Die Vielfalt der Ozeane - Europäische Kommission

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Sonderausgabe – Dezember 2007
Europäische Kommission
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Meerespolitik
Die Vielfalt
der Ozeane
ISSN 1830-799X
research eu
research*eu, das Magazin des Europäischen Forschungsraums, will zur Erweiterung der demokratischen Debatte
zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beitragen. Es wird von unabhängigen Journalisten verfasst und analysiert
und stellt Forschungsprojekte, Ergebnisse sowie Initiativen vor, deren Akteure, Frauen und Männer, zur Stärkung
und Bündelung der wissenschaftlichen und technologischen Exzellenz Europas beitragen. research*eu wird auf
Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch – vom Referat Information und Kommunikation der GD Forschung der
Europäischen Kommission herausgegeben. Es erscheint zehnmal im Jahr.
edito
research*eu
Chefredakteur
Michel Claessens
Planet Meer
Ein weiteres europäisches Paradoxon: Obwohl Europas Territorium um ein Dreifaches
kleiner ist als der afrikanische Kontinent, sind die europäischen Küsten zusammengenommen dreimal so lang wie die afrikanischen. Trotzdem bleibt die Meerespolitik im
Wesentlichen fragmentiert und auf die nationale Ebene konzentriert. Jedoch berühren
Meere und Ozeane alle Mitgliedstaaten der Union, und zwar sowohl im wörtlichen Sinn,
denn fast die Hälfte ihrer Bevölkerung lebt weniger als 50 km von den Küsten entfernt,
als auch im übertragenen, da die Herausforderungen für die Wirtschaft, die Umwelt
und die Gesellschaft immens sind. Fischerei, Verkehr, Handel, Umweltverschmutzung,
Erwärmung und Tourismus – die Meere und Ozeane stehen im Mittelpunkt zahlreicher Vorgänge, die eng miteinander verbunden sind und interagieren. Daher ist ein breites integriertes, sektorenübergreifendes sowie
transnationales Management absolut erforderlich. Dies ist die Zielsetzung der Europäischen Kommission in
ihrem kürzlich veröffentlichten „Blaubuch“. Es ist ein politisches Dokument, gleichzeitig aber auch eine Vision,
die, wie unsere Leser mit Interesse feststellen können, die wissenschaftliche Forschung zum Schlüsselelement
dieser politischen Vision erhebt.
Die Meere sind die Wiege allen Lebens auf der Erde, dessen Geburt 3,8 Mrd. Jahre zurückliegt. Wasser ist das
Symbol des Lebens und macht unseren Planeten zu einer einmaligen Erscheinung in diesem Winkel des
Universums. Dieser einzigartige und lebenswichtige Aspekt allein müsste uns bereits dazu zwingen, dieses
Naturelement zu respektieren. Aber die menschliche Spezies, die auch nur eine Vertreterin der biologischen
Vielfalt auf der Erde ist, stört und bedroht diesen riesigen „lebendigen Organismus“, den die Ozeane darstellen.
Mit seinem auf hoch komplexen Bedingungen beruhenden Gleichgewicht, den gegenseitigen Abhängigkeiten
und Interaktionen muss dieses System als ein Ganzes angesehen und behandelt werden. Davon hängen sein
und unser Überleben ab. In der Hoffnung, dass diese grundlegenden Gedankengänge auch bei unseren
Politikern etwas bewegen…
Michel Claessens
Chefredakteur
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Autoren
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Übersetzungen
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Produktionsablauf ), Daniel Wautier
(Druckfahnenkorrektur)
Illustrationen
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Design
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Internetversion
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Katherine O’Loghlen
Titelseite
Eingang zu einer unterseeischen Grotte
vor Marseille (Le Veyron). Im Zentrum des
Bildes ist der Röhrenschwamm Haliclona
mediterranea inmitten von Steinkorallen
(Scleractinia) und zahlreichen anderen
stiellosen Organismen zu sehen.
Labor für Vielfalt, Evolution und funktionelle
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INHALT
Transversalität
4 Für eine integrierte Vision der Meere
und Ozeane
In einer Europäischen Union, in der die
Fläche der Meere größer ist als die des
Landes, ist eine rationelle Bewirtschaftung
der Meere und Ozeane unumgänglich.
Präsentation der Arbeit der Taskforce,
die 2005 von der Kommission zu diesem
Zweck eingesetzt wurde.
5 Der alte Mann und das Meer,
ein notwendiger Kurswechsel
Gespräch mit Boris Worm, Meeresbiologe an
der Universität Dalhousie (Canada). Er
beschäftigt sich mit der Frage nach einer
positiven und nachhaltigen Interaktion zwischen Mensch und Meeresumwelt.
Primäres Ökosystem
Biodiversität
8 Wettlauf mit der Zeit in den Meerestiefen
Marine Ökosysteme und biologische Vielfalt
sind in Gefahr. Die Wissenschaftler des
europäischen Netzwerks Marbef wollen die
biologische Vielfalt der Ozeane erforschen,
bevor sie für immer verschwindet.
Panorama einer Welt in der Tiefsee mit
Tausenden von Spezies.
Tiefsee
10 Die verborgene Seite der Erde
Scheinwerfer auf die großen Tiefen und ihre
Geheimnisse dank der wissenschaftlichen
Plattform Hermes, die die unterseeischen
Reliefe und ihre einmaligen Ökosysteme
untersucht.
Kohlenstoff
13 Das CO2 zwischen Himmel und Meer
Das Wasser auf unserem Planeten absorbiert
das CO2, aber die Grenzen dieser riesigen
Senke werden spürbar. Das Forschungsprogramm CarboOcean analysiert dieses
Phänomen und greift den Konsequenzen
einer möglichen Sättigung vor.
Nahrungsquelle Meer
Überfischung
16 Lösungen dringend gesucht
Wie kann man die Überfischung der Meere
senken und gleichzeitig einen traditionellen
Beruf schützen? Die Fischerei und ihre
Enttäuschungen: ein Lagebericht.
Aquakultur
19 Die kulinarische Zukunft der Meere
Die Aquakultur bietet sich als Alternative
ersten Grades für die Fischerei an.
Aber auch sie muss in Harmonie mit der
Umwelt durchgeführt werden.
Blaue Biotechnologie
22 Unterwasser-Goldgrube für
die Biotechnologie
Potenzielle Arzneimittel gegen den Krebs,
biologisch abbaubare Kunststoffe,
revolutionäre Antibiotika, Energieproduktion.
Die Ozeane sind voller Lebewesen,
die für den Menschen eine wertvolle
Ressource darstellen.
Energie
25 Ein wellenfressender Drache
Die Projekte für die Energiegewinnung aus
dem Meer an den europäischen Küsten
häufen sich. Zu diesen gehört auch das
Brandungskraftwerk Wave Dragon.
Fragile Grenzen
Küstenmanagement
27 89 000 km europäische Küsten
Um dauerhaft mit den komplexen natürlichen
und vielfältigen Küstensystemen im Einklang
leben zu können, verfolgt die EU ein
Integriertes Küstenzonenmanagement
(IKZM). Das Projekt Spicosa, erarbeitet
Zukunftsszenarien, um der Küstenzerstörung
vorzubeugen.
30 Tourismus gegen Tourismus
Die Ankunft der Besucher an den
europäischen Küsten stellt jedes Jahr aufs
Neue einen wahren Katalysator für Wachstum
und Beschäftigung in der EU dar.
Aber wer von Tourismus spricht, muss auch
von den negativen Folgen auf das
Sozialgefüge, auf das wirtschaftliche
Gleichgewicht und auf die Qualität der
Umwelt sprechen.
Verschmutzung
32 Hilfstrupp aus dem Meer
Im Kampf gegen die Verschmutzung,
einer der Hauptkrankheiten unserer Meere,
sind einige marine Organismen zu beliebten
Verbündeten geworden.
Maritimer Raum
Verkehr
35 Forschung: Gallionsfigur des Schiffsbaus
Bestandsaufnahme des strategischen
Schiffbausektors. Mit der Technologieplattform Waterborne TP mobilisiert Europa
seine Kräfte. Sie steht für maritime
Innovation, die eine nachhaltige
Wettbewerbsfähigkeit garantieren soll.
38 Häfen am toten Punkt
Während der ungezügelten Intensivierung
der Hafenaktivitäten erreichen die
Aufnahmekapazitäten des „Alten Kontinents“
ihre Grenzen. Zwar gibt es verschiedene
innovative Lösungen, die aber nicht
umgesetzt werden. Das Projekt Capoeira
versucht die Gründe für diese Kluft zwischen
Forschung und Gesellschaft zu entschlüsseln.
Navigation
41 Ein Kontrollturm für den Verkehr
auf den Meeren
Wie soll man 20 000 Schiffe managen,
die ständig vor den europäischen Küsten
kreuzen? Angesichts der Informationsflut,
die zwischen Schiffen und Küstenbehörden
kreist, versucht das Programme MarNIS
durch Rationalisierung, Organisierung sowie
Risikobegrenzung den Vermittler zu spielen.
Ozeanografische Forschung
42 Bewertung: exzellent
Als wahrer Leitsatz der ozeanografischen
Forschung breitet sich die Exzellenz in alle
vier Himmelsrichtungen Europas aus.
Einblick in ein paar Zentren, die der ganze
Stolz der EU sind.
NRO
43 Die Stachel der Zivilgesellschaft
Während sich der Planet Meer im
Alarmzustand befindet, sensibilisieren, agieren
und wirken NRO besser als jeder andere auf
die Politik ein und setzen diese unter Druck.
Ein Blick auf diese selbstlosen Lobbyisten.
Bild der
Wissenschaft
44 Victor und die heißen Quellen
Der Unterwasserroboter von Ifremer.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
3
Für eine integrierte Vision
der Meere und Ozeane
Kein Bürger der Europäischen Union lebt weiter als
700 km von einer Küste entfernt und fast die Hälfte
der Bevölkerung lebt in Meeresnähe, also in einer
Entfernung von weniger als 50 km. Vier Meere (das
Mittelmeer, das Schwarze Meer, die Nordsee und die
Ostsee) und zwei Ozeane (der Atlantik und die Arktis)
grenzen an die EU. Das sind 89 000 Küstenkilometer –
mehr als das Doppelte der russischen Küsten. Die
Meeresgebiete, die in den Rechtsraum der
Mitgliedstaaten fallen, sind flächenmäßig größer
als das Festland. Daraus kann man den eindeutigen
Schluss ziehen, dass ein vernünftiges Management
der Meere und Ozeane notwendig ist.
A
Heutzutage ist das Management
der Meeresregionen fragmentiert:
Verschiedene zuständige Behörden
treffen Entscheidungen, die sich
als gegenläufig herausstellen können, negative
Auswirkungen auf die Umwelt haben oder
sich auch auf einen anderen Wirtschaftssektor
schädlich auswirken können.
Um solche Konflikte zu vermeiden, richtete
die Europäische Kommission Anfang 2005
eine Taskforce ein. Unter der Leitung der für
Sektorpolitik in maritimen Angelegenheiten
zuständigen Kommissare arbeitet diese Taskforce
im Rahmen der strategischen Ziele 2005-2009
zur Wiederbelebung der Lissabonner Strategie.
„Unsere Mission war es“, erklärt John Richardson,
Leiter dieser Taskforce, „Wirtschaft und
Beschäftigung in den Küstenregionen Europas
unter Berücksichtigung der Qualität der
Meeresumwelt und der Lebensqualität in den
Küstenregionen anzukurbeln.“ Nach einer
Reihe von Vorabkonsultationen wurden die
Ideen in einem Grünbuch über „Die künftige
Meerespolitik der EU“ gesammelt, das am 7.
Juni 2006 veröffentlicht wurde. Alle Ideen lie-
4
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
fen in eine Richtung: zu einem breiten und
sektorenübergreifenden Management aller
Angelegenheiten, die mit dem Meer zu tun
haben.
Die Stimme der Zivilgesellschaft
„Auf der Grundlage dieses Grünbuchs“, fährt
John Richardson fort, „wurde eine umfassende
Konsultation in der Zivilgesellschaft in Gang
gesetzt. Aus diesem Anlass wurden über
250 Konferenzen und Seminare überall in
Europa veranstaltet. Gleichzeitig sind über das
Internet über 480 Beiträge mit neuen Ideen
bei uns eingegangen.“
„So viele Beiträge hatten wir gar nicht erwartet“,
freut sich Richardson. „Aber man kann auch
sagen, dass die Reaktionen auf die Vorschläge
des Grünbuchs insgesamt gesehen positiv
ausgefallen sind: Eine große Mehrheit der
Beiträge stimmt einer integrierten Meerespolitik
der Europäischen Union zu, wobei es hinsichtlich
der Vorgehensweise natürlich unterschiedliche
Ansichten gibt.“
Wie geht es jetzt weiter? „In diesem Herbst“,
erklärt John Richardson, „wurde ein Blaubuch
© Shutterstock
TRANSVERSALITÄT
von der Europäischen Kommission vorgestellt
und verabschiedet. Es fasst die Ergebnisse dieser
großen Konsultation zusammen und enthält
auch eine politische Vision, wie sich die Zukunft
einer integrierten Meerespolitik gestalten wird.
Dazu werden ein erster Aktionsplan und
Maßnahmen vorgestellt, um diese politische
Vision in die Tat umzusetzen.“
„Die wissenschaftliche Forschung als
Motor der politischen Aktion“
„Wie im Grünbuch so wird auch im Blaubuch
die Forschung als ein Schlüsselelement dieser
politischen Vision angesehen“, fügt John
Richardson hinzu. „Sie versetzt die Europäer
tatsächlich in die Lage, ihre Spitzenposition im
maritimen Sektor beizubehalten und sich der
weltweiten Konkurrenz zu stellen. Aber die
wissenschaftliche Forschung ist auch ganz
einfach ein Motor für ein besseres
Wassermanagement und deshalb auch für
eine koordinierte Entscheidungsfindung in
Meeresangelegenheiten.“
Die Meere und Ozeane stehen im Zentrum
zahlreicher Interaktionen und Vorgänge. Um
politische Entscheidungen zu optimieren,
muss man sie verstehen. Man muss die
Ökosysteme und ihre Funktionsmechanismen
in ihrer ganzen Komplexität begreifen. Das gilt
auch für Störungen, die durch den Menschen
verursacht werden. Fischerei, Tourismus,
Handel, Verkehr, die Klimaerwärmung und die
Umweltverschmutzung haben unerwünschte
Auswirkungen auf die Meeresumwelt.
Mit diesen Fragestellungen und Problemen
beschäftigt sich diese Ausgabe. Zusammen
gesehen bieten sie einen Überblick über die
Komplexität des „Systems der Meere und
Ozeane“: Alles erhält sich gegenseitig, alles ist
voneinander abhängig und alles wirkt sich auf
alles aus. Für ein effizientes Management dieses
Systems gibt es nur eine Lösung: Man muss es
als ein Ganzes verstehen.
Matthieu Lethé
TRANSVERSALITÄT
Der alte Mann und
das Meer ein notwendiger Kurswechsel
Kann der Mensch die Ozeane leerfischen? Boris Worm, Spezialist für
Meeresbiologie an der Universität Dalhousie in Halifax (Kanada),
ist der Ansicht, dass die heute ausgebeuteten Fischbestände bis Mitte
des Jahrhunderts erschöpft sein könnten. (1) Aber trotzdem behält
er einen klaren Kopf und sucht durch die Erforschung anderer
Meeresbewirtschaftungsmodelle nach Lösungen, wie man den
Menschen und die Meeresumwelt miteinander in Einklang bringen
könnte. Er schlägt vor, sich von einem lokalen und fragmentierten
Konzept weg und hin zu einem globalen Ansatz für die Ökosysteme
zu bewegen, um die für das Überleben der Ozeane und des Menschen
wesentliche biologische Vielfalt zu bewahren.
Der Ozean wird nicht unendlich lange
die durch den Menschen verursachten
Folgen absorbieren können. Welche deutlichen Zeichen sprechen dafür?
Es gibt viele Zeichen und sie sind sehr unterschiedlich. Die Fischpopulationen werden
ärmer, die globalen Fangmengen sinken langsam
– und das trotz gesteigerter Bemühungen im
Fischfang und leistungsfähiger Techniken.
Viele Experten sind sich einig, dass die
Grenze der Ausbeutung erreicht bzw. überschritten ist. Gleichzeitig sind die Zeichen der
Umweltverschmutzung entlang der Küsten
offensichtlich. Die berüchtigten „toten Zonen“,
wo massive Algenblüten auftreten, werden
immer zahlreicher. Wenn sich die Algen auf dem
Grund zersetzen, brauchen sie den Sauerstoff im
Wasser vollständig auf und ersticken die
gesamte Meeresfauna in dieser Zone. Auch
die Klimaerwärmung trägt zur Veränderung
der Planktongemeinschaft an der Basis der
Nahrungsmittelkette bei und wirkt sich auf die
Fischbestände aus, die sich von diesen ernähren.
Dadurch wird das Gleichgewicht des gesamten
Ökosystems der Küsten gestört.
Der Weltbank zufolge leben 50 % der
Weltbevölkerung weniger als 60 km vom
Meer entfernt, Tendenz steigend.
Ja, das ist eine wahre Herausforderung für die
Menschheit. Die Ökosysteme der Küsten sind
für das Leben in den Ozeanen von großer
Bedeutung. Sie filtern und transformieren viele
Abfälle und Schadstoffe, die wir ins Meer werfen.
Zum Beispiel kann eine einzige Austernkolonie
das Wasser in einer Bucht in wenigen Tagen
filtern. Die Küstengebiete sind auch die
Fortpflanzungsgebiete, die Kinderstube und
die Nahrungsgebiete vieler Lebewesen: Fische,
Säugetiere, Vögel… Aber die Verschmutzung
und die Zerstörung von Zonen, wie den
Mangroven oder den unterseeischen Wiesen,
führen auch zur Zerstörung der Wasserqualität
und zu steigenden Gesundheitsrisiken im
Zusammenhang mit dem Konsum von
Produkten aus dem Meer. Die erwähnte
Boris Worm
„Die Zeichen der
Umweltverschmutzung
entlang der Küsten sind
offensichtlich und die
toten Zonen werden
immer zahlreicher.“
Algenblüte tötet die Fische und verseucht die
Weichtiere, die sich dadurch für den Verzehr
nicht mehr eignen und gefährlich sind.
Sicherlich handelt es sich hierbei um natürliche
Phänomene, die vor allem durch das Einfließen
von stickstoffhaltigem Dünger aus der
Landwirtschaft hervorgerufen und verstärkt werden. Das häufige Auftreten dieser Algenblüten
deutet wahrscheinlich auf ein Ungleichgewicht
und eine wichtige Veränderung der ökologischen Abläufe hin.
In Ihren jüngsten Arbeiten sprechen Sie
davon, dass die meisten Fischbestände
bis zur Mitte des Jahrhunderts (1)
erschöpft sein werden. Ist die
Fischereiindustrie zu diesem Zeitpunkt
schlecht beraten?
Gut bewirtschaftete Fischgründe sind selten. Zu
hohe Flottenkapazitäten, zu hohe Fangquoten
im Vergleich zu den wissenschaftlichen
Empfehlungen oder auch illegale Fangpraktiken sind die Hauptgründe für
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
5
© Shutterstock
TRANSVERSALITÄT
„Bis heute wurde der Fischfang artenweise
verwaltet. Der ökosystemspezifische Ansatz
möchte ein Ökosystem in seiner Gesamtheit
verstehen.“
die Erschöpfung der Ressourcen. Zum
Beispiel schätzt der Internationale Rat für die
Erforschung des Meeres (ICES, International
Council for the Exploration of the Sea), dass nur
35 % bis 65 % aller tatsächlich durchgeführten
Fänge deklariert werden, und signalisiert, dass
der Fehler in der Verwaltung der Fangüberwachung liegt. Diese Probleme treten verschärft
in Regionen auf, die von mehreren Ländern
ausgebeutet werden, wie die Hochsee und
das Mittelmeer, oder in denen ein Mangel an
Rechtsvorschriften und Überwachungen oder
auch Interessenkonflikte alltäglich sind.
Manche denken, dass man nur abwarten
muss, bis sich ein überfischter Bestand
wieder erholt. Ist das denn so einfach?
Sicherlich nicht. Man stellt fest, dass sich zahlreiche überfischte Fischbestände nach einem
längeren Niedergang nicht erholen. Der neufundländische Kabeljau wird beispielsweise seit
15 Jahren nicht mehr befischt, aber sein Bestand
hat sich nicht erholt. Jahre, wenn nicht sogar
Jahrzehnte sind nötig, damit ein Fangstopp
Früchte tragen kann. Ein Fischfangverbot ist
allerdings auch nicht ausreichend, damit sich
ein Bestand wieder erholen kann, denn oft hat
sich das gesamte Ökosystem verändert. Wenn
beispielsweise eine Raubfischpopulation dezimiert wurde, vermehren sich kleinwüchsige
Arten, die sich dann von den Eiern und Larven
der Raubfische ernähren, die sich ihrerseits
nicht erholen können. Im Osten Kanadas
konnten sich die Heringsbestände vermehren,
nachdem der Bestand an Kabeljau, der sich
von Heringen ernährt, gesunken ist. Man
könnte nun denken, dass der Kabeljau jetzt
mehr Nahrung hat und sich so auch schneller
regenerieren kann. Aber man rechnet dabei
nicht mit dem Hering, der sich von den
Kabeljaularven ernährt. Deshalb kann sich der
6
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Bestand nicht erholen. Andere Arten sind bei
der Untersuchung derartiger Wechselwirkungen
wahrscheinlich auch zu berücksichtigen. Das
impliziert, dass man das gesamte Ökosystem
bei der Ausarbeitung und Durchführung von
Bewirtschaftungsmaßnahmen berücksichtigen
muss. Die biologische Vielfalt steht an erster
Stelle, sowohl zwischen den Arten als auch im
Rahmen einer Art selbst, denn die genetische
Vielfalt ist auch ein Reichtum, der die
Anpassungsmöglichkeiten einer destabilisierten
Art verstärkt.
Worin würde ein solcher
ökosystemspezifischer Ansatz bestehen?
Bis dato wurde der Fischfang jeweils für jede
einzelne Art verwaltet. Der ökosystemspezifische
Ansatz versucht, ein Ökosystem in seiner
Gesamtheit zu verstehen, als eine Einheit, er
versucht, seine Bestandteile und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten zu untersuchen,
um daraus eine angepasste Form der
Bewirtschaftung abzuleiten. Er berücksichtigt
die Interaktionen zwischen den Arten, die
Klimaveränderungen und die ozeanografischen Veränderungen, die Fluktuation der
Wasserqualität, den Lebensraum, aber auch
alle menschlichen Aktivitäten, die auf die
Meeresumwelt einwirken: Fischfang, Tourismus,
Ölbohrungen, Küstenentwicklung, Umweltverschmutzung. Durch die Integration dieser
facettenreichen Dimensionen versucht man
eine Bewirtschaftung einzurichten, die sich an
Veränderungen anpassen kann. Die Zielsetzung
ist, die Gesamtheit aller gesellschaftlichen
Erwartungen zu optimieren. Sicherlich besteht
noch weiterer Forschungsbedarf, um marine
Ökosysteme besser zu verstehen, aber wir verfügen über ausreichende Kenntnisse, um diese
Ansätze umzusetzen. Wir müssen heute damit
beginnen und unser Wissen allmählich erweitern, indem wir die Auswirkungen der von
uns getroffenen Maßnahmen untersuchen. Zu
warten, bis wir ein umfassendes Fachwissen
der marinen Ökosysteme erlangt haben, bevor
wir diese Form des Managements in Betracht
ziehen, ist sicherlich nicht die richtige Lösung.
Viele sprechen davon, die Meeresschutzzonen auszuweiten und zu erhöhen…
Die Meeresschutzzonen (2) sind tatsächlich ein
Eckstein für das Management der Ökosysteme.
Sie dienen zahlreichen Arten als Refugium,
schützen empfindliche Lebensräume und
erlauben es, die Folgen der Fehler, die an
anderen Stellen gemacht wurden, abzumildern. Es sind auch nützliche Zonen, um den
Zustand der Ökosysteme zu bewerten. Die
Meeresschutzzonen stellen 1 % der Ozeane
dar, während zahlreiche Wissenschaftler
schätzen, dass 20 % bis 30 % der Ozeane unter
Schutz gestellt werden müssten. (3) Ein interessanter Weg wäre es, die Meeresschutzzonen
zu vernetzen, dabei läge jede Zone von der
nächsten in einer Entfernung, die den
Austausch von Arten und Fischbrut ermöglichen würde. Sie würden über eine höhere
Störungsresistenz verfügen. Die Kosten zur
Pflege eines solchen Netzes liegen zwischen
5 und 19 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Diese Initiative
würde rund eine Million Arbeitsplätze schaffen.
