Unentdeckte Potenziale im erwachsenen Gehirn

Werbung
P O L I T I K
Forschung mit adulten Stammzellen
Unentdeckte Potenziale
im erwachsenen Gehirn
Ein Forschungsansatz beruht darauf, die adulte Neurogenese
zu stimulieren und zu steuern.
A
uch im erwachsenen Gehirn entstehen noch neue Nervenzellen.
Diese Erkenntnis macht sich ein
Forschungsansatz in der Stammzellforschung zunutze. Die Vision: Ließe sich
die adulte Neurogenese gezielt stimulieren, könnte man Zellersatz quasi
„vor Ort“ herstellen. Neurologische Erkrankungen, die mit Zellverlusten einhergehen, ließen sich möglicherweise
heilen – auch ohne Transplantation von
Ersatzgewebe.
Die Erkenntnis, dass auch im adulten Gehirn noch neue Nervenzellen
entstehen, führte vor wenigen Jahren
zu einem Wandel der Lehrmeinung.
Bis dahin hatte man angenommen, dass
der Mensch zur Geburt mit einer gewissen Anzahl Gehirnzellen ausgestattet sei, die sich im Verlaufe des Lebens
permanent reduzieren würde. Mögliche Endstation dieses Prozesses: Nervenzellmangel und Demenz. Inzwischen wurde jedoch auch im erwachsenen Gehirn die Entwicklung von neuen
Nervenzellen beobachtet, bevorzugt
im Bulbus olfactorius und im Hippocampus, einer Hirnregion, die entscheidend für Lern- und Gedächtnisvorgänge ist. Auch im Neocortex wurde bereits Neurogenese beobachtet.
„Bisher haben wir das Gehirn
unterschätzt“
Dass sich das Gehirn auch noch im hohen Alter regenerieren kann, ermöglichen neuronale Stammzellen. Sie sind
offenbar in allen Hirnregionen anzutreffen; in den meisten ruhen sie allerdings. „Die Neurogenese des erwachsenen Gehirns unterliegt einer subtilen
funktionellen Regulation, wird aber
auch von ererbten Faktoren bestimmt“,
erläutert Dr. med. Gerd Kempermann,
Leiter der Arbeitsgruppe „Neuronale
Stammzellen“ am Max Delbrück Centrum für Molekulare Medizin (MDC),
Berlin-Buch. Kempermann, Träger
des Heinz-Maier-Leibnitz-Preises, untersucht die adulte Neurogenese im
Hippocampus von Mäusen. Dabei habe
sich gezeigt, dass sich die neuronalen
Stammzellen im erwachsenen Gehirn
ganz ähnlich verhalten wie die während
der embryonalen Entwicklung. „Bisher
haben wir die Fähigkeiten des erwachsenen Gehirns unterschätzt“, meint
auch Dr. rer. nat. Georg Kuhn, Stammzellforscher im Neurobiologischen Labor der Universitätsklinik Regensburg.
„Dabei sind prinzipiell alle Moleküle,
die für die Regeneration benötigt werden, auch im Alter noch vor Ort vorhanden.“
Kuhn beschäftigt sich mit der molekularen Regulation der adulten Neurogenese in vivo. Eine Steigerung der
Neurogenese sei prinzipiell auf zwei
Wegen zu erreichen, erklärte Kuhn: einerseits durch eine Steigerung der Proliferation durch Wachstumsfaktoren;
andererseits könnte man auch die
Apoptose von jungen Neuronen gezielt
verhindern. Kuhn beobachtete, dass
zunächst eine „Überproduktion“ von
Stammzellen und neuen Nervenzellen
im Gehirn stattfindet. Diese würden einem enormen Selektionsdruck unterliegen. Im Hippocampus und im Bulbus olfactorius stürben dabei zehn bis
100 mal mehr Zellen ab als in anderen
Hirnregionen. „Der Zelltod lässt sich
beispielsweise durch das antiapoptotische Molekül Bcl-2 verhindern“, berichtet Kuhn. Versuche an der Maus
hätten dies jedenfalls gezeigt.
Wachstumsfaktoren fördern
die adulte Neurogenese
„Die zweite Variante ist die direkte Stimulation der adulten Neurogenese
durch exogen zugeführte Faktoren“, erklärt Kuhn. So würden Wachstumsfaktoren nach intracerebroventrikulärer
Injektion auf Stammzellen wirken.
„Die Gabe von Epidermalem Wachstumsfaktor (EGF) stimulierte massiv
die Proliferation, besonders die von
Gliazellen. Der Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF-2) stimulierte die
Proliferation dagegen in geringerem
Weitere Forschungsansätze
Die Idee, die Neurogenese „vor Ort“ zu stimulieren, weicht von anderen Forschungsansätzen mit Stammzellen ab. Bei diesen ist immer eine Transplantation nötig, bei der die Gefahr der Transplantatabstoßung besteht.
