Auch der Koran bedarf der Auslegung

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12.11.14
11.06.12//Nr.
Nr.263
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! NZZ AG
Auch der Koran bedarf der
Auslegung
BÖRSEN UND MÄRKTE
Investoren wetten auf Lockerungen
Investoren in den USA bringen sich
zurzeit in Position, um von einer weiteren quantitativen geldpolitischen
Lockerung zu profitieren.
Seite 21
Was islamische Theologie in der Debatte um Gewalt und Terror zu
sagen hätte. Von Katajun Amirpur
Besitzt die islamische Theologie argumentative Ressourcen, um der Behauptung
entgegenzutreten, im Namen des Islams
ausgeübte Gewalt sei durch Koranverse
gedeckt? Ja, sagt die Islamwissenschafterin Katajun Amirpur und weist auf einen
offenen Brief muslimischer Gelehrter hin.
Noch immer fordern Politiker und Publizisten eine
Distanzierung der Muslime vom Terror des Islamischen Staates. Von ihnen weithin unbeachtet haben
jedoch praktisch alle relevanten muslimischen Verbände, vor allem aber auch die islamischen Autoritäten bis hin zu dezidiert konservativ-traditionalistischen Kreisen diese Organisation als barbarisch
und unislamisch verdammt. Wenn Islamkritiker
dies ignorieren und eine Nähe der Grundprinzipien des Islams zum IS-Terror behaupten, entspricht ihr Islambild in gewisser Weise dem der
Fundamentalisten. Mit dem Islam der allermeisten
Muslime und ihrer Autoritäten hingegen hat dieses
Bild nicht viel zu tun.
Der Brief an den Terroristen
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der vor einigen Wochen veröffentlichte
Brief an den Anführer der Terrororganisation, verfasst von über hundertzwanzig namhaften Gelehrten (http://lettertobaghdadi.com/), die grösstenteils
aus einem konservativen Spektrum des Islams
kommen. Es setzen sich darin also nicht etwa
moderne Reformer oder islamische Aufklärer im
Detail mit der Ideologie und den Koran-Bezügen
des IS auseinander, sondern islamische Autoritäten, die sich innerhalb einer dezidiert orthodoxen
Denkstruktur bewegen. Der Grossmufti von
Ägypten, Scheich Shawqi Allam, ist darunter,
ebenso wie Scheich Ahmad Al-Kubaisi, der Gründer der Vereinigung der Religionsgelehrten (Ulama) des Iraks. Es finden sich unter ihnen des Weiteren Gelehrte vom Tschad über Nigeria bis zum
Sudan und Pakistan. Offensichtlich ist es ihnen ein
Bedürfnis, dass sich die islamische Theologie eindeutig gegenüber den Terroristen positioniert. Wie
sonst wäre es zu erklären, dass Gelehrte an Terroristen schreiben?
Der Brief ist fünfundzwanzig Seiten lang, adressiert an: «Dr. Ibrahim Awwad al-Badri, alias ‹Abu
Bakr al-Baghdadi›» und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten «Islamischen Staates».
Die eigentlich Angesprochenen sind jedoch sicher
die Muslime, von denen die Autoren befürchten,
dass sie in die Fänge der IS-Propaganda geraten
könnten.
Der 1971 im Irak geborene al-Baghdadi, der
sich «Abu Bakr» nach dem ersten Kalifen des
Islams nennt und «al-Baghdadi», um damit seinen
Anspruch auf Bagdad, die Hauptstadt der Abbasiden-Kalifen, geltend zu machen, wird von den
Briefschreibern nicht als Kalif angesprochen.
Denn, so die Verfasser, nach islamischem Recht
kann die Ausrufung eines Kalifats, also die Bestimmung der politischen Nachfolger des Propheten,
nur im Konsens mit allen Muslimen erfolgen. Der
Text nennt zusammenfassend vierundzwanzig Vergehen, deren sich der sogenannte Islamische Staat
schuldig macht: «Es ist im Islam verboten, Sendboten, Botschafter und Diplomaten zu töten; somit
ist es auch verboten, Journalisten und Entwicklungshelfer zu töten.» Oder: «Es ist im Islam verboten, Christen und allen anderen ‹Schriftbesitzern› –
in welcher Art auch immer – zu schaden oder sie zu
misshandeln.»