Die Kosten sind geringer als die für die
Subvention der Fischereiindustrie (zwischen
15 und 20 Mrd. US-Dollar jährlich). Warum
sollte man nicht über eine Umverteilung dieser Subventionen nachdenken?
Was würden Sie den Verantwortlichen
gerne mitteilen, die die Ozeane
bewirtschaften?
Als Wissenschaftler würde ich empfehlen,
dass die Bewirtschaftung der Ökosysteme
umfassend eingeführt wird, um überfischte
Fischgründe wiederzubeleben, wichtige
Lebensräume zu schützen, die Verschmutzung
zu überwachen und bedrohte Arten zu schützen.
Die Subventionen, die eine Überfischung
unterstützen, sollten umverteilt werden, um
eine bessere Bewirtschaftung der Fischgründe
zu erreichen und die Ökosysteme zu bewahren.
Gesetze zur Schaffung wirtschaftlicher Anreize
wären ein weiteres Mittel, um die Fischereigemeinschaft zur Einführung von Praktiken
anzuregen, die mit der Meeresumwelt respektvoller umgehen. Solche Ansätze haben positive
Auswirkungen sowohl für die marinen
Ökosysteme als auch für die Menschen, die
vom Meer leben.
François Rebufat
(1) Science, 3. November 2006, Bd. 314
(2) Siehe Artikel, Lösungen dringend gesucht, S. 16
(3) Zahlen vom 5. World Parks Kongress, Durban 2003
myweb.dal.ca/bworm/
© WWF-Canon/Cat Holloway
© WWF-Canon/Jürgen Freund
© CNRS Photothèque/Claude Carre
Primäres
Ökosystem
„Aufsuchen will ich die Grenzen der Nahrung
schenkenden Erde, den Okeanos, Urquell der Götter.“
So spricht Hera, Gattin des Zeus in der Ilias.
Homers Vision ist nicht falsch. Das Meer ist der
besondere Schmelztiegel, der das Leben auf der
Erde vor 3,8 Mrd. Jahren ermöglicht hat.
Die Cyanobakterien sind die ersten Lebensformen.
Die Forscher erkunden ununterbrochen die dunkle
Welt der Meere, in der sich die erstaunlichsten
Wesen verbergen, die ganz ohne Licht und unter
extremsten Umgebungsbedingungen leben können.
Heute wissen die Wissenschaftler, dass die Ozeane
wesentlich für den Erhalt des atmosphärischen
Gleichgewichts verantwortlich sind, indem sie über
90 % des Kohlenstoffs der Erde aufnehmen und
außerdem riesige Mengen an Methan speichern.
Eine „Senke“, deren Verhalten im Kontext der
globalen Klimaveränderung von großer Bedeutung ist.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
7
BIODIVERSITÄT
Wettlauf mit der Zeit
D
Das Leben begann vor etwa 3,8 Milliarden
Jahren im Meer und hat sich stetig
diversifiziert, um auch die extremsten
Lebensräume zu besiedeln. Heute aber
schaden Überfischung, Zerstörung der
Lebensräume, Wasserverschmutzung,
die Einbringung fremder Arten und der
Klimawandel den Meeresökosystemen und
der biologischen Vielfalt. Die Forscher
des europäischen Netzwerkes MarBEF
(Marine Biodiversity and Ecosystem
Functioning) haben ein letztes Abenteuer
in den Meeren begonnen: Sie wollen
die zahlreichen Lebensformen in den
Ozeanen entdecken, bevor diese eventuell
ausgestorben sind.
ie Ozeane werden als „Wiege des
Lebens“ auf dem Blauen Planeten
betrachtet. Sie beherbergen eine
unvorstellbare Vielfalt an Ökosystemen und Arten. Dieser Reichtum ist nur
relativ wenig erforscht: Selbst wenn 240 000 im
Meer lebende Arten erfasst sind, sind doch
etwa 10 Millionen andere bisher unentdeckt
geblieben. Das europäische Forschungsnetzwerk
MarBEF (1) hat es sich zum Ziel gesetzt, mehr
über diese Arten und ihre Lebensräume zu
erfahren, und versucht daher, die Funktionsweise der Meeresökosysteme zu erkunden, die
mit der biologischen Vielfalt zusammenhängt.
Mit mehr als 700 Forschern von 92 Instituten
aus 24 europäischen Ländern ermöglicht diese
Plattform die Integration von interdisziplinären
Forschungstätigkeiten
zur
biologischen
Vielfalt in den Meeren und die Bereitstellung
der gewonnenen Informationen für eine breitere Öffentlichkeit.
„Durch die Vereinigung einer Vielzahl von
Projekten kann das Netzwerk die Tendenzen in
Europa beobachten“, erklärt Herman Hummel,
stellvertretender Leiter von MarBEF. „Unsere
18 Forschungsgebiete konzentrieren sich auf
die globalen Tendenzen der biologischen
Vielfalt der Meere in den Ökosystemen, auf die
Funktionsweise der Ökosysteme und auf die
sozioökonomische Bedeutung der biologischen
Vielfalt.“
Caranx sexfasciatus
(oder Bigeye), lebt im
Pazifischen Ozean.
Die Bedrohung der
biologischen Vielfalt
betrifft alle Arten, die in
den Ozeanen und an ihren
Rändern leben, da sie alle
unzertrennlich miteinander
verbunden sind.
8
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
© WWF-Canon/Jürgen Freund
Empfindliche Biodiversität
In den unterschiedlichen Meeren herrscht
nicht der gleiche Artenreichtum. „Bestimmte
Ökosysteme beinhalten gerade einmal knapp
mehr als 100 Arten, während andere mehrere
Tausend umfassen“, unterstreicht Herman
Hummel. „Es gibt zahlreiche Gründe für diese
Unterschiede: Vor allem in der Ostsee, die vor
etwa 10 000 Jahren von den Gletschern freigegeben wurde, ist die biologische Vielfalt
geringer als in den tropischen Regionen, die
von der Eiszeit verschont blieben und in
denen mehr Arten mehr Zeit hatten, sich weiterzuentwickeln. Im Inneren desselben
Systems kann es durch das Vorhandensein
BIODIVERSITÄT
in den Meerestiefen
Schmetterlingseffekt
Vom 2 µm großen Phytoplankton über
Riesenkalmare bis hin zu den Walen sind alle
Bewohner der Ozeane untrennbar miteinander verbunden. Jede Gruppe spielt eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung des
Gleichgewichts in seiner Umgebung und ist
an der Erhaltung anderer Lebensformen beteiligt.
Jede Veränderung bei einer Art hat folglich mit
hoher Wahrscheinlichkeit auch Auswirkungen
auf eine große Zahl von Organismen, die miteinander verknüpft sind. Die Überfischung
bedroht beispielsweise nicht nur die gejagten
Arten: Sie schadet der globalen Funktionsweise der Ökosysteme derart, dass sie völlig
durcheinander gebracht werden.
Laut mehrerer Studien, die unter anderem in
den Zeitschriften „Science“ und „Nature“ veröffentlicht wurden, ist die Artenvielfalt der
Meeresräuber in sämtlichen Meeresregionen
der Erde im Laufe der letzten 50 Jahre drastisch zurückgegangen. In diesem Zeitraum
haben sich diese Populationen (insbesondere
die Wale) in den großen Ozeanen global um
90 % verringert. Dieses Verschwinden löst eine
„Nahrungs“-Kettenreaktion aus. Kleinere
Fische vermehren sich stark und fressen
Zooplankton. Und weniger Zooplankton führt
dazu, dass das Phytoplankton, von dem es
sich ernährt, überhand nimmt. Das bleibt
natürlich nicht ohne Konsequenzen für zahlreiche Arten. Die Phytoplanktonalgen begünstigen nämlich die Entwicklung von Bakterien,
die dem Wasser seinen Sauerstoff entziehen.
Bestimmte Algen produzieren auch starke
Neurotoxine, die, wenn sie in die Nahrungskette
gelangen, sowohl Krustentiere, Fische, Vögel
und Meeressäuger als auch die Menschen
bedrohen, die diese Organismen direkt oder
indirekt verzehren.
Die Ökosysteme werden auch durch das
Eindringen fremder Arten gestört. Diese
Eindringlinge kommen an den Rümpfen oder
im Ballast von Schiffen oder beim Austausch
unter Muschelzüchtern in andere Gebiete, wo
sie sich weitab von ihrem ursprünglichen
Lebensraum rasch entwickeln und mit den
einheimischen Arten konkurrieren. Ein
Beispiel aus der Geschichte hierfür ist die
Pantoffelschnecke (Crepidula fornicata): Diese
Schnecke von der Ostküste der USA, die im
18. Jahrhundert zusammen mit Austern nach
Europa eingeschleppt wurde, hat sich den
Lebensraum und die Nahrung der Austern
erobert.
Ist das Gleichgewicht wiederherzustellen?
Obwohl auch die zunehmende Bewirtschaftung
der Küstengebiete zu einer Verarmung der
Küstenlebensräume führt, ist das Problem in
der Tiefsee noch gravierender. Da die Ozeane
einen Teil des CO2 aus der Luft absorbieren,
© CNRS/Photothèque/Claude Carre
eines bestimmten Lebensraums ebenfalls zur
explosionsartigen Vermehrung der Vielfalt
kommen, wie z. B. in den hydrothermalen
Kaminen der Tiefeseegräben.“
Auf gleiche Weise, wie dies gegenwärtig in
den Urwäldern geschieht, sterben auch bei
der Zerstörung der Lebensräume im Meer seine
Bewohner aus. Und in Europa? „Unsere
Meeresökosysteme leiden unter der Überfischung, der Zerstörung der Lebensräume,
der Wasserverschmutzung, der Einbringung
fremder Arten und dem globalen Klimawandel“, erklärt Herman Hummel. „Die
Auswirkungen auf die biologische Vielfalt sind
uns größtenteils unbekannt. Die verschiedenen
Arten erfüllen unterschiedliche Funktionen
und eine Mindestzahl dieser Beteiligten ist
notwendig, damit das Ökosystem ordnungsgemäß funktionieren kann.“
versauern sie derart, dass insbesondere die
ersten Glieder der Nahrungskette – Korallen,
Muscheln und Krustentiere – bedroht sind.
Außerdem nimmt saures Wasser weniger CO2
auf. Verbleibt dieses jedoch in der Atmosphäre,
wirkt sich dies verschärfend auf die globale
Erderwärmung aus. Besonders ernst ist das
Problem in der Arktis, wo der Temperaturanstieg zwei- bis dreimal höher ist als anderswo:
3 °C im Laufe der letzten 50 Jahre. In 30 Jahren
ist die Eiskappe bereits um 15 bis 20 %
geschmolzen – und falls sich diese Tendenz
nicht umkehrt, wird das Gleichgewicht der
örtlichen Flora und Fauna unwiderruflich
gestört.
„Durch den Druck auf die Umwelt muss
befürchtet werden, dass Arten aussterben,
noch bevor wir sie entdeckt haben“, betont
Herman Hummel. „Darum müssen wir so
schnell wie möglich eine Bestandsaufnahme
der Artenvielfalt vornehmen. Unser Netzwerk
hat bereits rund zehn Datenbanken aufgestellt, in denen etwa 70 000 Arten in Europa
erfasst sind.“ Will man politische Maßnahmen
für einen nachhaltigen Blauen Planeten festlegen, müssen unbedingt die Auswirkungen der
menschlichen Aktivitäten auf die Meeresökosysteme beurteilt werden. Aber reicht das
aus? „Es muss ein Netzwerk von Schutzzonen
entworfen werden, in denen die biologische
Vielfalt effizient bewahrt werden kann“, meint
Herman Hummel. „Diese Zonen müssen sich
zweifellos über eine Fläche von mehreren
hundert km2 erstrecken, damit sich nachhaltige
Bestände entwickeln können.“
Charlotte Brookes
(1) Das Exzellenznetz MarBEF wird von der Europäischen
Union mit 8,7 Mio. EUR über eine Dauer von fünf Jahren
finanziert.
Nesseltiere, Blumentiere.
Nesseltiere, zu denen Tausende
Arten gehören, gibt es in zwei Formen:
als sessile (Korallen, Seeanemonen…)
oder als Hydrozoen, wie diese Quallen.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
9
TIEFSEE
© T.Lundalv, TMBL
Die verborgene Seite der
Die moderne Erkundung der Tiefsee wirft ebenso
viele Fragen auf, wie sie Geheimnisse lüftet.
Birgt sie noch weitere erschließbare Ressourcen?
Beeinträchtigen Umweltverschmutzungen und
Klimawandel ihre einzigartigen Ökosysteme?
Und wie können wir sie schützen? Auf all diese
Fragen versuchen Wissenschaftler, wie hier im
Projekt Hermes (1), eine Antwort zu finden.
Kontinent
Sedimentbedeckung
Kontinentalrand
Kontinental- Gefälleänderung
plateau
(132 m im Durchschnitt)
(0°07°)
Ozeanisches Becken
Kontinentalhang
(4°)
Kontinentalsockel
KONTINENTALE ERDKRUSTE
Tiefseeebene
(4000-6000 m)
Mittelozeanischer Rücken
(2000-3000 m)
OZEANISCHE ERDKRUSTE
Quelle Planète-Terre/Pierre-André Bourque
10
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Die Kontinentalränder
sind Gegenstand
zahlreicher
Forschungsaktivitäten
und bieten den größten
Teil der potenziellen
Nutzungsmöglichkeiten
in Untiefen.
G
ebirge,
Vulkane,
Canyons,
Thermalquellen… Das Bild des
Unterwasserreliefs, das wir als
Laien vor Augen haben, das aber
auch in der herkömmlichen Meeresliteratur
gezeichnet wird, spiegelt kaum seine ganze
Vielfalt und Komplexität wider. Diese
Ökosysteme sind durch ihre unzähligen der
benthonischen Welt (2) eigenen Strukturen
sehr vielgestaltig und durch die sie bestimmenden Systeme höchst komplex. Außerdem
sind sie auch noch voneinander abhängig,
was die Aufgabe der Wissenschaftler ungeheuer erschwert. Gegenwärtig werden bei den
Untersuchungen die spezifischen Eigenheiten
jedes einzelnen Teils des Unterwasserreliefs
getrennt erfasst. Denn obwohl die Meere und
Ozeane 70 % der Erdoberfläche bedecken,
kennen wir nur knapp 1 % ihrer Bewohner.
Das Leben am Kontinentalrand
Die Ozeanografen interessieren sich intensiv
für die Kontinentalränder, die steilen Hänge
an der Grenze zwischen den Kontinentalplatten und den Tiefseeebenen. An den
Erde
Gorgonenhäupter
(Gorgonocephalus caputmedusae) leben
in 290 m Tiefe in der Region von Skagerak
vor den Küsten Norwegens.
Kontinentalrändern treffen die ozeanische
und die Kontinentalplatte zusammen. Sie sind
mit Spalten übersät, aus denen zahlreiche
Gase, insbesondere Methan, austreten.
Außerdem türmen sich hier die terrestrischen
Sedimente auf, die über die Flussmündungen
oder Meeresströmungen hierher transportiert
wurden, bevor sie in die Tiefseegräben hinunterfallen. Im Gegensatz zu den Tiefseeebenen,
auf denen es kaum Leben gibt, haben sich auf
den Kontinentalhängen zahlreiche Organismen
angesiedelt, die sich hauptsächlich von der
organischen Materie in den Sedimenten
ernähren. Es sind unzählige einzigartige
Ökosysteme, die aber auch sehr empfindlich
sind, weil sie sich speziell an die Tiefsee angepasst haben. Sie ist ein Ort der Extreme mit
schwachem Licht, niedriger Temperatur und
wenig Sauerstoff.
Jede plötzliche Veränderung dieses Biotops
könnte das Leben unzähliger, oftmals noch
unbekannter Organismen auf der Erde auslöschen. „Die Erdölindustrie und die Fischerei
interessieren sich gleichermaßen immer stärker
für die Tiefsee, da die verfügbaren Ressourcen
© T.Lundalv, TMBL.
TIEFSEE
Kaltwasserkorallen
W
enn von Korallen die Rede ist, denkt man unweigerlich an die wunderbaren Strände in den tropischen
Regionen der Erde. Doch eine andere Korallenart
entwickelt sich auch in den dunklen Tiefen des Meeres. Sie ist
weniger farbenreich als ihre südlichen Verwandten, dafür
aber erstreckt sich ihr Vorkommen über ein sehr viel größeres
Gebiet, wie erst kürzlich dank der besseren Technologien für
Kolonie der Koralle Lophelia
die Erkundung der Tiefsee entdeckt wurde. Diese Korallenriffe
pertusa, die am Sacken Reef in
wachsen in Tiefen von 40 m bis 6 500 m in allen europäischen
Norwegen lebt.
Meeren, von den norwegischen Fjorden bis hin zu den
gemäßigten Wassern des Mittelmeers, wie auch sonst überall auf der Erde. Obgleich die Lophelia
Pertusa, eine weiße Koralle, die bekannteste Vertreterin ist, wurden doch bis heute allein im nordöstlichen Atlantik nicht weniger als 1 300 verschiedene Arten erfasst. Die Kaltwasserkorallenriffe können
sich über mehrere Kilometer erstrecken und bilden das Herzstück eines artenreichen Ökosystems,
das Schutz, Unterkunft und Nahrung für eine Vielzahl von Meeresorganismen bietet, zu denen auch
zahlreiche Fische mit Handelswert gehören. Abgesehen von den Beeinträchtigungen durch den
Klimawandel und durch Offshore-Erdölbohrungen werden ganze Flächen von Kaltwasserkorallen
von den Grundschleppnetzen der Fischer abgerissen, die den Meeresboden nach Fischen absuchen.
Diese Korallen entwickeln sich zehnmal langsamer als die tropischen Korallen. Sie benötigen mehrere
hundert, ja sogar tausend Jahre für ihr Wachstum und werden in nur einem kurzen Augenblick
vollkommen zerstört. In den letzten Jahren haben einige Länder, darunter Norwegen, Irland und
Großbritannien, Maßnahmen zum Schutz dieser kaum erforschten Arten angeordnet. Endlich
gibt es einen rechtlichen Rahmen, der die zahlreichen Aufrufe der Wissenschaftler berücksichtigt,
die sich für dieses verborgene Biotop interessieren.
in zugänglicheren Gebieten zurückgehen.
Daher müssen wir unbedingt den benthonischen Lebensraum besser ergründen, um seine
Störanfälligkeit zu bewerten und schließlich
auch den politischen Verantwortlichen nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden vorschlagen
zu können“, erklärt Philip Weaver, Forscher am
National Oceanography Center of Southampton
– NOCS (UK) und Koordinator des europäischen Projekts Hermes, einer interdisziplinären
wissenschaftlichen Plattform, die sich die
Erforschung der europäischen Kontinentalränder
zum Ziel gesetzt hat. Hierbei handelt es sich
um ein besonders schwieriges Unterfangen
für die Europäische Union, deren Kontinentalränder eine Fläche von 3 Mio. km² aufweisen.
Angesichts des enormen Ausmaßes dieser
Aufgabe konzentrieren sich die Forscher von
Hermes auf sieben strategische Zonen, die auf
ökologischer Ebene als „Hotspots“ betrachtet
werden.
Der Grand Canyon von Portugal
Zu diesen Gebieten gehören die portugiesischen Canyons. Nazaré, ein riesiger Canyon
vor der Küste Portugals, erstreckt sich über
etwa 250 km, womit er sich fast mit seinem
amerikanischen Verwandten in Colorado messen
kann. An manchen Stellen ist er 5 000 m tief.
Nazaré stellt eine der letzten Etappen für die
terrestrischen Sedimente dar, die in die
Tiefseeebenen unterhalb des Kontinentalhanges transportiert werden. Die in den
Tiefseegräben lebenden Organismen sind
stark von dieser Sedimentzufuhr abhängig, da
sie eine große Menge organischer Materie mit
sich führt.
Der Mechanismus dieses Phänomens ist einfach, aber wirksam: Die Sedimente häufen
sich im Canyon auf und bilden im Laufe der
Zeit große Abhänge. Je mehr Sedimentschichten
sich übereinander ablagern, desto instabiler
werden die Abhänge. Wenn sie aufgrund
eines geologischen Ereignisses, wie z. B. eines
Erbebens, zusammenstürzen oder einfach nur
das Gleichgewicht verlieren, entstehen dabei
wahre Sedimentlawinen, die sogenannten
Trübungsströmungen. Von der Schwerkraft
geschoben, stürzen sich große Wassersäulen
mit ihren Sedimentladungen auf den
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
11
© NOCS
TIEFSEE
Grund des Canyons und landen in seiner
Mündung, wo sie einen bathyalen Kegel oder
Sedimentfächer bilden. Auf diese Weise legen
die Sedimente große Strecken mit einer
Geschwindigkeit von bis zu mehreren
Dutzend km/h zurück. Die Strömungen,
deren Häufigkeit je nach Canyon variiert
(etwa alle 400 Jahre beim Nazaré-Canyon),
sind so stark, dass sie unterseeische
Telekommunikationskabel zerreißen oder
Beobachtungsstationen, die von Wissenschaftlern an den Seiten des Canyons befestigt
wurden, abreißen können. „Die Trübungsströmungen erodieren die Canyons und
zerstören alles, was ihnen in den Weg kommt.
Wir versuchen, die Fähigkeit der Ökosysteme
zu ermitteln, sich von derartigen Ereignissen
wieder zu erholen. Dadurch können wir dann
die Auswirkungen verschiedener menschlicher
Aktivitäten bewerten, die um die Canyons
herum stattfinden könnten“, fügt Philip
Weaver hinzu.
Schlammvulkane
Die Anhäufung der Sedimente am Fuß der
Kontinentalabhänge ist die Ursache für ein
weiteres geologisches Phänomen, das charakteristisch für die Kontinentalränder ist. Große
Mengen Kohlenwasserstoff steigen über einfache
Gasschlote, Pockmarks (3) oder auch Schlammvulkane aus dem Meeresgrund auf. Die
Wissenschaftler nennen diese Ausströmungen
kalte Austritte, im Gegensatz zu den sehr heißen Hydrothermalquellen, die sich in der
Nähe der ozeanischen Rücken befinden, wo
eine rege Vulkantätigkeit herrscht. „Diese
Ausströmungen, die hauptsächlich aus Methan
bestehen, sind die Folge der Zersetzung der
organischen Materie in den Sedimenten oder
stammen aus Erdöllagerstätten in größeren
12
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Der von den
Forschern des
Hermes-Projekts
untersuchte
ozeanische Canyon
Nazaré hilft u. a. beim
Verständnis der
komplexen Beziehungen
zwischen dieser
unterseeischen Spalte
und seiner Umgebung
Tiefen. Genauso wie Wasser wird auch Methan
in den Sedimenten der Sedimentschicht eingeschlossen. Durch den Druck steigen beide
über Spalten im Meeresboden auf“, erklärt
Jean-Paul Foucher, Koordinator der Sparte, die
sich bei Hermes mit den kalten Austritten
beschäftigt, und Forscher im Fachbereich Marine
Geowissenschaften am Ifremer (4). „Gegenwärtig
versuchen wir die Schlammvulkane, ihren
Ausstoß von manchmal großen Mengen Gas
und Wasser sowie das besondere Ökosystem,
das für sie so typisch ist, zu erfassen und besser
zu verstehen.“
Eine Vielzahl von Organismen bevölkert diese
atypischen Strukturen, und aufgrund der
Fortschritte bei der Unterwasserkartografie
wird ihre Liste immer länger. Eine Mission
wurde erst kürzlich im Golf von Cadiz auf der
„James Cook“, einem ozeanografischen
Forschungsschiff des NOCS, abgeschlossen.
Aber auch viele andere im Rahmen von
Hermes organisierte Expeditionen beschäftigen
sich mit den unterseeischen Schlammvulkanen.
Der eindruckvollste unter ihnen ist der Häkon
Mosby in 1 100 m Tiefe vor der norwegischen
Küste. „Seit etwa zehn Jahren beobachten wir
eine außergewöhnliche Entgasung an der
Oberfläche des Häkon Mosby. Dieser
Schlammvulkan wurde bereits wiederholt
beobachtet, um seine Erschütterungen sowie
das für ihn charakteristische Ökosystem zu
verstehen. Wie bei anderen Schlammvulkanen
oder Pockmarks wird auch beim Häkon
Mosby ein Teil des ausströmenden Methans in
Form von Hydratkristallen, einem festen
Gemisch aus Gas und Wasser, abgeschieden.