So zielen Versuche mit embryonalen Stammzellen darauf ab, aus diesen in vitro Nervenzellen zu züchten,
diese zu vermehren und dann in das adulte Gehirn zu transplantieren.
Einer anderer Therapieansatz stützt sich auf die Transplantation von fetalen Zellen in das erwachsene
Gehirn. In Schweden und den USA ist man mit dieser Methode bereits in die klinische Anwendung gegangen: Parkinson-Patienten wurden dopaminproduzierende Zellen aus der Hirnregion von Feten transplantiert, in der sich später die dopaminergen Neurone hätten entwickeln sollen. Die Methode gelang prinzipiell, birgt aber verschiedene Risiken.
Weitere Forschungsansätze zielen auf die autologe Implantation von adulten Stamm- und Vorläuferzellen des betreffenden Patienten.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 33½ 17. August 2001
A 2069
P O L I T I K
Ausmaß, förderte jedoch die neuronale
Differenzierung“.
Die adulte Neurogenese ist zudem
einer genetischen und funktionellen
Regulierung unterworfen. Kempermann beobachtete, dass sich die Teilungsaktivität der neuronalen Stammzellen im erwachsenen Hippocampus
zwischen verschiedenen angezüchteten
Mausstämmen deutlich unterscheidet.
„Unterschiedliche Gene beeinflussen
bei konstanter Umwelt die Teilungsaktivität, das Überleben und die Differenzierung der Stammzellen“, so Kempermann. Vermutlich gäbe es auch Gene,
die für die Wanderung der Zellen vom
Teilungsort zu dem Ort, an dem sie gebraucht werden, für die Aussendung
der Nervenzellfortsätze, die Ausbildung von Synapsen oder für die
Integration in die bestehenden Schaltkreise verantwortlich sind. Sie alle seien
potenziell beeinflussbar.
Therapieansatz:
„Neurogenese vor Ort“
Der Stammzellforscher untersuchte
außerdem den Einfluss der Umwelt auf
die Regulation der Stammzellen. Dabei
konnte er zeigen, dass Mäuse, die in einer reizreichen Umgebung lebten, eine
gesteigerte Neurogenese im Hippocampus hatten. Dabei setzten die verschiedenen Reize an unterschiedlichen Stu-
Nachgefragt
Fotos: MDC, Berlin-Buch
DÄ: Herr Kempermann, Sie untersuchen die Rolle von neuronalen Stammzellen im erwachsenen Gehirn. Wo sehen Sie die Chancen für die Therapie von
neurologischen Erkrankungen?
Kempermann: Die therapeutischen
Optionen sind erheblich vielfältiger als
sie gegenwärtig diskutiert werden. Naheliegend wäre es in der Tat, adulte
Stammzellen zu transplantieren. Prinzipiell hat die autologe Transplantation
auch Aussicht auf Erfolg. Deutlich komplexer sind Strategien, die versuchen,
das Potenzial der adulten Stammzellen zu erweitern oder schlummernde Potenziale zu wecken.
Dazu gibt es eine Vielzahl von ersten Ansätzen. Die
kommenden Jahre werden zeigen, was möglich ist.
DÄ: Wenn im erwachsenen Gehirn Stammzellen
vorhanden sind, warum muss man diese überhaupt erst entnehmen und dann transplantieren?
Kann man ihr regeneratives Potenzial gezielt vor Ort
nutzen?
Kempermann: Diese Möglichkeit ist verlockend
und wahrscheinlich letztlich nicht utopischer als viele Transplantationsstrategien. Manche Erkrankungen betreffen das Gehirn in so diffuser Weise, dass
man bei ihnen gar nicht gezielt transplantieren
könnte. Wohin sollte man zum Beispiel beim Morbus Alzheimer oder bei der multiplen Sklerose transplantieren? Es gibt Ideen, hier die Blutbahn zu Hilfe
zu nehmen, aber das ist dann wirklich noch Spekulation.
DÄ: In welchem Zeitraum könnten solche Strategien umgesetzt werden?
Kempermann: In Jahren bis Jahrzehnten.
Stammzellbasierte Therapien sind Fernziele, was
das Gehirn anbelangt, gleichgültig, welche Art von
Stammzellen man dabei einsetzen will und wie die
Strategie aussieht. Wir sind eindeutig noch in der
Phase der Grundlagenforschung.