Daran anschliessend wird jede Aussage ausführlich begründet: So wird als Pflicht aller Muslime
bezeichnet, die Jesiden als Schriftbesitzer zu erachten. Dementsprechend sei es illegitim, sie zu Ungläubigen zu erklären oder gar als vogelfrei zu behandeln. Warum? «Aus islamrechtlicher Sicht sind
diese Menschen ‹Majus›, über die der Prophet [. . .]
sagte: ‹Behandelt sie wie die Schriftbesitzer.›» Mit
Fussnoten wird fein säuberlich belegt, woher die
Zitate stammen. In diesem Falle findet sich das
Hadith bei Imam Malik und Imam al-Shafi’i,
zweien der vier Gründer der vier sunnitischen
Rechtsschulen.
Eine Interpretationsmaxime
Ausserdem gehen die Verfasser darauf ein, welches
die Voraussetzungen für die islamische Rechtsprechung sind. Indirekt sprechen sie dem selbsternannten Kalifen damit jegliche Autorität und
Kompetenz dafür ab, rechtsverbindliche Aussagen
zu treffen. Gemäss den Autoren besagt die im
Koran durch Gott und in den Hadithen durch den
Propheten festgesetzte Auslegungsmethode: Alles,
was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart
wurde, muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Der Fokus darf nicht auf einzelnen Fragmenten liegen. Hervor geht diese Methode aus der
Schrift selbst, unter anderem aus dem folgenden
Koranvers: «Glaubt ihr denn nur an einen Teil des
Buches und leugnet den anderen?» (Sure 2, 85).
Wenn alle relevanten Textstellen zusammengebracht sind, muss das «Allgemeine» vom «Spezifischen» und das «Bedingte» vom «Absoluten»
unterschieden werden. So müssen auch die eindeutigen Verse gesondert werden von den mehrdeutigen. Daraufhin müssen die «Anlässe der Offenbarung», die «asbab al-nuzul», für all diese Verse sowie alle anderen Auslegungsbedingungen, welche
die «klassischen» Gelehrten festgelegt haben, einbezogen werden. Erst dann wird – sich auf alle vorhandenen schriftlichen Quellen stützend – Recht
gesprochen oder eine Interpretation gegeben. Es
ist also, kurz gesagt, nicht gestattet, einen Vers zu
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zitieren,
ohne
denMÄRKTE
gesamten Koran und alle ÜberBÖRSEN
UND
lieferungen zu beachten. Die Verfasser des Briefes
Investoren wetten
auf Lockerungen
bezeichnen
es als Pflicht,
alle Texte so weit wie
Investoren
in den USA
bringenzusich
möglich
miteinander
in Einklang
bringen, und
zurzeit in
Position,
umAnsicht
von einer
wei- al-Shafi’i
berufen
sich
mit dieser
auf Imam
terenauf einen
quantitativen
geldpolitischen
und
universellen
Konsens unter allen GeLockerung
zu profitieren.
lehrten
der Rechtstheorie.
Seite 21
Sure 22, 39
In diesem Zusammenhang setzen sich die Briefschreiber auch mit den Versen des Korans auseinander, die Gewalt scheinbar legitimieren: «Denen,
die bekämpft werden, wurde es erlaubt (zu kämpfen), weil man ihnen Unrecht tat.» (Sure 22, 39)
Dieser und ähnliche Verse der zweiten Sure werden meist zitiert – von Islamkritikern im negativen
Sinne, von Jihadisten im positiven –, um die angeblich dem Islam innewohnende Gewaltbereitschaft
zu belegen. Die Gelehrten beziehen sie jedoch ausschliesslich auf ein bestimmtes Ereignis, den «Offenbarungsanlass». Es geht in dieser Perspektive
nur um folgende konkrete politische Situation: Im
Jahre 630 marschierte der Prophet in Mekka ein,
um die heidnischen Mekkaner zu bekämpfen – und
brach damit einen Friedensvertrag, den er selbst
zwei Jahre zuvor geschlossen hatte. Deshalb bedurfte sein Handeln einer Legitimation, die der
Vers liefert. Und gemeint war: Die Mekkaner durften bekämpft werden, weil sie sich zuvor an der
Gemeinde des Propheten «versündigt» hatten. Sie
hatten seine Anhänger vertrieben und ihn selbst
töten wollen.
Eine allgemeine Anweisung für alle Muslime
lässt sich aus dem Vers folglich nicht ableiten. Die
Briefschreiber erklären ausdrücklich: «Daher ist
der Jihad an das Fehlen von Sicherheit, das Berauben der Freiheit der Religion oder an (vorausgegangene) Ungerechtigkeit sowie an das Vertrieben-Werden aus dem eigenen Land geknüpft.
Diese Verse wurden offenbart, nachdem der Prophet [. . .] und seine Gefährten dreizehn Jahre lang
Folter, Mord und Verfolgung durch die Hände der
Götzendiener ausgesetzt waren. Es gibt keinen
offensiven und aggressiven Jihad, nur weil die
Menschen einer anderen Religion angehören oder
eine andere Meinung vertreten.»