Dieses könnte eine enorme Energiequelle für
die Zukunft darstellen, obgleich es durch die
Erwärmung der Ozeane (5) auch gleichzeitig
Gefahren mit sich bringt.“
Die Bewohner eines extremen
Lebensraums
Wie funktionieren Schlammvulkane? In welcher
Tiefe befindet sich die Quelle dieser Ausstöße
von Wasser, Methan und anderen Gasen? Laut
Jean-Paul Foucher „ist jeder Vulkan anders
und die Aufgabe der Wissenschaftler ist daher
enorm. Hier liegt der Lebensraum der
Extremophilen, deren hauptsächliche Energiequelle nicht die Photosynthese, sondern die
Chemosynthese ist. Hierbei wird Energie
anhand der chemischen Bestandteile kalter
Flüssigkeiten, insbesondere von Methan,
erzeugt.“ Durch diese atypische Fauna und
die intensive mikrobielle Aktivität wird ein
großer Teil des aus den Quellen der kalten
Flüssigkeiten abgegebenen Methans verbraucht.
Der Rest wird von der Wassersäule aufgenommen. Aber die Forscher sind über die
Auswirkungen des Klimawandels auf das
Biotop der kalten Austritte besorgt, denn
wenn die Extremophilen aussterben, könnte
die massive Freisetzung des nicht verbrauchten
Gases katastrophale Auswirkungen haben.
Das Treibhauspotenzial (Global Warming
Potential, GWP) von Methan ist nämlich 23-mal
größer als das von CO2, daher ist es ein gewaltiges und gewichtiges Treibhausgas.
Die Untersuchung dieses Biotops erweitert
unsere bisher noch spärlichen Kenntnisse
über die Wechselwirkungen zwischen Ozeanen
und Atmosphäre und bestätigt vor allem ihren
entscheidenden Einfluss auf das Klima. Um
dieser Entwicklung vorgreifen zu können, ist
eine detailliertere Untersuchung der Vorgänge
in der Tiefsee, diesem dunklen Teil der Erde,
notwendig.
Julie Van Rossom
(1) Hotspot Ecosystem Research on the Margins of European Seas.
(2) Das Wort „benthonisch“ bezeichnet das Leben auf dem
Meeresgrund.
(3) Eine Pockmark ist eine Vertiefung an der Oberfläche der
Sedimente, die durch Perlokation von Flüssigkeiten durch
die Sedimentsäule entstanden ist.
(4) Institut Français de Recherche pour l’Exploitation de la Mer
(5) Siehe hierzu Das eigentümliche Universum des Methans in
den Meerestiefen, Artikel veröffentlicht in RTD Info, Nr. 48,
Februar 2006, S. 9
Hermes
www.eu-hermes.net/
NOCS – Classroom at sea
www.classroomatsea.net/
Ifremer – Fonds marins
www.ifremer.fr/exploration/
KOHLENSTOFF
©Leanne Armandi
Das CO2 zwischen
Himmel und Meer
Für das Ozeanplateau der Kerguelen
im Südpolarmeer typische
Kieselalge (Diatomee), die von den
Keops-Forschern untersucht wird.
Die Ozeane sind wahre Kohlenstoffsenken. Ohne sie wäre die
globale Erderwärmung heute bereits viel weiter fortgeschritten
– und dieser Verzögerungsprozess vollzieht sich bereits seit
etwa zwei Jahrhunderten. Dennoch könnten diese riesigen
Kohlenstoffsenken womöglich bald gesättigt sein, wenn die
anthropogenen CO2-Emissionen auf dem gegenwärtigen
Niveau bleiben. Um dieses Phänomen zu verstehen, haben sich
die Forscher des europäischen Programms CarboOcean auf die
Gewässer der Erde begeben, um nach Indizien zu suchen,
anhand derer sich ihr CO2-Absorptionsvermögen sowie die
Folgen einer eventuellen Sättigung bewerten lassen.
D
as CO2 macht zwischen Luft und
Wasser keinen großen Unterschied.
Es bewegt sich problemlos von
einem Element zum anderen und
strebt dabei eine gleichmäßige Verteilung an.
Wenn der Kohlenstoffgehalt in der Luft steigt,
was seit Jahrzehnten der Fall ist, absorbiert
das Meer den Überschuss und stellt das
Gleichgewicht wieder her. Wenn jedoch das
CO2 in der Luft relativ stabil ist, sind die
Wechselwirkungen mit dem Meer vielfältiger
Art; es lassen sich zwei Hauptmechanismen
unterscheiden: die physikalische Pumpe und
die biologische Pumpe.
Der ozeanische Kohlenstoffkreislauf
Die physikalische Pumpe funktioniert aufgrund der thermohalinen Zirkulation der
Ozeane, dem riesigen Wärmeaustauscher der
Erde. An den Polen kühlt sich das
Meereswasser deutlich ab, sein Salzgehalt
nimmt zu und es bildet sich Packeis, wobei
das Salz nicht an der Eisbildung beteiligt ist
und im Wasser zurückbleibt. Das kältere und
salzhaltigere Wasser hat folglich eine höhere
Dichte und sinkt in die Tiefen des Ozeans ab.
Das kalte Tiefenwasser strömt nun in subtropische Gebiete, wo es sich erwärmt. Da es dabei
an Dichte verliert, steigt es an die Oberfläche
auf, um dann wieder an die Pole zurückzuströmen. Dieser Kreislauf ist etwa 80 000 km lang.
Ein Wassermolekül braucht tausend Jahre, um
diesen bei einer Geschwindigkeit von einigen
Millimetern pro Sekunde einmal zu durchlaufen.
Dieses „Förderband“ saugt wie eine Pumpe
einen Teil des Kohlendioxids in unserer
Atmosphäre auf. Da CO2 sich in Wasser desto
besser löst, je kälter es ist, wird es von den
Gewässern an den Polen in großen Mengen
absorbiert und dann in die Tiefen gezogen.
Mehre Jahrhunderte später, wenn das Wasser
die subtropischen Gebiete erreicht, erwärmt
es sich und ist mit CO2 übersättigt, das dann
wieder an die Luft abgegeben wird.
Ein Teil des im Wasser gelösten Kohlendioxids
hat jedoch nicht die Zeit, wieder in den
Kreislauf einzutreten, und wird direkt vom
Phytoplankton bei der Photosynthese und
über die Nahrungskette auch von anderen
Meeresorganismen aufgenommen. Das ist das
Prinzip der biologischen Pumpe. Die organische
Materie dieser Meeresorganismen – Abfälle,
Kadaver – wird im Oberflächenwasser wiederverwertet und das in ihr enthaltene CO2
nach einigen Tagen oder Monaten wieder an
die Atmosphäre abgegeben. Ein Zehntel dieser
organischen Masse wird, laut Experten, in tiefere
Wasserschichten exportiert. Dort bleibt das
Kohlendioxid dann ein Jahrhundert, ein
Jahrtausend oder sogar über geologische
Zeitalter hinweg, wenn es auf dem Grund in
Form von Meeressedimenten abgelagert wird.
Ist die physikalische Pumpe kaputt?
Diese beiden Mechanismen, insbesondere die
physikalische Pumpe und in geringerem Maße
die biologische Pumpe, sorgen dafür, dass ein
großer Teil des in die Atmosphäre ausgestoßenen anthropogenen CO2 eingelagert wird.
Aber wie viel? Und wie lange? Und was passiert,
wenn die Kohlenstoffsenken gesättigt sind?
Auf all diese Fragen versucht das europäische
Forschungsprogramm CarboOcean seit dem
1. Januar 2005 eine Antwort zu finden. „Wir
wollen die CO2-Massen quantifizieren,
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
13
die die Ozeane seit Beginn des industriellen Zeitalters (vor 200 Jahren) aufgenommen
haben, heute aufnehmen und noch künftig bis
zum Jahr 2200 aufnehmen werden“, erklärt
Christoph Heinze, Koordinator des Projekts
CarboOcean. CarboOcean wird im Sechsten
Rahmenprogramm gefördert und bei einem
Gesamtbudget von 20 Mio. EUR von der
Europäischen Kommission mit 14,5 Mio. EUR
finanziert. Es konzentriert sich hauptsächlich
auf den Atlantischen und den Arktischen
Ozean und auf das Südpolarmeer. „Den ersten
Ergebnissen unserer Analysen zufolge“, fährt
Christoph Heinze fort, „scheint die physikalische
Pumpe im Nordatlantik, die das CO2 in die
Tiefen befördert, nicht mehr so gut zu funktionieren wie zuvor. Als Erklärungsversuch können
verschiedene Hypothesen aufgestellt werden,
aber wir warten noch auf weitere Informationen,
um endgültige Schlussfolgerungen über die
Ursachen und Auswirkungen dieser Verlangsamung zu ziehen. Vor kurzem haben wir das
gleiche Phänomen auch im Südpolarmeer
festgestellt.“
Doping für die biologische Pumpe?
Seit vielen Jahren haben die Forscher bereits
beobachtet, dass an bestimmten Stellen der
Erde – dem Südpolarmeer, dem OstäquatorialPazifik, dem Nordpazifik – die biologische
Pumpe auch nicht mit ihrer vollen Kraft läuft,
da ein Mangel an Phytoplankton herrscht.
Manche glauben, dass es ausreichen würde,
sie wieder „in Schwung“ zu bringen, damit sie
mehr CO2 aus der Atmosphäre aufnimmt.
Woran liegt dieser Mangel? Dem Phytoplankton
fehlt Eisen. Seit 1993 durchgeführte Experimente
zeigen nämlich, dass Eisen ein wichtiger
Nährstoff für das Wachstum von Mikroalgen
ist. Es ist ganz offensichtlich, dass durch
Zugabe geringer Mengen Eisen in den Ozean
das Phytoplankton an Kraft gewinnt, wodurch
die während der Photosynthese aufgenommene
CO2-Menge ansteigt. Aber für Stéphane Blain,
Direktor der Expedition Keops (Kerguelen
Ocean and Plateau compared Study), „haben
diese Experimente Zweifel aufkommen lassen.
Denn auch wenn es offensichtlich ist, dass die
biologische Aktivität aufgrund dieser
Düngung sich an der Oberfläche verstärkt –
beispielsweise die Photosynthese –, bleibt
doch weiterhin die Frage unbeantwortet, wie
viel von dem absorbierten CO2 in die Tiefen
14
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
© Andrea Volbers
KOHLENSTOFF
Diese Expedition wurde von den Forschern des CarboOcean-Projekts angeregt und ermöglichte
norwegischen Schülern eine Fahrt auf dem Forschungsschiff „Hans Brattstrøm“, das mit einem
Planktonnetz und hydrografischen Sensoren ausgestattet ist.
gelangt. Nun ist aber allein dieser Transfer in
die Meerestiefen das Zeichen dafür, dass sich
die biologische Pumpe in Gang gesetzt hat.“
Handelsunternehmen wie Planktos haben
trotz dieser Unsicherheit keine Bedenken zu
handeln. Ihr Unternehmensmodell ist relativ
einfach: Sie verkaufen CO2-Kredite an
umweltverschmutzende Unternehmen oder
Gebietskörperschaften, damit diese eine ausgeglichene Bilanz in Bezug auf CO2Emissionen vorweisen können. Planktos
übernimmt es dann, die Emissionen seiner
Kunden auszugleichen, indem es beispielsweise in Wiederaufforstungsprojekte auf den
verschiedenen Kontinenten investiert. Das
Unternehmen hat sich auch vorgenommen,
demnächst die Düngung von Phytoplanktonzonen anzubieten. Es gibt jedoch keine Garantie
dafür, dass dieses Vorgehen rentabel ist und
dass das CO2 auch wirklich langfristig in die
Tiefen der Ozeane transportiert wird. Nach den
ersten Experimenten sind die Wissenschaftler
jedenfalls sehr skeptisch, hinzu kommen
eventuelle unerwünschte Nebenwirkungen.
Um dieser schwierigen Frage auf den Grund zu
gehen, hat die Expedition Keops Anfang 2005
Beobachtungen im Bereich des Ozeanplateaus
der Kerguelen im Südpolarmeer durchgeführt.
Dieser Ort wurde speziell aufgrund seiner
saisonalen Planktonblüte ausgesucht, „die
ganz klar auf eine Eisenzufuhr zurückzuführen
ist“, erklärt Stéphane Blain. „Dieses Eisen
kommt auf natürliche Weise aus den tieferen
Schichten des Ozeans. Ein Aspekt unserer
Studie war die Untersuchung der Gründe für
diese Zufuhr. Ein weiterer war die Beobachtung
der daraus resultierenden Folgen. Und dabei
haben wir festgestellt, dass das natürliche
System das CO2 sehr wirksam in die Tiefen
exportiert. Aber die Bedingungen für diese
natürliche Zufuhr unterscheiden sich grundlegend von denen einer künstlichen Beigabe,
bei der Eisen in die Oberflächenschichten
geworfen wird. Man kann zwar sicher sagen,
dass eine künstliche Eisenzufuhr die CO2Aufnahme in den Oberflächenwassern erhöht,
aber man kann nicht soweit gehen zu behaupten, dass ein dauerhafter Export des CO2 in die
tiefen Schichten des Ozeans stattfinden wird.“
CO2 + H2O = Kohlensäure
Wenn sich das CO2 im Wasser löst, wird in
einer chemischen Reaktion Kohlensäure
gebildet. Mit anderen Worten: Das vom Ozean
absorbierte CO2 erhöht den Säuregrad des
Wassers, auch wenn dies auf natürliche Weise
geschieht. Vor dem industriellen Zeitalter lag
der pH-Wert (1) der Ozeane bei 8,16, heute
liegt er jedoch nur noch bei 8,05. Bei gleich
bleibenden CO2-Emissionen in die Atmosphäre
müsste der pH-Wert im Jahre 2100 bei ungefähr 7,60 liegen.
Nun erinnert Christoph Heinze aber daran, dass
„das Überleben eines großen Teils der
Meeresorganismen, von denen einige als
Grundlage der Nahrungskette im Meer dienen,
unter anderem auch vom pH-Wert abhängt.
Die Versauerung kann daher das Leben in den
Ozeanen verändern. Insbesondere kleinere
Organismen mit einer Kalkschale wären am
stärksten betroffen und würden geschwächt.“
„Wenn sich die Kohlenstoffsenken in den
Ozeanen weiter abschwächen“, schließt der
Koordinator von CarboOcean, „müssen wir
wahrscheinlich die aktuellen Szenarien für die
Treibhausgasemissionen nach unten korrigieren.
Für die Gemeinden würde das bedeuten, dass
sie unbedingt ihren Energieverbrauch senken
müssen, der für einen großen Teil des CO2 in
der Atmosphäre verantwortlich ist.“
Matthieu Lethé
(1) Auf der Messskala für den Säuregrad haben die sauersten
Substanzen einen pH-Wert von 0, die basischsten
Substanzen einen pH-Wert von 14 und reines Wasser ist
neutral mit einem pH-Wert von 7.
© WWF-Canon/Mike R.Jackson
© WWF-Canon/Isaac Vega
© Greenpeace/Gavin Newman
Nahrungsquelle Meer
Obwohl es lange Zeit hieß, dass das Meer
unerschöpflich sei, neigt sich das Leben in ihm nun
dem Ende zu. Dem WWF zufolge sind 76 % der
Fischbestände bereits überfischt oder stehen kurz
davor. 300 000 Meeressäugetiere geraten jedes Jahr
in die Fangnetze. Der „nachhaltige Fischfang“ muss
dennoch kein Mythos bleiben. Es wäre bereits
ausreichend, wenn der Fang den erneuerbaren
Grundstock der Ressourcen nicht überschreiten
würde. Voraussetzungen für eine solche
Bewirtschaftung wären Regulierung, Fangquoten
und geschützte Meeresbereiche.
Angesichts der Nachfrage kann die Aquakultur sogar
einen Gewinn für die Ernährung darstellen,
wenn diese unter kontrollierten Bedingungen
betrieben wird. Dies gilt sowohl für die
Zuchtprodukte als auch für die benachbarten wilden
Arten, die im Küstenbereich oder in dessen Nähe
leben. Geschützt und richtig bewirtschaftet quellen
die Ozeane über vor Reichtum. Sie bieten auch
Möglichkeiten für die Pharmaforschung und für
neue Energieformen, vor allem für Wellenkraftwerke.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
15
ÜBERFISCHUNG
Lösungen dringend
gesucht
Verschließen wir uns nicht den
Tatsachen: Der große blaue Ozean ist
nicht von unerschöpflichem Reichtum,
wie man immer glaubte. Und das noble
Bild, das man mit der Fischerei verbindet,
verliert durch die Überfischung nach
und nach an Glanz. Wissenschaftler und
Fischer widersprechen einander.
Die einen warnen vor den katastrophalen
Auswirkungen der Überfischung,
die anderen verteidigen ihren Beruf,
von dem sie leben. Dass die
Wildfischbestände langfristig geschützt
werden müssen, darüber sind sich alle
einig. Aber wie? Die wissenschaftliche
Forschung hält noch nicht alle Antworten
bereit. Außerdem müssen die politischen
Instanzen dies berücksichtigen.
© Ifremer/Olivier Barbaroux
16
H
© Australian Fisheries Management Authority
Fischfang von Rotem Thun in
Favgnana (Sizilien – IT). Diese
überfischte Art ist ein Wanderfisch;
er wandert über große Strecken im
Nordatlantik und in den angrenzenden
Meeren von kälteren Regionen,
in denen er sich ernährt, in wärmere
Regionen, in denen er laicht.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Außergewöhnlicher
Fischfang? Industrieller
Fischfang mit
Schwerpunkt auf dem
Kaiserbarsch
(Hoplostethus atlanticus).
at Europa seine Meeresressourcen
sorgfältig genug verwaltet? Nach
25 Jahren gemeinsamer Fischereipolitik (GFP) ist die Bilanz überaus
erschreckend. Die Berichte der FAO (1) zum
Zustand der weltweiten Fischbestände zeigen,
dass der Anteil der nachhaltig bewirtschafteten
Fischarten auch weiterhin abnimmt und von
40 % im Jahre 1974 auf nur 23 % im Jahre 2005
gesunken ist. Und die Europäische Union ist
davon direkt betroffen. Der nordöstliche
Atlantik, aus dem mehr als zwei Drittel der
europäischen Fänge stammen, gehört zu den
Gebieten, in denen die Artenvielfalt am stärksten
bedroht ist. (2) Hier sind 46 % der Bestände
überfischt, verkümmert oder gerade in der
Erholungsphase, während dies auf weltweiter
Ebene nur 25 % der Fischbestände betrifft. Die
GFP „muss sich, da sie keinen Wechsel zur
nachhaltigen Nutzung der Fischereiressourcen
bewirkt hat, ändern. Bestandserhaltung, wirtschaftliche Entwicklung und politischer
Ansatz weisen Mängel auf“, konnte man 2001
im Grünbuch der Europäischen Kommission
über die Zukunft der Gemeinsamen Fischereipolitik lesen.
Endlich eine ambitionierte Reform…
Einer der Hauptgründe für diesen Misserfolg
ist die Tatsache, dass es den politischen
Verantwortlichen schwer fällt, wirtschaftliche
und ökologische Erfordernisse zu vereinen.
Bei 76 % der Vertragsverletzungsverfahren
hinsichtlich der GFP gegen Mitgliedstaaten
geht es um Überfischung. Die GFP wurde zu
lasch angewendet. Seitdem sie 1982 ins Leben
gerufen wurde, konnte sie zwar nationale
Interessenkonflikte eindämmen, aber gegen die
Überfischung hat sie leider nichts ausrichten
können. Wirtschaftliche Vormachtstellung
oder wahltaktische Absichten? Wie dem auch
sei, es ist den Politikern selten gelungen, die
Fangquoten im Einklang mit den wissenschaftlich festgelegten zulässigen Gesamtfangmengen
(TAC) festzusetzen, wie es für die Erneuerung
der Populationen notwendig gewesen wäre.
Einige Subventionen hatten das Ziel, die
Fangflotte schrittweise zu verkleinern und
gleichzeitig die verbleibenden Boote zu
modernisieren. Löblich, aber wirkungslos: Die
Verringerung der Anzahl der Boote wurde
durch die Erhöhung der Fangkapazität der
einzelnen Boote wieder ausgeglichen.
Heute wissen wir, dass die Artenvielfalt der
Ozeane auf einer komplexen Verflechtung
von Synergien zwischen den verschiedenen
Meeresorganismen beruht, deren Überleben
von einem empfindlichen Gleichgewicht
abhängt, das ihre Umwelt reguliert. Diese
Vielschichtigkeit war zum Zeitpunkt, als die
GFP erarbeitet wurde, noch unzureichend
bekannt, sodass die GFP den Zustand der
Fischbestände ausschließlich anhand von
Häufigkeits- und Mortalitätsindikatoren, aufgrund der Befischung in den jeweiligen
Beständen und unabhängig von der Entwicklung
der Ökosysteme beurteilte. Die im Jahre 2002
überarbeitete GFP soll endlich eine nachhaltige
Befischung der Meeresressourcen erreichen.
Hierfür ist ein größerer Beitrag durch die
Forschung erforderlich, denn die Kenntnisse
über den Ozean als System sind noch unzurei-
© WWF-Canon/Jason Rubens
ÜBERFISCHUNG
chend, um effizient den neuen ökosystemorientierten Ansatz der Kommission einzuführen.
Wie zählt man das Unzählbare… und
zwar fehlerfrei?
„Wir arbeiten an der Bewertung einer
Ressource, die man nicht einzeln zählen kann.
Daher müssen wir den Zustand der Populationen
auf Umwegen anhand von statistischen
Modellen messen“, erklärt Pierre Petitgas. Der
Biologe und Geostatistiker am Ifremer ist der
Koordinator von Fisboat, einem europäischen
Projekt, das sich die Optimierung der
Bewertungsmethoden für Meeresressourcen
zum Ziel gesetzt hat. Beim aktuellen Prozess
werden Daten aus Probennahmen durch
Wissenschaftler im Meer sowie aus den
Fangerklärungen der Fischer herangezogen.
Während Verzerrungen der Stichproben aus
dem Meer berechnet und berichtigt werden
können, lässt sich nicht feststellen, in welchem
Maße die Fischer die tatsächlichen Fang- und
Beifangmengen angeben. Daher muss die
Zuverlässigkeit der Bewertungsmethoden, die
einerseits
auf
den
wissenschaftlichen
Probennahmen und andererseits auf den Daten
der durch die Fischer gemachten Erklärungen
beruhen, unbedingt verbessert werden. „Die
Quantifizierung der Unsicherheiten ist ein
unverzichtbarer Bestandteil der wissenschaftlichen Empfehlungen. Hierbei handelt es sich
um eine notwendige Voraussetzung für die
Integration des Vorsorgeansatzes in den
Entscheidungsprozess der neuen Politik“,
unterstreicht das Ifremer.
Ein weiterer Fehler besteht darin, politische
Entscheidungen auf unvollständige Zahlen zu
stützen. „Wenn man nur die demografischen
Indikatoren berücksichtigt, kann man auch
nur eine Teildiagnose der reellen Situation
erstellen. Das ist wie bei einem Bauern, der
20 % der Haifischarten sind vom Aussterben
bedroht, insbesondere weil die Jungtiere sich in
Netzen verfangen, die gar nicht für sie ausgelegt
wurden. Einer der jüngsten Gewinner bei Smart
Gear, einem Innovationswettbewerb für
nachhaltige Fischerei, den der WWF organisiert,
hat ein Magnetsystem erfunden, mit dem man
Haifische von Trawlern und Langleinenfischern
fernhalten kann, die auf Thunfisch- und
Schwertfischfang sind.
sein Getreide ausschließlich in einem
begrenzten Umkreis prüft, ohne sich davon zu
überzeugen, ob auch der Rest seiner Kultur
normal wächst“, sagt Pierre Petitgas. Mit großer
Wahrscheinlichkeit war das die Ursache für
den Zusammenbruch der Kabeljaubestände in
Kanada, bevor 1992 ein Moratorium beschlossen
wurde. Damals wurden mehrere biologische
Indikatoren, die im Rahmen von Forschungskampagnen gemessen wurden – wie die
Sterblichkeitsrate, Alter bei Eintritt der
Geschlechtsreife, räumliche Verteilung der
Population –,in den Berichten für die politischen Entscheidungsträger nicht erwähnt.
Eine nachträgliche Untersuchung ergab
jedoch, dass diese Indikatoren für Bestandsschäden bereits existierten, bevor die
Zivilgesellschaft darüber informiert wurde.
Der europäische Meeresraum muss folglich
zuverlässiger und vorhersagekräftiger beurteilt
werden. Das ist die Aufgabe von Fisboat,
dessen Bewertungsmethoden im CIEM (3)
getestet werden.
Smart Gear: Neue Fischfanggeräte
Eine weitere Herausforderung ist die
Entwicklung neuer Fischfanggeräte für einen
schonenden Umgang mit der Meeresumwelt.
