und Zivilisationen keine angemessene Anerkennung finden. Da die Studie über pädagogisches Denken ein Grundwerkzeug für ein besseres Verständnis der Kulturen, Zivilisationen und Religionen ist, besteht die Notwendigkeit, auch eine kritische, unvoreingenommene und systematische Erforschung der verschiedenen Werte, Ideen und Anschauungen des Islams zu unternehmen, besonders solcher, die sich auf pädagogische Theorien und Philosophien beziehen und die von muslimischen Gelehrten entwickelt wurden (vgl. Günther 2006 a, 367). Zwei Auffälligkeiten lassen sich bei diesen mittelalterlichen arabischen Texten über Pädagogik beobachten. Zum einen wurden Elemente der alten arabischen und persischen Kultur und das griechisch-hellenistische Erbe geschickt an die islamischpädagogische Theorie angepasst und eingegliedert. Zum anderen gab es zwischen dem 8. und 16. Jhdt. n. Chr. eine fortdauernde Tradition arabisch-islamischer Wissenschaften, die sich mit pädagogischen und didaktischen Themen befassten und eine Mischung von theologischen Einstellungen, ethnischen Abstammungen und geographischen Zugehörigkeiten widerspiegeln. Obwohl viele dieser Gelehrten unterrichteten, war keiner von ihnen Spezialist in der Erziehungswissenschaft. Dennoch trugen ihre Ideen und Philosophien viel zu dem bei, was als klassisch-pädagogische Tradition des Islams benannt werden kann (a. a. O., 368f.). Das lebenslange Lernen ist ein charakteristisches Ideal der islamischen Frömmigkeit und bildet die Grundlage für das Konzept der islamischen Pädagogik. Während das Hauptinteresse dem Vertiefen des religiösen Glaubens im Einzelnen galt, erweiterte sich der Bereich dieses Konzeptes auch auf die Vereinigung verschiedener weltlicher Disziplinen, da es darauf zielte, beruhend auf den Tugenden des Islams, innerhalb der muslimischen Gemeinschaft inte- Seite 15 grierte Persönlichkeiten zu entwickeln. Diese allgemeine Vorstellung ist zurückzuführen auf die Theorie und Praxis sowohl der grundlegenden, als auch der höheren Bildung im Islam. Offensichtlich wird das im Koran und der prophetischen Tradition. Aber auch in zahlreichen Sprichwörtern und Aphorismen ist diese hohe Achtung, die dem Wissen und der Bildung im Islam gewährt wird, deutlich zu erkennen. 2 Ursprünge in Koran und prophetischer Tradition (sunna) Neben der Allmacht Gottes spielt im Koran keine der göttlichen Eigenschaften eine so bedeutende Rolle wie seine Allwissenheit. Er weiß nicht nur alles, was geschieht, sondern ist auch Quell und Ursprung allen Wissens (vgl. Fück 1999, 1). Verdeutlicht wird dies in der Sure 96, Vers 1-5, die traditionell als erste Offenbarung an den Propheten Muhammad angesehen wird: „Trag (Worte der Schrift) vor! Dein höchst edelmütiger Herr (oder: Dein Herr, edelmütig wie niemand auf der Welt) ist es ja, der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat (oder: der durch das Schreibrohr gelehrt hat), den Menschen gelehrt hat, was er (zuvor) nicht wusste“ (alle Koranübersetzungen dieses Beitrags nach Paret 2001). Sie lässt darauf schließen, dass Gott der Menschheit die „Heilige Schrift“ oder „Schreiben“ lehrte. Diese Verse scheinen darauf hinzuweisen, dass der Islam von Anfang an das Vermitteln und Erwerben von (religiösem) Wissen, das Lernen und die Bildung vorrangig behandelte. Bereits hier wird Gott nicht nur als Schöpfer des Menschen, sondern auch als sein unbestrittener, oberster Leh- Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen rer bezeichnet (vgl. Günther 2005 a, 641). Wie bei den vorherigen Propheten besteht die Aufgabe des Gesandten Muhammad darin, den Menschen Gottes Zeichen vorzutragen und sie „Buch“ und „Weisheit“ zu lehren: „Und lass, Herr, unter ihnen (d. h. unseren Nachkommen) einen Gesandten aus ihren eigenen Reihen auftreten, der ihnen deine Verse (w. Zeichen) verliest, sie die Schrift und die Weisheit lehrt [...]“ (2:129). Dazu wurde er zuerst aufgefordert, der Offenbarung aufmerksam zuzuhören. Erst dann sollte er rezitieren und den göttlichen Text selbst lesen, um von seiner Bedeutung durch Erklärung zu lernen und schließlich Gottes Botschaft zu vermitteln und andere zu lehren (75:15-18). Diese „göttlich eingeführte“ Methode des Unterrichtens hatte einen erheblichen Einfluss auf die Vermittlung von Wissen und auf die Bildung im Allgemeinen (vgl. Günther 2005 a, 641). Aber nicht nur Propheten und gottesfürchtige Männer verdanken ihr Wissen Gott. Jeder, der schreiben kann, hat es von ihm gelernt: „Ihr Gläubigen! Wenn ihr auf eine bestimmte Frist ein Schuldverhältnis eingeht, dann schreibt es auf! Und ein Schreiber soll (es) in eurem Beisein aufschreiben, so wie es recht und billig ist. Und kein Schreiber Aber auch in zahlreichen Sprichwörtern und Aphorismen ist diese hohe Achtung, die dem Wissen und der Bildung im Islam gewährt wird, deutlich zu erkennen. Seite 16 Die meisten der zahlreichen Passagen im Koran, die sich auf das Lehren beziehen, sind der gründlichen Anweisung der Gläubigen im Glauben und ihrer spirituellen Entwicklung als Individuen und Mitglieder der Gemeinschaft gewidmet. soll sich weigern zu schreiben, so wie Gott es ihn gelehrt hat (d. h. von der Schreibkunst, die Gott ihn gelehrt hat, Gebrauch zu machen). Er soll schreiben. Und der Schuldner soll diktieren und Gott, seinen Herrn, fürchten und nichts davon abzwacken [...]“ (2:282). Dieser Vers weist außerdem ausdrücklich auf die Notwendigkeit von Leuten hin, die des Schreibens mächtig sind, und auf die Wichtigkeit schriftlicher Dokumente und auf die Praxis des Schreibens und Diktierens. Darüber hinaus hat Gott die Menschen Beredsamkeit (55:3-4) und die Kunst, Tiere zur Jagd abzurichten (5:4) gelehrt. Auch die Magie geht auf ihn zurück (2:101-102) (vgl. Fück 1999, 1-5). Neben dem rein religiösen Inhalt, der die Einheit und Majestät Gottes verkündet, betont die Botschaft des Korans den hohen Stellenwert des Lernens und verbindet es mit Weisheit. Natürlich war dieses Lernen an erster Stelle mit der göttlichen Offenbarung, ihrem Verständnis und ihrer Verbreitung durch Predigen und Lehren verknüpft. Der Koran präsentiert Muhammad als Lehrer seiner göttlichen Botschaft. Aber er ist ein Lehrer, der, anders als andere, keinen Lohn für seine Arbeit erwartet. Somit wurde das Verbreiten des neuen Glaubens von zwei praktischen Maßnahmen mit Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen spezieller pädagogischer Bedeutung begleitet. Es wurden gebildete Gläubige gebraucht, um Analphabeten zu unterrichten, und zusätzlich wurden nur gebildete Prediger zu neuen Gemeinschaften gesandt, die den Islam angenommen hatten. Diese Männer waren die ersten Lehrer, so wie die Plätze des Gottesdienstes, die Moscheen, die ersten Schulen im Islam wurden (vgl. Tibawi 1972, 23f.). Alles menschliche Wissen gilt als von Gott gegeben; somit ist es offensichtlich, dass Menschen nicht mehr als Gott wissen können: „Oder wollt ihr (vielleicht sagen), Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und die Stämme (Israels) seien Juden oder Christen gewesen? Sag: Wisst ihr besser Bescheid, oder Gott? [...]“ (2:140). Selbst die Engel wissen nur, was Gott sie gelehrt hat (2:30-32). Nichts von dem göttlichen Wissen kann gewusst werden, außer Gott will es (2:255). Die Propheten sind im Besitz von Wissen, das von Gott zu ihnen gekommen ist und das gewöhnliche Menschen nicht besitzen (7:62) (vgl. Rosenthal 1970, 29). meinschaft gewidmet. Diese Stellen behandeln den Unterricht im Glauben, den Gottesdienst und andere Aspekte des religiösen Lebens. Andere Passagen wiederum liefern genaue Anweisungen über säkulare Angelegenheiten wie zwischenmenschliche Beziehungen, politische, soziale und rechtliche Dinge. Themen, die sich auf das Unterrichten beziehen, lassen sich in Versen finden, die Unterrichtsprinzipien, bestimmte Methoden und Techniken und pädagogische und didaktische Elemente in einem allgemeineren Sinn behandeln (vgl. Günther 2006 b, 200). Es gibt einige besondere Prinzipien der islamischen Bildung, die der Koran bereits deutlich hervorhebt. Es ist z. B. eine Grundvoraussetzung bzw. ein Grundprinzip, die Leute in ihrer eigenen Sprache zu unterrichten: „Und wir haben keinen Gesandten (zu irgendeinem Volk) geschickt, außer (mit einer Verkündigung) in der Sprache seines Volkes, damit er ihnen (d. h. seinen Volksgenossen) Klarheit gibt. [...]“ (14:4). Weitere Unterrichtsprinzipien, auf die der Koran hinzuweisen scheint, hier Die meisten der zahlreichen Passagen natürlich besonders im Hinblick im Koran, die sich auf das Lehren be- auf das religiöse Wissen, sind Aufziehen, sind der gründlichen Anwei- merksamkeit (7:204, 50:37), Geduld sung der Gläubigen im Glauben und (17:11, 75:16), den Verstand zu ihrer spirituellen Entwicklung als schulen und das Gedächtnis durch Individuen und Mitglieder der Gelautes (Vor)lesen, Wiederholen und Seite 17 Nachdenken zu verbessern (4:82, 38:29, 47:24, 87:6), Vernunft und Verständnis (8:22), nur über Themen zu streiten bzw. zu diskutieren, in denen man bewandert ist (3:66, 17:36, 24:15, 22:3), in einer höflichen Art und Weise zu argumentieren (16:125, 29:46) und generell eine höfliche Ausdrucksweise zu gebrauchen (17:53) (vgl. Al-Gisr 1968, 18ff. und Günther 2006 b, 203). Zusätzlich gibt es aber noch zahlreiche textliche Charakteristika und literarische Einfälle, die sich als anspruchsvolle pädagogische und didaktische Mittel herausstellen. Beispiele dafür sind rhetorische Fragen, Textelemente, die bereits kraftvolle Aussagen zusätzlich bekräftigen, Mittel wie Beweise und Erklärungen und schließlich literarische Zeichen wie Parallelen, Wiederholungen, Metaphern, Parabeln und Vergleiche (vgl. Behr 2009, 174ff.). Wenn Unterricht und Lernen in einem weiteren Sinne verstanden werden sollte, würden sich die pädagogischen und didaktischen Elemente im Koran zu Themen wie die Entwicklungsstadien, Gewohnheiten des Menschen, seine Sozialisation, ethische Normen und Werte bezogen auf Bildung und Erziehung, und menschliche Psychologie ausweiten (Günther 2006 b, 204). Neben dem Koran gibt es noch zahllose Aussprüche aus der Tradition des Propheten Muhammad [hadīth, pl. ahādīth; die ursprünglich von der Verfasserin verwendete Umschrift nach den Standards der Morgenländischen Gesellschaft wurde für diesen Zeitschriftenbeitrag an eine vereinfachte Umschrift angepasst] und Sprichwörter bzw. Redensarten, die ebenfalls dazu ermutigen, nach Wissen zu streben und das Lernen zu fördern. An dieser Stelle möchte ich nur einige wenige, aber sehr bekannte und bedeutende Aussprüche des Propheten hinzufügen: „Wissen zu erwerben ist Pflicht für jeden Muslim, Mann oder Frau!“; „Strebt nach Wissen vom Tag eurer Geburt bis zum Tag eures Sterbens!“; „Sucht nach Wissen, selbst im fernen China!“ (übers. n. Günther 2006 a, 368). Weitere Aussprüche besagen: „Am Tage des Gerichts wiegt die Tinte des Lernenden und Lehrenden das Blut des Märtyrers auf.“, „Weisheit und Gelehrsamkeit verleihen dem Angesehenen mehr Ansehen, und sie erheben den Sklaven auf die Rangstufe des Königs.“, „Behandelt die reichen und die armen Lernenden gleich, wenn sie vor euch sitzen, um zu lernen!“ (übers. n. Shalaby 1954, 162 und 264). Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen 3 Die Literatur bedeutender Gelehrter des klassischen Islam mit dem 9. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden, uns heute immer noch betreffen können. 3.1 Ibn Sahnūn (ÉÒËds ÌQH; ca. 817870 n. Chr.) Muhammad Ibn Sahnūn lebte im 9. Jahrhundert und war ein arabischer Jurist und oberster Richter der Mālikiten. Er war offenbar der erste muslimische Gelehrte, der ein „Handbuch“ für Lehrer geschrieben hatte. Geboren wurde er in Kairuan, einer Stadt in Tunesien, und lebte dort auch die meiste Zeit seines Lebens. Diese Stadt war zu seiner Zeit ein wirtschaftliches, kulturelles und intellektuelles Zentrum der magrebinischen („westlichen“) Länder des islamischen Reiches. Sein Werk ist die früheste Abhandlung über Lehrer und trägt den Titel „Verhaltensregeln für Lehrer“ (ādāb al-mucallimīn). Es handelt sich hierbei um einen rechtlichen Aufsatz, der von einem rein religiösen Standpunkt aus geschrieben ist. Er befasst sich mit Themen, denen Lehrer in Grundschulen während des Unterrichtens begegnen können. Dieses Werk ist ein Dokument von beachtlicher Bedeutung für die Geschichte der Pädagogik. Der Verfasser liefert uns eine Idee von den Anfängen der pädagogischen Theorie und der Lehrplanentwicklung im Islam, während er zugleich zeigt, dass bestimmte Probleme, die Die ersten vier Kapitel seiner Abhandlung basieren auf der prophetischen Tradition, die von den Werten und Vorzügen des Lehrens und Lernens des Korans und der gerechten Behandlung der Schüler von Seiten ihrer Lehrer handeln. Die verbleibenden sechs Kapitel präsentieren Fragen, die Ibn Sahnūn stellte, und die Antworten, die ihm von seinem Vater Sahnūn bin Sacīd at-Tanūkhī (776-854 n. Chr.) gegeben wurden – der war ein geachteter Jurist seiner Zeit und wird heute noch als bedeutende Autorität im mālikitischen Recht anerkannt. Ibn Sahnūn bietet den Grundschullehrern eine Reihe von konkreten Anweisungen und Regeln, die sich von Aspekten des Lehrplans und der Prüfungen bis hin zum praktischen, rechtlichen Ratschlag erstrecken, z. B. in Angelegenheiten wie der Anstellung und Bezahlung des Lehrers, der Organisation des Unterrichts, der Arbeit des Lehrers mit den Schülern, der Beaufsichtigung der Schüler, der angemessenen Behandlung der Schüler (z. B. wie man mit Streitigkeiten zwischen den Schülern umgehen soll), Klassenraum- und Unterrichtsausstattung und dem Schulabschluss. Seite 18 Der Lehrplan, den Ibn Sahnūn vertritt, ist gewissermaßen repräsentativ für die klassisch-islamische Grundschule, die Kinder ab einem Alter von sechs oder sieben Jahren aufnahmen. Das Werk umfasst Pflichtfächer, wie die präzise Aussprache und das Auswendiglernen des Korans, die Pflichten des Gottesdienstes, Lesen und Schreiben und zudem gutes Benehmen, da diese als Verpflichtungen gegenüber Gott angesehen wurden. Des weiteren gibt es eine Reihe empfohlener Fächer wie die Grundlagen der arabischen Sprache und Grammatik, Kalligraphie, Arithmetik, Poesie, vorausgesetzt die Verse sind moralisch annehmbar, Sprichwörter, historische Berichte und Legenden. Ibn Sahnūn zitiert Grundsätze, die auf den Propheten Muhammad zurückgeführt werden und die die entscheidende Bedeutung hervorheben, dass eine religiös orientierte Ausbildung im Islam das Lernen und Auswendiglernen des Koran als selbstverständlich voraussetzt (vgl. Günther 2006 a, 369f. und Günther 2005 b, 92-99). Beispiele dafür sind: „Der Beste von euch ist der, der den Koran lernt und lehrt.“, „Wer den Koran in jungen Jahren lernt, dem geht er in Fleisch und Blut über. Wer ihn aber im Alter lernt und nicht aufgibt, auch wenn ihn das Gedächtnis immer wieder im Stich lässt, der erhält dafür den doppelten Lohn.“, „Be- fasst euch mit dem Koran, denn das reinigt euch von Falschheit so wie Feuer den Rost vom Eisen brennt.“ (Ibn Sahnūn, ādāb al-mucallimīn, übers. n. Günther 2005 b, 101). Erwachsene Briefe zu schreiben. Ein fairer Wettbewerb wird erwünscht, da er zur Gestaltung des Charakters der Schüler und zu ihrer allgemeinen intellektuellen Entwicklung beiträgt. Ibn Sahnūn betont an mehreren Stellen in seinem Buch, dass Bescheidenheit, Geduld und Leidenschaft für das Arbeiten mit Kindern unerlässliche Qualifikationen für Lehrer sind. Diese Ansichten stützt er wiederum auf prophetische Traditionen. Doch er berichtet auch, dass körperliche Strafen im Islam des Mittelalters üblich waren, um das Verhalten des Kindes zu berichtigen. Aber er besteht ausdrücklich darauf, dass die Bestrafung nicht die Grenze überschreiten sollte und dass das Kind nicht ernsthaft geschädigt werden dürfe. Eine Strafe dürfe nur im Interesse des Schülers verhängt werden, nicht aus Ärger und Unmut – ein für damalige Verhältnisse vermutlich fortschrittlicher Ratschlag. Andere Regeln betreffen eine Vielfalt von Angelegenheiten. Den Lehrern rät er, Mädchen und Jungen nicht zusammen zu unterrichten, da gemischte Klassen die jungen Leute ungünstig beeinflussen könnten. Diese Aussage von Ibn Sahnūn scheint erstens darauf hinzudeuten, dass Bildung nicht nur für Jungen gedacht war und zweitens, dass Koedukation in den Schulen bis zu einem gewissen Grade üblich war. Obwohl sich durch die klassische Epoche hindurch die meisten pädagogischen Texte von muslimischen Gelehrten ausschließlich mit dem Unterricht von Jungen und männlichen Studenten befassten, gibt es keinen klaren Beweis, besonders in historischen und biographischen Quellen, dass Mädchen und Frauen zu irgendeiner Zeit vom Unterricht der elementaren und der höheren Schulen ausgeschlossen gewesen wären. Zudem war die Erziehung der Mädchen nicht immer auf die moralischen Aspekte begrenzt, wie das innerhalb ihrer Familien vorgesehen war. Ibn Sahnūn betont schließlich noch, dass die Kinder von Christen den Koran nicht lernen sollten. Dies Was die praktischen Seiten des Unterrichtens und Lernens anbetrifft, empfiehlt er Lehrern, die Schüler dazu zu ermutigen, alleine und gemeinsam mit anderen zu lernen, aber auch Situationen zu schaffen, die ihren Verstand herausfordern. Eine Methode, die er vorschlägt, ist z. B. das gegenseitige Diktieren, und für fortgeschrittenere Schüler, an Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen Ibn Sahnūn betont an mehreren Stellen in seinem Buch, dass Bescheidenheit, Geduld und Leidenschaft für das Arbeiten mit Kindern unerlässliche Qualifikationen für Lehrer sind. Seite 19 scheint ein Indiz dafür zu sein, dass Kinder von Muslimen und Christen gemeinsam die gleichen Klassen besuchten (vgl. Günther 2006 a, 370f. und Günther 2005 b, 99ff.). 