Diese Lesart ist keineswegs modern oder westlich inspiriert. Denn hier wird eine Methode angewendet, die es bereits seit Jahrhunderten in der
islamischen Theologie gibt. Ein ganzer Zweig von
ihr beschäftigt sich mit den besagten Anlässen für
die Offenbarung. Schon immer ging man also von
einer Art dialektischer Beziehung zwischen Text
und Adressat aus und forschte nach dem Kontext,
in den hinein ein Vers offenbart wurde, um seinen
Sinn und seinen Wirkungsbereich besser verstehen
zu können. Ein Einzelfall wie der, den die Sure beschreibt, kann dabei nicht als Präzedenzfall für
andere, in der Sache ähnliche Situationen gelten.
Zwar ist das islamische Recht wesentlich durch ein
Denken in Präzedenzfällen bestimmt, aber, wie die
Briefschreiber formulieren: «Es ist nicht gestattet,
einen bestimmten Vers des Korans auf eine Begebenheit zu beziehen, die 1400 Jahre nach seiner
Offenbarung geschehen ist.»
Problematisches
Wie der Brief zeigt, besitzt die islamische Theologie genügend argumentative Ressourcen, um dem
sogenannten Islamischen Staat entgegenzutreten.
Dennoch findet sich im Ansatz der Briefschreiber
noch genug Problematisches aus liberaler Sicht. So
halten die Autoren etwa an der Gültigkeit der Körperstrafen fest, wenn sie deren Anwendung auch
an strenge Kriterien binden. Ebenso wenden sich
die Briefeschreiber zwar gegen sexuelle Gewalt,
wenn sie die Wiedereinführung der Sklaverei kritisieren, und dagegen, dass man Frauen ihre Rechte
vorenthält. Doch ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung sucht man vergeblich. Die Briefeschreiber sind, was Frauenrechte anbelangt, offensichtlich noch traditionellen Strukturen verhaftet.
Hier muss weitergedacht werden. Es muss klar
Position bezogen und gesagt werden, dass auch
Körperstrafen und Geschlechterdiskriminierung
im 21. Jahrhundert nicht nur nicht mit den Werten
des Westens, sondern auch mit dem Ethos des
Islams nicht vereinbar sind.
Andere Denker und Denkerinnen haben Farbe
bekannt. Iranische Frauenrechtlerinnen beispielsweise fordern Gleichberechtigung und argumentieren mit dem Geist des Korans. Der Koran habe
historisch zunächst die Situation von Frauen verbessert, jedoch nicht zur vollständigen Gleichberechtigung geführt, die der damaligen Gesellschaft nicht vermittelbar gewesen wäre. Dennoch
sei aber Gerechtigkeit als Ziel der Prophetie klar
zu erkennen. Und in diesem Sinne müsse heute
Gleichberechtigung verwirklicht werden. Andere
wie der Pakistaner Fazlur Rahman haben eine
Interpretationsmethode entwickelt, um die Botschaft des Korans in die heutige Zeit zu übertragen.
«Double Movement» nannte Rahman sie: Man
müsse zuerst den Kontext studieren, in den hinein
der Koran verkündet worden sei; so könne man die
ursprüngliche Botschaft verstehen. Daraus liessen
sich dann in einer zweiten Bewegung die Prinzipien und Werte gewinnen, die heute als Normen im
Sinne des Korans gelten könnten.
Offenbarung und Geschichte
Fazlur Rahman und mit ihm die Schule von
Ankara, deren moderne Koran-Hermeneutik sehr
von ihm geprägt wurde, gehen inhaltlich deutlich
weiter als die traditionell denkenden Verfasser des
Briefes; beispielsweise gelangt Rahman über seinen «Double Movement»-Ansatz zu einer pluralistischen Religionstheologie. Dennoch aber setzen
auch die Briefschreiber einen Bezug von Offenbarung und Geschichte voraus und bestehen auf der
Notwendigkeit, selbst scheinbar klare Verse einer
detaillierten sprachlichen und historischen Interpretation im Horizont des Gesamtkontextes zu
unterziehen, statt sie einfach wörtlich zu verstehen.
Dagegen ist das Verfahren, sich einzelne Verse aus
dem Koran herauszupicken, um eine bereits vorgefasste These zu belegen, wie es einige Islamkritiker
und die Fundamentalisten gleichermassen praktizieren, aus islamisch-theologischer Sicht grotesk
und ein Zeichen der Ignoranz.
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Dr. Katajun Amirpur ist Professorin für islamische Studien und islamische Theologie an der Universität Hamburg. 2013 ist bei C. H. Beck
ihr Buch «Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte» erschienen.
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