Angesichts der beeindruckenden Anzahl von
Organismen, die sich ungewollt in den Netzen
befinden, steht viel auf dem Spiel. Diese Zahl
reicht von 3,8 % bei umweltschonenden
Fischfanggeräten bis zu 50% bei einigen anderen Booten, wie z. B. bei Grundnetzschleppern,
die außerdem unschätzbare Schäden in den
empfindlichsten marinen Lebensräumen, etwa
bei den Kaltwasserkorallen, anrichten.
Ozeanografen und Naturschutzverbände
prangern diese Fanggeräte immer stärker an,
denn die genauen Konsequenzen für das benthonische Ökosystem, das besonders
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
17
lange braucht, um sich wieder zu erholen, sind noch unzureichend erfasst.
Bleibt also nur, den Fischern andere Möglichkeiten vorzuschlagen. Seit 2005 organisiert der
WWF den internationalen Wettbewerb
SmartGear, der allen Tüftlern offen steht:
Fachleuten aus der Fischereiindustrie,
Ingenieuren, Lehrern und Studenten. Ziel:
Förderung von Erfindungen, die den Schutz der
Umwelt und die Rentabilität der Fischgründe
vereinen. Die innovativsten Lösungen sind
manchmal überraschend einfach. Mit der
Erfindung des Gewinners von 2006 lassen sich
negative Auswirkungen der Fischerei auf die
Haifischpopulationen verhindern; 20 % der
Haifischarten sind nämlich bereits vom
Aussterben bedroht. Wie funktioniert das? Es
werden die Abneigung der Haifische gegen
starke Magnetfelder und ihre einzigartige
Fähigkeit, diese zu erkennen, ausgenutzt.
Starke Magneten werden oberhalb der Haken
an den Langleinen platziert, mit denen
Schwert- und Thunfisch gefangen wird.
Dadurch können die Haifische von den tödlichen Leinen abgeschreckt werden.
Der dritte Preis ging an eine dänische
Erfindung. Sie ermöglicht es, den Fang von
Jungfischen und kleinen Fischen ohne
Handelswert zu reduzieren, indem das
Rückhaltenetz am Steerteingang (4) verändert
wurde. Dank kleiner elastischer Rohre, die auf
eine Leine aufgefädelt sind, besitzt das Netz
Maschen mit „variabler Geometrie“, mit denen
nur große Fische zurückgehalten werden, und
die kleineren unverletzt ins Meer zurückkehren
können. Dieses System ist flexibler, einfacher
und ungefährlicher in der Handhabung. Es
wird von den Fischern des Blauen Wittlings
auf den Färöer-Inseln weitgehend eingesetzt,
seit im Juni 2006 ein Gesetz in Kraft getreten
ist, das die Verwendung von Rückhaltenetzen
vorschreibt.
Die Zukunft: Meeresschutzzonen
Diese technischen Optimierungen lösen
jedoch nicht das Grundproblem: Durch die
Fischerei werden die größten Fische mit der
höheren Laichproduktion, deren Laich auch
lebensfähiger ist, herausgefangen. Bei dieser
Selektion werden folglich die kleinen und
unfruchtbareren Exemplare begünstigt und
die bereits vom Aussterben bedrohten
Populationen weiter geschwächt. Dadurch
18
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
© WWF-Canon / Michel Gunther
ÜBERFISCHUNG
sinkt auch die Hoffnung darauf, dass sich die
Artenvielfalt in den Meeren wiederherstellen
lässt. Beim Schellfisch, einer stark überfischten Art, wurde beobachtet, dass er früher
geschlechtsreif wird, was definitiv die Größe
und Fortpflanzungskapazität der Exemplare
einschränken könnte.
Optimal wäre die Einrichtung von Erholungsgebieten, in denen die Organismen ihr volles
Potenzial erreichen könnten. Jede Art entwickelt
sich jedoch in einer ganz spezifischen
Umgebung. Damit diese Rückzugsgebiete in
Bezug auf die außergewöhnliche Artenvielfalt
auch tatsächlich wirksam sind, müssten sie
folglich sehr viele verschiedene Lebensräume
umfassen. Aus sozioökonomischer Sicht wäre
die Einrichtung von Naturreservaten in großem
Maßstab, in denen sämtliche Fischereiaktivitäten
untersagt sind, undenkbar, denn es wäre eine
Katastrophe für die Fischfangindustrie.
Es ist jedoch möglich, strategische Gebiete
abzugrenzen, in denen die fischereilichen
Aktivitäten strenger geregelt werden, um
einen besseren Schutz der Ökosysteme zu
gewährleisten. Das ist das Konzept der
Meeresschutzgebiete, einer der Prioritäten der
Reform der GFP von 2002. Dieser Ausdruck ist
allerdings irreführend, da er sowohl für
Naturreservate, die für sämtliche fischereiliche
Aktivitäten geschlossen sind, als auch für
Gebiete mit einer strengeren Regulierung der
Fischgründe verwendet wird, in denen die
Vorschriften je nach dem zu schützenden
Ökosystem variieren können. Hierbei handelt
es sich um ein allgemeineres Konzept, das die
ökologischen Erfordernisse und die sozioökonomischen Notwendigkeiten vereinbaren soll.
Wie aber lassen sich derartige Räume abgrenzen
und verwalten? Anhand welcher Indikatoren
sollte ihre Wirksamkeit bewertet werden? Auf
all diese Fragen versuchen europäische
Forschungsprogramme, wie z. B. Protect, eine
Schildkröte Caretta,
geschützte Tierart auf
Zakynthos in der Bucht
von Laganas, (Ionische
Inseln - GR).
Antwort zu finden, indem frühere Experimente
ausgewertet werden. In einem im Februar
2006 veröffentlichten Bericht analysieren die
Forscher von Protect sechs Beispielfälle von
Meeresschutzzonen (5) im Nordatlantik. Die
fünf europäischen Fälle haben einen Punkt
gemeinsam: Sie sind alle erfolglos. Das verwundert nicht: Das Ziel ihrer Einrichtung ist
vage und nur wenige Indikatoren wurden im
Voraus zur Beurteilung ihrer Auswirkungen
definiert. „Das bedeutet nicht, dass das System
unwirksam ist. Damit die Einrichtung von
Meeresschutzgebieten Erfolg hat, müssen sämtliche Prozesse und Aktivitäten im Zielgebiet
berücksichtigt und die langfristigen sozialen
und wirtschaftlichen Auswirkungen vorhergesagt werden können“, erklärt Ole Vestergaard,
Forscher am Difres (6) und Koordinator von
Protect. „Wir versuchen Zukunftsmodelle zu
entwickeln, die eine optimale Planung ermöglichen. Hierzu gehören z. B. die Formulierung
präziser Verwaltungsziele und die Ermittlung
der notwendigen Vorabinformationen über die
verschiedenen Wechselwirkungen zwischen
Umwelt und menschlichen Tätigkeiten.“
Große Hoffnungen ruhen auf den Forschungstätigkeiten, die mit Blick auf eine ökosystemorientierte Verwaltung der Fischfänge entwickelt
wurden. Hierbei handelt es sich aufgrund der
unglaublichen Vielfalt von Synergien in der
Meereswelt um ein besonders schwieriges
Vorhaben. Bleibt abzuwarten, welche Lösungen
die Politiker für diese neuen Verwaltungsmethoden finden. Denn hier sind sich die
Fachleute ganz sicher: Ein Meeresschutzgebiet
muss unbedingt von klaren, unzweideutigen
Rechtsvorschriften gestützt werden, die rigoros
durchgesetzt werden.
Julie Van Rossom
(1) Welternährungsorganisation – Seit 1974 veröffentlicht die
FAO die SOFIA-Berichte, in denen der Zustand der
Fischbestände weltweit beurteilt wird.
(2) Diese Liste enthält auch den Südostatlantik sowie den
Südostpazifik und die Thunfischfanggründe auf hoher See
im Pazifischen und Atlantischen Ozean (SOFIA 2006).
(3) International Council for the Exploration of the Sea.
(4) Der Steert befindet sich am Ende des Grundschleppnetzes.
(5) Hier im Sinne von sämtlichen Maßnahmen zur Verwaltung
eines Meeresgebiets.
(6) Danish Institute for Fisheries Research.
FAO
www.fao.org
FISBOAT
www.ifremer.fr/drvecohal/fisboat
PROTECT
www.mpa-eu.net
AQUAKULTUR
Fisch ist für einige Völker lebenswichtige Eiweißquelle,
für andere Gesundheitskapital. Sein Verbrauch ist
derart gestiegen, dass die natürlichen Ressourcen nicht
mehr ausreichen, um der weltweiten Nachfrage gerecht
zu werden. Eine hervorragende wirtschaftliche Chance
für die Aquakultur, die jedoch mit zahlreichen gesundheitlichen Risiken und Umweltproblemen einhergeht.
Z
u einem Zeitpunkt, an dem die
Fangquoten insgesamt bei um die
95 Mio. Tonnen pro Jahr stagnieren,
konzentrieren sich die Hoffnungen
auf die Aquakultur, die bereits 46 % der für
den Verzehr vorgesehenen Produktion
abdeckt. In Europa wird hauptsächlich der
Bereich der marinen Aquakultur ausgebaut,
der in der EU nur wenig entwickelt ist,
obgleich er mehr als die Hälfte der weltweiten
Aquakulturproduktion liefert. „Mehr als die
Hälfte der europäischen Küsten sind zu stark
den Wellen und Winden des Atlantiks ausgesetzt
– ein Faktor, der die Einrichtung dieser Art
von Zucht erschwert“, erklärt Alistair Lane,
Direktor der Europäischen Gesellschaft für
Aquakultur (EAS – European Aquaculture
Society). „Zahlreiche Innovationen ermöglichen
jedoch in absehbarer Zeit die Erweiterung der
europäischen marinen Aquakultur. Eine vielversprechende Aussicht, vor allem für die
Fischer, die bereits aufgrund der Überfischung
mit dem Verlust vieler Arbeitsplätze zu kämpfen haben. Die Beteiligung der Fischer an der
Entwicklung der Aquakultur im Meer ist ein
großer Vorteil, denn keiner kennt dieses
Milieu besser als sie“, schließt Alistair Lane.
Die Aquakultur könnte folglich eine hervorragende Alternative zur Überfischung darstellen,
sofern diese althergebrachte Technik im
Einklang mit ihrer Umwelt praktiziert wird.
Davon hängt sowohl eine gesunde Population
wild lebender Arten als auch die Nachhaltigkeit
des gesamten Sektors ab. Diesbezüglich hat
die Europäische Kommission 2002 ihre erste
Strategie für die europäische Aquakultur eingeführt, die die Forschungsbereiche festlegt,
um die Produktion zu erhöhen, eine optimale
Qualität für die Verbraucher aufrechtzuerhalten
und Umweltschutz auf hohem Niveau zu
gewährleisten. Obwohl diese Strategie 2007
Gegenstand einer breit angelegten Konsultation
zur Verbesserung des Systems war, sind die drei
ursprünglichen Ziele auch weiterhin aktuell.
Begrenzung der Umwelteinflüsse
Die Aquakultur bringt zahlreiche Umweltprobleme mit sich: Nitrate und Phosphate aus
Exkrementen, Antibiotika, Reinigungsmittel
oder Einschleppung faunenfremder Arten. Ein
schwieriges Problem, dem die Forscher besondere Aufmerksamkeit widmen, denn über die
genaue Funktionsweise der Meeresökosysteme
ist bisher nur wenig bekannt. Nach dem
Vorsorgeprinzip, das insbesondere durch die
neue Gemeinsame Fischereipolitik (1) von 2002
vorgeschrieben wird, muss die wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich einer Aktivität
© European Aquaculture Society
Die kulinarische
Zukunft der Meere
Aquakultur in der Türkei.
Diese Farm befand sich in
der Nähe eines Feriendorfs
und musste verlegt werden,
um nicht die Entwicklung
des örtlichen Tourismus
zu behindern.
im Meer zumindest durch eine vorherige vollständige wissenschaftliche Bewertung der
Umweltrisiken abgefedert werden. Ein derartiger
Ansatz ist auch im Interesse der Aquakulturen,
deren Rentabilität zum großen Teil von einer
gesunden Umwelt abhängt. Deutlicher Beleg
hierfür sind die regelmäßigen Verluste der
Schalentierproduzenten aufgrund der starken
Vermehrung bestimmter Algen, die Toxine
produzieren. Es bleiben allerdings andere
unbekannte Faktoren, insbesondere in Bezug
auf Schadstoffe, denn die Zuchtanlagen können
nicht mit Wasserumlaufsystemen ausgestattet
werden, und alle Abfälle werden ins Meer eingeleitet. Außerdem befürchten die Spezialisten
eine Veränderung des genetischen Erbes der
wild lebenden Arten, die sich mit Fischen
kreuzen, die aus den Zuchtanlagen entwichen
sind. Doch unsere Erkenntnisse auf diesem
Gebiet sind noch recht spärlich. Die Gefahren
der Aquakultur quantitativ zu bestimmen, ist
das Hauptziel von Ecasa (2). Dieses Projekt soll
die besten Indikatoren ermitteln, anhand
derer sich die Umweltbelastung durch die
Aquakultur bewerten lässt, um dann
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
19
AQUAKULTUR
Lachszucht in Vestnes
(Norwegen). Eine Praxis,
die die Überfischung
„ausgleichen“ und die
Wildarten in der Nähe
schützen könnte.
Aquakultur – Kurzer geschichtlicher Überblick
ie Spuren der ersten rudimentären Fischzuchten stammen aus der Zeit um 2000 v. Chr.
und wurden in China und Ägypten entdeckt. Anderthalb Jahrtausende später begannen
die Griechen mit der Austernzucht, während die Vallikultur, bei der die auf ihrem Weg
ins Brackwasser gefangenen Fische zurückgehalten werden, erst im 15. Jahrhundert aufkommt. Erst mit der Entdeckung der künstlichen Befruchtung der Lachse im 17. Jahrhundert
wurde der gesamte Lebenszyklus einer Fischart kontrolliert. Das 20. Jahrhundert sieht den
Boom der Aquakultur als neue Eiweißquelle für die rapide wachsende Weltbevölkerung.
Die ersten Aalzuchten kamen in Japan in den 50er Jahren auf. In den folgenden zehn Jahren
etablierte sich die Zucht der Regenbogenforelle in Europa und den USA. Ab den 70er Jahren
kamen mit Makrele, Wels und bestimmten Muschelarten die ersten Besatzfischereien auf, bei
denen die frühen Entwicklungsstadien kontrolliert werden, um den natürlichen Lebensraum
wieder neu zu besetzen. In den folgenden Jahrzehnten verbreiteten sich neue Aquakulturen,
hauptsächlich im Meer, mit der Produktion von Lachs, Garnele, Seebarsch bzw. Dorade und
seit kurzem mit der Zucht von Thunfisch, dessen Vermehrung jedoch noch unzureichend
kontrolliert wird. Hier werden die Satzfische im Meer gefangen und dann in der Aquakultur
gemästet. Diese Praxis hat sich jedoch den Zorn einiger Umweltschutzorganisationen
zugezogen…
D
geeignete Modelle für die verschiedenen
europäischen marinen Aquakulturen entwickeln zu können. Da die marine Aquakultur
sich den Raum außerdem mit anderen
Nutzern des Meeres teilen muss – Touristen,
Freizeithäfen, Fischer usw. – soll das Projekt
auch die Standorte auswählen, die sich für die
Entwicklung von Fischfarmen am besten eignen.
Die Hauptaufgabe dieses Maßnahmenkatalogs
besteht darin, den Betreibern ein besseres
Verständnis für die Wechselbeziehung zwischen
Aquakultur und Umwelt zu vermitteln.
Nachhaltiges Fischfutter
© WWF-Canon/Jo Benn
Die europäische marine Aquakultur konzentriert sich insbesondere auf die Zucht von
Raubfischen. Die drei hauptsächlich produzierten Arten, Atlantischer Lachs, Steinbutt
und Seebarsch, ernähren sich in ihrem natürlichen Lebensraum ausschließlich von
Fischen. Um 1 kg Lachs zu produzieren, sind
jedoch Mehl und Öl aus 4 kg Fisch notwendig.
Eine Praxis, die ernste Probleme für die
Nachhaltigkeit in sich birgt. Die verstärkte
Raubfischzucht setzt folglich einen stärkeren
Druck auf die pelagischen Fischbestände (3)
mit geringem Handelswert voraus, die für die
Herstellung der notwendigen Mengen Fischmehl
und -öl benötigt werden. Ersatzstoffe pflanzlichen Ursprungs werden schon jetzt den
Futtermitteln für die Fischzucht beigemischt,
jedoch muss die Technik verbessert werden,
20
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
AQUAKULTUR
Optimierung der Aquakulturproduktion
Ein gesundes Produkt ist sicher ein wichtiges
Anliegen für den Verbraucher, es ist jedoch
nicht das einzige Qualitätskriterium. Das Auge
isst bekanntlich immer mit: Ein missgebildeter
Fisch würde folglich keinen Platz auf unserem
Teller finden. Dieses Phänomen wird in natürlichen Lebensräumen automatisch durch
Prädation geregelt, was für die Zuchtanlagen
jedoch einen drastischen Gewinnverlust
bedeutet, denn ein missgebildeter Fisch frisst
mehr und wird folglich aus der Produktion
entfernt. Durch Ermittlung und Abänderung
der Faktoren, die das Auftreten von
Missbildungen fördern, lassen sich Verluste
senken und damit die Produktivität der
Die norwegische Station für
Aquakulturforschung (Fiskeriforskning) in Tromsø
bildet den Kern von Ethiqual, das im Rahmen des
europäischen Seafoodplus-Projekts durchgeführt
wird. Die Forscher beobachten insbesondere das
Verhalten und die Stresstoleranz der verschiedenen
Zuchtfischstämme.
sind: Temperatur, Futter und Umgebung des
Zuchtbeckens. „Wir versuchen herauszufinden,
wie diese Faktoren optimiert werden können,
um den Anteil missgebildeter Fische bei den
fünf verschiedenen Zuchtarten zu begrenzen“,
sagt Margreet van Vilsteren, Projektassistentin
bei der FEAP. „In Forschungszentren wird
eine experimentelle Phase durchgeführt. Die
Ergebnisse werden dann vor Ort in den zehn
Zuchtanlagen, die an dem Projekt teilnehmen,
getestet. Auf diese Weise können wir sie in der
Praxis unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten
bewerten und ihre optimale Wirksamkeit
gewährleisten.“
Andere Studien versuchen, die Kontrolle sämtlicher Entwicklungsstadien der Fische durch
die Aquakultur zu nutzen, um die vorteilhaften
Eigenschaften der Meeresprodukte zu erhöhen.
Im Rahmen von Seafoodplus (7), einem weiteren
umfassenden EU-finanzierten Forschungsprogramm mit dem Ziel, Meereserzeugnisse
aufzuwerten, versucht Edward Schram,
Forscher bei IMARES (8), die Fischfilets mit
organischem Selen anzureichern, wovon einige
Bestandteile krebshemmende Eigenschaften
haben sollen. Daher hat der Wissenschaftler
den Futtermehlen für die Aquakultur
Knoblauch zugesetzt, der bekanntermaßen
reich an organischem Selen ist. Das Experiment
war ein Erfolg: Im Fleisch der Versuchstiere,
Afrikanische Welse, wurde eine deutliche
Selenanreicherung festgestellt, ohne dass ihr
Stoffwechsel gestört wurde. „Wir warten jetzt
darauf, dass die Universität Madrid eine
Versuchsmethode entwickelt, mit der sämtliche
© Ifremer/Olivier Barbaroux
Zuchtanlagen erhöhen. Eine derartige
Verbesserung würde zu einer Senkung der
Produktionskosten für Satzfische führen, was
für den gesamten Aquakultursektor von Vorteil
wäre. Finefish (6), ein Projekt unter Leitung des
Verbandes der Europäischen AquakulturProduzenten (FEAP, Federation of European
Aquaculture Producers), versucht genau dieses
Problem durch die Untersuchung der drei
Hauptfaktoren zu erreichen, die offensichtlich für
Missbildungen bei Jungfischen verantwortlich
© Sandie Millot
um die Auswirkungen der Aquakultur auf die
frei lebenden Fischbestände zu begrenzen.
Gleich mehrere Forschungsprojekte versuchen,
dieses Problem zu lösen, unter ihnen auch
AquaMax (4), das zum Großteil von der
Europäischen Kommission finanziert wird.
Dieses Projekt soll neue Futtermittel entwickeln und deren Qualität und Auswirkungen
auf den Lebenszyklus der einzelnen Fische in
der Aquakultur, auf die Zucht sowie auf die
Verbraucher und die Umwelt bewerten. „Die
größte Schwierigkeit besteht darin, die ideale
pflanzliche Zusammensetzung zu finden, die
eine qualitativ hochwertige Ernährungsalternative gewährleistet. Eine langwierige
Arbeit, denn jede Art hat ihre spezifischen
Bedürfnisse“, erklärt Bente Torstensen,
Forscherin am NIFES (5) und verantwortlich für
den Teil Fettstoffwechsel der Lachse im Rahmen
von AquaMax. Dieser Ansatz hat nicht nur
den Vorteil, die Verwendung von Wildfängen
zu beschränken, sondern verbessert auch die
Produktqualität. „Die natürliche Umgebung
enthält oftmals zahlreiche Schadstoffe, die von
den wild lebenden Wasserorganismen aufgenommen werden“, erklärt Bente Torstensen.
„Durch die geringere Verwendung von
Fangfisch lässt sich die Kontaminierung der
Zuchtfische besser kontrollieren, wodurch
natürlich auch die Gefahren für die Verbraucher
gesenkt werden können. Jedoch könnte durch
die Verwendung von pflanzlichen Ressourcen
der Pestizidgehalt der Produkte steigen. Leider
gibt es keine Patentlösung. Daher müssen die
Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen
werden, um das ideale Ersatzmittel zu finden.“
Pelletsfütterung in den
Seebarschkäfigen bei Cannes
Aquaculture in Golfe-Juan (Frankreich).
Selenbestandteile identifiziert und quantifiziert
werden können, die in den Fischfilets festgestellt werden. Der Übergang des Selens wurde
nachgewiesen, aber wir müssen sicher gehen,
dass die betreffende Substanz auch tatsächlich
im Fischfleisch vorhanden ist“, erklärt Edward
Schram. Bleibt abzuwarten, wie die Verbraucher
reagieren. Eine Studie im Rahmen von
Seafoodplus zeigt, dass sie den neuen, verbesserten Naturprodukten etwas zurückhaltend
gegenüber stehen…
JVR
(1) Siehe Fischereiartikel S. 16-18.
(2) An Ecosystem Approach for Sustainable Aquaculture.
Die Europäische Kommission finanziert das Projekt
mit 2,5 Mio. EUR.
(3) Fische im offenen Meer in den oberen Schichten
der Wassersäule (0 bis 200 m).
(4) Sustainable Aquafeeds to Maximise the Health Benefits
of Farmed Fish for Consumers – Die Europäische
Kommission unterstützt hier mit 10,5 Mio. EUR bei
einem Gesamtbudget von 15 Mio. EUR.
(5) National Institute for Nutrition and Seafood Research (NO).
(6) Improving sustainability of European fish aquaculture
by control of malformations – Das Gesamtbudget beträgt
4,8 Mio. EUR, wovon 3 Mio. EUR von der Kommission
getragen werden.
(7) Health promoting, safe seafood of high eating quality
in a consumer driven fork-to-farm concept.
(8) Institute for Marine Resources and Ecosystem Studies (NL).
www.ecasa.org.uk/
www.aquamaxip.eu/
www.aquamedia.org/finefish/
www.seafoodplus.org/
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
21
BLAUE BIOTECHNOLOGIE
Unterwasser-Goldgrube für
Polarfische oder Bakterien in Hydrothermalquellen –
manche Meereswesen wählen so unwirtliche Lebensräume,
dass es schwer verständlich erscheint, wie sie überhaupt
überleben können. Ihre Widerstandsfähigkeit unter
außergewöhnlichen Bedingungen, wie beispielsweise
bei einem starken Salzgehalt oder unter extremen
Temperaturen, oder ihre Fähigkeit, Toxine zu bilden,
haben die Neugierde der Forscher des Exzellenznetzwerks
„Marine Genomics Europe“ (1) erregt. Langsam aber
sicher interessieren sich die Biotechnologien für diese
erstaunliche Natur, die uns womöglich neue Medikamente
gegen Krebs, biologisch abbaubare Kunststoffe oder
revolutionäre Antibiotika liefern könnte.