3.2 al-Dschāhidh («cC`ÂB; ca. 776868 n. Chr.) Abu cUthmān al-Basrī, genannt „al-Dschāhidh“, war ein berühmter Mann der Literatur, Theologe und wahrscheinlich äthiopischer Herkunft. Er wurde in Basra (Irak) geboren, einer damals ethnisch und intellektuell vielfältigen Stadt, die seinen Geist geprägt hat und ihn durch sein Leben und seine wissenschaftliche Karriere hindurch inspiriert hat. Sein Werk „Das Buch der Lehrer“ (kitāb al-mucallimīn) ist von einem literarisch-philosophischen Standpunkt aus geschrieben und befasst sich größtenteils mit Fragen des Lernens und Unterrichtens an den höheren Schulen. Es konnte kein vollständiger Text des Buches erhalten werden. Verschiedene Fragmente dieses Werkes wurden in vier Manuskripten in Kairo, Istanbul, London und Mosul entdeckt (vgl. Günther 2005 b, 110ff.). Des weiteren betont er den grundlegenden Einfluss, den das Schreiben auf die menschliche Zivilisation gehabt hat, und bezeichnet das Schreiben und Aufzeichnen von Daten als „Pfeiler“, auf denen die Gegenwart und die Zukunft der Zivilisation ruhen. In seinem Aufsatz verteidigt er nicht nur die Schullehrer, sondern tritt sogar vehement für sie ein und betont ihre Überlegenheit allen Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen anderen Arten von Lehrern und Erziehern gegenüber. Al-Dschāhidh stellt Lehrer als intelligente, gewissenhafte und fleißige Menschen dar, die leidenschaftlich ihrem Beruf gegenüberstehen und mit ihren Studenten leiden, wenn sie nicht wie erwartet Fortschritte machen. Eltern sollten daher nicht die Lehrer dafür verantwortlich machen, wenn ihr Kind in der Schule nur langsam vorankommt. Stattdessen sollten sie die geistigen Fähigkeiten ihrer Nachkommen berücksichtigen. Des weiteren betont er den grundlegenden Einfluss, den das Schreiben auf die menschliche Zivilisation gehabt hat, und bezeichnet das Schreiben und Aufzeichnen von Daten als „Pfeiler“, auf denen die Gegenwart und die Zukunft der Zivilisation ruhen. Er erklärt zudem, dass die großen Denker und Forscher der Vergangenheit das Auswendiglernen ablehnten, da dadurch der Verstand nicht mehr unterscheiden könne und sich einfach auf das verlasse, was die Vorgänger erreicht haben, ohne Versuche zu unternehmen, selbst zu Schlussfolgerungen zu kommen. Dennoch hält al-Dschāhidh fest, dass ein gutes Gedächtnis nötig und wertvoll für den Lernprozess ist. Andernfalls würden die Ergebnisse jeglicher Bemühung nur von kurzer Dauer sein (vgl. Günther 2006 a, 371f. und Günther 2005 b, 114f.): „Gegen das Auswendiglernen zu sein gründet in der Befürchtung, nur zu imitieren, wohingegen das ableitende Nachdenken die geeignete Art des Denkens ist, die nötige Zuversicht in das erarbeitete Wissen und in das eigene Können hervorzubringen. Es trifft zu, dass der Lernende das schlussfolgernde Denken nicht üben kann, wenn er nur auswendig lernt. Andererseits vernachlässigt er sein Gedächtnis, wenn er gar nicht auswendig lernt und nur Schlüsse zieht. Vernachlässigt er das schöpferische Nachdenken, versiegen ihm die Ideen, und vernachlässigt er das Auswendiglernen, vergisst er seine Ideen“ (al-Dschāhidh, kitāb al-mucallimīn, übers. n. Günther 2005 b, 121). Al-Dschāhidh zählt die Hauptfächer für Schüler in folgender Reihenfolge auf: Schreiben, Arithmetik, Recht, die Säulen der Religion, der Koran, Grammatik, Prosodie und Poesie. Weitere Fächer, die unterrichtet werden müssen, umfassen logische Argumentation, Polo, Bogenschießen, Reitkunst, Musik, Schach und andere Spiele. Er schlägt auch vor, die Studenten mit den Aussagen und Argumenten berühmter Schreiber, ihrem eleganten Schreibstil und ihrem großen Wortschatz vertraut zu machen. Ferner sollten die Studenten darin unterrichtet werden, wie sie Seite 20 sich selbst in einer Weise ausdrücken können, die die Leute ohne jeglichen Bedarf an zusätzlichen Erklärungen und Kommentaren verstehen können. Lehrer sollten dabei ein gutes Beispiel bieten. Er empfiehlt den Lehrern, insbesondere die geistige Fähigkeit der Studenten in Betracht zu ziehen. Daher sollten Lehrer eine Sprache gebrauchen, die für die Studenten verständlich ist. Außerdem sollten sie ihre Studenten freundlich und liebevoll behandeln und versuchen ihr Herz zu gewinnen (vgl. Günther 2006 a, 372f. und Günther 2005 b, 117ff.). schaften für die höhere Schulbildung vorschlugen. Die „fremden“ Wissenschaften waren diejenigen, die sich auf griechische Philosophie und Wissenschaft gründeten, und die religiösen Wissenschaften basierten auf dem Koran und seiner Interpretation (vgl. Walzer 1965, 778f.). Der Lehrplan al-Fārābīs beschreibt und bestätigt die Unterscheidung zwischen menschlichem und göttlichem Wissen. Einige bestimmte Ideen seiner Theorie vom Unterricht sind in seiner Abhandlung „Die Darlegung“ (al-burhān) zu finden. Sie sind Teil seiner Diskussion über Logik. Er beginnt mit der Erklärung, 3.3 al-Fārābī (ØQBo·ÂB; ca. 870dass arabische Termini wie taclīm 950 n. Chr.) („Unterricht“, „Kenntnis“, „AusAbū Nasr al-Fārābī, im mittelalterbildung“) und talqīn („Belehrung“, lichen Europa bekannt als Alfarabius „Unterweisung“), häufig unpräzise oder Avennasar, wird als einer der gebraucht und manchmal auch vereinflussreichsten Philosophen angese- mischt bzw. verwechselt werden mit hen und als einer der ersten, die sich dem, was als „allgemeine Erziehung“, wirklich mit dem Thema Logik im „Verbesserung des Charakters“ und Islam befasst haben. Er war vermut„Schulung rechten Verhaltens“ lich türkischer Herkunft und wurde (ta‘dīb) oder „Gewöhnung“ (ta‘wīd) in Turkistan geboren (der Name bezeichnet werden kann. Taclīm verweist auf eine heutige afghanische führt seiner Definition nach zum Provinz), lebte aber viele Jahre in Verständnis oder zu einer Begabung Bagdad und Aleppo (Syrien). Er für das Erlangen von Verständnis, starb in Damaskus im Alter von etwa während talqīn, dessen Ziel nicht 80 Jahren. Al-Fārābī war unter den der Erwerb von Wissen ist, zu einem ersten muslimischen Gelehrten, die starken oder stärkeren Charakter einen geschlossenen Lehrplan der führt. Der ungenaue Gebrauch dieser „fremden“ und religiösen WissenBegriffe hindere die Menschen aber Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen daran, richtig zwischen den verschiedenen Methoden zu unterscheiden, die notwendig für den Erwerb von Wissen, für die Gewohnheiten, die Fertigkeiten oder die starken Charakterzüge seien. Al-Fārābī betont zudem, dass solche terminologische Präzision eine grundlegende Voraussetzung des Lernens im Allgemeinen ist, da Klarheit im Ausdruck die Klarheit in den Ideen und somit im Lernen fördert. Dies sind Gründe genug für ihn, die Bezeichnung „Unterricht“ präziser zu definieren. Seiner Auffassung nach gibt es einen göttlichen und einen menschlichen Unterricht, wobei er sich hier nur mit dem menschlichen Unterricht befasst (vgl. Günther 2006 a, 373f. und Haddad 1989, 123-127). Laut al-Fārābī beschäftigt sich menschliches Unterrichten mit menschlichem Verständnis und sollte somit im Rahmen der Philosophie untersucht werden. Des weiteren ist für ihn menschlicher Unterricht eine Betätigung, die auf ein bestimmtes Ziel und Ende hinzielt, nämlich die Erkenntnis (macrifa) von Dingen, die vorher nicht gewusst wurden. Dieser Unterricht erfordert eine Art von vorausgehendem oder anfänglichem Wissen, auf dem man aufbauen kann; er baut auf der Tatsache auf, dass die Vermehrung von Wissen ein natürliches Bedürfnis des Men- Daher sollten Lehrer eine Sprache gebrauchen, die für die Studenten verständlich ist. Außerdem sollten sie ihre Studenten freundlich und liebevoll behandeln und versuchen ihr Herz zu gewinnen Seite 21 „Lehren geschieht durch Versprachlichung oder Veranschaulichung. Im Falle der Versprachlichung bedient sich der Lehrer dezidierter Begriffe und Aussagen, in letzterem Falle wird er von den Schülern beobachtet: wie er etwas tut, wie er einer Sache gegenübertritt.“ schen ist; er zieht in Betracht, dass die Befriedigung dieses Bedürfnisses mit dem Bewusstsein des Lernenden korreliert, im Grunde nichts zu wissen; er erkennt an, dass Unwissenheit eine notwendige Bedingung oder Komponente des Unterrichts ist, denn sie ist die Stufe, auf welcher der Unterricht beginnt (vgl. Günther 2006 a, 375. und Haddad 1989, 126). Eine Person dazu zu bringen, sich an zuvor erworbenes Wissen zu erinnern, dessen sie sich nicht mehr bewusst ist, könne folglich nicht als „Unterricht“ im Sinne von taclīm bezeichnet werden. und dieser Begriff muss sich im Innern abbilden lassen; b) anwendbar machen, was sich im Innern abbildet. Es gibt zwei Wege, eine Sache begreifbar zu machen: a) sie in ihrer Charakteristik durch den Verstand erschließen lassen, und b) sie durch Beobachtung und Nachahmen verstehen lassen. Auch für die Anwendbarkeit gibt es zwei Wege: a) das Vorführen und b) das Überzeugen (übers. nach Mahdi 1962, 44). Wie zu erkennen ist, wird Unterricht ausdrücklich als ein interaktiver Prozess gedacht, der den Lehrer und den Studenten miteinbezieht. WähWas den Unterricht als Prozess und rend es die Pflicht des Lehrers ist, Situation angeht, bemerkt al-Fārābī dem Schüler neues Wissen zu verallgemein: „Lehren geschieht durch mitteln, und zwar auf eine Art und Versprachlichung oder Veranschauli- Weise, die er verstehen kann, ist es chung. Im Falle der Versprachlichung die Pflicht des Schülers, aktiv mit bedient sich der Lehrer dezidierter neuen Fakten zu arbeiten, bis er sie Begriffe und Aussagen, in letztein Zusammenhängen benutzen kann, rem Falle wird er von den Schülern die sich von denen unterscheiden, beobachtet: wie er etwas tut, wie die ihm zuvor demonstriert wurden. er einer Sache gegenübertritt. Die Dieses wechselseitige Element im Schüler werden dazu tendieren, ihn Lernprozess erlaubt dem Unterricht, zu imitieren, da sie beim Beobachstudentisch-orientiert zu sein, denn ten bereits innerlich imitieren, und es ist das Ziel des Lehrers, die Entdesie werden die Dinge so tun wie sie ckungsreise des Studenten zu erleiches am Vorbild gesehen haben“ (altern. Al-Fārābī betont außerdem, Fārābī, kitāb al-alfādh al-musta‘mala dass der Lehrer das Verständnis und fīl-mantiq, übers. n. Günther 2006 die Vorstellungskraft des Studenten a, 375). Er ergänzt: „Jeder Lernfördern sollte, indem er z. B. die zu aufbau beruht auf zweierlei: a) was unterrichtende Sache beschreiben gelehrt wird, muss begreifbar sein, und definieren sollte, während er Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen dabei verschiedene Methoden der Erklärung benutzt. Lehrer sollten sich in dieser Hinsicht auf Methoden und Techniken verlassen, zum Beispiel Klassifizierung, Induktion, Analogie und Syllogismus. Diese Methoden helfen dem Studenten, sich mit dem Essentiellen und Exemplarischen vertraut zu machen, ein Verständnis zu erarbeiten und Wissen gesichert zu erwerben. Zusätzlich helfen diese Techniken, neue Informationen zu integrieren. Jedoch sollte diese Art von Unterricht nur bei solchen Studenten genutzt werden, die erfahren und stark genug sind, „direkt“ angesprochen zu werden, so dass der Lehrer die Lernenden auf das eigentliche Thema hin konzentrieren kann, ohne in Erklärungen und Kommentare abschweifen zu müssen. Dies würde nämlich dazu führen, dass man zu weit vom eigentlichen Thema abkommt und die Studenten eher verwirrter als kenntnisreicher wären. Sie würden Zeit verlieren beim Versuch, alles zu integrieren, was der Lehrer gesagt hat, und sie würden sich schließlich entmutigen lassen (vgl. Günther 2006 a, 375f. und Haddad 1989, 134ff.). Seite 22 3.4 Ibn Sīnā (CË×s ÌQH; ca. 9801037 n. Chr.) Ibn Sīnā (auch Abu cAli Sīnā) war ein bedeutender muslimischer Arzt, Philosoph, Naturwissenschaftler und Verwaltungsbeamter und im Westen bekannt als Avicenna. Er wurde in der Nähe von Buchara im heutigen Usbekistan geboren. Er verließ nie die östlichen Teile der islamischen Länder und verbrachte seine produktivsten Jahre in Iran, in Städten wie Isfahan und Hamadan. Obwohl Persisch seine Muttersprache war, schrieb er seine wichtigsten Werke in arabischer Sprache. Ibn Sīnā stellte sich eine Welt vor, die auf zwei Pfeilern ruht, zum einen auf der griechischen Philosophie und zum anderen auf der koranischen Offenbarung und den Tugenden des Islams. Durch das Verbinden der Philosophie mit dem Studium der Natur und durch das Verständnis davon, dass die Vollkommenheit der Menschen im Wissen und der Handlung liegt, nahm Ibn Sīnā geschickt Grundprinzipien der alten griechischen Philosophie auf. Daher spiegelt sein allgemeines Lernkonzept auch Grundsätze von Aristoteles wider (vgl. Goichon 1971, 941). Ibn Sīnā galt als eine sehr spirituelle und ethische Person; er war der Meinung, Lehren und Lernen sollten auch dazu führen, den Glauben tief in der Seele des Individuums zu verwurzeln. Dennoch sind seine spezielleren Diskussionen über Bildung und Erziehung im Wesentlichen eher medizinischer oder psychologischer Natur. Er war der Ansicht, dass der eigentliche Prozess des Wissens mit den fünf Sinnen beginnt: Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken und Sehen. Durch die Seele haben Menschen zwei intellektuelle Fähigkeiten: den praktischen und den theoretischen Intellekt. Während der praktische Intellekt die körperlichen Bewegungen bestimmt, steuert der theoretische Intellekt das logische Denken und die Denkprozesse innerhalb der Seele. Ibn Sīnā betont hierbei, dass der theoretische Intellekt vier verschiedene Prozesse miteinschließt, die nur für Menschen charakteristisch sind und ihn somit von den Tieren unterscheiden. Diese Prozesse umfassen a) das Potential, Wissen zu erwerben; b) die Fähigkeit, erworbenes Wissen zu nutzen und wirklich zu denken; c) die Fähigkeit, eine intellektuelle Aktivität zu bewirken, um komplexe Gedanken zu verstehen, und schließlich d) die Fähigkeit, Wissen zu verinnerlichen. Diese Fähigkeit erhalten zu haben und imstande zu sein, davon einen angemessenen Gebrauch zu machen, bedeutet die höchste Stufe des Lernens erreicht zu Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen haben. Sinneserfahrungen spornen die Kinder dazu an, Dinge zu erkennen, zu vergleichen und zu klassifizieren, wenn sie die Welt um sich herum erkunden und erschließen. Sein spezielles Interesse, gerade die jungen Leute zu bilden bzw. zu erziehen, wird auch in seinem „Kanon der Medizin“ (al-qānūn fit-tibb) offensichtlich, einer Zusammenfassung allen medizinischen Wissens seiner Zeit. Hier befasst er sich mit der Kindererziehung als Teil seiner Diskussion über die vier Stadien des Lebens. Einblicke in bestimmte physische, emotionale und intellektuelle Aspekte der Kindesentwicklung bilden für ihn den Ausgangspunkt, um Aspekte zu untersuchen, die von allgemeiner Bedeutung für die Erziehung in der Zeit von der frühen Kindheit bis zur Adoleszenz sind (vgl. Günther 2006 a, 376ff.): „Der Schlüssel liegt hier in der Berücksichtigung der Gefühle und ihrer Kontrolle. Kinder dürfen nicht ihren Emotionen wie Hass oder Furcht oder Krankheiten und Schlaflosigkeit ausgeliefert sein. Ihnen soll darum