DÄ: Was sind die Ursachen dafür, dass die neu-
A 2070
fen der Regulation an. „Die adulte
Neurogenese ist eingebunden in funktionelle Regelkreise und damit ein normaler physiologischer Prozess“, betont
Kempermann. Viele Vorgänge im Gehirn seien viel veränderlicher, als man
bisher gedacht habe. „Versteht man
neurodegenerative Erkrankungen als
Versagen der Plastizität, hat man einen
neuen Therapieansatz“, erklärt Kempermann. Euphorie will er jedoch vorbeugen: Eine therapeutische Anwendung liege in weiter Ferne. „Zunächst
müssen wir die Stammzellbiologie des
erwachsenen Gehirns besser kennenlernen, um dann Möglichkeiten zu finden, die adulte Neurogenese gezielt zu
Dr. med. Eva A. Richter
beeinflussen.“
wissen bereits, dass die Regulation adulter Neurogenese vielschichtig und komplex ist. Es gibt keinen
Schalter, den man nur einfach umlegen müsste.
Dr. med. Gerd Kempermann,
Leiter der Arbeitsgruppe
„Neuronale Stammzellen“ am
Max Delbrück Centrum für
Molekulare Medizin (MDC),
Berlin-Buch
ronalen Stammzellen in einigen Hirnregionen nur
ruhen?
Kempermann: Das ist die Kernfrage, mit der wir
uns in unserer Forschungsgruppe beschäftigen. Warum werden nur in zwei privilegierten Hirnregionen
aus den Stammzellen neue Nervenzellen? Möglicherweise gibt es einen guten Grund, warum das Gehirn
die Fähigkeit zur Neurogenese meistens abschaltet.
Das würde sich sowohl auf die Nutzung des regenerativen Potenzials der Stammzellen als auch auf die
Transplantationsstrategien auswirken. In beiden Fällen müssen sich neue Zellen in eine zelluläre Umgebung integrieren. Wenn diese krank ist, könnte man
ein Problem haben. Deshalb untersuchen wir auch,
welche Bedeutung neuronale Stammzellen für die
normale Funktion des Gehirns und das Entstehen von
neuro-psychiatrischen Erkrankungen haben könnten.
DÄ: Wie könnte die Neurogenese im adulten Gehirn beeinflusst werden?
Kempermann: Wir beschäftigen uns mit Aspekten der physiologischen Regulation. Im Hippocampus sehen wir zum Beispiel, dass eine reizreiche Umgebung, Lernvorgänge und sogar so ein allgemeiner
Stimulus, beispielsweise körperliche Aktivität, die
Neubildung von Nervenzellen fördern. Die Liste der
Faktoren mit einer Wirkung auf die adulte Neurogenese wächst rapide; fast jede Woche erscheint eine
neue Arbeit. Es wird aber noch eine Weile dauern, bis
DÄ: Die adulte Stammzellforschung ist offensichtlich sehr aussichtsreich. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert sie vorrangig. Würde
diese Art der Forschung nicht ausreichen? Muss
man auf embryonale oder fetale Stammzellen
zurückgreifen?
Kempermann: Zumindest ist die Anwendung
embryonaler Stammzellen nicht automatisch aussichtsreicher oder gar eine zwangsläufige Forderung. Ob etwas ausreichend ist, hängt auch davon
ab, wie man die Ziele definiert. Ich glaube, dieser Tage werden oft sehr unrealistische Ziele präsentiert.
Es ist hochkomplex, sich eine umsetzbare stammzell-basierte Therapie für multiple Sklerose oder Alzheimer auszumalen. Es ist keineswegs sicher, dass
Stammzellen überhaupt der Schlüssel zu einer Therapie dieser Erkrankungen sind. Forschung an embryonalen Stammzellen hat in diesem Zusammenhang ihren Stellenwert, man darf sie nur nicht im
Kontext einer unmittelbaren therapeutischen Nutzung sehen. Die Frage ist allerdings, wieviel von dieser Grundlagenforschung an menschlichen embryonalen Zellen erfolgen muss.
DÄ: Würden Sie an menschlichen embryonalen
Stammzellen forschen?
Kempermann: Da ich mich für die Stammzellbiologie des erwachsenen Gehirns interessiere, habe ich dazu keine Veranlassung. Grundsätzlich meine ich, nicht fallstrickreiche Begriffe wie die Menschenwürde oder diffizile Begriffsbestimmungen
wie den Beginn des Lebens heranziehen zu müssen,
um überzeugt zu sein, dass ein menschlicher Embryo
als potenziell wie Sie und ich in der Welt herumlaufender und handelnder Mensch besonderen Schutz
genießen sollte. Ob es Situationen gibt, in denen
man in einem Abwägeprozess zu der Überzeugung
kommen könnte, diesen Schutz im Interesse höherer
Ziele aussetzen zu müssen, will ich nicht kategorisch
ausschließen.
Fragen: Dr. med. Eva A. Richter
man eine umfassende Theorie ableiten kann. Wir
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 33½ 17. August 2001
Herunterladen