„M
anche Organismen überleben in extremen Tiefen,
ohne Sauerstoff (zumindest
fast) und bestehen bei
außerordentlich hohen oder niedrigen
Temperaturen“, stellt Mike Thorndyke fest,
Verantwortlicher für die Aspekte Evolution,
Entwicklung und biologische Vielfalt im
Netzwerk Marine Genomics. „Wie kommen
diese Tiere unter derartigen Bedingungen
zurecht? Wie überleben sie große Tiefen mit
extremen, unglaublichen Temperaturen und
Druckverhältnissen? Das versuchen wir zu
verstehen, denn der Stoffwechsel dieser
Wesen liefert eine Gelegenheit für sinnvolle
Entdeckungen für alle, auch im Bereich der
menschlichen Gesundheit. Auch die Enzyme
dieser Organismen erweisen sich als interessanter als die gewöhnlich verwendeten, denn
man kann sie beispielsweise in stark salzigen
Lösungen oder bei extremen Temperaturen
einsetzen.
Extremophile
Nehmen wir den Fall der Polarfische. Wie
können sie dem Frost standhalten? Dreißig
Jahre intensiver Forschungsarbeiten waren
22
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
erforderlich, um das Geheimnis ihrer Widerstandsfähigkeit bei eisigen Wassertemperaturen
zu lüften. Ein Team kanadischer Biologen
wies nach, dass sich „Frostschutz“-Proteine,
die zehnmal aktiver sind als alle bis dahin
bekannten, an Eiskristalle heften und sie damit
am Wachstum hindern. Eine Eigenschaft, die
sich im medizinischen Bereich als sehr nützlich
erweisen könnte, z. B. für die Lagerung von
Organen und für die Kryochirurgie, eine
Technik, bei der Krebszellen durch Gefrieren
abgetötet werden.
Ein anderes Beispiel: Das Bakterium
Desulfotalea hält der Kälte stand, da es sich bei
negativen Temperaturen in Meeressedimenten
bewegt. Würde man die nur bei mittleren
Temperaturen wirkenden (mesophilen)
Pendants des Bakteriums mit diesem Enzym
ausstatten, könnten die Lebensmittelindustrie
oder der Waschmittelsektor große Energieeinsparungen erzielen.
Am anderen Ende des Thermometers lebt das
Bakterium Pyrococcus abyssi in Thermalquellen.
Seine optimale enzymatische Aktivität erreicht
es bei Temperaturen zwischen 80 und 110 °C.
Die biochemischen Eigenschaften dieser
Enzyme könnten sie zu wertvollen Werkzeugen
für künftige Technologien der DNARekombination machen. Bestimmte Enzyme
dieser Art sind übrigens bereits im Handel:
Die DNA-Polymerase I wird aus dem thermophilen Bakterium Thermus aquaticus isoliert
und für Kettenreaktionen durch Polymerase
(PCR) verwendet, um mehrere Gene für die
In-vitro-Forschung zu produzieren.
Die Liste der für die Biotechnologie nützlichen
Substanzen aus dem Meer wächst unablässig
und umfasst sowohl Proteine als auch Lipide
oder beispielsweise „CAZy“ (CarbohydrateActive Enzymes), die in der Lage sind, komplexe
Kohlenhydrate in „Grünes Benzin umzuwandeln“. Bestimmte Bakterien werden beim
Abbau von Polymeren verwendet, einem
Verfahren, mit dem die Wissenschaftler des
Ifremer (Institut français de recherche pour
l’exploitation de la mer) einen vollständig biologisch abbaubaren Kunststoff herstellen. Die
Entdeckung von Mikroorganismen, die in
der Lage sind, sehr hohen Temperaturen
standzuhalten oder unter anderen extremen
Bedingungen zu überleben, dürfte zu revolutionären industriellen Anwendungsmöglichkeiten
führen“, erklärt Philippe Goulletquer, französischer Koordinator für biologische Vielfalt im
Meer und an der Küste am Ifremer. „Deshalb
ist die biologische Vielfalt eine Voraussetzung
für die Biotechnologie.“
Chemische Kriegsführung
Die Tugenden der Meeresorganismen liegen
nicht nur in ihrem originellen Lebensraum,
sondern auch in ihrer Lebensweise begründet.
Eine sedentäre Lebensweise und ein weicher
Körper machen aus manchen Kreaturen wahre
Couchpotatoes der Tiefe, die ihre Sicherheit
mittels komplexer chemischer Abwehrmechanismen sicherstellen. Mithilfe sekundärer
Metaboliten, Molekülen, die neben der
Sicherung des Überlebens des Organismus noch
andere Funktionen erfüllen (Kampf gegen ökologische Gegner oder Räuber), synthetisieren
sie manchmal toxische Substanzen oder
nutzen andere Mikroorganismen, um solche
zu erlangen.
BLAUE BIOTECHNOLOGIE
die Biotechnologie E
Energieschub
Diese Stoffe sind besonders wirkungsstark –
sie sollen ja im Wasser Wirkung zeigen – und
so vielfältig wie die Mikrofauna und -flora, die
sie hervorbringt, und sie interessieren die
Wissenschaftler sehr. Ein wahrlich enormes
Reservoir an Substanzen, von denen einige
beispielsweise zur Entwicklung neuer
Behandlungsmöglichkeiten gegen Infektionskrankheiten oder Krebs führen könnten. Über
16 000 neue Substanzen dieser Art wurden
isoliert dank Organismen wie Schwämmen,
Ascidien oder Seegras.
Genetische Vielfalt
In Europa trägt das Netzwerk Marine Genomics
zur Entdeckung zahlreicher Metaboliten bei.
„Wir sequenzieren DNA-Fragmente, um die
genetische Vielfalt an verschiedenen Stellen
der europäischen Küsten aber auch anderswo,
wie beispielsweise in der Antarktis, zu beurteilen. Das ist wichtig, damit wir Extremophile
studieren können, jene Organismen, die unter
extremen Bedingungen leben“, erklärt Mike
Thorndyke. Das Netzwerk erstellt umfangreiche
Datenbanken mit genetischen Daten, die die
biotechnologische Forschung unterstützen,
wie die Entwicklung von Antibiotika aus DNAFragmenten, die Schaffung von Mikrochips
oder die Bereitstellung von Bioreaktoren für
die industrielle Herstellung von seltenen
Substanzen, wie Wachstumshormonen.
Der Direktor des Zentrums für MeeresBiotechnologie und Biomedizin in San Diego
(USA), William Fenical, gehört zu den
Vorreitern in der Forschung nach neuen
Krebswirkstoffen aus dem Meer. Sein Team
gelangte von der Erforschung der wirbellosen
Tiere zu den Mikroorganismen und entdeckte,
dass zahllose Actinomyceten entgegen der
vorherrschenden Ansicht, diese Tiere kämen
im Meer nicht vor, benthonische Sedimente
bevölkern. 2003 haben Forscher nachgewiesen,
dass Salinosporamid A, ein aus Actinomyceten
isolierter Stoff, die Eigenschaft besitzt, sich an
einen Tumor zu binden und sein Wachstum
zu hemmen. Heute wird in klinischen
nergieerzeugung aus Meeressalat
(Ulva latuta), das ist die Idee einer
Forschergruppe am dänischen
Umweltforschungsinstitut (NERD-DMU).
Die Erforschung der Produktion von Bioethanol aus dieser Grünalge steckt zwar
noch in den Anfängen, aber die ersten
Schätzungen sind ermutigend: Der
Meeressalat erzeugt pro Hektar 700-mal
mehr Biomasse als ein herkömmliches
Weizenfeld. Ulva und andere, ähnliche
Arten sind in den meisten Regionen der
Welt weit verbreitet, vor allem in den
eutrophischen Zonen, wo ihr massives
Auftreten allerdings dem lokalen Ökosystem schadet. Ein Umweltproblem, das
die Ernte der Algen und ihre Verarbeitung
zu Biotreibstoff lösen könnte. Zudem
könnten die in Dänemark in Erwägung
gezogenen Produktionsplattformen auf
den CO2-Überschuss aus den Kraftwerken
und den Dünger zurückgreifen. Was will
man mehr?
Kulinarische Innovationen
E
twa 20 % der heute von der Menschheit verzehrten Proteine stammen aus dem
Meer. Die Vorteile der Meeresprodukte für die Gesundheit sind allseits bekannt
und die Zukunft erscheint sehr vielversprechend. Die Fortschritte im Bereich der
Genetik dürften in der Tat den Weg für neue Functional-Food-Produkte aus Meeresorganismen ebnen: Sie sind vor allem reich an gesättigten Fettsäuren
und Fischprotein und könnten die Risiken mehrerer chronischer
Krankheiten reduzieren. Daneben enthalten zahlreiche
Meeresorganismen Enzyme, die besonders für die
Lebensmittelindustrie von Interesse sind. Die Aminopeptide des Thunfischs reduzieren beispielsweise
die Säure bestimmter Nahrungsmittel, während
Fischproteasen den Film auf Sepia und Kalmar oder
die Membran von Fischlaich entfernen. Ein nicht zu
vernachlässigender Vorteil bei der Zubereitung von
Lachskaviar…
© CNRS/Photothèque/Odile Richard
Detail der Schleudern der Rotalge Chondrus crispus.
Wenn sie von Mikroben angegriffen wird, verwandelt sich
diese Alge buchstäblich in eine Fabrik für Fettsäureoxide,
die man für Medikamente verwenden könnte.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
23
BLAUE BIOTECHNOLOGIE
„Trotz dieser vielversprechenden Anwendungen
leidet die Erforschung der Meeresorganismen
und des großen Potenzials, das unsere Meere
bieten, unter einem enormen Defizit. Die
Meere quellen über vor Schätzen, die es
zu nutzen gilt, bevor sie verschwinden“,
unterstreicht Mike Thorndyke. Tatsächlich
mangelt es der pharmazeutischen Industrie an
Interesse für diese Art der Forschung, wegen
juristischer Unsicherheiten und Problemen
der Disponibilität. In der Tat ist es schwierig,
traditionelle Test- und Entwicklungsmethoden
bei Stoffen anzuwenden, die nur in sehr geringen
Mengen von einem Schwamm in mehreren
hundert Metern Tiefe produziert werden. Aber
dank einiger begeisterter Meeresforscher
nimmt die „Biotech“-Odyssee ihren Lauf. Seit
20 Jahren versucht das Biotech-Unternehmen
PharmaMar (ES), die möglichen krebshemmenden Wirkungen von Stoffen aus dem Meer
zu bestimmen, die von eigenen Forschern
oder anderen Wissenschaftlern entdeckt
wurden. Derzeit hat die spanische Firma
40 000 Substanzen und Organismen aus dem
Meer erfasst, die möglicherweise über ein therapeutisches Potenzial verfügen. Sechs davon
befinden sich in klinischen Tests.
Künftig könnte die Forschung allerdings gut auf
Kreaturen aus den Tiefen der Meere verzichten.
Bei zahlreichen Substanzen dürfte eine Züchtung
im Labor möglich sein, zumal sie nicht immer
von Meeresorganismen stammen, sondern eher
von den zugehörigen Bakterien. Eine andere
Option ist auch die Isolierung des Gens, das
für die Synthese der bewussten Substanz
zuständig ist, um es einem einfacher zu handhabenden Organismus zu „implantieren“. Wie
dem auch sei, diese Entwicklungen lassen sich
nicht ohne Investitionen privater oder öffentlicher Art vorantreiben, wie das Grünbuch
über die Politik in maritimen Fragen der
Europäischen Kommission bemerkt. Dort wird
die Einrichtung eines blauen Investitionsfonds
empfohlen. (2)
Charlotte Brookes
(1) Finanziert von der Europäischen Kommission mit
10 Mio. EUR über viereinhalb Jahre.
(2) Grünbuch der Kommission: Die künftige Meerespolitik
der EU: Eine europäische Vision für Ozeane und Meere
(7. Juni 2006).
24
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Fangfrische Medikamente
Ecteinascidia turbinate. Dieser Intervertebrat aus der Karibik oder dem Mittelmeer liefert
die Ausgangssubstanz für das Krebsmittel Yondelis (PharmaMar)
Actinomyceten. Das aus dem Bakterium Actinomycete Micromonospora gewonnene
Krebsmittel Thicoralin wird derzeit bei PharmaMar entwickelt.
Bugula neritina. Dieses weitverbreitete kosmopolite Moostierchen aus dem Meer lebt in
Symbiose mit einem Bakterium, das in der Lage ist, ein aktives Biomolekül, das Bryostatin,
abzusondern, das als Repulsiv gegen Raubfische wirkt und für seine positive Wirkung bei
Pankreas- und Nierenkrebs, bei Leukomen, Melanomen und Non-Hodgkin-Lymphomen
bekannt ist. Es befindet sich in der klinischen Phase der Erprobung.
Cyanobakterien. Scytonemin ist ein Pigment für Sonnencreme gegen
gelb-grüne UV-Strahlen, das man im Blau-Grün der Meeresalgen findet.
ZALYPSIS®,
Es kann auch zur Entwicklung von Inhibitoren in entzündungshemYONDELIS®,
menden und antiproliferativen Mitteln verwendet werden.
APLIDIN® sind
Aplidium albicans. Dieser Invertebrat erlaubte der Firma PharmaMar,
Wirkstoffe aus der
eine Substanz gegen Krebs, das Aplidin, zu isolieren, die sich derzeit in
Krebsforschung,
der klinischen Erprobung befindet.
die aus Meeresarten
Haifische. Haifische leiden auffällig wenig unter Krebs, vor allem dank
gewonnen und von
des Squalamins, einer Substanz aus der Leber. Sie könnte im Kampf
dem spanischen
Biotechnologieunter gegen bestimmte Hirntumoren hilfreich sein.
nehmen PharmaMar Japanischer Schwamm. Das KRN 7000 ist keine natürliche Substanz,
sondern ein synthetisches Derivat einer Reihe von Auszügen aus
eingesetzt werden.
einem japanischen Schwamm, Agelas mauritianus. Beim Test an
Mäusen bewies die Substanz ihre Wirkung auf Tumoren und zeigt
Wirkung bei der Behandlung von Darmkrebs.
Conus magus. Diese Kegelschnecke lähmt ihre Beute mithilfe eines
giftigen Pfeils. Das Gift wirkt auf Schmerzen wesentlich stärker als
Morphin und ist unter dem Namen Prialt auf dem Markt.
Schnurwürmer. GST 21 ist die erste Substanz aus dem Meer, die für die
Behandlung von Alzheimer erprobt wird.
Marthasterias glacialis. Aus diesem Eisseestern wurde vom CNRS in
Roscoff (FR) die Substanz Roscovitin gewonnen. Sie blockiert Krebszellen,
ohne die gesunden zu beeinträchtigen, und könnte daher eine neue
chemische und therapeutische Waffe gegen Tumore werden.
© PharmaMar
Odyssee mit langem Atem
Kaltwasser-Fauna im Nordatlantik
in einem Meeresschutzgebiet,
die von den Forschern des
MarBEF-Projekts untersucht wird
(siehe Seite 8). Gadus morhua vor
einem Hintergrund aus weißen
Korallen (Lophelia pertusa)
und orangen Korallen (Paragorgia
arborea) im Norden Norwegens
in 200 m Tiefe.
© Institute of Marine Research (IMR)
Tests seine Wirksamkeit für die
Behandlung des multiplen Myeloms, einer
Blutkrebsart, geprüft.
ENERGIE
Außer seinen kräftigen
Winden, seinen
Strömungen und seinen
Gezeiten bietet das Meer
noch ein weiteres
Energiepotenzial: die Kraft
seiner Wellen. Ein Blick
auf Wave Dragon, eine
Anlage zur Produktion
von Strom mithilfe der
Meeresbrandung.
I
m Jahr 1986 beobachtet Erik Friis-Madsen,
ein dänischer Ingenieur, ein Atoll im
Südpazifik und wie die Wellen dort auf
den Strand rollen. Wenn sie stark genug
sind, überqueren die Wellen die Strandstreifen
und sammeln sich in der Mitte des Atolls in der
Lagune. Sobald diese zu voll ist, läuft das Wasser
durch die zahlreichen Rinnen im Atoll wieder
ab und zurück in den Ozean. Der Ingenieur
ist überzeugt, dass sich diese natürliche
Erscheinung reproduzieren und damit Strom
erzeugen lässt. Er beginnt mit ersten
Zeichnungen, aus denen dann zehn Jahre später
Wave Dragon entsteht: eine kreisförmige Struktur,
die im Grunde ein „schwimmendes Atoll“ darstellt, mit einer Turbine in der Mitte, durch die
das überschüssige Wasser ablaufen kann.
Vom Traum zum Prototypen
Richtig Form nimmt das Projekt allerdings erst
1997 an. Erik Friis-Madsen umgibt sich mit einem
Team von Mitarbeitern. Hans-Christian Sorensen
übernimmt die Leitung des Unternehmens Wave
Dragon (DK) und koordiniert auch heute noch
dessen Aktivitäten. Die beiden perfektionieren
mit wissenschaftlicher und logistischer Unterstützung von Unternehmen und Universitäten
ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der hydraulischen und elektrischen Energie. Mehrere
Modelle werden im Labor getestet. „Die
Grundidee“, erklärt Erik Friis-Madsen, „besteht
Drache
© Earth-vision.biz
Ein wellenfressender
Wie ein
„schwimmendes
Atoll“ sammelt Wave
Dragon mit Hilfe seiner
beiden langen Arme
das Wasser der Wellen in
einem leicht erhöhten
Zentralspeicher. Wenn
man den Speicher leert,
treibt das Wasser dann
die Turbinen an.
darin, die allgemein bekannten Prinzipien
klassischer Wasserkraftwerke zu nutzen, nur
dass dieses hier offshore betrieben wird. Es ist
also recht einfach. Der Wave Dragon besteht
aus zwei langen Armen, mit denen die Wellen
in die Mitte der Anlage geleitet werden, die in
einer Höhe knapp über dem Meeresspiegel
schwimmt. Das Wasser wird in einem großen
Speicher gesammelt und fließt schließlich
durch die Mitte ab, wobei es eine Reihe von
Turbinen antreibt, die Strom erzeugen.“
Die Europäische Union beteiligte sich 2002
am Projekt und stellte 1,5 Mio. EUR für die
Ausführung und Inbetriebnahme eines
Modells im Maßstab 1: 4,5 bereit. Mit einem
Gesamtgewicht von 237 Tonnen wurde die
Anlage im Juni 2003 im Meer vor der dänischen
Küste ausgebracht. Für Hans-Christian Sorensen
„war der größte Augenblick in der Entwicklung
von Wave Dragon, als wir begannen, regelmäßig
Strom in das dänische Netz einzuspeisen“. Die
Stromproduktion dieses verkleinerten Prototyps
vom Wave Dragon ist jedoch bescheiden und
erreicht nicht mehr als 20 kW.
Ein echtes Offshore-Kraftwerk
„Aber wir haben jetzt etwas besseres“, fährt
Hans-Christian Sorensen fort. „Dank einer
weiteren Unterstützung durch die Europäische
Union (2,4 Mio. EUR) konnten wir im April
2007 ein Abkommen mit Wales unterzeichnen,
um vor seinen Küsten eine Großausführung
der Produktionsanlage mit 7 MW zu installieren. Wir hoffen, dass diese im August 2008 in
Betrieb genommen werden kann. Außerdem
haben wir vor, in den nächsten drei Jahren zehn
weitere Anlagen mit einer Gesamtproduktion
von 77 MW zu konstruieren.“
Wave Dragon kann sich natürlich nicht mit
einem klassischen Atomkraftwerk messen, das
zwischen 500 und 2 000 MW Strom erzeugt,
aber das System bietet dennoch Vorteile, die man
nicht vernachlässigen sollte. Zunächst einmal
lässt sich die Größe der Produktionsanlagen
(indem beispielsweise eine Zentrale aus zehn
oder 20 Geräten zusammengestellt wird), aber
auch die Anzahl der Turbinen, die jedes Gerät
enthält (bis zu 24), modulieren. Des Weiteren
benötigt Wave Dragon nur ein Minimum an
Wartung, die darüber hinaus auch noch sehr
kostengünstig ist. Schließlich beeinträchtigt
die Anlage nur in geringem Maße die Umwelt
und die Schönheit der Landschaft, wodurch
sich leichter die Gunst von Investoren, politischen Entscheidungsträgern und der öffentlichen Meinung gewinnen lässt. Daher kann
man der Durchführbarkeit des Projekts wohl
mit Optimismus entgegensehen.
Matthieu Lethé
www.wavedragon.net
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
25
© Shutterstock
© Shutterstock
© Shutterstock
Fragile Grenzen
40 % der Weltbevölkerung lebt in Küstennähe.
Innerhalb von fünf Jahren haben die Städte 34 % der
Küstengebiete Portugals erobert, in Irland beträgt
diese Zahl 27 % und in Spanien 18 %. Ein Viertel der
Touristen weltweit reist in den Mittelmeerraum – das
sind 158 Millionen Menschen jährlich.
Aber seit 1993 drängt das Meer den Küstenrand
zurück, im Schnitt um 3 mm pro Jahr. Der Grund
dafür liegt in der thermischen Ausdehnung der
Ozeane, in der Gletscherschmelze und im Abschmelzen
der Eiskappen. Manche Modelle sagen einen Anstieg
von 20 cm bis 60 cm bis zum Jahr 2100 voraus.
Der Mensch zerstört die biologische Vielfalt und der
Klimawandel dehnt die Ozeane aus. Um dieser
Zerstörung, die leider bereits auf dem Vormarsch ist,
Einhalt zu gebieten, bemühen sich zahlreiche Länder
um ein „integriertes Küstenzonenmanagement“ (IKZM).
26
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
KÜSTENMANAGEMENT
weniger als 50 km vom Meer entfernt und
beutet seine Reichtümer aus: Tourismus,
Fischerei, Aquakultur und Industrie. Diese in
manchen Fällen miteinander konkurrierenden
Aktivitäten bedrohen das Gleichgewicht der
Natur, die biologische Vielfalt und auch die
kulturellen Merkmale der Küsten. Auch der
Klimawandel bedroht sie. Der Anstieg des
Meeresspiegels und heftige Küstenstürme, die
immer häufiger auftreten, lassen schwere
Folgen vorausahnen, zumal diese Probleme
ganz verschiedene Bereiche betreffen und es
der sektoriellen Politik nur selten gelingt, dem
Zerstörungsprozess Einhalt zu gebieten.
Obwohl Europa flächenmäßig
dreimal in den afrikanischen
Kontinent hineinpasst, sind seine
Küsten dreimal so lang wie die
Afrikas. An diesen Küsten gefährdet
der Mensch Wasserressourcen,
Bodenstabilität, Meeresökologie und,
was besonders besorgniserregend
ist, die Wasserqualität. Die EU
bemüht sich, ein Integriertes
Küstenzonenmanagement (IKZM)
Eine integrierte Bewirtschaftung,
einzuführen, das dauerhaft mit
aber nicht proaktiv genug
diesen komplexen und vielfältigen
„Das Bewusstsein für die Küstenproblematik ist
Systemen zusammenwirken soll.
nicht neu“, sagt Denis Bailly, wissenschaftlicher
Da es sich allerdings bei der
Koordinator von Spicosa und stellvertretender
Wiederherstellung des natürlichen
Direktor von CEDEM/UBO (2). „In den 1970er
Gleichgewichts um einen
Jahre entstand die Idee für ein integriertes
langwierigen Prozess handelt,
Küstenmanagement. Dazu wurden alle
sollte das neue Projekt Spicosa (1)
Akteure einer Region zusammengeführt, um
es ermöglichen, Zerstörungen
die dortigen Probleme zu verstehen und diese
zuvorzukommen, bevor
zu lösen. Angesichts des Konflikts zwischen
Reparaturen notwendig werden.
D
ie norwegischen Fjorde, die
schottischen Lochs oder auch die
galizischen Rias sind hervorragende
Beispiele
für
den
Kontrastreichtum der europäischen Küsten
und die bunte Geografie des Kontinents. Die
Heterogenität ihrer natürlichen und sozioökonomischen Merkmale bringen besondere
Umweltbedingungen und angepasste Lebensformen hervor. In diesem Lebensraum für die
Fauna der Küstensümpfe und für Wildvögel –
über 30 % der Küsten sind Schutzgebiete –
haben sich auch die Menschen angesiedelt. Sie
betreiben Landwirtschaft und bauen Städte –
Spiegel von Kulturen, die sich mit dem Handel
beschäftigen und sich nach außen richten.
Aber heute befinden sich die Küsten im
Umbruch. Die Lichter der Leuchttürme verführen und die Küsten sind übervölkert. Über
die Hälfte der europäischen Bevölkerung lebt
Urbanisierung, Tourismus und Naturschutz
interessierte sich Europa für dieses neue
Konzept und unterzeichnete 1992 die Erklärung
von Rio, mit der das IKZM offiziell wurde.“
Um menschliche Aktivitäten und natürliche
Systeme dauerhaft miteinander zu vereinbaren,
muss das integrierte Management die physikalisch-natürlichen, sozioökonomischen und
rechtlich-administrativen Zusammenhänge der
Küstengebiete besser erfassen.