zugestanden werden, was sie gesunden lässt, was ihnen Freude bereitet und sie anregt. Was Abscheu erregt, soll von ihnen ferngehalten werden. Das hat zwei Auswirkungen. Erstens: Das Bewusstsein wächst und verbindet sich von Beginn mit guten Gefühlen und Erinnerungen, was es dafür empfänglich und dazu bereit macht, das Gute zu tun. Zweitens profitiert davon der Körper: Schlechte Angewohnheiten und Gedanken beeinträchtigen das körperliche und gesundheitliche Gleichgewicht, ebenso wie ein schlechter körperlicher Zustand die inneren Zustände zum Schlechten beeinflusst […] Folglich führt ein guter Haushalt in den Emotionen zu geistiger und körperlicher Gesundheit gleichermaßen“ (übers. n. Ibn Sīnā, al-qānūn fit-tibb, s. Günther 2006 a, 378). Ibn Sīnā bekräftigt, dass die Berücksichtigung der Charakteristika des menschlichen Intellekts äußerst wichtig in der Kindererziehung ist. Außerdem scheint er darauf zu schließen, dass die Art und Weise, wie sich ein Kind entwickelt, eine direkte Auswirkung auf sein Lernen hat. Er macht auf stabile emotionale Bedingungen aufmerksam, da diese die physische und mentale Entwicklung des Kindes schützen. Daneben empfiehlt er, dass Kinder mit dem Besuch der Schule beginnen sollten, wenn sie sowohl physisch stark als auch geistig reif genug sind. Das schließt mit ein, dass Kinder die nötigen Sprachkenntnisse bzw. Sprachfertigkeiten besitzen und dazu fähig Seite 23 sein müssen, sich zu konzentrieren und zu verstehen. Dies ist seiner Ansicht nach normalerweise im Alter von sechs Jahren der Fall. Die Harmonie zwischen den physischen und geistigen Komponenten der Bildung bleibt eine wichtige Voraussetzung in allen Stadien des Lernens. Folglich rät er den Lehrern dazu, den „natürlichen“ intellektuellen Fähigkeiten der Schüler große Aufmerksamkeit zu schenken und Fächer auszuwählen, die zu der geistigen Fähigkeit und Bildungsstufe der Schüler passen. Alle Hindernisse auf dem Weg des Lernens müssen aus dem Weg geräumt werden, und das Lernen muss zu einem interessanten, erfreulichen und spannenden Erlebnis für die Schüler gemacht werden. Mithin gilt Ibn Sīnā als ein früher Verfechter der notwendigen materiellen Lernvoraussetzungen und des Lernens durch das hinreichend geeignete Arrangement Was den Lehrplan anbetrifft, so lässt sich aus Ibn Sīnās „Das Buch der Leitung“ (kitāb as-siyāsa) folgern, dass das Lehren des Korans einen gewissen Vorrang hat. Das bedeutet auch, traditionell die Schüler mit dem Auswendiglernen beginnen zu lassen und sie im Lesen und Schreiben und in den Grundprinzipien des Glaubens zu unterrichten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass er auf ein pädagogisches Prinzip hinweist, wenn er den Lehrern empfiehlt, das Lesen- und Schreibenlernen miteinander zu verbinden: Der Lehrer soll Buchstaben an die Tafel schreiben, bis die Schüler vertraut mit ihnen sind, und dann soll er die Buchstaben abschreiben lassen, bis sie wissen, wie man sie schreibt. Ibn Sīnā folgert an dieser Stelle außerdem, dass das Studium der Heiligen Schrift junge Lernende mit aller Beredsamkeit und Deutung der Dinge ausstattet, die sie im jungen Stadium des Lernens brauchen. Die verschiedenen philologischen und thematischen Aspekte, die durch das Lernen und Studieren des Korans auftauchen, regen das Denken an und helfen, die mentalen Fähigkeiten der Schüler zu steigern. Die Heilige Schrift ist für ihn allgemein eine große Quelle, um Kinder Ethik, Traditionen, Moral und gutes Benehmen zu lehren. Wie die Mehrheit der muslimischen Denker der Frühzeit und der Klassischen Zeit schätzt Ibn Sīnā die Poesie als Mittel der Bildung hoch ein. In der Kindererziehung ist Poesie aus mehreren Gründen wichtig: In ihr sei die Sprache nach ästhetischen Prinzipien ausgewogen und die zusammengesetzte Struktur wohl durchdacht und organisiert, was die Gedächtnisleistung der Kinder begünstige, ihren Verstand trainiere und sie schließlich darauf vorbereite, komplexere Zusammenhänge zu Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen Die verschiedenen philologischen und thematischen Aspekte, die durch das Lernen und Studieren des Korans auftauchen, regen das Denken an und helfen, die mentalen Fähigkeiten der Schüler zu steigern. verstehen. Des weiteren mache die Poesie die Schüler mit rhetorischen Prinzipien vertraut, was ihnen dabei helfe, eine geeignete Ausdrucksweise zu benutzen, ihre Fantasie zu fördern und ihren intellektuellen Horizont zu erweitern. Außerdem seien Poesierezitationen angenehme Erlebnisse, die das Lernen interessant, lebendig und erfreulich sowohl für den Rezitator als auch den Zuhörer machten. Was den Unterricht der Schüler in der Schule angeht, betont Ibn Sīnā, dass Kinder die Klasse mit gleichaltrigen Schülern besuchen sollten. Zudem hebt er hervor, dass Kommunikation und Diskussionen unter Kindern ihrem Verstand nutze und dabei helfe, Konflikte zu lösen. Schließlich betont er ausdrücklich, dass Lehrer tugendhafte Menschen mit einem lobenswerten Charakter und im Besitz von pädagogischen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Kindern sein müssen (vgl. Günther 2006 a, 378ff.): „Wer Kinder erzieht und unterrichtet, soll der Religion mit Verstand und Hingabe folgen (dhūd-dīn), moralische und ethische Prinzipien einhalten, professionell im Umgang mit Kindern sein, würdevoll, bescheiden und ernsthaft auftreten, Abstand halten zum Üblen und Ungesunden, nicht trinken, wach und aufmerksam, ehrbar, freundlich, höflich und gesittet Seite 24 sein […]“ (Ibn Sīnā, kitāb as-siyāsa, übers. n. Günther 2006 a, 380). Pädagogen wider und nicht bloß die allgemeinen oder idealistischen Aussagen eines frommen Gelehrten. 3.5 al-Ghazālī (ØÂBq³ÂB; ca. 10581111 n. Chr.) Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī gilt als einer der größten, vielleicht sogar der größte Theologe im Islam, ein Mystiker und religiöser Reformer. Er wurde in Tus in der Nähe der Stadt Maschhad in Iran geboren. Er und sein jüngerer Bruder Ahmad (später selbst ein bekannter Mystiker) waren schon in jungen Jahren Waisen geworden. Er verbrachte die meiste Zeit seiner Ausbildung und seiner weiterführenden Studien in Nischapur und Bagdad. 1091, im Alter von 33 Jahren, nahm er den Posten als oberster Lehrer auf der neu gegründeten Nidhāmīya-Universität (U×ÆC«ËÂB) an, der berühmtesten Institution der höheren Bildung in Bagdad und vielleicht in der gesamten islamischen Welt im 11. Jahrhundert. Bis 1095 arbeitete er dort als Professor für kanonisches islamisches Recht und hielt Vorträge vor Hunderten von Studenten. Zu einem späteren Zeitpunkt nahm er das Unterrichten wieder auf, zuerst in Nischapur und später in Tus. Seine pädagogischen Ideen spiegeln daher wirkliche Lehrerfahrung und die pädagogische Fachkenntnis eines bedeutenden Al-Ghazālī nähert sich der Frage des Lernens aus einer deutlich anderen Perspektive. Er ist allgemein bekannt dafür, griechische Logik als neutrales Instrument des Lernens angenommen zu haben. In seinen mystischen Werken begegnen uns zwei Punkte von Bedeutung für die Pädagogik, zum einen die Eingliederung von im Grunde ethischen Werten Aristoteles in eine islamische Art und Weise, und zum anderen seine Betonung darauf, dass der Pfad zur mystischen Gotteserkenntnis mit dem traditionellen islamischen Glauben beginnen muss (vgl. Günther 2006 a, 380f. und Günther 2005 a, 643). Sein Verständnis von Bildung und Erziehung als (An)leitung und nicht als Zurechtweisung wurde zu einem wichtigen pädagogischen Prinzip, das in vielen klassischen Schriften über islamische Bildung auftaucht. Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen Er wird als einer der großen Urheber klassisch-pädagogischer Philosophie und Ethik des Islam angesehen. Sein Verständnis von Bildung und Erziehung als (An)leitung und nicht als Zurechtweisung wurde zu einem wichtigen pädagogischen Prinzip, das in vielen klassischen Schriften über islamische Bildung auftaucht. Seine einflussreichsten und bedeutendsten Ansichten über das Lehren und Lernen lassen sich in seinem Werk „Die Wiederbelebung der Wissenschaften von der Religion“ (ihyā‘ culūmuddīn) finden (vgl. Watt 1965, 1038ff.). Es spiegelt seine tiefe Überzeugung wider, dass religiöses Wissen und Bildung Mittel für die Menschen sind, in dieser Welt Seelenheil für die kommende Welt zu erlangen. Seine theologisch-mystische Annäherung an das Thema Lernen zeigt sich z. B. in seiner Vorstellung vom Herzen und von den Menschen. Für al-Ghazālī ist das Herz der Hort transzendenter geistiger Wahrnehmung, der mit dem physischen Herz verbunden ist. Diese Wahrnehmung ist das Wesen des Menschen, der versteht, lernt und weiß (vgl. Obermann 1921, 313f.). Daher braucht seiner Meinung nach das Herz des Kindes eine spezielle Fürsorge und Aufmerksamkeit. Für ihn ist das Herz des Kindes ein kostbares Juwel, neutral, im Sinne der tabula rasa frei von allen Eindrücken und empfänglich für jeden Eindruck und jede Neigung, der es näher gebracht wird. Wenn man das Kind an Gutes gewöhnt, wird es in einen glücklichen Zustand in dieser und der nächsten Welt hineinwachsen, und seine Eltern und Lehrer werden teilhaben an dieser Belohnung. Aber wenn man es an Schlechtes gewöhnt und das Kind sich selbst überlassen wird „wie ein Tier“, wird es unglücklich sein, und seine Eltern und Lehrer werden die Verantwortung dafür tragen. Seite 25 Al-Ghazālī hebt hervor, dass für ihn wahres Wissen nicht einfach ein Auswendiglernen von angesammelten Fakten bedeutet, sondern ein Licht, das das Herz überflutet. Deshalb ist das erste und wichtigste Ziel des Lernens das Studium des Göttlichen. Er ermahnt daher seine Studenten, Kenntnis über das Jenseits zu erlangen, da die edelste aller Disziplinen das Wissen über Gott sei. Aber dennoch verachtet und vernachlässigt er nicht die anderen Bereiche der Wissenschaft. Da alle, die Gott durch Wissen ganz gleich welcher Art suchen, eine gesegnete Reise unternehmen, bietet al-Ghazālī sowohl denjenigen Hilfe, die die Reise beginnen, als auch denjenigen, die andere auf dem mystischen Pfad des Lernens leiten. Zu diesem Zweck widmete er sein erstes Kapitel den „Vorzügen des Wissens, Lehrens und Lernens“ (fadl al-cilm wat-taclīm wat-tacallum), das in Kapitel fünf („Verhaltensregeln für Schüler und Lehrer“; ādāb al-mutac allim wal-mucallim) von einer großen Liste von Empfehlungen über die Pflichten und das richtige Verhalten von Schülern und Lehrern gefolgt wird (vgl. Günther 2006 a, 381f.). Al-Ghazālī gibt die Verhaltensregeln für Schüler bzw. Studenten in zehn Punkten an. Zunächst muss der Schüler seine Seele reinigen, indem er sich von schlechten Gewohnheiten und unangenehmen Charaktereigen- schaften befreit. Des weiteren soll er sich so weit wie möglich von den Ereignissen der Welt zurückziehen, da die Verbindungen zu Familie und Land ihn davon abbringen könnten, sich voll und ganz auf das Lernen zu konzentrieren: „Das Wissen ergibt für einen Menschen nichts, so lange er sich ihm nicht ergibt“ (Al-Ghazālī, ihyā‘ culūmud-dīn, übers. n. Günther 2006 a, 383). Der Lernende soll akzeptieren, was sein Lehrer ihn lehrt, seinen Ratschlag annehmen und seiner Leitung vertrauen: „Der Schüler sei seinem Lehrer wie der weiche Boden dem reichen Regen, den er ganz und gar in sich aufnimmt“ (ebenda). Der Schüler soll die sich widersprechenden Meinungen anderer in seinem Fach ignorieren und sich auf das Beherrschen dessen konzentrieren, was ihm von seinem Lehrer vorgegeben wird. Zusätzlich sollte er sicherstellen, dass der Lehrer seiner Wahl seine eigene Richtung der Argumentation verfolgt und nicht fortwährend die Meinungen anderer zum Ausdruck bringt. Weiterhin soll er sich vergewissern, dass ihm nach und nach alle Bereiche des Wissens vertraut werden, denn alle Wissensgebiete sind miteinander verbunden und bauen aufeinander auf. Der Schüler sollte nicht versuchen, alles sofort zu lernen, sondern sein Studium zu ordnen, indem Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen er zunächst mit den wichtigsten Disziplinen beginnt. Der unmittelbare Vorsatz des Schülers sollte die Erlangung von innerer Tugendhaftigkeit sein und sein höchstes Ziel die Annäherung zu Gott und geistige Perfektion (ebenda). Der Lehrer dagegen sollte mitfühlend und verständnisvoll zu seinen Schülern sein und sie wie seine eigenen Kinder behandeln; er sollte dem Beispiel des Propheten Muhammad folgen und ohne Besoldung unterrichten; er sollte nicht nach Anerkennung für seine Dienste streben; er muss sicherstellen, dass jeder seiner Schüler richtig eingestuft wird; er muss seine Schüler davon überzeugen, schlechte Gewohnheiten aufzugeben, aber nicht auf eine vorwurfsvolle Art und Weise, sondern durch feine Andeutungen, da die direkte Ansprache häufig zu Trotzreaktionen führen könne. Der Lehrer sollte außerdem sicherstellen, dass der Lehrplan für den Unterricht und die Prüfungen nicht zu schwierig sind, denn das Erfolgserlebnis ist für die Schüler sehr wichtig; er sollte auf die Schüler Rücksicht nehmen, die Schwierigkeiten beim Lernen haben und langsamer vorankommen, und der Lehrer sollte das praktizieren und leben, was er kennt und lehrt und nicht seinem Verhalten oder seiner Arbeit gestatten, dem zu widersprechen (a.a.O., 384). Al-Ghazālīs Aufzählung von Ratschlägen markiert deutlich den Höhepunkt der klassisch-islamischen, pädagogischen Tradition. Er kümmert sich leidenschaftlich um seine Studenten und versucht ihnen dabei zu helfen, sich zu verwirklichen. Seine pädagogischen Ideen haben nichts an Bedeutung über die Jahrhunderte verloren und sind auch heute noch ansprechend (a.a.O., 384). Seite 26 4 Schlussbetrachtung Entsprechend würden heutige Pädagogen einen Nutzen davon haben, die Vorstellung wieder hervorzuheben, dass das Unterrichten ein sorgsamer Beruf ist Dieser Aufsatz skizziert in aller gebotenen Kürze die Anfänge islamischer Pädagogik nach. Die Ursprünge im Koran und in der Tradition des Propheten Muhammad, die Prinzipien bedeutender muslimischer Gelehrter der klassischen Epoche und entsprechende Zitate wurden als eine zusammenfassende Übersicht aufgeführt. Der Schwerpunkt lag dabei auf den Grundprinzipien der islamisch-pädagogischen Theorie. Es hat sich herausgestellt, dass das Thema islamische Pädagogik bis jetzt kaum untersucht worden ist und leider auch nur ein kleiner Teil dieser pädagogischen Texte veröffentlicht wurde. Die Informationen über sie sind ziemlich zerstreut in verschiedenen Quellen zu finden. Dabei verdienen diese frühen Werke Anerkennung für ihren Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im Allgemeinen wie auch der islamischen Religionspädagogik im Besonderen. Sie repräsentieren die frühesten Versuche muslimischer Wissenschaft, sich mit pädagogischen und methodischen Fragen zu befassen. Bereits der Koran betont deutlich den hohen Stellenwert des Lernens und liefert einige Grundprinzipien Leila Djahani-Gürsoy: Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen der islamischen Bildung. Auch die zahlreichen Aussprüche des Propheten Muhammad ermutigen, nach Wissen zu streben und das Lernen zu fördern. Mit den großen Gelehrten des klassischen Islams entwickelte sich dann langsam die pädagogische Theorie mit ihren verschiedenen Prinzipien. Ibn Sahnūn verfasste die früheste Abhandlung über Lehrer. Er lieferte eine Idee von den Anfängen der Lehrplanentwicklung und eine Reihe von konkreten Anweisungen besonders für Grundschullehrer. AlDschāhidh befasste sich größtenteils mit Fragen des Lernens und Unterrichtens der höheren Schulbildung und betonte die wichtige Rolle und die hohe Stellung des Lehrers. AlFārābī thematisierte als erster die philosophischen Aspekte des Verstehens und der sprachlichen Definition als Grundlage des Lernprozesses und verstand Lehren und Lernen als Interaktionsprozess zwischen Lehrendem und Lernendem. Ibn Sīnā nahm Grundprinzipien der alten griechischen Philosophie auf und näherte sich dem Thema der Bildung und Erziehung eher aus medizinischpsychologischer Sicht. Und alGhazālī schließlich, einer der großen Urheber klassisch-pädagogischer Philosophie und Ethik, verstand Bildung und Erziehung als Leitung und nicht als Zurechtweisung und stellte genaue Verhaltensregeln für Leh- rer und Schüler auf. Die Theorien dieser bedeutenden muslimischen Gelehrten des klassischen Islams sind Ideen von großem Anklang auch für den modernen Pädagogen, da die ethischen und emotionalen Aspekte des Lernens fast verschwunden zu sein scheinen in unserer technisch orientierten und bürokratischen Welt. Entsprechend würden heutige Pädagogen einen Nutzen davon haben, die Vorstellung wieder hervorzuheben, dass das Unterrichten ein sorgsamer Beruf ist (vgl. Günther 2006 a, 386). Aber wie bereits erwähnt, ist das Thema der islamischen Pädagogik unerschöpflich und bietet noch viele interessante Anknüpfungspunkte und neue Erkenntnisse über die Geschichte der Pädagogik. Seite 27 Literatur Behr, Harry Harun: Ursprung und Wandel des Lehrerbildes im Islam mit besonderem Blick auf die deutsche Situation. In: Harry Harun Behr, Daniel Krochmalnik und Bernd Schröder (Hg.):Was ist ein guter Religionslehrer? Antworten von Juden, Christen und Muslimen. 