Aber die Umsetzungen dieses Managements
hatten auf europäischer Ebene eine schlechten
Start, da die angetroffenen Probleme und die
lokalen Strukturen zu unterschiedlich sind. Mehr
palliativ als stärkend werden Maßnahmen meist
erst durchgeführt, nachdem sich die Umweltveränderungen bemerkbar gemacht haben.
© Shutterstock
89 000 km europäische
Küsten
Projekt Spicosa – es ist für den Zeitraum 2007
bis 2011 mit 10 Mio. EUR ausgestattet – mit
einem neuen methodischen Ansatz. „Angesichts
der drohenden Zerstörungen und der einschneidenden Verluste müssen Entscheidungsprozesse im Sinne einer präventiven anstatt
einer schadenbehebenden Küstenpolitik
beschleunigt werden.“ Die von Spicosa angesteuerte Rückwirkungsschleife stützt sich auf
Zukunftsszenarien, die dank einer offeneren
Abstimmung erarbeitet werden, auf eine ausreichend verlässliche Datensammlungsmethode,
um die politischen Maßnahmen zu unterstützen,
und auf wirksame – multimediale und virtuelle –
Werkzeuge, um wissenschaftliche und sozioökonomische Daten, die noch zu segmentiert
sind, miteinander zu verbinden.
Mit diesem transversalen Ansatz werden auch
kollaterale Folgen integriert, wie die der
Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). „53 Partner,
Universitäten, KMU und NRO aus 21 Ländern
der Europäischen Union entwickeln Instrumente, um das Wissen zu bündeln und die
Entscheidungsfindung zu begleiten.“ Aber
Spicosa sollte auch die Besonderheiten jeder
einzelnen Küstenregion berücksichtigen,
damit sein methodischer Rahmen sowohl auf
die Dünengürtel Dänemarks als auch auf den
französischen Nationalpark Banc d’Arguin
oder auf die unendlichen Strände Portugals
anwendbar ist.
Delphine d’Hoop
(1) Science and Policy Integration for COastal System
Assessment.
(2) Zentrum für Recht und Wirtschaft der Meere and der
Université de Bretagne Occidentale (FR).
Spicosa greift vor
Um irreversible Veränderungen rechtzeitig zu
verhindern, versucht es die Union mit dem
www.spicosa.eu
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
27
KÜSTENMANAGEMENT
Spicosa, von der Ostsee
bis zum Schwarzen Meer
Pictures © Shutterstock
12
1
Der methodische Ansatz von
Barcelona, Mittelmeer
Spicosa wird seit September 2007
Urbanisierung und Einleitung
an 18 Standorten mit sehr unterverseuchter Abwässer
schiedlichen Merkmalen getestet.
Spanien hält 2006 den Rekord für die schnellste
Sechs dieser Standorte veranschau- Küstenurbanisierung in Europa. Barcelona ist mit
lichen die Herausforderungen, vor
vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt
denen die Forscher stehen.
Spaniens. Sie beherbergt Freizeitanlagen, touristi-
Die Bucht von Riga, Ostsee
Chemische Verschmutzung und
Eutrophierung
In Riga, der Hauptstadt Lettlands und größten Stadt
des Baltikums, leben 720 000 Menschen an der
Mündung der Düna und ihrer sehr produktiven
Bucht. Sie zeichnet sich durch eine hohe Bevölkerungsdichte und intensive landwirtschaftliche,
touristische und industrielle Aktivitäten aus. Aber
dieses Gebrodel, das über keine angemessene
Infrastruktur für das Abfallmanagement verfügt,
verseucht das Grundwasser, und mit dem Zufluss der
industriellen Abwässer von Riga und anderen Städten
– darunter Pärnu – schreitet die Eutrophierung voran.
Mit dem Begriff der Eutrophierung ist eigentlich der
Nährstoffreichtum im aquatischen Milieu gemeint.
Heute wird mit diesem Begriff das Übermaß an
Nährstoffen bezeichnet, die das System nicht
schnell genug aufnehmen kann, wodurch der
Wasserspiegel langsam in einen Sumpf verwandelt
wird. Die überdüngten Wasserpflanzen fangen die
Lichtstrahlen auf und verbrauchen den Sauerstoffvorrat
im Wasser, dessen Anteil dreißig Mal geringer ist als
in der Luft. Dadurch entsteht in der Umgebung im
Wasser ein Sauerstoffmangel, bis der Sauerstoff
schließlich ganz verbraucht ist, wodurch die
Voraussetzungen für die Bildung schädlicher Gase
wie Methan geschaffen werden.
In der Folge verschwinden aerobe Organismen –
Insekten, Schalentiere, Fische, die Meeresvegetation.
Das Biotop des Subsystems der Bucht verändert sich
genauso wie das gesamte Ökosystem des Golfs. Dies
hat natürlich auch Folgen für die Nahrungskette. Für
die Anrainer ist schnelles Handeln angesagt: 30 %
des lettischen Trinkwassers entsprechen nicht den
chemischen Normen des Landes.
28
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
sche Einrichtungen, Geschäfte und Fischereibetriebe
– Aktivitäten, die sich von der Landwirtschaft und
Schwerindustrie flussaufwärts der Flüsse Besòs und
Llobregat unterscheiden.
Diese beiden Flüsse fließen durch Industriezonen,
städtische und ländliche Regionen, sammeln die
Abwässer und ergießen sich auf die Hochebene, auf
der die Stadt liegt. In Spanien fließen 13 % des
Brauchwassers direkt ins Meer. Im Jahr 1979 baute
Barcelona ein Klärwerk an den Mündungen beider
Flüsse. Aber der große Wasserdurchfluss und die riesigen Partikelmengen beeinflussen weiterhin die
Interaktionen zwischen Land und Meer. Bakterien
und Eutrophierung erobern die Strände, der Transport
und die erneute Suspension der Sedimente verursachen Bodenerosion.
Und die gesamte Stadtentwicklung 30 km längs der
Küste baut auf einem weichen Boden aus Schlamm
und Sand auf, dessen unterschiedliche Körnung zu
Erdrutschen führen kann. Selbst das Einbrechen von
Golfplätzen hätte schwere sozioökonomische
Folgen auf die umliegenden Immobilienressourcen.
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7
8
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12
Venedig, Adria
Ausbeutung der biologischen
Reserven
Die Stadt der Dogen und ihre Gondeln ziehen jedes
Jahr 14 Millionen Touristen an, die sich den Hafen- und
Freizeitaktivitäten, der Industrie, Landwirtschaft
oder Fischerei hinzugesellen und die die natürlichen
Kräfte und die Widerstandskraft der Lagune im Norden
der Adria beeinflussen und ihre Umwelt zerstören.
Seit eh und je ist Venedig vom Fischfang geprägt.
60 % der italienischen Venusmuscheln stammen aus
seinen Gewässern. Heute fischt man Caparozzoli:
zweischalige Muscheln mit großem Handelswert.
Aber Motorboote und Mechanisierung zerrütten die
Sedimente und tragen sie ab, dadurch schweben diese
länger im Wasser, folgen den Meeresströmungen und
führen Nähr- und Schadstoffe mit sich. Durch dieses
5
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18 Standorte, die von den Forschern von Spicosa
1
2
3
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Rigaer Bucht
Danziger Bucht
Oderhaff
Himmerfjärden
Limfjord
Sonderled
Bucht von Clyde
Hafen von Cork
Scheidemündung
KÜSTENMANAGEMENT
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3
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18
Phänomen verschlimmert sich die Erosion und die
Sedimentmassen werden in die flachen Fahrrinnen
transportiert, die mit großem Aufwand ausgebaggert
werden müssen. Außerdem verarmen Fauna und
Flora durch dieses kontinuierliche Ausbaggern. Eine
Konsequenz, die die Fischer zu spüren bekommen,
denn sie haben zwischen 1997 und 2001 rund 40 %
ihrer Muschelproduktion verloren.
Oderhaff, Ostsee
Die deutsch-polnische
Zusammenarbeit
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untersucht werden.
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Pertuis Charentais
Guadianamündung
Küste von Barcelona
Bucht von Thau
Taranto Mare Piccolo
Bucht von Venedig
Thermaikos-Bucht
Bucht von Kocaeli
Donaudelta
Bevor die Oder, der größte Fluss der Ostseeanrainer,
das Meer erreicht, bildet sie eine doppelte Bucht:
das Kleine Haff (DE) und Wielki Zalew (PL). In dieser
unter Naturschutz stehenden Mündungsregion, die
einen großen ökologischen und kulturellen Wert
besitzt, leben Tiere aus den Wäldern, den Dünen und
Sumpfgebieten in außergewöhnlichen Landschaften.
Aber im Rahmen des wirtschaftlichen Abstiegs lassen
die jungen Menschen diese Landschaften im Stich.
Die hohe Arbeitslosigkeit – fast 25 % – und der
unterschiedliche Lebensstandard in Deutschland
und Polen machen den Tourismus auf der
Grundlage einer geschützten Natur zum großen
Hoffnungsträger. Für die Bewirtschaftung der
Oderküsten organisiert sich eine deutsch-polnische
Zusammenarbeit.
Im Jahr 2002 unterzeichneten die beiden Umweltminister die „AGENDA 21 – Stettiner Haff – Region
zweier Nationen“, die dieselben Ziele wie das IKZM
verfolgt. Zehn Handlungsbereiche stellen die nachhaltige Entwicklung und das Küstenmanagement
ins Zentrum dieser Zusammenarbeit. Das Forum 21
bestimmt Prioritäten und führt diese durch – wissenschaftliche Zusammenarbeit, Bildung und
nachhaltiger Tourismus – und ermöglicht Bürgern
und Vertretern aus Deutschland und Polen eine
aktive Zusammenarbeit, indem sie Ergebnisse
untereinander austauschen und ihre Anträge unterstützen.
Donaudelta, Schwarzes Meer
Landschaftsentstellung durch
Touristen
Die Donau durchfließt 17 europäische Länder und
bildet zwischen der rumänischen und ukrainischen
Küste ein Delta. Als von der UNESCO klassifiziertes
Paradies für Wildtiere – Schutzgebiet für Millionen
Zugvögel, die aus Sibirien kommen – beherbergt
dieses Sumpf- und Schilfgebiet ein empfindliches
und komplexes Ökosystem, das der Mensch seit der
Antike schützt.
Heute leben 15 000 Menschen in Symbiose mit dieser
Umgebung. Viele traditionelle Fischer scheinen von
der modernen Zeit wie abgeschnitten. Aber ein
Stück weiter wächst die Stadt Tulcea (RO) mit rasanter
Geschwindigkeit. Die Neuankömmlinge wollen sich
den lokalen Tourismus zunutze machen. Trotz aller
Warnungen verändern illegale Bauaktivitäten die
Landschaft. Und die künftigen Straßen, die Klärwerke
und touristischen Dienstleistungen werden zahlreiche
Bautrupps nach sich ziehen, die auch untergebracht
werden wollen.
Das Auftauchen der ausländischen Investoren, die
auf der Suche nach schnellen Gewinnen sind, macht
eine globale Strategie zur Bewahrung des Ökosystems
und seiner Reize dringend notwendig.
Der Hafen von Cork, Nordsee
Die biologische Vielfalt vor dem
Anstieg des Wasserspiegels
Unterhalb der Wehranlagen aus dem 17. Jahrhundert
grenzt der natürliche Hafen von Cork an eine große
irische Industriezone. Der zweitgrößte Hafen des
Landes beherbergt eine Raffinerie und hundert
Pharmaunternehmen, darunter die Riesen Pfizer,
Novartis und Janssen Pharmaceutica.
Der biologische Reichtum des Küstenökosystems
kommt auch dem Tourismus und der Fischerei zugute.
Gefangen werden Forelle, Lachs oder Kabeljau
neben großen Zuchtbecken für die Muschel- und
Austernzucht.
Aber die Landwirtschaft und der Hafenbetrieb
belasten die Natur viel zu sehr. Beispielsweise werden
die Phosphor- und Stickstoffwerte im Wasser durch
die intensive Landwirtschaft erhöht, was für die
Aquakultur eine Katastrophe darstellt.
Global gesehen müsste auch der drohende Klimawandel die Region sehr stark treffen. Der Anstieg
des Wasserpegels im Zusammenhang mit stärkeren
und häufigeren Stürmen stellt eine direkte
Bedrohung für den Hafen dar. Fünf Wasserläufe
enden hier und im Winter soll die Regenmenge um
15 % ansteigen. Diese Faktoren werden in Cork zur
Küstenerosion und zu lockeren ungefestigten
Sedimentablagerungen führen. Um eine langfristige
Strategie zu entwickeln, werden Simulationsmodelle
und mögliche Szenarien immer dringender.
DDH
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
29
KÜSTENMANAGEMENT
Tourismus gegen Touris
Auf dem weltweiten Tourismusmarkt nimmt die
Europäische Union eine zentrale Stellung ein. Die rund
458 Millionen Besucher, die jedes Jahr über die Gebiete
ihrer Mitgliedstaaten hereinbrechen, sind unbestreitbar
ein Motor der Wirtschaft: fünf Prozent des europäischen
BIP stammen direkt und zehn Prozent indirekt aus dem
Tourismus. Obwohl er Arbeitsplätze und Wachstum
schafft, kann der Tourismus aber auch zum Opfer
seines eigenen Erfolgs werden. Das betrifft vor allem
die Küstengebiete, die regelmäßig von einem großen
Touristenstrom aufgesucht werden, mit schädlichen
Folgen für das soziale Gefüge, das wirtschaftliche
Gleichgewicht, die Qualität der Umwelt und schließlich
auch für die Attraktivität des Tourismus.
Vom nicht nachhaltigen Tourismus…
Die Folgen eines schlecht beherrschten
Küstentourismus zu erfassen, ist eine schwierige
Aufgabe, denn man könnte damit viele Seiten
füllen. Dennoch haben sich die Beobachter des
Sektors verständigt, um drei große Folgenkategorien zu bestimmen: die wirtschaftlichen,
die soziokulturellen und die ökologischen.
30
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
© Shutterstock
I
n wenigen Jahrzehnten ist der Tourismus zu
einem unverzichtbaren gesellschaftlichen
Phänomen geworden. Jedes Jahr kreuzen
sich die Wege von Millionen Reisenden
auf dem ganzen Planeten. Bevorzugte
Ausrüstung: Badesachen, Strandspielzeug und
Sonnencreme. Denn in der ganzen Fülle von
Ferienangeboten stehen die Küsten ganz weit
vorn auf der Beliebtheitsskala: Sonne, Meer,
belebende Luft und idyllische Strände üben
eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft
aus. Laut Gabor Vereczi, dem Verantwortlichen
für nachhaltige Entwicklung bei der Welttourismusorganisation (UNWTO), „ist das
Mittelmeer bei weitem das beliebteste Ferienziel
weltweit“. 2006 waren fast 160 Millionen
Touristen an den europäischen Küsten registriert.
die Saisonarbeit zur Norm wird. Die Folge:
Die Einkommen reichen nicht aus, um mit den
gestiegenen Lebenshaltungskosten, die durch
den Zustrom einer wohlhabenden Bevölkerung
hervorgerufen werden, Schritt zu halten – insbesondere auf dem Immobilienmarkt.
Dieser Aspekt hat auf soziokultureller Ebene
einige Konsequenzen. Angesichts der Ausbreitung von Hotelanlagen und Sommerhäusern
an der Küste tendiert die Lokalbevölkerung
dazu, ins Binnenland abzuwandern. Häufig
haben die Zurückbleibenden keine andere
Wahl, als sich an die touristische Nachfrage
anzupassen – Gründung von Geschäften aller
Art, lokales Kunsthandwerk, das zur Massenware
tendiert, und so weiter. Daraus folgt ein Verlust
der kulturellen Identität dieser Bevölkerungen,
wobei das Aussterben der traditionellen Berufe
diesen Prozess noch verstärkt.
Auf ökologischer Ebene sind die Folgen eines
schlecht beherrschten Küstentourismus unzählig:
Goldener Sand und Strohschirme in Bulgarien.
Auf wirtschaftlicher Ebene ist klar, dass der
Touristenstrom eine positive Wirkung auf die
Lokalgemeinschaften hat. Erhebliche Devisenmengen fließen ein und aus diesem Grund
haben die Behörden oft massiv in große
Infrastrukturen investiert, um das Leben der
Touristen bequemer zu machen (Flughäfen,
Straßen und Autobahnen, Staudämme,
Stadtplanung,…). Die Kehrseite der Medaille
sieht aber ganz anders aus, vor allem für die
Lokalbevölkerung. Durch den Tourismus
verändert sich die Beschäftigungsstruktur.
Aktivitäten, die mit der Industrie, der
Landwirtschaft und der Fischerei zusammenhängen, drohen zu verschwinden, wogegen
- Die übertriebenen Bauaktivitäten und der
Bau von Verkehrsverbindungen bilden die
Grundlage für zahlreiche Umweltprobleme:
die Entwaldung und Zerstörung natürlicher
Räume, die Zerstörung von Lebensräumen
der Tierwelt, der Abbau von Meersand zur
Herstellung von Baumaterial usw. Dabei darf
man auch die optischen Folgen nicht vergessen, auch aus ästhetischer Sicht sind
diese verheerend.
- Wegen der kontinuierlichen Trinkwasserverschwendung durch die Touristen, die täglich die
dreifache Wassermenge der Ortsbevölkerung
verbrauchen (Schwimmbäder, Bewässerung,
Hygiene,…), werden die Wasservorräte
mus
immer knapper. Hinzu kommt, dass der
größte Anteil des Brauchwassers in den
meisten Fällen ungeklärt wieder ins Meer
eingeleitet wird.
- Was für das Wasser gilt, gilt auch für die verschiedenen Energieressourcen: Der Verbrauch
an Strom und fossilen Brennstoffen durch
die Touristen ist sehr hoch (Klimaanlagen,
Heizung, Transport,…), wodurch hohe
umweltverschmutzende Abgasemissionen
entstehen. Auch produzieren Touristen riesige
Abfallmengen, derer sich die Lokalgemeinschaften so gut, wie es geht, annehmen müssen.
- Die Küstenerosion: Dämme, Wellenbrecher
und Deiche sollen Strände und die
Wohngebiete vor den Wellen, der Erosion und
möglichen Überschwemmungen schützen.
Aber häufig wird das Problem weiter weggeschoben, hinter die urbanisierten Gebiete,
dort, wo solche Infrastrukturen nicht existieren. Die Folge: Diese Bereiche werden nach
und nach von der Erosion weggenagt.
… zum verantwortlichen Tourismus
„Seit einigen Jahren sind sich lokale, nationale
und internationale Behörden dessen bewusst,
dass ein schlecht entwickelter Tourismus sich
selbst eine Grube graben kann“, sagt JeanPierre Martinetti, Experte für nachhaltigen
Tourismus und Mitglied der Gruppe für nachhaltigen Tourismus (GNT), die von der
Europäischen Kommission eingerichtet wurde,
um über das Problem des nachhaltigen
Tourismus nachzudenken. „Wenn man von
nachhaltigem Tourismus spricht“, fährt er fort,
„muss man immer den folgenden Widerspruch
im Auge behalten: Einerseits kann der
Tourismus wie ein Schmarotzer Raubbau
betreiben und jedes Milieu zerstören, sogar
sich selbst, denn er schadet nicht nur der
Umgebung, in die er eindringt, sondern auch
sich selbst, wenn er nicht gebändigt wird. In
diesem Sinn ist er von jeglicher Vorstellung
der Nachhaltigkeit weit entfernt. Andererseits
kann er der Hebel für eine nachhaltige
Entwicklung sein, als Quelle für eine wirtschaftliche Entwicklung, für den Fortschritt
© WWF-Canon/Cat Holloway
KÜSTENMANAGEMENT
Die drei Stützpfeiler des
nachhaltigen Tourismus
W
irtschaft, Gesellschaft, Umwelt. Um diese drei
Worte kommt man nicht herum, wenn man vom
nachhaltigen Tourismus spricht. Es geht darum,
Wohlstand auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft zu
schaffen, indem man sich um die Rentabilität der verschiedenen Wirtschaftssektoren kümmert. Gleichzeitig
müssen die Menschenrechte und die Chancengleichheit
für alle respektiert, die Armut bekämpft und die verschiedenen Kulturen anerkannt werden. Schließlich muss die
Umwelt in ihrer ganzen Vielfalt geschützt werden, vor
allem nicht erneuerbare Ressourcen und solche, die für
den Menschen einen besonderen Wert darstellen. „Um das
endgültige Ziel, die Lebensfähigkeit dieser drei Stützpfeiler,
zu erreichen, muss man diese in ausgewogener Weise entwickeln“, erklärt Jean-Pierre Martinetti. „Viel zu oft sind
Fehler gemacht worden, weil man den Schwerpunkt nur auf
einen der drei Pfeiler gelegt und die anderen vernachlässigt
hat.“ Die Entwicklung des Tourismus muss daher das
Ergebnis einer weisen Dosierung sein, um auch nachhaltig
zu werden. Nur dann wird auch das Milieu, in dem er sich
entwickelt, in seiner ganzen Vielfalt respektiert werden.
Unterwasservideo. Ein weiteres
Plus für exotische Küsten.
der Gesellschaft, den Austausch zwischen
Menschen, und er kann zur Kenntnis und
Valorisierung von Kulturen beitragen und
auch einen sorgsamen Umgang mit der
Umwelt fördern.“
Die Gruppe für nachhaltigen Tourismus besteht
aus Tourismusexperten aus allen Sektoren und
Ländern der Europäischen Union und hat ihre
Arbeiten im Januar 2005 aufgenommen. Zwei
Jahre später veröffentlichte sie ihren Abschlussbericht (1), dem eine umfangreiche Konsultation
vorausgegangen war. Für Jean-Pierre Martinetti
hat sich „aus diesen Arbeiten eine gemeinsame
nachhaltige Kultur des Tourismus herausgebildet,
und das trotz der unterschiedlichen Ursprünge
und Empfindlichkeiten. Die Herausforderungen
lagen ganz klar vor unseren Augen: Verringerung
der saisonbedingten Nachfrage, Beherrschung
der Auswirkungen des touristischen Verkehrs,
Verbesserung der Beschäftigungsqualität im
Tourismussektor, Pflege und Stärkung des
Wohlstands und der örtlichen Lebensqualität,
Minimierung der Ressourceneinsätze und Abfallvermeidung, Beobachtung und Valorisierung
des natürlichen und kulturellen Erbes, Ferien
für alle und schließlich der Tourismus als
Hebel für eine nachhaltige Entwicklung.“
„Der zentrale Auftrag der Gruppe war die
Operationalität“, führt der Experte weiter aus.
„Deshalb haben wir eine Reihe konkreter
Vorschläge ausgearbeitet, die auf die Herausforderungen antworten und sich an die verschiedenen Akteure der Tourismusindustrie
richten: an die öffentlichen und privaten Leiter
der Ferienziele, an die Reiseagenturen und
natürlich an die Touristen selbst und an alle
Organisationen, die bei diesen ein nachhaltiges
Verhalten beeinflussen könnten (Schulen,
Verbrauchervereinigungen, NRO usw.).“
„Jeder dieser Akteure muss spüren, dass er seinen
Teil der Verantwortung für einen nachhaltigeren
Tourismus trägt“, schließt Jean-Pierre Martinetti.
„Aber diese Verantwortung wird zwischen den
verschiedenen Akteuren auf allen Ebenen des
Tourismussystems aufgeteilt.“
Matthieu Lethé
(1) http://ec.europa.eu/enterprise/services/tourism/
tourism_sustainability_group.htm
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
31
© Jakub Kanta
VERSCHMUTZUNG
Auf den Philippinen
arbeiten Teams der
Firma Dekonta (CZ) an
Biosanierungslösungen
nach der Ölpest,
die 2006 die Küsten
in der Meerenge von
Guimaras heimgesucht
hat.
Hilfstrupp aus dem Meer
Die Ozeane sind krank
und ihr natürliches
Reinigungssystem ist
überlastet. Der Kampf
gegen die Verschmutzung,
eine der Hauptkrankheiten,
an denen unsere Meere
leiden, ist zu einer der
Prioritäten der europäischen
Forschung geworden, die im
Laufe der Zeit weitere
Verbündete gefunden hat:
die Meeresorganismen selbst.
Cèdre (1), erklärt, ist „die Verschmutzung der
Meere so groß, dass es unmöglich ist, sie auf nur
eine Weise zu bekämpfen. Bei Cèdre kümmern
wir uns nur um durch Unfälle verursachte
Umweltverschmutzung. Deren Hauptquelle ist
der Schiffsverkehr. Dieses Problem impliziert
von sich aus bereits zahlreiche technische
Zwänge. Die Arbeit ist allerdings weniger
umfangreich als bei der chronischen Umweltverschmutzung, die durch die menschlichen
Aktivitäten an Land hervorgerufen wird.
Diese tritt unendlich viel häufiger auf und ist
heterogener als die durch Schiffe verursachte.“
Aus diesem kurzen Einblick wird eines offensichtlich: Für jede Verschmutzung ist eine eigene
Lösung und für jede Verschmutzungsquelle eine
spezielle Maßnahme erforderlich! Nötig ist
also eine Verknüpfung der Forschungsziele,
wobei ein kleiner Anstoß aus der Natur ganz
gelegen kommt, um diese zu erreichen.
F
Von den Wachmuscheln…
rüher oder später wird sich die ganze
Wucht der Umweltverschmutzung
des Festlands in den Tiefen der
Meere und Ozeane wiederfinden.
Und selbst wenn die Ozeane aufgrund ihrer
Größe die Fähigkeit zur Selbstreinigung besäßen,
könnten sie nicht die gesamte bunt gemischte,
durch den Menschen verursachte kontinuierliche
Verschmutzung absorbieren. Wie Christophe
Rousseau, stellvertretender Direktor von
32
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Ein Käfig, ein paar Muscheln, ein
Verankerungssystem… und schon ist die
Überwachungsstation für Küstenwasserverschmutzung fertig. Manchmal sind die einfachsten Lösungen auch die wirksamsten. Das
haben die Gestalter des Projekts Mytilos, Start
2004, richtig verstanden, als sie sich für eine
aktive Bioüberwachung im Rahmen des
Aufbaus eines Kontrollnetzes für chemische
Schadstoffe entschieden haben. Dieses Projekt
bezieht Fördermittel von über 1,5 Mio. EUR,
wovon 800 000 EUR aus dem Programm Interreg
III B Medocc stammen, das von FEDER (2)
finanziert wird. Ziel von Mytilos ist es, sich die
aktive Bioüberwachung zunutze zu machen.
Dabei handelt es sich um eine einfache und
kostengünstige Methode zur Überwachung
der Verschmutzung im westlichen Mittelmeer.
„Wir besitzen erschreckend wenige einheitliche Informationen über den Stand der
Verschmutzung dieses empfindlichen Meeres,
dessen Wasser sich wegen der halbgeschlossenen Meeresform nur beschränkt erneuern
kann“, erklärt Charlotte Blottière, Projektkoordinatorin bei Toulon Var Technologies,
der Vereinigung, die das Netzwerk Mytilos ins
Leben gerufen hat, das wissenschaftlich von
Ifremer koordiniert wird. „Die zuständigen
Anrainerstaaten haben zwar regelmäßige
Wasserkontrollen durchgeführt, aber jeder hat
seine eigene Überwachungsmethode benutzt,
die jeweils auf nationaler Ebene definiert wurde. Dadurch war der Ergebnisvergleich grenzübergreifend nicht möglich.“
Bei der Bioüberwachung werden lebende
Organismen eingesetzt, um den chemischen
Verschmutzungsgrad einer Umgebung zu
bewerten, in diesem Fall Muscheln. Die
Muscheln wurden sozusagen als Zeugen ausgewählt, da sie das Meerwasser bei ihrer
VERSCHMUTZUNG
© Ifremer/Olivier Barbaroux
© IEO & Ifremer
© Cèdre
Beobachtung toxischen Bioüberwachung durch die Forscher
Phytoplanktons im
des Mytilos-Projekts.
Ifremer-Labor in Nantes.
Suche nach ihrem Hauptnahrungsmittel
Plankton kontinuierlich filtern. Durch ihre
Physiologie
sind
sie
die
perfekten
Bioakkumulatoren, da sie die verschiedenen
Substanzen der Ozeane aufnehmen. Es handelt
sich damit also um bemerkenswerte
Messwerkzeuge für chemische Verschmutzung!
„Die Verwendung von Muscheln als Biosensoren
für Verschmutzung wurde bereits in den
1970er Jahre vorgeschlagen, aber in den ersten
Versuchen wurden Arten eingesetzt, die direkt
aus der Umgebung entnommen wurden.
Dieser Ansatz barg jedoch zahlreiche
Probleme, wie beispielsweise die Bewertung
der Anfangskontamination, den Vergleich der
Ergebnisse, die aus verschiedenen Arten
erzielt wurden, oder aber die Verfügbarkeit
der Muscheln in den Küstengewässern, in
denen diese nicht vorkommen“, erklärt
Charlotte Blottière. „Um dem abzuhelfen,
zieht Mytilos die aktive Bioüberwachung vor.
Nach einer Markierung mit Hilfe von GPS,
platzieren die Experten die künstlichen
Muschelstationen selbst. Das wird durch das
sogenannte caging erleichtert, einem System
mit Körben und Verankerung. Alle Proben
stammen von derselben Spezies (Mytilus galloprovincialis) und kommen aus demselben
Referenzposten. Dadurch kann die Anfangskontamination ganz genau bestimmt werden.“
Ende Juni präsentierten die Initiatoren des
Mytilos-Netzwerks ein erstes Bild von der
Verschmutzung des westlichen Mittelmeers.
Auch wenn die Ergebnisse nicht grundlegend
von den in nationalen Untersuchungen erzielten
abwichen, so beginnt mit dieser Anlage doch
endlich eine Zusammenarbeit und die Vereinheitlichung der Verschmutzungsüberwachungsmethoden auf grenzübergreifender Ebene.
Mytimed, ein ähnliches Projekt, wurde 2006
auf den Weg gebracht, um das bestehende
Netz in die östliche Richtung des
Mittelmeerbeckens zu erweitern.
© Cèdre
Verschmutzung durch die Prestige: Öldecke im Jahr 2002
bei Punta Rocundo in Galizien (ES), und die Erika (rechts),
1999 in Frankreich.
… zu den „ölfressenden“ Bakterien
Meeresverschmutzung wird oft in einem
Atemzug mit der Ölpest genannt. Aber auch
wenn das Einleiten von Kohlenwasserstoffen
ins Meer eine große Gefahr für die Umwelt
darstellt, so haben diese Verunreiniger doch
den Vorteil, dass sie biologisch abbaubar sind.
Es gibt einige Bakterienstämme, die in der
Meeresumwelt natürlicherweise vorkommen
und die das Erdöl als Kohlenstoffquelle und
folglich als Energiequelle nutzen. Dieser
Prozess verläuft mehr oder weniger schnell und
ist abhängig von der Art des Kohlenwasserstoffs,
der Bakterie und dem Ökosystem. Jedoch
können die vom Meer abhängigen Gemeinschaften sich nicht damit begnügen, darauf zu
warten, dass die Natur ihr Werk zu Ende führt.
Manchmal bedarf es eines kleinen Anstoßes,
um den biologischen Abbau zu beschleunigen.
„Diese Organismen kommen in den meisten
durch Kohlenwasserstoffe verschmutzten
Umgebungen bereits auf natürliche Weise vor.
Wenn man beispielsweise die Temperatur, die
Sauerstoffkonzentration oder den Nährstoffgehalt
optimiert, kann man ideale Bedingungen für
die Verbreitung der Bakterien schaffen. Dies
beschleunigt dann den biologischen Abbau“,
führt Petra Zackova, Laborleiterin der
Abteilung Sanierung und Umwelt bei Dekonta
aus. Das tschechische Unternehmen ist auf die
Prävention und Resorption von Verschmutzungen spezialisiert. Die Expertin wurde über
den Europäischen Katastrophenschutz auf die
Philippinen entsendet, um die Ortsbehörden
über die verschiedenen Biosanierungsmöglichkeiten der Ölpest zu informieren, die
die angrenzenden Küsten der Meerenge von
Guimaras seit August 2006 heimsucht. Mit
zahlreichen Mangroven und Korallenriffen
verfügt diese Region über eine weltweit einmalige biologische Vielfalt und gibt einer großen Gemeinschaft gewerblicher Fischer Arbeit
und Brot.
„In der ersten Zeit haben wir Wasser- und
Bodenproben an verschiedenen Stellen entnommen, um die Existenz einheimischer
Bakterien zu bestätigen und ihr Potenzial für
den Abbau des Erdöls zu bestimmen. Die
Ergebnisse der Labortests zeigten, dass die
lokale Mikroflora bei Zusatz eines geeigneten
Katalysators eingesetzt werden kann. Zum
Beispiel hatten die stimulierten Wasserbakterien
innerhalb eines Monats rund 90 % der
Kohlenwasserstoffe abgebaut“, fährt Petra
Zackova fort. „Wir arbeiten jetzt an der
Isolation dieser Bakterienstämme, um sicherzugehen, dass durch ihren Einsatz kein Risiko
für die Umwelt entsteht. Manche dieser
Organismen könnten zum Beispiel gefährliche
Toxine in die Umwelt des angepeilten
Ökosystems abgeben.“ Die Biosanierung ist kein
Wunderheilmittel, denn ihr Einsatz kann nur
ergänzend zu bestehenden mechanischen und
chemischen Methoden zur Ölpestbekämpfung
erfolgen. Aber durch sie ist es möglich, an das
unfassbare Potenzial der Ozeane anzuknüpfen,
dessen biologische Vielfalt bis heute erst zu 1 %
erfasst ist.
Julie Van Rossom
(1) Centre de documentation de recherche et
d’expérimentation sur les pollutions accidentelles des eaux,
eine französische Organisation, die weltweit als
Referenzstelle dient.
(2) Interreg III B Méditerranée occidentale (Medocc, Westliches
Mittelmeer) ist ein Förderprogramm für die
grenzübergreifende Zusammenarbeit in Europa, das durch
den Europäischen Fonds für Regionalentwicklung
unterstützt wird.
Mytilos
mytilos.tvt.fr/
Dekonta
www.dekonta.com
Gemeinschaftsverfahren für den
Katastrophenschutz:
ec.europa.eu/environment/civil/
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
33
© Shutterstock
© ESPO
© ESPO
Maritimer Raum
Jedes Jahr werden 2 Mrd. Tonnen Frachtgut
in europäischen Häfen verladen. Außer dem Be- und
Entladen von Containern ziehen die Häfen auch
andere Aktivitäten an, beispielsweise Fischerei,
maritime Dienstleistungen und in manchen Fällen
auch Werftarbeiten. Ihre wachsende strategische
Bedeutung hat zu einer Überlastung geführt und
eine stark wettbewerbsorientierte Umgebung
geschaffen. Die Stärkung der Zwischenhäfen könnte
diese Lage entspannen und ein Standortangebot für
Übergänge des intermodalen Transports bieten.
Die Kombination der Transportmittel bietet
tatsächlich eine unbestrittene wirtschaftliche und
ökologische Alternative. Über den Seetransport, der
fünfmal billiger ist als der Transport über den
Landweg, werden heute nicht weniger als 90 % des
Außenhandels der Union und über 40 % des
Binnenhandels abgewickelt. Er schafft außerdem
über drei Millionen Arbeitsplätze in Europa.
34
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
VERKEHR
Forschung:
© CESA
Gallionsfigur des Schiffsbaus
Testfahrt des Fährschiffs Berlioz –
Chantiers de l'Atlantique (Frankreich).
Mit einem Umsatz von 13 Mrd. EUR im Jahr 2006 stellt
der Schiffsbau in Europa einen strategischen Sektor dar.
Seitdem Japan und Südkorea den Markt für einfache,
in Serie produzierte Schiffe unter sich aufgeteilt haben,
behält Europa den Vorteil für ausgefeilte
Schiffskonstruktionen und Innovation für sich.
Aber da auch China nicht schläft, haben sich diese
beiden asiatischen Länder auf den Bau von
Kreuzfahrtschiffen gestürzt, ein quasi europäisches
Monopol und Fundament für die Aktivitäten des alten
Kontinents in diesem Sektor. Angesichts dieser
Bedrohung mobilisiert Europa seine Kräfte: Mit der
Technologieplattform Waterborne TP führt es alle
Akteure des Seeverkehrs zusammen, um strategische
Entscheidungsprozesse auf eine neue Basis zu stellen,
eine dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit zu garantieren
und Kurs auf 2020 zu nehmen.
S
aint Nazaire (FR). Die Baustelle ist riesig,
über 15 Fußballfelder groß. Kräne
und die 70 m hohe Brücke überragen
längs der Trockendocks Hangars,
Stahlschneidegeräte und Werkstätten. Die
Schweißer beginnen mit der Arbeit, andere
machen eine Zigarettenpause. Ein Stück weiter
oben hängen drei Männer in Gurten an der
Schiffsaußenwand und streichen den Rumpf.
Auf 800 Hektar arbeiten 7 300 Menschen in
einer der ältesten Schiffswerften Europas an
den Ufern der Loire. Motorspezialisten wechseln
sich ab mit Brückenausstattern, Elektronikern
oder Innenarchitekten. Jeder Spezialist trägt
seinen Teil zum Stahlgerippe der Poesia bei,
der neuen schwimmenden Stadt, die 325 m lang
sein wird und auf der bis zu 6 400 Passagiere
Platz haben werden – ein Kunstwerk integrierter Technologien. Und ein Zeitplan mit
den einzelnen Aufgaben der Subunternehmer,
der von Aker Yards abgestimmt wird. Dies ist
eine internationale Unternehmensgruppe, die
seit 2006 Eigentümerin der ehemaligen Werft
„Chantiers de l’Atlantique“ und 17 weiteren
Werften in der ganzen Welt ist.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
35
VERKEHR
Verfälschte Spielregeln
Dieser Werften-Zusammenschluss illustriert
den harten Wettbewerb, der diesen Marktsektor
beherrscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten
Südkorea und Japan ihre Industriestruktur
durch Investitionen in den Schiffsbausektor
wieder auf. Dieser Sektor versprach im
Hinblick auf Beschäftigung, technologische
Innovation und Devisenimport viele Vorteile.
Aber massive staatliche Überinvestitionen
verzerrten das internationale Handelsgefüge.
Nachdem Südkorea seine Produktionskapazitäten unabhängig von der Nachfrageentwicklung mehrfach gesteigert hatte, übernahm
das Land 1999 die Führung auf dem Weltmarkt.
Diese Politik versetzte der europäischen
Schiffsbauindustrie einen schweren Schlag:
Innerhalb der vergangenen drei Dekaden verlor
sie rund 75 % der Arbeitsplätze in den Werften.
Aber dank seiner einmaligen Seefahrtsvergangenheit – von den Handelsrouten bis zur geografischen Eroberung – blieb Europa nicht
zurück und sicherte beim Bau komplexer
Schiffe seinen Vorteil. Während sich in Asien
die Serienanfertigung einfacher Tanker durchsetzte, haben sich die Arbeitskräfte Europas
auf die Konstruktion und den Einbau mordernster und ausgeklügelter Ausrüstungen
spezialisiert.
Dieses Netzwerk von Subunternehmern
kann sehr flexibel auf Nachfrage und Spitzentechnologien reagieren. Über 9 000 externe
Hersteller – in ihrer Mehrheit KMU – erbringen
auf dem alten Kontinent rund 70 % der
Gesamtproduktion. Ihnen ist es zu verdanken,
dass Europa heute auf dem Schiffsmarkt
Nischen mit hohem Mehrwert beibehält, beispielsweise bei Off-shore-Plattformen, Gasund Chemikalientankern, Baggerschiffen,
Megajachten und vor allem auf dem
Kreuzschiffmarkt, auf dem es praktisch eine
Monopolstellung einnimmt.
Managementsysteme neben der Kläranlage,
der Müllverbrennungsanlage und der
Müllpresse (damit keine Verunreinigungen ins
Meer gelangen) ihren Platz an Bord ein.
Nur in den seltensten Fällen laufen zwei identische Schiffe vom Stapel. Nach langen
Bauzeiten und Verlängerungen – drei Jahre
Bauzeit für eine Lebensdauer von 30 Jahren –
stecken diese Riesen der Meere voller technologischer Anwendungen, die eigens für das
jeweilige Schiff entwickelt wurden. Die
Anpassung an die Nachfragekriterien führt zu
einer konstanten Innovation, die für diesen
Sektor charakteristisch ist. Und nur ein engmaschiger Industriezweig, der erfahren und
zuverlässig ist, kann den Erwartungen der
Reeder gerecht werden, die es im Hinblick
auf Lieferverzögerungen oder finanzielle
Entgleisungen sehr genau nehmen. Denn die
beteiligten Budgets zwingen dazu, die
Vermarktung des Schiffes bereits aufzunehmen,
wenn es sich noch in Einzelteilen auf der
Baustelle befindet.
Hier bietet die Vielseitigkeit der europäischen
Industrie einen nicht zu leugnenden Vorteil.
Auch wenn Asien Dienstleistungen ausländischer Ingenieure anmietet, reicht dies immer
noch nicht aus, den alten Kontinent beim Bau
komplexer Schiffe zu entmachten. Aber wie
lange noch? Korea und Japan visieren bereits
seit rund 15 Jahren die Kreuzschifffahrt an.
Besorgt durch den jüngsten chinesischen
Vorstoß auf den Schiffsbaumarkt, bekräftigen
diese beiden Länder heute ihre ehrgeizigen
Ziele. Europäischen Industrievertretern zufolge
würden sie dennoch mindestens zehn Jahre
benötigen, um zu einem Endprodukt zu
gelangen. (Anmerkung der Redaktion: In dem
Augenblick, in dem diese Ausgabe gedruckt
wird, kauft die südkoreanische Werft STX
Shipbuilding 39,2 % von Aker Yards auf.)
Als direkte Konsequenz entwickelt das Projekt
InterSHIP (2) seit 2003 Werkzeuge sowie
Konzeptions- und Fertigungsmethoden, um
auf der Höhe des Umweltschutzes und der
Sicherheitsaspekte zu bleiben, die Rentabilität
zu verbessern und den Lebenszyklus der
Schiffe zu optimieren. „InterSHIP hat uns in
Saint-Nazaire dazu gebracht“, erklärt Pascal
Monard, „auch mit anderen europäischen
Werften zusammenzuarbeiten, beispielsweise
bei der Zusammenlegung der Computernetze,
der Anwendung mobiler Informationstechnologie auf den Baustellen und an Bord
der Schiffe. Konkret bedeutet das die
Vereinfachung aller Daten durch Integration
digitaler und analoger Systeme. Im Moment
werden 15 Anwendungen an Bord zusammengelegt.“
Ein großer Teil der Gemeinschaft – sieben
Werften, Ausrüster, Klassifizierungsgesellschaften und andere – profitiert von
Forschungsfortschritten dank InterSHIP. Das
Projekt initiierte erfolgreich eine horizontale
und eine vertikale Zusammenarbeit und
erreichte im Oktober 2007 sein Wettbewerbsziel. „Trotz der starken Konkurrenz in unserem
Sektor ist die Zusammenarbeit ein Erfolg, da
sie zur Entwicklung von Verfahren beigetragen
hat, die leichter zu verbreiten sind als die
angewandte Innovation“, fährt Pascal Monard
fort. „Daraus sind vor einigen Jahren ein
Netzwerk und beeindruckende Verbindungen
entstanden. Unsere Beteiligung an anderen
Projekten, wie Flagship (2007-2011) – zur
Entwicklung eines eingebetteten Systems zur
Entscheidungsfindung, zur Steuerhilfe und zur
Verbesserung der Sicherheit –, steht in direktem
Zusammenhang mit den Verbindungen, die im
Rahmen von InterSHIP geknüpft wurden.“ Und
schließlich fügt er auf die Zukunft gerichtet
hinzu: „Durch InterSHIP war es möglich, die
Basis für eine Kooperation ab 2008 zu legen.“
Forschung im Herzen der Schlacht
Hightech auf dem Meer
Ohne dass man es ihnen anmerkt, verstecken
diese touristischen Ozeandampfer hinter ihren
Wänden ganze Labyrinthe aus Kreisläufen und
Versorgungssystemen. Angesichts der heutigen
Standards für Komfort, Sicherheit und
Umweltschutz nehmen auch Klimaanlagen –
einer der größten Posten im Budget –, Wasserversorgungsanlagen, Lebensmittelspeicher,
Sicherheitssysteme und computergesteuerte
36
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
Pascal Monard, verantwortlich für die
Abteilung Forschung und Entwicklung bei
Aker Yards in Saint-Nazaire, warnt: „Durch
diese Verschiebung darf es sich Europa nicht
erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen,
denn die Chinesen planen die Auslieferung ihres
ersten Passagierdampfers zwischen 2012 und
2015. Spätestens 2003, beim Start der Initiative
LeaderSHIP 2015 (1), wurde Europa sich bewusst,
dass es seine Position verteidigen müsse.“
Tief greifend reagieren
Diese neue Zusammenarbeit stellt einen guten
Fortschritt dar. Aber um auch auf weltweitem
Kurs zu bleiben, muss Europa noch weiter
vorausschauen. Seit 2005 hat die Technologieplattform Waterborne TP ein Forum eingerichtet,
in dem alle europäischen Unternehmensverbände jedes Sektors – Reeder, Wartungs- und
Reparaturdienste, Ausrüster –, die politischen
Akteure, Forschungseinrichtungen, Universitäten
VERKEHR
Forschung ist keine Selbstverständlichkeit. Bei
Aker Yards bestätigt dies Pascal Monard: „Die
Schwierigkeit besteht in der Synchronisierung
zwischen den wirtschaftlichen Zwängen, der
mittelfristigen Anwendbarkeit und jenen
Zwängen, die aus einer Forschungslogik
entstehen, die langfristig ausgerichtet ist
und normalerweise auch nicht den Anspruch
darauf erhebt, in direkte Anwendungen umgesetzt zu werden“. Auch Paris Sansouglou vertritt
diese Meinung: „Die langfristige Überlegung
ist für die Unternehmen ein allgemeines
Problem. Aber wenn man diese auf mehrere
Köpfe verteilt, erzielt man einerseits bessere
Ergebnisse und andererseits senkt es für jeden
die Kosten.“
Die Akteure haben gar keine andere Wahl, denn
die Innovation stellt den Schlüssel zur Festsetzung
einer dauerhaften Wettbewerbsfähigkeit für die
Konstruktion von Kreuzfahrtschiffen dar, der
Grundlage der europäischen Schiffbauindustrie.
Delphine d’Hoop
Werft in Setubal
(Portugal).
(1) Zusammenschluss von herausragenden Persönlichkeiten,
Experten für alle Aspekte des Sektors in Europa.
(2) Konzeption und gemeinsame integrierte Konstruktion von
Kreuzfahrtschiffen, Passagierschiffen und RO-Pax
(Fahrzeug- und Personenfähren).
(3) Community of European Shipyards Association
www.cesa.eu
www.intership-ip.com/
www.flagship.be/
www.waterborne-tp.org/
© CESA
und Gewerkschaften vereinigt sind. Paris
Sansoglou, Sekretär der Plattform und der koordinierenden Organisation CESA (3), beschreibt
die Ziele:
„Die Plattform setzt eine grundlegende
Überlegung in Gang, um die europäische FuEStrategie aufzustellen und zu koordinieren. Sie
bezieht ihre Teilnehmer bereits bei der
Definition der Strategie mit ein bis hin zu den
daraus folgenden Forschungsprojekten“,
erklärt er. „Dadurch wird sichergestellt, dass
die europäische Strategie von allen Akteuren
akzeptiert und unterstützt wird – und dass,
angesichts der Herausforderungen des
Marktes, Ziele festgelegt werden, die die
Innovationen der Industrie erneut anspornen
sollen. Zum Beispiel weiß man, dass das Ziel
‘Null Emissionen’ nicht realisierbar ist, weil
dann die Passagiere mit dem Atmen aufhören
müssten! Aber wir wollen auf dieses Ziel hinarbeiten.“
„Die Teilnehmer beschreiben diese Strategie
in drei Dokumenten. Das erste ist die mittelund langfristige Vision, Vision 2020 genannt, die
drei Pfeiler definiert: ein sicherer, nachhaltiger
und effizienter Seeverkehr, eine wettbewerbsfähige europäische Schifffahrtsindustrie und der
Umgang mit dem steigenden Transportvolumen
sowie den Veränderungen der Handelstendenzen“, bemerkt Paris Sansouglou
abschließend. „Ab hier bewerten die Akteure
die Herausforderungen, vor denen der Sektor
steht, und formulieren notwendige Maßnahmen,
um diese Ziele in der Strategischen Forschungsagenda von WaterborneWSRA zu erreichen, die
den Weg und seine Etappen bis 2020 markieren.
Ein Umsetzungsplan aus dieser Agenda – der
WSRA Implementation Plan – steht noch aus.
Darin werden die Projekte und die Teilnehmer
festgelegt“, fährt er fort.