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Seite 28 Ramin Massarrat »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Lösungsansätze durch Texte aus dem Sufismus Wie weit darf gegangen werden, das Gesicherte in der eigenen Religion zu hinterfragen, zu reflektieren und dies den unterschiedlichen Lernertypen, die es vermutlich auch mit Blick auf das religiöse Lernen gibt, für die konkrete Situation aufzubereiten und anzubieten? 1 Einleitung Wer an deutschen Universitäten eine Islamlehrer-Ausbildung erfolgreich durchläuft, hat im Regelfall auf diesem Wege jede Menge Rüstzeug mit auf den Weg bekommen: Fundierte Kenntnisse der islamischen Glaubenslehre und den Umriss des Lebenswegs, der Sira, des Gesandten Gottes Muhammad, ArabischGrundkenntnisse, Grundzüge der anderen beiden Buch-Religionen Christentum und Judentum, eingehende Kenntnis des Lehrplans und ein Schulpraktikum. Spätestens in der Schule aber, in der real existierenden Welt der Schüler und in der Konfrontation von Theorie und Praxis zeigt sich, dass auch die beste theoretische Bildung nicht auf alle erdenklichen Situationen vorbereiten kann, selbst wenn sie einen zweifellos unschätzbar großen Beitrag zur Bewältigung der in der Praxis auftauchenden Probleme und Fragestellungen leistet. Jeder Lehrer wird sicherlich im Laufe seines Arbeitslebens mit essenziellen Schülerfragen Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts konfrontiert, deren Beantwortung situations- oder inhaltsbedingt auch nach langen Berufsjahren eine Herausforderung darstellen kann. In dem einen Fach wird dies seltener, im anderen häufiger der Fall sein. Das Fach aber, das die stärkste Frequentierung heikler Sinnfragen naturgegeben geradezu anzieht, ist zweifellos konfessionsübergreifend der Religionsunterricht. Immerhin werden hier Themen wie Leben und Tod, Leben nach dem Tod oder auch Fragen aller Art über Gott und seine Gesandten behandelt. Eine Frage ist dabei unvermeidbar und zu allen Zeiten aktuell: Warum gibt es das Böse, wenn Gott doch das Gute will? Diese Frage ist vermutlich die Frage überhaupt für die meisten Schüler in der weltlich geprägten Moderne, da sie wie keine andere den Glauben an jede zuvorderst durch Gott definierte Religion ins Wanken bringen kann. Und keine andere Frage bringt so viel Zweifel und Verzweiflung hervor und ist so schwer zu beantworten, denn ohne das Böse gäbe es auch keine Hölle, keinen Teufel, keine Folter oder Phosphorbomben auf wehrlose Menschen, auf die schwächsten der Schwachen, die Kinder. Es mag im Zeitalter der elektronischen Medien und des weiter abnehmenden Interesses am Lesen unter Jugendlichen schwerer sein als zu anderen Zeiten, aber: Texte einzubringen kann für die Beantwortung der Frage nach dem Bösen aus der islamischen Sicht eine hervorragende Aufklärungsarbeit leisten. So ist das Werk „Fihi Ma Fihi“ (Schimmel, Annemarie: Maulana Djalaluddin: Von allem und vom Einen, München 1988) des großen Sufi-Meisters, Gelehrten und Dichters Maulana Dschalaluddin Balchi eine großartige Textgrundlage, die besonders in einer der Abhandlungen auf unvergleichliche Art und Weise diese hochkomplexe Frage in einer gleichermaßen schönen und Seite 29 kräftigen, sowie einfachen und gut verständlichen Sprache auch für die Schüler zu beantworten helfen kann. Der 1207 in Balch, im heutigen Afghanistan geborene und 1273 in Konya, der heutigen Türkei gestorbene „Balchi“ ist im Westen meist besser bekannt als „Rumi“. 2 Lehrplanbezug Die im Folgenden vorgestellten Texte betreffen allesamt das Kapitel Glaubenslehre aus dem Lehrplan für den Islamischen Unterricht in Bayern, wo es unter anderem heißt: „Gott liebt seine Geschöpfe; Gott ist gerecht und barmherzig […] Gott ist allmächtig; Gott ist allgegenwärtig“ (Download via www.izir. uni-erlangen.de). Die oben angesprochenen Fragen der Schüler deuten auf die Existenz des Bösen und den scheinbaren Widerspruch mit Gottes Allmacht und seiner Liebe zu den Geschöpfen. Das muss von Seiten der Lehrkraft ernst genommen, analysiert und beantwortet werden. Die Herausforderung liegt darin zu versuchen, das Paradoxon des liebenden und allmächtigen und des gleichzeitig das Böse wollenden, aber nicht billigenden Gottes mit Hilfe von entsprechend geeigneten Texten einzufangen – vielleicht sogar aufzulösen. Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts 3 »Das Böse« – der polarisierende Begriff schlechthin Ob Wikipedia die erste Adresse ist, sich kundig zu machen, kann diskutiert werden. Fest steht: Es ist das von Schülern meistgenutzten Internet-Lexikon, und dort finden sich kurze Definitionen wie etwa die folgende: „Das Böse […] ist der Gegenbegriff zum Guten und ein zentrales Konzept der Philosophie- und Religionsgeschichte (http://de.wikipedia. org zu „das Böse“ vom 27.12.2009). Googeln die Schüler weiter, dann stoßen sie auf Texte von Lehrern und ihren eigenen Webseiten oder christlich, wenn nicht evangelikal angehauchten Anbietern wie zum Beispiel Steve Kumar (Publikation: Christianity für Sceptics; Peabody/Massachusetts 2000), dessen Texte paradigmatisch sind für ein ganzes Genre christlicher „Antwort-Strategie“ auf die existenziellen menschlichen Anfragen an die Welt und an Gott. Beispiel: „Wenn es Gott gibt, warum gibt es dann das Böse? […] Nichts bringt unser Dasein so durcheinander wie die tragische Realität des Bösen. Die Qual, die die Menschheit quält, ist denn auch Qual […] Wie oft hört man Aussagen wie: ,Ich habe an Gott geglaubt, bis mein Kind bei einem Autounfall umkam.‘ […] Wenn es einen Gott gibt, warum hat er erlaubt, dass Leute wie Hitler, Stalin, Idi Amin, Pol Pot und Osama Bin Laden Unschuldige töten? […] Zahlreiche Philosophen haben schon über die Frage nach dem Bösen diskutiert; Theologen haben eine Vielzahl von ,Lösungen‘ vorgeschlagen, Skeptiker berufen sich häufig darauf, um ihren Unglauben vorzubringen. […] Die Existenz des Bösen ist denn auch eines der größten Hindernisse für den Glauben an Gott. […] Es ist kein Problem, das nur dem christlichen Glauben eigen wäre, wie R. C. Sprout so treffend feststellte: ,So muss sich denn jede philosophische Theorie irgendwie damit auseinandersetzen‘ […].“ Derlei von Autoren wie Kumar und anderen vorgebrachte Argumente scheinen der christlichen Theologie ein schlechtes Zeugnis im Umgang mit dem Bösen ausstellen zu wollen. Mehr oder weniger wird damit die Unfähigkeit der Theologie heraus gezeichnet, das Böse sinnvoll in das theologische Gerüst einzuordnen. Zum Problem für die Schüler wird dabei, dass sie zu den eigentlichen theologischen Expertisen nicht vorstoßen – oder aber sie nicht erkennen: Was, wenn es in der Theologie gar nicht darum gehen kann, mit Blick auf das Böse sinnhafte Konstruktionen zu formulieren? Was, wenn jedes gelehrte Traktat letztlich Seite 30 auch einer Art Rechtfertigung des Bösen mitliefert und deshalb die Sprachlosigkeit angesagter ist als die Eloquenz? Oder ist das nicht bereits eine spezifisch christliche Herangehensweise? Womöglich geht der Islam damit ganz anders um – und liegen hier vielleicht die tieferen Ursachen, dass sich mit Blick auf das in der Welt vorfindliche Leid für Muslime nie die Frage nach der Verhältnisbestimmung in dem gestellt hat, was Gott kann und was er will? 4 Was sagen muslimische Theologen und Philosophen zum »Bösen«? „Navid Kermani erweiterte die Perspektiven auf das Böse um jene der islamischen Tradition. Er schilderte die eindrucksvollen Versuche einer ,häretischen Frömmigkeit‘, das Leiden der Menschen und die Vorstellungen göttlicher Allmacht im Medium der Anklage Gottes miteinander zu versöhnen.“ Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Für große Teile der islamischen Theologie und Philosophie, wenn nicht sogar für die überwältigende Mehrheit, scheint zu gelten: Die Frage nach dem Bösen hat kaum den Stellenwert erhalten, der ihr angemessen wäre. Auch bei tonangebenden islamischen Theologen und Denkern bzw. Philosophen der heutigen Zeit scheint dieses Thema eher halbherzig angegangen zu werden. Zumindest hört man in den vielen Reden und Predigten nur äußerst selten etwas dazu, und wenn es doch einmal angesprochen wird, dann ist das, was da gesagt wird, für philosophisch neugierige Schüler kaum erhellend. Exemplarisch für die Schlichtheit, mit der auch seitens islamischer Theologen nach einer Erklärung für die Existenz des Bösen gesucht wird, standen die Qadariten (eine Bewegung aus dem islamischen Mittelalter, die dem Menschen völlige Willensfreiheit zusprach): „Die Selbstverantwortung […] dass Gott nur das Gute, der Mensch dagegen das Böse tue, vertraten die Qadariten…“ (Figl, Johann: Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck 2003, S.444). Auch heute noch argumentieren muslimische Theologen oftmals ähnlich einfach. Dabei übersehen sie den Widerspruch, dass Gott allmächtig ist und deshalb eigentlich das Böse nicht zulassen dürfte, wenn er nur das Gute wolle. Auch muslimische Denker wie der Schriftsteller Navid Kermani, der oft als der Prototyp des im Westen lebenden muslimischen Intellektuellen gesehen wird (jedenfalls so lange seine persönliche Meinung genehm ist), schaffen es nicht, zur Aufklärung des Themas beizutragen. So soll er bei einem Vortrag die islamische Sichtweise in für westlich-muslimische Intellektuelle auf fast schon beispielhafte Weise simplifiziert haben: „Navid Kermani erweiterte die Perspektiven auf das Böse um jene der islamischen Tradition. Er schilderte die eindrucksvollen Versuche einer ,häretischen Frömmigkeit‘, das Leiden der Menschen und die Vorstellungen göttlicher Allmacht im Medium der Anklage Gottes miteinander zu versöhnen.“ (http://idw-online.de/ pages/de/news282851, Pressemitteilung via Webseite des Informationsdienst Wissenschaft e.V. an der Universität Bayreuth vom 13.10.2008). Es greift allerdings viel zu kurz, wenn die sufische Literatur das nur auf den Aspekt der Anklage Gottes bezüglich des Bösen reduziert, welches er geschaffen hat. Im folgenden Kapitel soll deshalb noch einmal Seite 31 verdeutlicht werden, wie sehr gerade die junge muslimische Generation (ebenso wie die nichtmuslimische Generation Jugendlicher und junger Erwachsener) im Angesicht täglich neuer Horrormeldungen zu Recht Antworten zu den vielen Fragen verlangt, die das Böse betreffen. Die in diesem Abschnitt eingebrachten Beispiele, wie Theologen und Philosophen aus dem christlich dominierten westlichen Kulturkreis und der Mainstream der islamischen Theologie das Böse im Zusammenhang mit dem Glauben bzw. NichtGlauben an einen ansonsten gütigen Gott sehen, könnten sicher durch eine Vertiefung des Themas umfangreicher behandelt und ausführlicher mit der genauen Interpretation weiterer christlicher, muslimischer und andersgläubiger Theologen, Dichter und Philosophen verglichen werden. Das würde allerdings sowohl den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wie auch den Blick vom eigentlich ins Auge gefassten Ziel ablenken. Deshalb soll im Folgenden eine bewusst subjektive Sichtweise der sufisch-islamischen Richtung eingebracht werden, um einen gangbaren Lösungsansatz finden zu können, Schülern des Islamischen Religionsunterrichts die Existenz des Bösen nachvollziehbar zu erklären. Im Mittelpunkt soll hier nicht die wissenschaftliche Diskussion stehen, sondern die Diskussion möglicher pädagogischer Konzepte zur praktischen Anwendung gut verständlicher und altersgerechter Texte in der Schule. Hochtrabende philosophische oder trockene wissenschaftliche Abhandlungen scheinen für diese Zwecke ungeeignet. Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts 5 »Das Böse« – Ein Problem für den Glauben an den gütigen Gott im Islam? Gebote und Verbote und ihre Einhaltung setzen einen Prozess voraus, bei dem das „Warum“ oder „Wozu“ vor dem „Wie“ kommt. Das hat weit reichende Konsequenzen, zum Beispiel: Gebet ohne Glaube ist ohne Wert, umgekehrt ist es aber nicht so. Für viele Kinder muslimischen Glaubens brennt die Frage, warum es das Böse gibt, seit dem Wiederaufflammen vieler Konflikte auf den Nägeln: der Nahostkonflikt im Jahr 2000, die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York, die Kriege gegen Afghanistan (seit 2001) und gegen den Irak (2003), die ständigen Kriegsdrohungen gegen Iran, die Kriege im Libanon (2006) und in Gaza (2008/09), sowie die ständige direkte und indirekte Gleichsetzung von Islam mit Terror und dem Bösen schlechthin. Eine medial vergiftete Schülerin der achten Klasse fragte an: „Stimmt es, dass ich zu einer gewalttätigen Religion gehöre?“. Die Fragen nach der Unvereinbarkeit zwischen Sichtbarem und Erhofften, wie sie in den einschlägigen Szenarien von Krieg, Vertreibung, Hunger und Folter, aber auch Naturkatastrophen zu Tage zu treten scheint, macht das Ringen um die geeigneten pädagogischen Strategien drängender. Dabei stellen sie die Lehrkraft im islamischen Religionsunterricht, übrigens genau wie bei anderskonfessionellem Religionsunterricht, vor eine große, wenn nicht die größte Seite 32 Oder wir sagen: Gott will Glauben, nun kann Glauben nur bestehen nach Unglauben, so dass Unglaube eine Voraussetzung für Glauben ist. Herausforderung – auch mit Blick auf die eigene, persönliche Orientierung. Denn schließlich erwarten die Schüler in ihrer Mehrzahl, dass ein Religionslehrer in der Lage ist, die Dinge zu erklären, die Zweifel auszuräumen und nicht etwa seinen eigenen Unsicherheiten ausgeliefert zu sein. Es wäre nun sicher auch keine Schande und nur allzu menschlich, wenn der Lehrer selbst im Zweifel wäre, was diese Fragen angeht. Aber letztlich bestünde das Risiko, dass die Lehrkraft ein gutes Stück ihrer Glaubwürdigkeit und wohl auch ihrer Autorität verlöre, wenn sie solch grundlegende Fragen nicht wenigstens ansatzweise zu beantworten in der Lage wäre. Die Vermittlung des vom Lehrplan vorgeschriebenen Stoffs würde dadurch sicher nicht leichter, ganz im Gegenteil: Wenn diese bohrenden Fragen nicht beantwortet werden, wird sicher bei vielen Schülern dann die Frage danach auftauchen, ob die Beschulung in Religion für sie überhaupt Sinn macht. Denn ohne die feste Überzeugung oder den gefestigten Glauben machen alle weiter gehenden religiösen Regeln nicht wirklich Sinn. Die Gebote und Verbote wurden den Muslimen in einem langen Zeitraum von 23 Jahren, in denen der Koran entstand, langsam und Schritt für Schritt beigebracht, so dass sie nicht überfordert werden Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts sollten. Das Verbot von Alkohol und Glücksspiel beispielsweise wurde erst relativ spät implementiert. Da die religiösen Regeln, wie es der Islam lehrt, von Gott selbst stammen, liegt darin ja die Erkenntnis einer tiefen göttliche Weisheit: Gebote und Verbote und ihre Einhaltung setzen einen Prozess voraus, bei dem das „Warum“ oder „Wozu“ vor dem „Wie“ kommt. Das hat weit reichende Konsequenzen, zum Beispiel: Gebet ohne Glaube ist ohne Wert, umgekehrt ist es aber nicht so. Denn glauben, wenn es ein substanzieller Glauben sein soll, gehört unveräußerlich zum Leben als Muslim, die Gebete aber sind zeitlich und räumlich begrenzt. Maulana sagt dazu: „Jemand fragte: Was gibt es, das edler als das Ritualgebet wäre? Eine Antwort ist, wie ich schon gesagt habe, dass die Seele des Gebets besser ist als das Gebet, wie ich damals erklärt habe. Die zweite Antwort ist, dass der Glaube besser als das Gebet ist. Denn das Ritualgebet besteht aus fünf Pflichtgebeten im Laufe von Tag und Nacht, während der Glaube eine fortwährende Pflicht ist. Das Gebet kann um einer gültigen Entschuldigung willen unterlassen und durch Spezialerlaubnis verschoben werden […]; der andere Vorzug, den der Glaube gegenüber dem Gebet hat, ist, dass man den Glauben um keiner Entschuldigung willen aufgeben und ihn nicht durch einen Dispens aufschieben kann. Wiederum ist Glaube ohne Gebet nützlich, während Gebet ohne Glauben keinen Nutzen bringt, etwa das Gebet in Falschheit.“ (Schimmel 1988, 97). Übertragen auf den Islamunterricht bedeutet dies, dass der Sinn der fünf Säulen des Islams insgesamt auf dem Verständnis der ersten Säule, des Glaubensbekenntnisses (der Schahada), beruht. Wie in dem Beispiel oben klar geworden ist, ist der Glaube etwas, das nicht aufgeschoben werden kann. Die anderen vier religiösen Pflichten, die hier durch die Säulen repräsentiert werden, können jedoch unter bestimmten Bedingungen durchaus ausgesetzt werden. Vielleicht wäre es deshalb ohnehin sinnvoller, vom Glauben als dem eigentlichen Fundament und von den vier folgenden Pflichten als den darauf errichteten Säulen zu sprechen. Aus dieser Metaphorik geht nun wiederum hervor, dass das Fundament so stabil sein muss, dass es die (anderen) vier Säulen überhaupt tragen kann. Andernfalls würden diese im weichen Untergrund des Zweifels und der Unsicherheit einsacken. Das Fundament eines Hauses sollte stabil genug sein, um Erschütterungen standhalten zu können. Immerhin unterscheidet auch Seite 33 der Koran zwischen den Dimensionen des sichtbaren Vollzugs in der Religionsausübung und der inneren Dimension des Subjekts (vgl. 49:14). Ein Beben für das Fundament des Glaubens stellt die Frage nach dem Bösen dar. Denn das Paradoxon, dass Gott das Böse wolle und auch wieder nicht, das Streben seiner Geschöpfe nach dem Bösen nicht billige, aber zu verzeihen in der Lage sei, ist mit logischen Argumenten allein schwer zu erklären und bestenfalls zu beschreiben. Genau dies allerdings ist immer wieder besonders den SufiMeistern gelungen, so dass es sich anbietet, Texte aus solchen Quellen großer Lehrmeister, wie Maulana Djalaluddin Balchi, für den Unterricht nutzbar zu machen und den Schülern dadurch eine Hilfestellung zur Beantwortung solch komplexer Fragestellungen zu geben. 6 »Das Böse« aus Sicht Maulanas In Abschnitt 46 des Werkes "Fihi ma Fihi" von Maulana findet sich dank der sehr guten Übersetzung Annemarie Schimmels ein hervorragender Text, dessen Verständnis für keinen Schüler ein Problem darstellen sollte und der einiges an Erhellung zum Thema beitragen kann: „Gott der Erhabene will Gutes und Böses, aber er billigt nur das Gute. Denn er hat gesagt: ,Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden‘. Gott der Erhabene will zweifellos befehlen und verbieten. Ein Befehl ist nur stichhaltig, wenn der, dem befohlen wird, das, was ihm befohlen wird, nicht will. […] Nun muss man für den Befehl, Gutes zu tun, und das Verbot, nichts Schlechtes zu tun, unbedingt eine Seele haben, die Böses begehrt. Die Existenz einer solchen Seele zu wollen, bedeutet, Böses zu wollen. Aber Er billigt das Böse nicht; sonst hätte Er das Gute nicht befohlen. Vergleichbar damit ist, dass, wenn einer zu lehren wünscht, so wünscht er, dass der Schüler unwissend sei, weil man nicht lehren kann, außer wenn der Schüler unwissend sei, und etwas zu wünschen bedeutet auch die Voraussetzungen dafür zu wünschen. Aber der Lehrer billigt die Unwissenheit des Schülers nicht, sonst würde er Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Als Arbeitsanregung soll an der Tafel stehen: Warum gibt es das Böse, wo Gott doch den Menschen empfiehlt, Gutes zu tun? ihn nicht lehren. Ebenso wünscht der Arzt, dass die Leute krank seien, wenn er seine Heilkunst praktizieren will, weil er seine Heilkunst nicht zeigen kann, wenn die Leute nicht krank sind. Aber er billigt es nicht, dass die Leute krank sind, sonst würde er sie nicht versorgen und behandeln. Ebenso wünscht der Bäcker, dass die Leute hungrig sind, damit er seinen Beruf ausüben und seinen Lebensunterhalt finden kann, aber er billigt nicht, dass sie hungrig sind, sonst würde er kein Brot verkaufen. […] Begreife also, dass Gott Böses einerseits will und andererseits nicht will. Der Opponent sagt: ,Gott will Böses auf keinerlei Art.‘ Das ist unmöglich, dass er etwas wolle und nicht seine Voraussetzungen wolle. […] Also: Das Böse wird um etwas anderes willen gewollt. Wir sagen weiter: Wenn Gott alles Gute will, und zu den guten Dingen gehört die Ablehnung des Bösen, und so will Er die Ablehnung des Bösen – nun kann Böses nicht abgewehrt werden, ohne dass es existiere. Oder wir sagen: Gott will Glauben, nun kann Glauben nur bestehen nach Unglauben, so dass Unglaube eine Voraussetzung für Glauben ist. Also ist das Wollen von Bösem nur dann hässlich, wenn es um seiner selbst willen gewollt wird; wenn es jedoch um etwas anderen willen gewollt wird, dann ist es nicht hässlich“ (a.a.O., 291 f.). Seite 34 In diesem Text ist es Maulana in beispielloser Art und Weise gelungen, den scheinbaren Widerspruch von Gottes Willen in Bezug auf das Gute und das Böse zu entschleiern. Mit Hilfe des Vergleichs vom Lehrer, Arzt oder Bäcker, die berufsbedingt eine bestimmte Disposition wollen (Unwissenheit, Krankheit, Hunger), sie aber gleichzeitig nicht billigen und lösen wollen, gelingt es ihm fast spielerisch, das komplexe Thema in eine einfache und für jedermann gut verständliche Sprache zu fassen. Sicherlich wird dieser Text nicht ohne Einfluss auf die Gedankenwelt der Schüler bleiben. 7 Skizze einer Schuldoppelstunde zum Maulana-Text Wie die Stunde ganz konkret zu planen ist, hängt also sehr wesentlich von der Spezifität der jeweiligen Klasse ab, die von Jahrgang zu Jahrgang, oft auch innerhalb eines Jahrgangs, stark von der Nächsten abweichen kann. Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Schritte als Aufhänger dienen, um die Antworten den Fragen entsprechend geben zu können. Eventuell können bestimmte Aspekte schon Wie könnte aber nun eine Schulam Anfang der Stunde von den stunde für die höheren JahrgangsSchülern selbst erkannt und beantstufen aussehen, in dem diese wortet werden, so dass im weiteren Frage angesprochen wird, so dass Verlauf der Stunde andere Bereiche dieser Text sinnvoll eingebaut werdes Themas ausführlicher behandelt den kann? Darauf soll folgender werden können. Diese VorgehensGrobentwurf Antwort geben: weise bietet sich besonders deshalb an, da das Thema sehr umfangreich Nach der Begrüßung schreibt die und die Zeit zur Bearbeitung beLehrkraft an die Tafel den Begriff grenzt ist. Für diesen zweiten Teil „das Böse“ und fordert die Schüler sollten, der speziellen Situation in dem Zusammenhang auf, alles zu der jeweiligen Klasse Rechnung nennen, was ihnen spontan zu dietragend, wieder ungefähr fünf bis sem Begriff einfällt. Sollten die Schü- zehn Minuten vorgesehen werden. ler durch diesen einen Begriff allein nicht hinreichend für Antworten Als nächstes sollen die Schüler inspiriert worden sein, so kann auch nun eine kurze schriftliche Skizder Begriff „das Gute“ und wahlwei- ze verfassen. Als Arbeitsanregung se auch noch oben in der Mitte (und soll an der Tafel stehen: Warum über den beiden anderen Begriffen, gibt es das Böse, wo Gott doch welche seitlich unten rechts und den Menschen empfiehlt, Gutes zu links davon stehen) „Gott und…“ tun? Alternativ dazu, wieder der hinzugefügt werden, um den Assovorhergegangenen Situation entziationen der Schüler nachzuhelfen, sprechend, könnten auch folgende allerdings nur wenn nötig. Dieser Anregungen gegeben werden: Gott Part sollte mindestens fünf, höchhat das Gute erschaffen, weil… stens aber zehn Minuten dauern. Gott hat das Böse erschaffen, weil… Für das Schreiben sollen ungefähr Anschließend sollen die Schüler über zehn Minuten eingeplant werden. die Stichworte, die auf der Tafel den Begriffen zugeordnet wurden, disNun sollen die Schüler ihre Gedankutieren und Fragen formulieren. ken vortragen und anschließend Diese Fragen sollen für die folgenden darüber diskutieren. Danach haben Seite 35 sich die Schüler eine kurze Pause verdient. In der zweiten Stunde soll nun zur Textarbeit übergegangen werden. Dazu bietet sich an, die Arbeitsumstände zu ändern, also beispielsweise einen Stuhlkreis zu bilden oder, falls vorhanden, den Teppich auszurollen und auf dem Boden Platz zu nehmen. Für den zweiten Teil sind die Hefte nicht nötig. Die Schüler sollen sich nun ganz auf den Text konzentrieren und können sich selbstverständlich aber Textstellen anstreichen. Eine Möglichkeit der Bearbeitung ist nun, dass der Text, ohne vorher in Stillarbeit gelesen worden zu sein, von einer/m Schüler/in oder mehreren Schülern laut vorgelesen wird, um im Anschluss direkt in die Diskussion einzusteigen. Der Vorteil bei dieser Methode wäre, dass sehr viel Zeit zum Diskutieren bliebe. Ein Nachteil könnte sein, dass der/die eine oder andere beim Vorlesen des Textes abschaltet und nachher bei der Diskussion nicht genau weiß, worum es geht. Deshalb wäre eine zweite Möglichkeit, den Text vorher in Stillarbeit lesen zu lassen, eventuell vor der Pause an den Tischen, um ihn anschließend noch einmal laut vortragen zu lassen und dann darüber zu diskutieren. Der Vorteil könnte hier sein, dass die Schüler sich doch intensiver mit dem Inhalt beschäftigen. Eine dritte Möglichkeit wäre, die Schüler in Arbeitsgruppen (zu zweit, zu dritt oder zu viert) einzuteilen. In diesen könnten die Schüler nach vorangegangener Lektüre im Stillen in der Gruppe diskutieren, um ihre Ergebnisse anschließend in der Klasse zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Der Vorteil dieser Methode wäre sicherlich, dass diejenigen Schüler, die sich nicht trauen, vor 20 oder 25 Personen ihre Meinung kundzutun, sich in einer kleinen Gruppe wesentlich leichter überwinden können, ja fast schon gezwungen sind, etwas zu sagen. In jedem Fall würde die gesamte zweite Stunde zur Bearbeitung benötigt. Eine weitere Alternative, die sich für den gesamten Verlauf der Doppelstunde ergibt, wäre, die Schüler schon in der ersten Stunde im Anschluss an den Aufsatz in zwei Gruppen einzuteilen, um ihnen fünf Minuten Zeit zu geben, Argumente zu sammeln für jeweils eine der zwei Behauptungen: a) Gott will das Böse (um des Guten willen) und b) Gott will das Böse in keiner Hinsicht; eine solche Diskussionsform könnte sinnvoll sein, wenn bereits am Anfang der Stunde bzw. im Vorfeld solche zwei Meinungen als Gegensatz zwischen zwei größeren Gruppen innerhalb der Klasse Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts auszumachen wären. Wie die Stunde ganz konkret zu planen ist, hängt also sehr wesentlich von der Spezifität der jeweiligen Klasse ab, die von Jahrgang zu Jahrgang, oft auch innerhalb eines Jahrgangs, stark von der Nächsten abweichen kann. Auch wenn es sicher Schüler geben mag, die durch Lyrik schlecht oder gar nicht erreichbar sind, so ist es doch den Versuch wert, besonders diejenigen unter den Schülern einer Klasse zu erreichen, die sich durch sufisch-lyrische Texte ansprechen lassen. Seite 36 8 Vertiefung des Themas Im Optimalfall erkennen die Schüler, dass es Gott gegenüber ungerecht ist zu klagen, solange ihm nicht hinreichend Dank für seine Wohltaten ausgesprochen oder entgegengebracht worden ist. Sollte der Diskussions- und vor allem Lernbedarf zum Thema noch nicht gestillt sein, bieten sich weitere Texte zur Vertiefung an. Für überdurchschnittlich auffassungsstarke Klassen bietet sich hier unter anderem ein Text des Sufis Abd al-Qadir Gilani an (geb. um 1080 in der Provinz Gilan, im heutigen Iran, gest. ca. 1166 in Bagdad). Der Titel lautet „Darüber, dass das Gute und das Böse zwei Früchte sind“ (al-Gilani, Abd al-Qadir: Enthüllungen des Verborgenen. Köln 1085, 70). Auch wenn die deutsche Übersetzung von Alma Giese hervorragend ist, so sind der Inhalt und der Stil doch ungleich schwieriger, als es bei dem einfacher gehaltenen Text Maulanas der Fall ist. Für normale, also eher durchschnittliche, aber auch für „schwächere“ Klassen bietet sich hingegen an, die deutsche Übersetzung des Gulistan (deutsch: Rosengarten) des iranischen Sufi-Dichters Muslih bzw. Muscharraf ad-Din cAbdullah Sacdi (geb. um 1190 und gest. um 1290 in Schiraz) heranzuziehen. Nicht dass das Niveau dieser Lyrik dementsprechend „schwächer“ bzw. niedriger wäre, sie ist allerdings doch einfacher gehalten und auch Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts für diejenigen, die zum ersten Mal mit Texten aus dem Sufismus konfrontiert werden, leicht zugänglich. Die Texte Gilanis dahingegen setzen ein gewisses Vorwissen voraus. 9 Die Schuld der Dankbarkeit gegenüber Gott: Ein Text von Sacdi Sacdi gibt gleich mit den ersten Sätzen in der Vorrede zum „Rosengarten“ eine Antwort auf die ewige Frage der an Gott Zweifelnden: „Warum nur sollte ich Gott dienen und danken, wenn Er doch so viel Leid zulässt?“. Er dreht den Blickwinkel um 180 Grad und verweist auf die Wohltaten, die Gott dem Menschen in jeder Sekunde zukommen lässt: „Dank gebührt dem Herrn – Mächtig und erhaben ist er! – für seine Wohltaten! Der Gehorsam zu ihm trägt dazu bei, dass man ihm näherkommt, und ihm zu danken vermehrt noch seine Huld! Ein jeder Atemzug wirkt, wenn er eingezogen wird, verlängernd für das Leben und, wenn er ausgeatmet wird, für den Körper erfrischend. Darum enthält jeder Atemzug auch zwei Gaben der Huld, und auf einer jeden Gabe ruht eine Dankesschuld!“ (Graf, Carl Heinrich: Übersetzung von Muslih ad-Din Sacdis „Der Rosengarten“. Leipzig/Weimar 1982, S. 7). Die Quintessenz dieses Abschnitts fasst er in folgendem Vers zusammen: „Wer kann dem Herrn mit Mund und Händen den schuldgen Dank vollkommen spenden?“ (ebenda). Seite 37 Sacdi weist den Leser bzw. Zuhörer darauf hin, zunächst das Wunder der eigenen Erschaffung zu begreifen, um das Verhältnis von Wohltat und Leid richtig einordnen zu können. Denn was bedeutet Leid, so intensiv es auch immer subjektiv wie objektiv einem Menschen geschehen mag, im Vergleich zu der Wohltat, die dem Menschen mit jedem Atemzug zugute kommt? Es ist ja durchaus auch eher die Regel, dass Menschen, die viel Leid durchlitten haben, gottesfürchtiger, oder besser: dankbarer sind als diejenigen, welche weniger Leid erfahren haben. Letzere beschweren sich nur allzu oft über die Leiden anderer, während sie gleichzeitig nicht in der Lage zu sein scheinen, für das ihnen selber zugefallene große Glück unzähliger Wohltaten danken zu können. Sacdi ruft in Erinnerung, dass die Menschen zunächst für die eigene Fehlerhaftigkeit bei Gott um Verzeihung bitten sollen, denn dessen Huld ist so groß, dass er selbst den Sündern das tägliche Brot nicht entzieht (ebenda). So ist dieser Text durchaus geeignet, nicht bei der Erklärung des Bösen stehen zu bleiben, sondern positivistisch das Vorhandensein des Guten aus der Selbstverständlichkeit heraus zu neuer Wertschätzung durch die Schüler zu führen. Denn die ständige Wohltat des Selbstverständlichen überwiegt in jedem Fall die Leiden, welche den Menschen heimsuchen können. 10 Grobskizze einer Schulstunde zur Vorrede Sacdis Dieser Text eignet sich sowohl als Weiterführung der Thematik des Bösen wie auch als Einstieg in das gleiche oder in ein ähnliches Themenfeld, wie Dankbarkeit und Dienst zu Ehren Gottes im Islam. Schüler fragen durchaus, warum sie Gott überhaupt dankbar sein und ihm dienen sollten. Darauf zu verweisen, dass er es befohlen hat, ist zwar inhaltlich richtig. Es spricht aber einiges dafür, sich an den Rat der großen Weisen aus dem Herzen der islamischen Kulturgeschichte zu halten und den Schülern mehr zu verraten. Auch wenn es sicher Schüler geben mag, die durch Lyrik schlecht oder gar nicht erreichbar sind, so ist es doch den Versuch wert, besonders diejenigen unter den Schülern einer Klasse zu erreichen, die sich durch sufisch-lyrische Texte ansprechen lassen. Das Potenzial, sich ein Verständnis dieser Texte zu erschließen, hat prinzipiell jeder Schüler, auch wenn es bei dem einen oder anderen verdeckt sein mag. Zur Planung der Stunde (in diesem Fall, wegen der Kürze des Textes, nur eine Schulstunde) bieten sich wieder mehrere Möglichkeiten der Herangehensweise an, die wieder von verschiedenen Fragen abhängen wie: a) Wie ist die Klasse bis dahin einzuordnen? Ist es eher eine ruhige, unruhige, diskussionsfreudige oder eher stille Gruppe? Nehmen nur einige wenige an den Diskussionen teil oder eine größere Anzahl von Schülern? b) Soll der Text nur als Fortsetzung zum Thema des Bösen gelesen werden oder auch als Einstieg in das Thema Dankbarkeit Gott gegenüber bearbeitet werden? Wenn wir aber davon ausgehen, dass dieser Text als Vertiefung des besprochenen Themas gelten soll, könnte die Stunde wie folgt aufgebaut sein: Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Die Lehrkraft fragt die Schüler, welche Gründe ihnen einfallen, Gott gegenüber Dankbarkeit auszudrücken. Die spontanen Einfälle der Schüler werden von der Lehrkraft an der Tafel gesammelt (ca. 8 min). Die Lehrkraft teilt den Text von Sacdi aus und lässt ihn von den Schülern vorlesen (ca. 2 min). Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die einfache Tatsache, dass bereits das Ein- und Ausatmen, wie im Text beschrieben, Dankbarkeit Gott gegenüber zur Folge haben müsste, für die Schüler ein völlig neuer Aspekt sein. Unter diesem Eindruck sollen sie nun eine kurze Besinnung verschriftlichen mit der Überschrift: Ich bin Gott dankbar, weil… (ca. 10 min). Einige Schüler können nun ihre Notizen vorlesen (ca. 7 min). Der Rest der Stunde soll noch einmal für die Aufarbeitung der in den vorangegangenen drei Stunden durchgenommenen Themen Das Böse und Dankbarkeit gegenüber Gott genutzt werden. Die Schüler sollen in einer offenen Diskussion miteinander abwägen, ob sie die Nachteile durch die Existenz des Bösen höher einstufen oder die Vorteile all der Gnadengaben Gottes, die zur Dankbarkeit verpflichten. Im Klartext, die Schüler sollen sich in diesem Zusammenhang in differenziertem Denken üben, in dem sie z.B. durch die besprochenen Unterrichtsinhalte erkennen können, dass die Existenz des Bösen im Großen und Ganzen der Sichtbarwerdung des Guten dient, da die Existenz des Guten ohne das Böse nicht möglich wäre. Im Optimalfall erkennen die Schüler, dass es Gott gegenüber ungerecht ist zu klagen, solange ihm nicht hinreichend Dank für seine Wohltaten ausgesprochen oder entgegengebracht worden ist. Seite 38 Da die besprochenen Themen einen gewissen Tiefgang aufweisen, ist es ratsam, nach einer Pause (in einer Doppelstunde) mit einem anderen, etwas „leichteren“ Thema fortzufahren, damit sich das Erarbeitete setzen kann. Trotzdem bietet es sich an, den besprochenen Themenkomplex noch um eine Nuance zu erweitern, was im Folgenden erläutert werden soll. 11 Die Gutes bewirkende Lüge nach Sacdi Eine weitere Möglichkeit der Vertiefung der Frage nach dem Bösen bietet ein weiterer Text Sacdis. Es ist die berühmte erste Geschichte im „Rosengarten“ und behandelt die Frage, ob eine Lüge wirklich in jedem Fall böse ist, oder ob sie in Form einer Notlüge nicht sogar Gutes bewirken kann. Es kommt nicht selten vor, dass auch schon die jüngeren Schüler danach fragen, wann sie lügen dürften (und übrigens nicht, ob sie lügen dürften): „Einst war ich zugegen, als ein König den Befehl zur Hinrichtung eines Kriegsgefangenen gab. Als dieser Unglückliche sich in seiner verzweifelten Lage sah, fing er an, in seiner Muttersprache Schmähungen und Lästerungen gegen den König auszustoßen. Denn wie sagt das Sprichwort? Wer keine Hoffnung mehr für sein Leben hegt, der sagt alles, was er auf dem Herzen trägt. […] Der König fragte, was das bedeute. Ein edel gesinnter Wesir aus seinem Gefolge antwortete: O Herr, er sagt: Bei denen, die ihren Zorn unterdrücken und den Menschen verzeihen! Allah liebt die Gütigen! Da hatte der König Mitleid mit ihm und schenkte ihm das Leben. Ein anderer Wesir aber, der jenem edel gesinnten Wesir nicht wohlgesonnen war, meinte: Für Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Da runzelte der König die Stirn über diese Rede und sprach: Mir hat die Lüge, die ich gehört habe, besser gefallen als die Wahrheit, die du gesagt hast. Leute unseres Standes ziemt es sich nicht, vor dem König die Unwahrheit zu sagen. Jener Kerl nämlich hat den König geschmäht und unziemliche Worte gebraucht. Da runzelte der König die Stirn über diese Rede und sprach: Mir hat die Lüge, die ich gehört habe, besser gefallen als die Wahrheit, die du gesagt hast. Jene beabsichtigte etwas Gutes, diese aber ist aus Bosheit hervorgegangen. Und viele Weise haben übereinstimmend festgestellt, dass eine Lüge, welche Gutes bezweckt, besser sein kann als eine Wahrheit, hinter der sich Unheil verbirgt“ (a.a.O., 25). Diese Anekdote zeigt eindringlich die Komplexität des Themas auf. Das Böse und das Gute sind eben nicht immer so einfach in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Besonders nicht, wenn Wahrheit und Lüge ideologisiert werden und nur die äußere Wahrheit und Lüge beachtet wird. Der Gesandte Gottes Muhammad hat gesagt: „Alle Taten werden nach der Absicht beurteilt...“ (zu finden in den Vierzig Hadithen nach Imam Nawawi). Und genau dieser Sinnspruch wird hier auf die beste Art und Weise bestätigt. Für das vorliegende Thema aber ist besonders festzuhalten: Es gibt Situationen, in denen verhilft die Lüge zur Wahrheit in ihrem Sinne des Guten. Von daher dient diese Geschichte wie Seite 39 kaum eine andere als Impuls zum Lernen von differenzierter Weltwahrnehmung und als Gegengift für Paragraphenreiterei und den Wortwörtlichkeitsfetischismus mit Blick auf die Schriftexegese. Der Begriff der Notlüge, genauer der „Gutes bewirkenden Lüge“ (dorughe maslahat amiz) ist im Persischen bis heute nicht zufällig ein häufig benutzter Begriff; wer des Persischen mächtig ist, weiß auch, woher dieses geflügelte Wort stammt. Und ebenfalls nicht ohne Grund begegnet diese Geschichte einem jeden iranischen Schüler in seiner Laufbahn mindestens einmal in seiner Schulkarriere. Sie sollte eigentlich verpflichtend auch jedem Schüler hierzulande nahegebracht werden, ob im Religions-, Ethik- oder sonstigen Unterricht. Schließlich ist es wohl für jeden jungen Menschen eine der großen Fragen, unter welchen Voraussetzungen eine Lüge erlaubt sein kann, anstatt immer nur auf dem abstrakt Prinzipiellen zu beharren. 12 Grobskizze einer Schuldoppelstunde zu Sacdis Text zur Lüge im Guten Der Begriff der Notlüge, genauer der „Gutes bewirkenden Lüge“ (dorughe maslahat amiz) ist im Persischen bis heute nicht zufällig ein häufig benutzter Begriff; wer des Persischen mächtig ist, weiß auch, woher dieses geflügelte Wort stammt. Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts Wie könnte nun eine Stunde aussehen, die dieses behandelt? Auch hier gilt, dass die konkrete Planung von einigen Faktoren abhängig ist. Deshalb soll hier eine der Möglichkeiten dargestellt werden, wie der vorangegangene Text in einer Doppelstunde bearbeitet werden könnte. Die Lehrkraft teilt die Klasse in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe soll die Meinung begründen, warum das Lügen generell schlecht und abzulehnen sei, und die andere Gruppe soll die Ansicht verteidigen, dass das Lügen erlaubt sein kann und in manchem Fall sogar moralische Pflicht ist. Bevor die Diskussion beginnt, sollen sich die Schüler in Zweier-, Dreier-, oder Vierergruppen zusammensetzen und Argumente für den jeweiligen Standpunkt sammeln. Für das Sammeln der Argumente können ungefähr 10 Minuten und für die Diskussion 10-15 Minuten vorgesehen werden. Für die Diskussion sollten entweder ein Hufeisen, ein Kreis oder zwei sich gegenüberliegende Tischreihen gebildet werden, so dass sich alle Schüler direkt sehen können. Während der Diskussion sammelt die Lehrkraft die Argumente beider Seiten (entweder in einem Heft oder an der Tafel), um gegebenenfalls nachzuhaken. Anschließend sollen die Schüler ihren eventuell nach der Diskussion differenzierten Standpunkt in einem kurzen Exposé zusammenfassen (Bearbeitungszeit ca. 10 min) und das danach auswahlweise vortragen. Allerdings sollte dieser Teil höchstens 10 – 15 Minuten einnehmen und danach eine kurze Pause eingelegt werden. Im nächsten Schritt sollen die Schüler den Text von Sacdi zur Lüge im Guten erst im Stillen und dann noch einmal laut lesen (Bearbeitungszeit ca. 10 Minuten). Im Anschluss soll unter dem Eindruck der neuen Anregungen nochmals diskutiert werden, dieses Mal allerdings ohne feste Gruppeneinteilung. Die Schüler sollen in diesem letzten Arbeitsschritt noch einmal ihre vor der Stunde gedachten Überzeugungen bestätigen, festigen oder aber kritisch hinterfragen. Ziel ist es, den Schülern Fingerspitzengefühl und die Fähigkeit nahezubringen, zu differenzieren. Außerdem sollen sie lernen, von absoluten Lösungsansätzen und Denkweisen zumindest ein Stück weit, wie sehr es in einer Doppelstunde möglich ist, Abstand zu nehmen. Dazu sind sicher auch, Seite 40 2 Da diese Texte nach knapp achthundert Jahren noch immer rezipiert werden und sich auch heute steigender Beliebtheit erfreuen, gibt es gute Gründe zur an den Text angelehnt, Anregungen seitens der Lehrkraft sinnvoll. Eine sinnvolle Frage wäre: Könnt ihr Euch vergleichbare Situationen vorstellen, in denen eine Lüge, die Gutes bewirkt im Sinne der tieferen Wahrheit, sogar zur Pflicht werden kann? Sowohl als Muslime, als auch nach allgemeingültigen Werten als Mensch, sollen die Schüler in die Lage versetzt werden, durch die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Legitimität oder Illegitimität einer Lüge bzw. Notlüge nach dieser Doppelstunde intensiver das Schema des Schwarz-Weiß-Denkens zu überdenken. Für den Diskussionsteil sollte der Rest der zweiten Stunde veranschlagt werden. Auch hier empfiehlt es sich, einen Stuhlkreis zu bilden oder auf den Teppich zu gehen. positiven Annahme, sie für den Unterricht nutzen zu können. Ramin Massarrat: »Das Böse« als Thema des islamischen Religionsunterrichts 13 Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde das Problem des großen und immer jungen Themas des „Bösen“ im Zusammenhang mit religiösen Diskussionen erarbeitet. Die Frage, wie der gütige und liebende Gott gleichzeitig Böses zulassen kann, bewegt seit alters her die Menschen und ist bis heute wohl eines der meistdiskutierten Gesprächsthemen der Menschheit. Mit Sicherheit aber ist es eine der Fragen, an der sich auf Gott Ausgerichtete und atheistisch Eingestellte unterschiedlich abarbeiten. Hier scheint eine Art Trennlinie zu verlaufen. In den ersten Kapiteln wurde hervorgehoben, dass die Einwände gegen die Existenz eines gütigen Gottes im christlichen Kulturkreis wie auch in der innerislamischen Diskussion nicht unbekannt sind. In den anschließenden Kapiteln wurde aufgezeigt, dass in der populären sufischen Literatur und Dichtung der islamischen Welt Texte vorhanden sind, die sich eignen, im Unterricht eingesetzt zu werden. Beispielhaft wurden hier Texte der persischen Dichtung, etwa Maulana und Sacdi ausgesucht; es schlossen sich grobe Skizzen für die Planung von Schulstunden an. Dieser Beitrag wollte weder den Anspruch erheben, die Thematik in ihrer umfassenden theologischen, philosophischen oder literarischen Diskussion aufzuzeigen. Es war auch nicht die Absicht, hier den einzig gangbaren Lösungsweg anzubieten. Allerdings sind einerseits die vorgestellten Meinungen durchaus exemplarisch für die vorherrschenden Ansichten, und andererseits war das Ziel ohnehin ein anderes: Es sollten für den Unterricht gute und verständliche Texte als Grundlage zur Beantwortung essenziellster Schülerfragen vorgestellt werden. Da diese Texte nach knapp achthundert Jahren noch immer rezipiert werden und sich auch heute steigender Beliebtheit erfreuen, gibt es gute Gründe zur positiven Annahme, sie für den Unterricht nutzen zu können. Ein durchaus erstrebenswertes Ziel für die Zukunft wäre außerdem, in Projekten gemeinsam mit Klassen aus anderskonfessionellem Unterricht sowie des Ethik-Unterrichts die hier vorgestellten Texte mit einzubringen und im interreligiösen Dialog Akzente zu setzen. So könnten der Gedankenaustausch zwischen den Schülern der verschiedenen Religionen bzw. Weltanschauungen angestoßen und dabei neue, interessante Dialogthemen erschlossen werden. Seite 41 Harry Harun Behr unter Mitarbeit von (in alphabetischer Reihenfolge) A. Ahmed, Sr. Ancilla, Sr. Angela, Sr. Cornelia, M. Dawam, H. Galal, M. Ghattas, R. Grätz, H. Hefni, W. Höhl, N. Krinziner, S. Mahgoub, A. Matyba, A. Ohnheiser, R. Petereit, F. van der Velden „Nehmt mich ruhig ran!“ Bericht zu einem interreligiösen und fachdidaktischen Seminar an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Giza/Kairo Das Setting Unter diesem Motto, das auf eine Textstelle des Korans verweist, fand vom 7. bis 9. Oktober 2008 in den Räumlichkeiten der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo eine regionale Fortbildung für sechzehn Deutsch sprechende Lehrkräfte mit unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten statt. Die Besonderheit: Diese Lehrkräfte versehen an Deutschen Schulen in vom Islam geprägten sozialen Kontexten ihren entsprechenden Religionsunterricht, zum Beispiel in Istanbul, Alexandria oder Kairo; andere lehren an deutschen Schulen in Beirut, Damaskus, Amman oder Teheran. Die Fortbildung wurde geleitet von Prof. Dr. Harry Harun Behr (Islamische Religionslehre, Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre, Universität Erlangen-Nürnberg/Deutschland) und gemeinsam mit Frank van der Velden, (Deutsche Schule der Borromäerinnen, Deutsche Evangelische Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Oberschule in Kairo), durchgeführt. Die Kurssprache war Deutsch. Die im Titel erwähnte Textstelle des Korans (4:82) wie auch ähnliche (47:24, 7:179, 39:22) fordern zur aufmerksamen Auseinandersetzung mit den Inhalten des Korans auf; frei und summarisch ins Deutsche übertragen: „Prüft den Koran, denkt über ihn nach, macht euch Gedanken, verschließt euch nicht, öffnet euch – eure Augen sehen, eure Ohren hören, aber es sind am Ende eure Herzen, die verstehen.“ Das Motto lässt sich also durchaus auch als den Hinweis lesen, dass dem Koran nur gerecht wird, wer sich ernsthaft auf die Begegnung mit ihm einlässt – dies durchaus in guter Streitkultur, aber auch mit dem notwendigen Takt, wie es in den einschlägigen arabischen Attribuierungen zum Ausdruck kommt: ahsan – auf die beste Art, ablagh – auf gehobenem Niveau, und ahkam – mit der Kraft der Weisheit und der guten Absicht. Immerhin verweist die reiche kulturelle und philosophische Tradition des Islams auch auf den Koran als „Heilige Schrift“ in ihrer ästhetischen Dimension. Das Ziel der Fortbildung war, gemeinsam pädagogische Diskurs- und Handlungsstrategien einer zeitgemäßen und schülernahen Schrifthermeneutik zu erarbeiten und sie im Unterricht mit den 12. Klassen (im Schnitt 25 Schüler, zwei Drittel muslimisch, ein Drittel gemischt) zu erproben. Das besondere Augenmerk lag auf der geschärften theologischen Kontur. Das führt mit Blick auf die interreligiöse Dimension zunächst zu einer Verhältnisbestimmung zwischen dem, was als trennend und was als verbindend wahrgenommen wird. Die subjektive Signatur dieser Verhältnisbestimmung scheint stärker zu sein als ihre jeweilige theologische Objektivierung. Das deutet auf den spezifischen Bereich des interreligiösen Lernens, der sich nicht dadurch bedienen lässt, dass ausreichend über die jeweils „anderen“ religiösen Deutungssysteme referiert wird. Hier ist, wenn religiöses Lernen erreicht werden soll, die originale Begegnung erforderlich – mit allen Risiken, denn zur Originalität solcher Begegnung gehört die gesamte Palette des Zwischenmenschlichen zwischen gesicherter Information und Tageslaune. Die Lerngruppen waren multireligiös zusammengesetzt, da sie im Regelfall im Rahmen des Projekts „Kooperativer Religionsunterricht“ der Deutschen Evangelischen Oberschule unterrichtet wurden (im team-teaching mit den verschiedenen Religionslehrern). Dieser Unterricht feiert inzwischen sein zehnjähriges Jubiläum (siehe den Exkursionshinweis am Seite 42 Die pädagogischen Diskursstrategien haben also auch etwas mit einer Verlangsamung durch persönliche Aufrichtigkeit, Nachdenklichkeit und wissenschaftlicher Sorgfalt zu tun. Ende dieses Beitrags), so dass das Seminar auf einen reichen Erfahrungsschatz seiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufbauen konnte. An der Studiengruppe nahmen muslimische, katholische, evangelische und koptische Lehrkräfte teil – die philosophische und philologische Fraktion des Lehrerzimmers nicht zu vergessen, mithin das kritische Korrektiv säkularer Voten. Zielführend für das gesamte Projekt war das Experiment in seiner interreligiösen Dimension unter besonderer Berücksichtigung heutiger Bildungskontexte – besonders natürlich der schulischen. Aber auch der soziokulturelle Kontext des Gastlandes Ägypten kam nicht zu kurz: Die Schüler, ihre Eltern und die interessierte Öffentlichkeit wurden im Rahmen eines Abendvortrags mit lebhafter Diskussion in das Projekt mit einbezogen. Eine besondere Rolle spielte dabei ein Faktor, der die hier beschriebene Unterrichtskonstellation mitbestimmt und der in den gegenwärtigen Diskursen um bekenntnisorientierten Religionsunterricht noch zu wenig berücksichtigt wird, nämlich eine nicht-islamische Religion im sozialen Kontext einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu unterrichten. Derlei verweist auch auf die generelle soziokulturelle und psychosoziale Lage der Angehörigen der betrof- Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ fenen Religionsgemeinschaften. Dass der Islam eine friedliebende Religion sei, die keine Unterdrückung Andersgläubiger dulde, wollten einige der Seminarteilnehmerinnen den beiden muslimischen Fachkollegen nicht unwidersprochen zugestehen, obwohl die sich redlich mühten. Einige wussten zu berichten, wie sie sich immer wieder der Situation ausgesetzt sähen, von Muslimen pauschal als „Ungläubige“ bezeichnet zu werden. Beide Parteien dieser Interaktion, Christen und Muslime, griffen dabei auf die arabische Vokabel kāfir zu und verwendeten die defizitäre deutsche Übersetzung „Ungläubiger“ (siehe dazu diese Zeitschrift, Heft 3, Jahrgang 2, Juli 2008, Seite 26 ff.). Folglich verfingen sich beide in ihren jeweiligen Fehlkonstruktionen. Aufgabe der Moderation war es, solche grundsätzlichen Konfliktlinien, die sich ja auch unter der multireligiösen Schülerschaft auftun, auf drei Ebenen zu bearbeiten: die vorbehaltlose Berücksichtigung der persönlichen Situation der Betroffenen und ihre wahrgenommenen Lebenswirklichkeiten, die begleitende Informierung durch die korrigierten Lehraussagen aus den jeweiligen religiösen Systemen und drittens die Diskussion möglicher Führungsstrategien, und zwar sowohl hinsichtlich der persönlichen Situation wie auch der professionellen: Welche pädagogischen Handlungsstrategien greifen in diesem Fall im Unterricht? Die besondere Herausforderung des Modells der kooperativen religiösen Beschulung liegt nicht zuletzt auch darin, dass prekäre Anfragen wie die nach der Verhältnisbestimmung von muslimischer Mehrheit und nicht-muslimischer Minderheit zum Beispiel ad hoc aus dem Unterrichtsdiskurs hervorgehen können. Sie erwischen die Lehrkraft dort, wo zunächst eine gründliche Recherche anstünde. Die pädagogischen Diskursstrategien haben also auch etwas mit einer Verlangsamung durch persönliche Aufrichtigkeit, Nachdenklichkeit und wissenschaftlicher Sorgfalt zu tun. Im Religionsunterricht der höheren Jahrgangsstufen geht es bevorzugt um die jugendlichen Fragen des Menschseins, nach der Welt und nach Gott. Auch das Ringen um einen trag- und konfliktfähigen Modus des Zusammenlebens in der globalen, religiös pluralen Zivilgesellschaft ist Thema. Dabei wird von Seiten der betroffenen Schüler die urbane Mitgesellschaft Kairos als in religiöser Hinsicht offener wahrgenommen, als das in den Medien außerhalb dieses Raums seinen Niederschlag findet. Zu berücksichtigen ist da- Seite 43 bei aber, dass die in Rede stehende Klientel aus den gehobenen Schichten der Stadt stammt, die schon vom Grundsatz her als weltoffener und kosmopolitischer eingestellt gelten. Allein von der Sachkenntnis und der Allgemeinbildung, aber auch hinsichtlich der Fähigkeit zum philosophischen Gespräch war das allgemeine und fachliche Niveau der 12. Jahrgangsstufen überragend. Das wirft zudem ein besonderes Licht auf die pädagogische Führung der Deutschen Evangelischen Oberschule und die für ein Seminar dieser Art glückhaften Bedingungen vor Ort. Eine Vermutung Die existentiellen, im theologischen und philosophischen Denken wurzelnden neugierigen Anfragen der Schülerinnen und Schüler gründen vermutlich in Prozessen, wie sie auch im katholischen, evangelischen oder islamischen Religionsunterricht in Deutschland und anderswo zu beobachten sind. Für den islamischen Religionsunterricht muss diese Gemeinsamkeit besonders betont werden, da neuerdings die These kursiert, muslimischen Jugendliche seien heute tendenziell konservativer als ihre Eltern, der Islam stelle wegen seiner restriktiven Lehre ein Verständigungshindernis dar und es finde ein Rückzug in die eigene muslimisch-kulturelle Kapsel statt. Das ist überraschenderweise nicht etwa nur ein deutsches Thema. Die Motive von Kulturtransmission im Rahmen von Migration können jetzt nicht diskutiert werden. Aber muslimische Jugendliche (vermutlich weltweit, wie das der Verfasser gegenwärtig nur impressionistisch anzeichnen kann) greifen für den religiösen Selbstentwurf derzeit auf Alternativen zur kulturellen Selbstvergewisserung zu. Wenn es darum geht, Muslim zu sein, stehen andere Dinge im Vordergrund als die vermeintliche Kugelverfasstheit der Alltagskul- Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Zu beobachten ist, dass weniger die klischeehaften Marker „kultureller“ oder „religiöser“ Identitäten zutage treten, sondern bestimmte, im Kern rationale Merkmale der Person. tur des „Eigenen“. Zu beobachten ist, dass weniger die klischeehaften Marker „kultureller“ oder „religiöser“ Identitäten zutage treten, sondern bestimmte im Kern rationale Merkmale der Person. Das gilt auch für ihre relationalen Merkmale. Gemeint sind damit die Perspektiven der sozialen Selbstverortung, des Standpunkts und der Bewertung sowie des Handelns. Die hier angesprochenen Faktoren von Identität scheinen eher netzwerkgebunden zu sein als rein an die Ethnie, die Religionsgemeinschaft, die Sprachgemeinschaft oder die Nation. Zu beobachten ist außerdem, dass die sozialen Bindungen jugendlicher Muslime pluraler werden, ihre jeweiligen Intensitäten variabler, die horizontale Mobilität im topografischen Raum größer, die vertikale Mobilität im sozialen Raum durchlässiger und somit der primäre Quartierbezug – Kreuzberg in Berlin oder Muhandisin in Kairo – schwächer. Das setzt allerdings die Auswahl- und Ausweichmöglichkeiten des urbanen Raums voraus, die Kairo inzwischen zweifelsfrei bereit hält. Kurzum: Religiös zu sein bestimmt sich nicht mehr nur allein durch Herkunft und Zugehörigkeit, sondern durch den Selbstentwurf des Subjekts, will heißen: durch die Reformulierung von Religion und ihre aktive Aneignung. Seite 44 Das kann von religiösen Gemeinschaften als Herausforderung wahrgenommen werden, vor allem wenn das mit der Befürchtung gepaart ist, die nachrückende Generation an anderes als das Eigene zu verlieren. Das führt immer wieder zu der Frage zurück, wie religiöse Gemeinschaften eigentlich mit dem umgehen, was sie selbst als ihre Tradition, als ihr genuin Eigenes betrachten. Diese Anfrage kann sich durchaus kritisch gestalten, vor allem wenn mit den religiösen auch soziale Fragen verbunden sind. In diesem Zusammenhang spielt die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Zentralschrift eine herausragende Rolle, da sie von protektionistischer wie progressiver Exegese gleichermaßen in Anspruch genommen wird. Die Hermeneutik stellt also für die Methodik und Didaktik des Religionsunterrichts insofern eine besondere Herausforderung dar, als schriftreligiöse Motive zu regelleitenden Prinzipien für das Handeln werden können – im Guten wie im Schlechten. Mit Blick auf den Stellenwert des Korans als Schrift in muslimischer Selbstwahrnehmung lässt sich erahnen, dass sich das für die Didaktik als Entscheidungs- und Führungswissenschaft des islamischen Religionsunterrichts noch einmal um Grade verschärfen kann. Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Der Seminarverlauf Mit Blick auf den Stellenwert des Korans als Schrift in muslimischer Selbstwahrnehmung lässt sich erahnen, dass sich das für die Didaktik als Entscheidungs- und Führungswissenschaft des islamischen Religionsunterrichts noch einmal um Grade verschärfen kann. Im Mittelpunkt des ersten Fortbildungstages stand eine exemplarische Einführung in zentrale Elemente der Koranerschließung: die historischen und kulturräumlichen Bedingungen seiner Entstehung, seine theologische Stellung im Gesamtgefüge des Islams als Lehre sowie sein literarischer Charakter als Dokument spezifischer Sprechersituationen und den damit verbundenen Verhältnisbestimmungen zwischen Mensch und Gott, Subjekt und Gemeinschaft, Glaube und Tat, Glück und Leid, Welt und Kosmos oder Leben und Tod. Einer besonderen Klärung zugeführt wurde dabei die Prophetologie des Korans: Die Dramaturgie seiner prophetischen Erzählungen beleuchtet zunächst, und zwar ungeachtet der theologischen Hermeneutik, wie in der Zeit Muhammads auf die damals vorfindlichen, mündlich tradierten oder in anderem Schriftgut vorhandenen altprophetischen Gestalten zugegriffen wurde, etwa im Sinne einer „primären Korrelation“. Vereinfacht ausgedrückt: Wie der Koran von Noach berichtet, offenbart zuerst etwas über Muhammad und seine Situation. Beispiel: In Sure 11 („Hūd“) wird von Vers 25 bis Vers 49 die Noachgeschichte entfaltet; die Erzählung wird einmal in Vers 35 durch eine auf Muhammad bezoge- ne Interjektion unterbrochen, dann weitergeführt und am Ende in Vers 49 wieder auf Muhammad projiziert. Daraus resultiert eine doppelte, „sekundäre Korrelation“ des heutigen Zugriffs auf diese Geschichte: zum einen Noach und sein Disput mit seinem Volk, zum anderen Muhammad und sein Disput mit seinen Widersachern – den eigentlichen Adressaten der Erzählung. Mit Blick auf Prophetie wurde im Seminar vereinbart, vergleichbare Beispiele aus der Bibel parallel zu führen. Es ging nicht um hermeneutische Prinzipien im Allgemeinen, sondern um die Formulierung und Hierarchisierung solcher Auslegungskriterien, die das Fachprofil von Religionsunterricht im Rahmen des gesamten schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags mitbestimmen. Es zeigte sich, dass dieser pragmatische Rahmen auf die theologische Diskursführung einen disziplinierenden Effekt hatte, was sich auch auf die interreligiöse Kommunikation in der Gruppe auswirkte: Die Seminarteilnehmer sahen sich durch die Zielvorgabe eines gemeinsam durchzuführenden Unterrichtsbeispiels in die Situation gestellt, sich ganz im Habermasschen Sinne über gemeinsame Erkenntnisse und Interessen zu verständigen. Das ging nur, indem schrittweise auf apologetische Seite 45 Zwischenrufe verzichtet wurde – ein erfahrungsgestützter Lernprozess, der vor allem in einem multireligiös angelegten, kooperativ geführten Religionsunterricht wie in den oberen Klassen an der DEO in Kairo zur tragenden Säule wird. Dadurch wird, das beunruhigt die Alteingesessenen vielleicht, das Selbstverständliche zum Zustimmungspflichtigen. Aber genau dieses Spannungsverhältnis tritt dem Schriftinterpreten auch als eine grundlegende dramaturgische Linie aus Bibel oder Koran entgegen. Durch die ideologisch motivierte Vereinseitigung von Schriftaussagen, mit der versucht wird, dem aus dem Wege zu gehen, wird diese Spannung noch erhöht. Die Schülerinnen und Schüler nehmen diese Spannung (Religion in den Medien, in sozialen Netzwerken, als Gegenstand politischer Diskurse…) vergleichsweise sensibel wahr; sie haben deshalb viele Fragen. 12. Klassen gehalten; die Gruppen entschieden selbst, welche ihrer Mitglieder im Team den Unterricht durchführten. Im Anschluss an den Unterricht zogen sich die Seminarteilnehmer zu einer stillen, individualisierten Feeback-Einheit zurück, deren verschriftlichte Ergebnisse die Grundlage für das offen diskutierte Feedback tags darauf in der gesamten Seminargruppe bildeten. Zwischenfazit Die Hermeneutik Heiliger Schriften stellt für die Methodik und Didaktik des Religionsunterrichts eine besondere Herausforderung dar. Schon in den Binnendiskursen der jeweiligen Theologien werden nicht nur Unterschiede in der methodischen Herangehensweise, sondern auch in der religiösen und kulturellen Erfahrung und in der Weltwahrnehmung sichtbar. Am dritten Seminartag schlossen sich Auf der Ebene des interreligiösen Ausan die detaillierte Auswertung einige tauschs wird zusätzlich deutlich, dass Referate zur Allegorese (vom Wort sich solche Unterschiede apologetisch, zum Sinn), zum Johannes-Prolog also auf die Abwehr des anderen (Logos-Theologie und die Hermereligiösen Systems orientiert zuspitzen neutik des Zweiten Testaments) und lassen. Sie können aber auch gegen zur Moses-Konstruktion (Prophetodie vermeintlich häretische Konzeplogie und Historizität) an. Zum Abtion innerhalb des eigenen Systems schluss führten die Veranstalter eine und der eigenen Gemeinschaft gestandardisierte Evaluation durch. In richtet sein. Als eine Gemeinsamkeit einem öffentlichen Abendvortrag am der besonderen Art trat außerdem zu letzten Seminartag in der DEO stell- Tage, dass sich die Vertreterinnen und te der Referent interessierten Eltern, Vertreter einer Sinn stiftenden und Schülern und Lehrkräften islamisch- auf Verständigung gerichteten SchriftDer zweite Seminartag entspann sich theologische Konzeptionen zu Fragen auslegung heute einer neuen Lust am um die Entwicklung und die Durch- der religiösen Identität muslimischer Rigorosen gegenüber sehen, gleich führung zweiter Unterrichtsentwürfe, Schülerinnen und Schüler vor. welcher Religionszugehörigkeit. zu Sure 5 im Koran und zum GleichDa wird bevorzugt nach der wortnis vom verlorenen Sohn in der wörtlichen Schriftgestalt geschielt Bibel. Zur praktischen Umsetzung und das verlockende Angebot einer wurde das Seminar in zwei Gruppen vereinfachten Weltsicht gemacht. eingeteilt, die jeweils religiös heteHier predigen die üblichen Verdächrogen zusammengesetzt waren. Die tigen: die Guten gegen die Bösen, beiden Unterrichtsstunden (je 90 der Osten gegen den Westen und die Minuten) wurden parallel in zwei wahre gegen die falsche Religion. Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Als eine Gemeinsamkeit der besonderen Art trat außerdem zu Tage, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter einer Sinn stiftenden und auf Verständigung gerichteten Schriftauslegung heute einer neuen Lust am Rigorosen gegenüber sehen, gleich welcher Religionszugehörigkeit. Seite 46 Das plurale Religionsverständnis ist dabei nicht nur Erfordernis der interreligiösen Begegnung, sondern auch des Umgangs innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft sowie der Duldsamkeit des religiösen Subjekts gegenüber sich selbst. Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Der kooperative Religionsunterricht hält dagegen und bietet die Chance, die wirkliche Begegnung einzuüben. Wozu? Um den religiösen Selbstentwurf nicht an Hand der Schwächen des Gegenübers und auf dessen Kosten zu errichten. Damit wird die Begegnung natürlich auch zum Risiko. Hier aber gilt: Wer wagt, gewinnt. Der Unterricht kann seine einzigartigen Chancen nämlich nur dann entfalten, wenn er dabei hilft, auch die eigene religiöse Mitte zu finden und zu stärken. Das plurale Religionsverständnis ist dabei nicht nur Erfordernis der interreligiösen Begegnung, sondern auch des Umgangs innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft sowie der Duldsamkeit des religiösen Subjekts gegenüber sich selbst. Die inhaltliche Rahmung Die Textarbeit in den Gruppen, die dann auch den Unterricht vorbeIm Verlauf des Seminars wurden, reiteten, entwickelte sich um die auch auf der Grundlage der persönfolgenden Passagen: Psalm 36 und lichen Erfahrungen der Teilnehmer, Sure 24 (ein Praxisbericht aus einem die folgenden grundsätzlichen Span- jesuitisch-muslimischen Wortgottesnungsfelder beschrieben, die ihren dienst); der Umgang mit kritischen jeweiligen Einfluss auf die SchriftTexten und ihrer Interpretation/ auslegung entfalten: 1) christlich und Korrelation (sog. Gewaltpassagen muslimisch (theologisch, theologiewie in Sure 5 und im AT, Josua); ein geschichtlich), 2) ägyptisch-christlich Praxisbericht über den Umgang mit und ägyptisch-muslimisch (kulturden beiden Schutzsuren des Korans räumlich), 3) arabisch und nicht-ara- (113, 114) in einer 9. Klasse einer bisch (philologisch) sowie 4) östlich Nürnberger Realschule (Islamischer und westlich (ideengeschichtlich, Religionsunterricht); Sure 31 des Koideologisch). Vor diesem Hintergrund rans und die Entwicklung des Motivs wurde auch die Schrifthermeneutik eines „authentischen Sprechers“. in den verwendeten Lehrwerken Von den Teilnehmerinnen und (Unterrichtsmaterialien, SchulTeilnehmern wurde dazu verlangt, bücher) in den Blick genommen. die zahlreichen in der Literaturliste Dabei wurden konkretere Elemente angegebenen Texte zu lesen, die eigereligiöser Sinnkonstruktion diskunen Erfahrungsberichte zu verschrifttiert, die ihrerseits Spannungspole lichen, eigene Lehrmaterialien auf darstellen, zum Beispiel zwischen a) die Frage von Schrifthermeneutik hin Wortwörtlichkeit und Sprachbild zu sichten und je ein persönliches (inkl. Übersetzungsproblematik), b) Exemplar einer deutschen Koranreligiöser Fachsprache und Alltagsübersetzung und einer deutschen sprache (Begriffsbildung), c) erinBibelübersetzung bereitzuhalten. nerter Geschichte und politischer Wirklichkeit, d) idealisierter Rolle und sozialer Wirklichkeit, e) Elternund Kindgeneration, f ) kulturellem Beharren und religiösem Aufbruch, g) Glaubensgewissheit und Kritik, h) Abwehr und Neugier sowie i) Vision und Alltagsbewältigung (christlichmuslimisches Zusammenleben). Seite 47 Der Problemfall szenisches Spiel In diesem Zusammenhang wurde eine Frage angeschnitten, wie sie immer wieder auch von muslimischen Lehrkräften oder Studierenden des Fachs Islamischen Religionslehre in Deutschland gestellt wird: Wie weit darf gegangen werden in der szenischen Umsetzung von Korantexten? Kennen muslimische Kinder Theaterspiele zu Texten aus dem Koran? Gibt es szenische Darstellungen, die selbständige Deutungen erlauben? Die Annahme ist: Prophetengeschichten werden normalerweise erzählt, aber nicht dargestellt, da das im Islam nicht üblich oder sogar verboten sei. Allerdings sei bekannt, dass zum Beispiel in Indonesien die Tradition des Schattenspiels oder der Darstellung mittels Handpuppen mit islamischen Elementen verwoben wird. Als Problem wurde dabei weniger die Frage der religiösen Erlaubnis, sondern eher die der Umsetzbarkeit erkannt. Die eigentliche Herausforderung war nämlich, dass der Koran szenisch schwer darzustellen ist, da die Anzahl der Dialoge begrenzt ist. Überwiegend werden Kerninhalte entwickelt, die durch einzelne Sprecher vermittelt werden, und die szenische Gestaltung scheitert oft schon an den reduzierten Informationen zu den Personen, der Verortung und der Dramatisierung. Zudem orientieren sich die Strukturprinzipien koranischer Geschichten nicht an der Chronologie der Ereignisse, sondern an der ihnen innenwohnenden Typik. Die entscheidende Frage, inwieweit dramaturgisch notwenige Ergänzungen vorgenommen werden dürfen, um das aufzufangen und eine inszenierbare Episode zu entIn den 80er Jahren entstanden Ansät- falten, oder inwieweit die Dramatize im asiatischen und afrikanischen sierung alternative Ereignisverläufe Raum, islamische Prophetengeund deren Diskussion gestattet ist, schichten entsprechend darzustellen, muss wohl vorerst in der Verantwas einen Streit unter einigen muswortung der Lehrkraft und ihrem limischen Religionsgelehrten über Gespür für das Machbare bleiben. die Zulässigkeit auslöste. Die Motive dieser Aktionen waren zum einen in der islamischen Dacwa begründet, zum anderen in von den Regierungen initiierten Aufklärungskampagnen Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Die Durchführung gemeinsam geplanten Unterrichts im Rahmen der Gesundheitserziehung oder des Umweltmanagements. Die eigentliche Herausforderung war nämlich, dass der Koran szenisch schwer darzustellen ist, da die Anzahl der Dialoge begrenzt ist. Folgende Praxisteile fanden Eingang in den Unterricht: A. Die Texterschließung der Verse 23 bis 58 aus der 5. Sure des Korans mit Schwerpunkt auf den Versen 32 bis 33; B. das Gleichnis vom Barmherzigen Vater in Lukas 15. Die Textstelle der 5. Sure verweist auf Kain und Abel und ist in etwa nach dem Schema Präambel, Grundsatz und Ausführungsbestimmung aufgebaut. Insbesondere Vers 32 ist nach dem 11. September 2001 immer wieder bemüht worden, um die religiöse Legitimation von Gewalt sowohl zu begründen als auch zu widerlegen. Im Seminar wurden die biblischen Texte Exodus 20 und 21 sowie Matthäus 5 dazu in Bezug gesetzt, um die Ambivalenzen des Textbefunds als generalisierbares Phänomen zu veranschaulichen. Die in der Gruppe B avisierte Unterrichtseinheit ging von der Idee aus, sich auch in einer religiös gemischten Lerngruppe an eine szenische Umsetzung mit Dialogen aus der biblischen oder koranischen Tradition heranzuwagen, die es möglich macht, einen alternativen Ausgang der Geschichte aufzuzeigen. Im Vorfeld allerdings diskutierten die Seminarteilnehmer Seite 48 intensiv über die Frage, inwieweit dieser Zugang für die unterrichtliche Bearbeitung von Geschichten aus dem Koran zur Verfügung stehe – oder aber gegen die religiöse oder kulturelle Etikette des Islams verstoße. Dabei konnte geklärt werden, dass hier weder theologische noch religionspädagogische Gründe für einen restriktiven Umgang ins Feld werden könnten. Allerdings sei man, nicht zuletzt auch mit Blick auf das nähere Umfeld, sehr wohl mit den Vorbehalten vieler Muslime vertraut. Deshalb wurde beschlossen, nicht gleich mit einer Erzählung des Korans zu beginnen, sondern sich zuerst an christlich-religionspädagogische Erfahrungen zu halten, diesen Zugang einmal exemplarisch an einem biblischen Text aufzuzeigen und dann mit allen Schülern darüber ins Gespräch zu kommen, wie sie das mit Blick auf ihre jeweils eigenen religiösen Traditionen bewerten. Als Bewertungsimpulse dienten zum einen die in den Schülergruppen erarbeiteten alternativen Erzählverläufe (zum Beispiel der Vater verzeiht nicht). Zum anderen kamen die „Anwälte der Textadressaten“ zu Wort, die aus den Schülergruppen selbst heraus bestimmt worden waren (zum Beispiel „Wir verstehen nicht, warum der Vater dem Gesetz nicht Genüge tut.“). Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Interreligiöses Lernen: Beobachtungen und erste Erkenntnisse „Es ist ein toller Stil, einmal von solchen Texten aus auf die Fragen zuzugehen, die uns bewegen, und nicht immer nur umgekehrt!“ Als Lernziele im Sinne von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten wurde für den Unterricht formuliert: die interreligiöse Kompetenz durch die Erfahrung des narrativen Wertes von Bibeltexten/Korantexten stärken, die in Beziehung zur Person des Schülers treten; eine gemeinsame Erfahrung von Muslimen und Christen ermöglichen mit Blick auf die Frage, inwieweit die situative Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Gnade zum Regelbruch führen kann; lernen, die Perspektive des „abwesenden Dritten" zu beachten (Was ist ein Gleichnis? Für wen wurden Gleichnisse gemacht? Wer sind die Adressaten? Welche Drittwirkungen haben die Texte in ihren ursprünglichen Sprecherkontexten entfaltet?); der Frage nachspüren, inwieweit vor allem mit Blick auf die Gattung „Heilige Schrift“ vom „Recht des Textes“ auf Unversehrtheit die Rede sein kann; die eingeübten Regeln der interreligiösen Kommunikation beachten. Die Schüler brachten das Thema „Gewalt" von sich aus mit aktuellen Vorgängen um Religion in Verbindung. Originalkommentar: „Es ist ein toller Stil, einmal von solchen Texten aus auf die Fragen zuzugehen, die uns bewegen, und nicht immer nur umgekehrt!“ Einige Schüler versuchten zu begründen, warum sie für einen stärkeren Einfluss der Heiligen Schriften auf die Gesetzgebung votieren würden; die entsprechenden ordnungspolitischen Regelungen sollten den Missbrauch von Religion wirksamer ausschließen. Hieran schloss sich eine Diskussion um die Grundlage von Bibel oder Koran für heutige Verfassungsgegebenheiten an. Wie erwartet entspann sich auch eine Diskussion um die Legitimität der Todesstrafe. Von Seiten einiger Schüler wurde zudem versucht, das AT und das NT in ihrem wechselseitigen Bezug zu trennen und die beiden Textkompendien unabhängig voneinander zu interpretieren. Hier erwies sich als hilfreich für die Debatte, dass die christliche Lehrkraft den Zusammenhang der beiden Kompendien für die hermeneutische Erschließung verteidigte, und zwar am Beispiel des Dekalogs. Damit gelang es ihr, die religiöse Deutung hervorzuheben, die ihrerseits von Seiten der muslimischen Schülerinnen und Schüler aus der eigenen religiösen Perspektive heraus zunächst in Frage gestellt worden war. Derlei authentische IchBotschaften der Lehrenden weckten das Interesse auf Seiten der Schüler besonders nachhaltig, diese Thema- Seite 49 tik im Zuge einer weiter führenden Unterrichtssequenz zu vertiefen. Folgende Beobachtungen wurden während des Unterrichts protokolliert: Die Schüler merkten an, dass sie den Unterricht im Team mit drei Lehrkräften als offen und anregend und nicht etwa als majorisierend empfanden. Die Diskussion war lebendig und diszipliniert. Entscheidend war, dass die Schüler teilweise über erhebliches Vorwissen verfügten, vor allem über die im Koran entfaltete Geschichte um Kain und Abel. Daran ließ sich nachzeichnen, wie wichtig eine differenzierende, religionspädagogisch begründete Lesedidaktik für den Religionsunterricht ist. Eine zweite Säule sind die begrifflich präzisen, gesicherten und prüfbaren Bestände an Information über das religiöse System. Weitere Säulen sind ein konstruktives Diskursklima mit FeedbackOrientierung sowie bestimmte „Echtheits-Faktoren“ wie die theologische Authentizität in der Sache oder die religiöse Grundhaltung der Unterrichtenden (Bekenntnis, Zustimmung, Widerspruch, Nachdenklichkeit, Hoffnung). Wenn diese Dinge gewährleistet sind, überragen die oben angesprochenen Chancen die Risiken, so dass der Kooperative Religionsunterricht religiöses Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Lernen im Sinne von veränderten Einstellungen bewirken kann. Wenn allerdings die hier erwähnten Faktoren, die den Erfolg begünstigen, nicht gegeben sind (die durch den vorangegangenen Unterricht gut informierte Schülerschaft, umfassend ausgebildete Lehrkräfte, die organisatorische und ideelle Unterstützung durch die Schulleitung und das gesamte Kollegium), dann besteht die Gefahr, dass so ein Unterricht dabei hilft, dort Mauern zu errichten, wo sie eingerissen werden sollten. Von welchen Mauern war im Seminar die Rede? Es ging um den Umbau von Religion auf das tribale Format, als Antwort auf die subjektiv wahrgenommenen und kollektiv rückversicherten, nicht aber unbedingt realen Herausforderungen der Globalisierung. Dieser Umbau erfolgt gewöhnlich auf Kosten der universalen Signatur der religiösen Systeme, wenn von Religionen wie dem Judentum, dem Christentum oder dem Islam die Rede ist. Am Ende droht der Ausverkauf von Werten, die im religiös Gebotenen wurzeln und natürlich auf die Gruppe rückbezogen sind, sich aber in der Dimension des Universalen bewähren müssen. Die interreligiöse Begegnung im gemeinsamen Unterricht ist ein solcher Bewährungsraum. Die Seminarteilnehmer gaben diesbezüglich zu Protokoll, dass sie besonders für Jugendliche das Risiko der religiösen und kulturellen Radikalisierung befürchten. Diese Befürchtung bezog sich nicht exklusiv auf muslimische Jugendliche, sondern neben anderen Religionen zum Beispiel auch auf neuere Erscheinungsformen eines sich kämpferisch gebenden Atheismus. Diese Befürchtungen wurden auf die Beobachtung zurückgeführt, dass sich Heranwachsende zwischen 10 und 20 auch jenseits von Religion schon in einer Phase ihres Lebens befinden, in der die anstrengende Konsolidierung konkurrierender Rollenerwartungen gelingen soll. Diskutiert wurde auch, ob es mehr ist als nur eine Impression, wie bereitwillig moderne Gesellschaften ihre eigene Repaganisierung betreiben und dabei in überwunden geglaubte Muster zurückfallen: die radikale Abwehr des Fremden, die Majorisierung von Grundrechten durch einen zunehmend irrationalen Konsens, allgemeiner Wachstumszwang und damit Hand in Hand gehend die aggressive Vermarktung des Menschen. Mensch zu sein drohe dabei randständig zu werden. Solche, die die Gesandten Gottes unterstützen, ohne dafür Lohn zu verlangen, kommen im Koran ja „vom Rande der Stadt“ (36:20), und auch bei Amos sind sie Wenn diese Dinge gewährleistet sind, überragen die oben angesprochenen Chancen die Risiken, so dass der Kooperative Religionsunterricht religiöses Lernen im Sinne von veränderten Einstellungen bewirken kann. Seite 50 „vor den Toren.“ Noch aber sind die Zeiten nicht „so böse, dass der Kluge besser schweige“ (Amos 5,13). Im Gegenteil: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars gingen positiv gestimmt auseinander, ermutigt durch einen klugen interreligiösen Austausch, der sich in guten Unterrichtserfahrungen bestätigte. Womit eine weitere Säule angesprochen wäre, die für das Gelingen solcher Projekte unerlässlich ist: „Sucht das Gute und nicht das Böse, auf dass ihr leben könnt“ (Amos 5,14), „steht ein für das Gute, wehrt das Böse ab und halte euch an Gott“ (Koran 3:110). Harry Harun Behr u. a.: „Nehmt mich ruhig ran!“ Exkursion nach Kairo 8.-16. April 2010 Auf dem Weg zu einer dialogischen Didaktik im christlichen und islamischen Religionsunterricht Tagung, Fachaustausch und Begegnung an der Deutschen Evangelischen Oberschule Die Deutsche Evangelische Oberschule (DEO) Kairo ist eine der großen deutschen Auslandsschulen mit dem Konzept einer Begegnungsschule. Dort wird Religionsunterricht als Kooperationsfach von christlichen und muslimischen Lehrkräften erteilt. 10 Jahre nach Beginn der Projektphase sollen sich LehrerInnen, Studierende und ProfessorInnen des katholischen, evangelischen und islamischen Religionsunterrichts aus Deutschland mit SchülerInnen und FachkollegInnen der DEO Kairo über Chancen und Herausfor- derungen einer dialogischen Didaktik „zwischen“ islamischer und christlicher Religionspädagogik austauschen. Im Zusammenwirken verschiedener Phasen der Lehrerbildung erhalten die Teilnehmenden wertvolle Impulse für ihre weitere Tätigkeit in Studium, universitärer Lehre und Schule. Neben Fachreferaten sind unterrichtsspezifische Gruppenarbeiten sowie eine Dokumentation und Präsentation der Ergebnisse in den außerschulischen Bereich der deutschsprachigen Kulturszene von Kairo geplant. Seite 51 Zu den Autorinnen und Autoren Harry Harun Behr, geboren 1962, ist Inhaber der Professur für Islamische Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er konvertierte 1980 zum Islam. Von 1993 bis 2005 war er in München im Schuldienst tätig. 2005 promovierte Behr zum Thema „Curriculum Islamunterricht“ an der Universität Bayreuth. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich von Islam und Unterricht. Leila Djahani-Gürsoy, geb. 1982, studierte Orientalistik, Pädagogik und Vergleichende Religionswissenschaft in Frankfurt a. M. sowie Islamische Religionslehre am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre an der FAU in Nürnberg. Ihr Forschungsinteresse liegt in der Geschichte der pädagogischen Theorie des Islams und ihrer Relevanz für gegenwärtige islamisch-religionspädagogischen Diskurse. Ramin Massarrat, geboren 1974, absolvierte ein Studium in Iranistik, Pädagogik und Islamkunde an der Universität Bamberg und studierte Islamische Religionslehre am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre an der FAU in Nürnberg. Er forscht zur klassischen persischen Literatur und erteilt derzeit Islamischen Unterricht an verschiedenen Standorten im Nürnberger Land und im Kreis Neustadt an der Aisch. Ayse Uygun-Altunbas, geboren 1977, hat Erziehungswissenschaften und Soziologie an der Ruprecht-KarlsUniversität in Heidelberg studiert. Sie forscht zu Fragen der Werteerziehung und -bildung im Islam und der religiösen Sozialisation von muslimischen Jugendlichen in ihren Familien. Herausgegeben von Harry Harun Behr (v.i.S.d.P.) Emel und Amin Rochdi Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Regensburger Straße 160 90478 Nürnberg Telefon 0911 5302-607 www.izir.de Satz und Layout: Yasmine Behr Dieses Dokument ist durch eine copyleft-Lizenz urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung, Verbreitung, Bearbeitung und öffentliche Diskussion sind unter der Voraussetzung erlaubt, dass Namen von Autoren und Rechtsinhabern genannt sind und die Nutzung nicht kommerziell erfolgt. Eine Weitergabe ist nur unter gleichen Bedingungen gestattet. Die gesetzlichen Schranken des Urheberrechts bleiben hiervon unangetastet. Nähere Informationen unter www.creativecommons.org Zu den Autorinnen und Autoren • Impressum