Dieser Umsetzungsplan umfasst auch „sehr
delikate und politische“ Finanzierungsaufrufe
für die Projekte, vertraut Paris Sansouglou an,
„denn sie berühren die geschäftlichen
Interessen jedes Teilnehmers in einem Sektor,
in dem alles durch Untervergabe miteinander
verbunden ist.“ Durch diese Initiative setzt sich
Waterborne TP das Ziel, auf die Forschungspolitik
auf europäischer, regionaler, nationaler und
privater Ebene einzuwirken.
Außer den Interessen erscheint ein weiteres
Problem im Bereich der Fristen. Die langfristige
Zusammenarbeit des Privatsektors in der
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
37
VERKEHR
Häfen am toten Punkt
Muss die historische Rolle der Häfen für die Wirtschaft
noch bewiesen werden? Seit langem weist der Duft der
Gewürze aus dem Orient, der durch die Lager weht,
auf weit gereiste Güter hin. Aber die Volumen steigen
durch die Globalisierung unablässig und schaffen
logistische Probleme. Die Ausarbeitung einer Lösung
für Zwischenhäfen beschäftigt die Forscher, aber
die Ideen bleiben im Stadium des Prototypen stehen.
Warum verstehen sich Forschung und Gesellschaft
nicht? Capoeira (1) versucht die Erfahrungen der
Vergangenheit zu analysieren, um die Risiken in der
Zukunft zu reduzieren. Aber die Zeit drängt, und die
bereits kritische Lage könnte sich verschlimmern.
I
© Shutterstock
m Französischen und Englischen heißt
Hafen „Port“, was vom lateinischen
„portus“ bzw. dem griechischen „poros“
(deutsch: „Durchgang“) stammt. Seit den
Phöniziern und der Blüte Alexandrias haben
sich im Gefolge der Expansion des Handels
die Häfen, die Tore zur Welt, entwickelt. Das
deutsche Wort „Hafen“ hat seinen Ursprung u. a.
38
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
im mittelhochdeutschen Wort „haven“ (Gefäß,
Behälter), das sich auch auf den Transport der
Waren in „Behältern“, die auf dem Meer fahren,
also die Schiffe, erstreckt. An der Semantik hat
sich nichts geändert: 6 Mrd. Tonnen Rohstoffe
als Massengut oder verschiedene Produkte
wurden 2005 über das Meer verschifft. Das
sind 90 % des Weltwarentransports.
Strategische Knotenpunkte
des Transports
Ursache für das stetig anhaltende Wachstum
im Seetransport ist die wachsende Internationalisierung der wirtschaftlichen Praktiken. Ab
Ende der 50er Jahre erleichtert die Erfindung
der Container den Umschlag von einem
Transportmittel zum anderen. Einmal im
Bestimmungshafen angekommen, werden die
Waren über Brückenkräne entladen und dann
meist per LKW oder Eisenbahn weitertransportiert. Durch die Verwendung von StandardMaßen und -Befestigungssystemen werden sie
zur „Intermodalen Transporteinheit“.
Geografische Zwänge sind nicht der einzige
Grund für die sukzessive Verwendung
unterschiedlicher Transportarten. So führen
beispielsweise oft die geringeren Kosten des
Seetransports dazu, dass diese Lösung ernsthaft in Erwägung gezogen wird. In der Folge
haben sich die Häfen angepasst und wurden zu
„Hubs“, die als Empfangs- und Verteilerstation
für Container auf Landesebene oder gar für
einen ganzen Kontinent fungieren.
Auch die derzeitige Überlastung der Straße
privilegiert den intermodalen Transport. Und
die Reeder sind an Zwischenhäfen interessiert,
die im Zentrum der Städte liegen. Das ist ein
Vorteil, der die Marktposition dieser Häfen dennoch schwierig gestaltet, denn es fehlt an Platz,
VERKEHR
Knotenpunkt
Die in Europa mehrheitlich mittelgroßen
Häfen könnten bei der Auslieferung von
Waren ins Innere des Landes mit geringeren
ökologischen Belastungen eine wichtige Rolle
spielen. Aber wie kann man die Reeder, die ihre
Schiffe für Fahrten ausstatten und betreiben,
vom Nutzen dieser Häfen überzeugen? Wie
soll man Container auf einem 30 m breiten Kai
entladen, während dieser gleichzeitig von einer
Lawine mit 200 Fahrzeugen verstopft wird?
Für dieses Problem hat das Projekt Asapp
(Automated Shuttle for Augmented Port
Performance) eine Antwort gefunden, indem
es auf ein Konzept der Firma Reggiane (IT)
aufbaut: ein Hochentladesystem für Container
auf einer Zwischenplattform, also eine doppelte Arbeitsfläche. Die Container werden mit
einem automatischen Shuttle transportiert,
dessen Leistung derjenigen der derzeit verwendeten Schwerfahrzeuge gleicht. Nach
Angaben der Entwickler optimiert dieses
System den Einsatz der Brückenkräne (durch
den Umschlag von 200 Containern pro Stunde)
und ermöglicht eine schnelle Rentabilität der
Investitionen. Für die Idee und den Prototyp
hätten sich also Betreiber und Reeder interessieren müssen. Aber seit 2001, dem Ende des
Projekts, wurden keine einzige neue Plattform
Der größte europäische Hafen, Rotterdam,
wickelte 2005 9,3 Millionen Container mit einem
Frachtvolumen von 396 Mio. Tonnen ab. Allerdings
beginnt der Glanz der nordeuropäischen Häfen
gegenüber dem Aufstieg der Häfen im Süden
Europas etwas zu verblassen. Valencia, Algesiras
und Barcelona gehören heute aufgrund des
Handels mit dem Fernen Osten zu den zehn
größten Containerhäfen.
und kein Shuttle nach dem Vorbild des AsappProjekts an europäischen Küsten (2) gebaut.
Analyse in trüben Wassern…
Um das Schicksal der Forschungsarbeiten an
den Terminals – wie z. B. Asapp – zu verstehen, setzt Capoeira ein Bewertungsraster ein,
das die Strategien aller Akteure mit einbezieht:
von der Konzeption über das Angebot, den
Aufbau des Konsortiums und den Projektverlauf bis zum Ergebnis.
Einer der Koordinatoren des Asapp-Projekts,
der frühere Land-Terminalbetreiber Jean-Louis
Deyris, erklärt uns zunächst, wo das Projekt
endete: „Die Arbeiten ergaben tatsächlich ein
Terminalkonzept und führten zur Entwicklung
eines Shuttles. Auf den in Triest (IT) gebauten
Prototyp folgte sogar noch ein zweiter, Asapp 1,
mit dem drei Container gleichzeitig transportiert
werden können. Aber all das blieb in der
Schublade.“
Das Capoeira-Projekt, das mit 0,5 Mio. EUR
vollständig von der Kommission finanziert
wird, plant eine reflexive Phase bis 2008.
Bevor die Zukunft in Angriff genommen wird,
ist eine erste Phase erforderlich, bei der die
vergangenen Projekte auf die Gründe für ihr
Scheitern untersucht werden. Für Jean-Louis
Deyris, der ebenfalls für Capoeira tätig ist und
methodologische Fragen behandelt, „stellen
die angetroffenen Hindernisse eine komplexe
Problematik dar, die die einfache Kostenfrage
übersteigt. Wir verwenden einen systemischen
transversalen Ansatz, um die Kriterien für
Erfolg oder Scheitern zu bestimmen. Diese
gleichfalls empirische Arbeit zeigt die sehr
unterschiedlichen Faktoren und berücksichtigt
die Bedürfnisse der Beteiligten – Reeder und
Hafenbetreiber – sowie die Art, wie Forschung
im Rahmen der Europäischen Kommission
organisiert wird. Auch der Markt hat sich entwickelt, vom Angebot der Industriebetriebe,
das den Betreibern aufgezwungen wurde, hin
zu einem System, in dem der Bedarf der
Akteure berücksichtigt wird.“
… und die Ausnahmeerscheinung „Hafen“
Die Unfähigkeit der Akteure, sich zusammenzusetzen und zusammenzuarbeiten, erschien
als einer der Hauptgründe für das
Das Leben der Häfen in Zahlen
D
ie Häfen sind die Knotenpunkte bei der Verteilung von Waren auf die Binnennetze:
Wenn es hier „hängt“, ist die gesamte nachgelagerte Versorgungskette betroffen. Das
spricht für ihre zentrale Bedeutung, wenn man beachtet, dass 3,5 Mrd. Tonnen Waren
jährlich in den 1 000 europäischen Häfen umgeschlagen werden, die 90 % des äußeren und
43 % des inneren Handelsvolumens des Kontinents ausmachen. Aneinandergereiht würden
diese Container halb um die Erde reichen.
Die Häfen der Union sind auch Stätten des menschlichen Lebens. Dem Jahresbericht 2006-2007
der ESPO (3) zufolge haben 2005 in den Häfen 500 Millionen Passagiere Schiffe bestiegen oder
verlassen, das sind nahezu zwei Drittel der Europäer. Der Sektor beschäftigt 350 000 Menschen,
wenn man die direkt mit den Hafentätigkeiten verbundenen Dienstleistungen einbezieht.
Schließlich beherbergt ein europäischer Hafen als Küstenlebensraum im Durchschnitt
250 Seetierarten, 70 Vogelarten und 60 Pflanzenarten.
© ESPO
und die Häfen können keine ausreichende
Aktivität aufnehmen, damit die erforderlichen
Infrastrukturen gebaut und die Umschlaggeschwindigkeit der Waren erhöht werden
könnten. Diese Leistungsfähigkeit ist jedoch
ein Schlüsselfaktor für die Konkurrenzfähigkeit
gegenüber dem Straßentransport.
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
39
VERKEHR
des enormen Handlungsbedarfs in den europäischen Häfen.
Sturm naht
In der Tat, Europa ist im Rückstand. Die größten
Häfen der Union konnten nicht schnell genug
expandieren, um die exponentiell wachsenden
Exporte aus Asien abwickeln zu können. In
Rotterdam wurde beispielsweise die Erweiterung
durch umwelttechnische Probleme blockiert.
Dadurch kommt es zu chaotischen Stauungen,
Lieferverspätungen und sogar zur Umleitung
von Schiffen, weil einfach nicht genügend
Anlegeplätze zur Verfügung stehen. Die
Partnerhäfen beginnen zu zweifeln. Im ersten
Quartal 2007 wurden aus diesem Grund 73% der
Container mit Verspätung entladen. Und nach
Angaben der europäischen Organisation der
Seehäfen, ESPO (3), dürfte sich der Seetransport
zwischen 2006 und 2015 verdoppeln.
Im Rahmen einer vorläufigen Schlussfolgerung
erklärt Deyris: „Es stehen große und einschneidende Maßnahmen an, wie beispielsweise der
Bau von Hochseehäfen und die sich daraus
Häfen als Zufahrten auf
die „Autobahnen“ des Meeres
J
edes Jahr verstopfen Staus 10 % des europäischen Straßennetzes und verursachen einen
Verlust von 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts. Allein in der EU der 15 dürfte der Frachtverkehr
bis 2010 um 70 % steigen. Die Straße überschreitet mit ihren Infrastrukturkosten, ihrer
Belastung für die Landschaft, ihrem Anteil von 90 % an den CO2-Emissionen des Verkehrssektors
ihren Sättigungspunkt, und die Räder der Maschine „Transport“ blockieren. Eine Neuorganisation
ist unausweichlich.
Dieses Ziel verfolgt das Projekt Meeresautobahnen der Generaldirektion Umwelt und Transport, das sich
auf den Seetransport für Kurzstrecken konzentriert. Diese Transportart verzeichnete zwischen 1995 und
2002 einen Zuwachs von 25 %. Sie ist sicherer, staufrei, wirtschaftlicher im Treibstoffverbrauch und
gleichzeitig auch wettbewerbsfähiger in Bezug auf Zeit und Kosten als die meisten Straßenrouten
– vor allem im Hinblick auf natürliche Hindernisse, wie Gebirgszüge. Obst und Gemüse, das jährlich
an Bord von 60 000 LKW von Spanien nach Irland und England gebracht wird, wäre auf dem
Seeweg 600 bis 1 200 km weniger unterwegs.
Aber diese verderblichen Produkte können nicht einen Tag lang an der Mole stehen. Der Seetransport
muss sein Dienstleistungsangebot intensivieren können, um die kontinuierliche, sich über Asphalt,
Schiene und Wasserwege ergießende Warenflut aufnehmen zu können. Die Entwicklung der Seefahrt
(30% des Forschungsbudgets des 6. Rahmenprogramms für den maritimen Sektor) erhält tatsächlich
eine breitere Perspektive, indem sie alle Arten des Transports und ihr Ineinandergreifen mit einbezieht.
Dieser multimodale (im Zusammenhang mit Containern intermodale) Ansatz ist einer der Schlüssel
der EU-Politik. Er fordert ein Überdenken des gesamten Transport-Managements, natürlich eine
Erhöhung der Frequenz der Seeverbindungen, aber auch die Definition echter Logistikketten, die
den Fluss aller Transportarten organisieren und auf eine begrenzte Anzahl an Zielhäfen konzentrieren, die die Verbindung zu den „Meeresautobahnen“ herstellen. Vier große Korridore wurden
bereits festgelegt: in der Ostsee, in Westeuropa, in Südost- und in Südwesteuropa.
40
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
ergebende neue Verteilungslogistik. Aber
weder die Forschung noch die Branche selbst
sind heute reif genug, um dieser Entwicklung
ins Auge zu sehen. Allerdings scheint sich die
Tendenz seit kurzem umzukehren: Große
Häfen äußern den Wunsch, an laufenden oder
künftigen Projekten teilzunehmen.“
DDH
(1) Coordinated Action of Ports for integration of efficient
innovations and development of adequate research,
development and innovation activities.
(2) In einem großen europäischen Hafen werden jedoch
demnächst Versuche durchgeführt.
(3) European Sea Port Organisation.
www.capoeiraproject.com
ec.europa.eu/transport/white_paper/
Die Aktivität der Häfen wird in Mio. TEU
gemessen. Rotterdam (NL) beispielsweise
wird mit 9,3 bewertet, Antwerpen (BE)
mit 6,5 und Algesiras (ES) mit 3,2. TEU bedeutet
„Twenty-foot Equivalent Unit“ und ist die
Standardeinheit als Maß für den Transport
von Containern, die i.d.R. diese Länge
(etwas über 6 m) aufweisen.
© ESPO
© ESPO
Scheitern der Initiativen. „Die Häfen
stehen in Konkurrenz, wenn es um die
Akquise und den Erhalt des Verkehrs geht.
Wenngleich es einige wenige Projekte gibt,
die sieben oder acht Partner vereinen, behält
in aller Regel jeder sein Know-how für sich.
Einige haben sogar ihre eigene Technik. Und
das, obwohl in anderen stark wettbewerbsbestimmten Sektoren, wie Luftfahrt- und Automobilindustrie, die Forschung von mehreren
Akteuren gemeinsam betrieben wird und sich
das Konkurrenzverhalten auf die speziellen
Anwendungen des Einzelnen reduziert“, so
Deyris weiter. Zudem ist in bestimmten
Ländern ein Mangel an Konzertierung der
Sozialpartner zu beklagen.
Die Phase der Analyse früherer Projekte mündet
in eine Erarbeitung von Empfehlungen, die am
19. Oktober in Paris präsentiert wurden. „Die
Ergebnisse wurden von der gesamten
Gemeinschaft mit Spannung erwartet“, erklärt
Deyris, „denn bevor wir Zukunftsszenarien
erstellen, haben wir uns die für eine Analyse
notwendige Zeit genommen.“ Und das trotz
NAVIGATION
Ein Kontrollturm
für den Verkehr auf den Meeren
Informationen von ESPO(1) zufolge werden in den
1 200 Seehäfen der europäischen Küsten jährlich über
3 Mrd. Tonnen Waren verladen. Rund 20 000 Schiffe
kreuzen ständig vor unseren Küsten: für die Überwacher
der Meere ist das ein wirkliches logistisches Puzzle.
Denn dieser dichte Verkehr erzeugt eine regelrechte Flut
an Informationen, die zwischen den Schiffen selbst,
aber auch mit den Küstenwachen ausgetauscht werden.
Seit November 2004 versucht das Forschungsprogramm
MarNIS – Maritime Navigation and Information
Services – diesen Informationsfluss zu rationalisieren
und zu organisieren, um Unfallrisiken einzudämmen.
H
erald of Free Enterprise, Erika,
Prestige… Diese Namen sind
noch in Erinnerung: Menschenleben gingen verloren, Ölpest,
Vögel mit verklebten Federn. Das darf nie wieder
passieren! Unfälle auf dem Meer geschehen
jedoch immer noch allzu häufig, mit oder
ohne Umweltkatastrophe, mit und ohne
menschliches Drama. Vor allem Fischer sind
Risiken ausgesetzt: Die tödlichen Arbeitsunfälle in diesem Berufsfeld weisen ein beunruhigendes Größenverhältnis auf. Es liegt bei
2: 1 000. Dagegen liegt dieses Verhältnis in
anderen Risikosektoren, beispielsweise im
Baugewerbe oder im Bergbau, bei „nur“ 0,3:
1 000. Sehr häufig geschehen diese Unfälle aufgrund von Kommunikationsmängeln zwischen
den Schiffen.
AIS, überall und immerzu
Zur Lösung dieses Problems lautet der
Vorschlag der Europäischen Kommission, alle
Schiffe und Fischereiboote mit einer Kiellänge
von über 15 m zwingend mit einem sogenannten AIS-Gerät (Automatic Identification
System) zur automatischen Identifizierung
auszustatten. Nach den Vorschriften der
Internationalen Schifffahrtsorganisation IMO
(International Maritime Organisation) dagegen
sind diese Geräte nur für Handelsschiffe mit
einer Last von mehr als 300 brt – 300 Bruttoregistertonnen, also 849 m³ – und für Passagierschiffe Pflicht. – Aber was ist ein AIS?
Dieses Identifikationssystem besteht aus
einem Gerät, mit dem automatisch über eine
hohe Frequenz (VHF) Nachrichten ausgetauscht werden. Das AIS ist mit anderen
Navigationsinstrumenten des Schiffes – Positionsanzeiger, Geschwindigkeitsmesser, Kursanzeiger
usw. – gekoppelt und sendet in regelmäßigen
Intervallen ein Informationspaket aus, anhand
dessen andere Schiffe und die Küstenüberwachungssysteme die Position des
Schiffes ganz genau bestimmen können. Es
liefert auch zusätzliche Informationen über
die Ladung, die Größe, den Zielhafen und
andere wichtige Einzelheiten. Gleichzeitig
empfängt das AIS dieselben Informationen
von den anderen Schiffen in seiner Nähe und
fügt sie zusammen.
„Mit diesem System kann die Sicherheit auf
dem Meer ganz erheblich verbessert werden“,
bestätigt Gabriele Mocci, Leiter für Studien zur
Breitbandkommunikation auf See bei Telespazio
(IT). „Aber um die Effizienz zu erhöhen, müsste
dieses System weltweit auf allen Schiffen eingeführt werden.“ Und genau diesen umfassenden
Einsatz möchte die Kommission wenigstens
auf europäischer Ebene durchsetzen.
MarNIS für ein integriertes Management
„Mithilfe des Forschungsprogramms MarNIS“,
erklärt der Projektkoordinator Cas Willems,
„will die Kommission die Möglichkeiten des
AIS weiterentwickeln.“
Das ehrgeizige Ziel von MarNIS, das im
November 2004 mit über 40 Partnern – einer
davon Telespazio – gestartet wurde, ist die
Verbesserung der globalen Sicherheit in europäischen Gewässern. „Um dieses Ziel zu erreichen, spielen Telekommunikationssysteme eine
ausschlaggebende Rolle“, unterstreicht der
Koordinator von MarNIS. „Wir versuchen vor
allem, die Informationen des AIS besser mit
anderen Informationen zu koppeln. Dazu zählen Satellitenbilder, Daten von Beobachtungssystemen wie LRIT (Long Range Identification
and Tracking Systems), Standortbestimmungsinstrumente wie GPS und Galileo oder auch
Kartenanzeigesysteme. Durch die Integration
aller Daten und mit Hilfe ihrer grafischen
Darstellung in einer einzigen Schnittstelle
könnte der Seeverkehr über ein zentrales
Kontrollzentrum gesteuert werden, so wie das
auch in der Luftfahrt gemacht wird.“
Matthieu Lethé
(1) Vereinigung der Europäischen Seehäfen
(ESPO – European Sea Port Organization).
www.marnis.org
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
41
OZEANOGRAFISCHE FORSCHUNG
BEWERTUNG: EXZELLENT
Im Juni 2007 führte die Konferenz EurOcean (1) die wichtigsten Vertreter der
europäischen Meeresforschung rund um die Frage nach der Rolle der
Meereswissenschaften und -technologien in Europa zusammen. Eine solche
Veranstaltung hatte bislang noch nicht stattgefunden. Im Hinblick auf die
Kenntnisse über Ozeane und Datenverarbeitung steht Europa weltweit an
der Spitze und muss diese Position pflegen und weiterentwickeln. Das
macht sich in einer intensiveren Koordination auf europäischer Ebene
zwischen den spezialisierten nationalen Einrichtungen bemerkbar, aber
auch in der Durchführung ehrgeiziger Forschungsprogramme, um diese
Spitzenposition dauerhaft zu bewahren und ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial optimal zu nutzen. – Ein Einblick in einige bedeutende
Stützpfeiler der europäischen meereskundlichen Exzellenz, die bereits einen
sehr hohen Maßstab ansetzen.
der Azoren, diese Dynamik besser zu
erfassen und sie mit anderen Meeresregionen der Welt im Hinblick auf
Biologie, Physik, Chemie und Geologie
in einen Zusammenhang zu stellen.
© Cédric d'Udekem d'Acoz
www.awi.de/de/
DOP/Universität der Azoren I
Abteilung für Meereskunde und
Fischereiwesen (PT)
Die Azoren, die von unausgewerteten
Reichtümern nur so überquellen, ziehen die Meereskundler aus allen
Spezialgebieten an. An der DOP/UAç
werden in erster Linie Forschungen
zur Beschreibung, Erprobung und
Modellierung ozeanischer Systeme
durchgeführt. An Bord des Forschungsschiffs Arquipélago bemüht sich die
junge Mannschaft von der Universität
Storegga-Kontinentalhang an der
norwegischen Küste.
IFREMER I Institut de recherche
pour l’exploitation de la mer (FR)
Dieses Zugpferd der französischen
Meeresforschung arbeitet an 25 Küstenstandorten in Frankreich und in den
Überseedepartements. Seine Hauptaufgaben sind der dauerhafte Betrieb
meereskundlicher Ressourcen, die
Überwachung und der Schutz der
marinen Küstengebiete sowie die
wirtschaftliche Entwicklung der maritimen Welt.
www.horta.uac.pt/
Amphipode der Antarktis.
AWI I Alfred-Wegener-Institut für
Polar- und Meeresforschung (DE)
Als Spezialist in diesem Bereich koordiniert das Alfred-Wegener-Institut in
Bremerhaven die Polarforschung in
Deutschland und stellt wichtige
Infrastruktur für die Forschungen in
Arktis und Antarktis zur Verfügung. Es
ist der Initiator der Polarstern, einem
riesigen Eisbrecher, der seine erste
Forschungsexpedition zur Untersuchung
des Lebens auf dem Meeresboden der
Antarktis durchgeführt hat (siehe
research*eu 52).
© Ifremer/Vicking 2006
www.ifremer.fr
ICES I International Council for
the Exploration of the Sea (DK)
Das ICES gewährleistet die Koordinierung und die Förderung der Meeresforschung im Nordatlantik und in
anderen angrenzenden Meeren, wie
der Ostsee und der Nordsee. Diese Organisation ist ein Knotenpunkt für über
1 600 Wissenschaftler aus 20 Ländern
des Nordatlantiks. Ihre Zielsetzung:
alle möglichen Informationen über
das marine Ökosystem sammeln und
Wissenslücken schließen.
IOPAN I Institute of Oceanology
Polish Academy of Sciences (PL)
Das IOPAN ist das größte meereskundliche Institut Polens. Im Jahr 2003 wurde ihm von der EU der Status des
Exzellenzzentrums für Meereswissenschaften mit Schwerpunkt auf dem
Ostseeraum verliehen. Es befasst sich
hauptsächlich mit dem Ostseeraum
sowie mit dem Nordatlantik und den
europäischen Arktisregionen.
www.iopan.gda.pl
www.ieo.es
www.nioz.nl
© NOCS
Tauchender Forscher
NOCS I National Oceanographic
Center Southampton (UK)
Das NOCS liegt auf einem Campus am
Meer und ist eines der fünf größten
Meeresinstitute der Welt. Seine 520
Wissenschaftler bilden die Basis
sowohl für eine nationale ozeanografische Forscherflotte als auch für strategische Programme für den nationalen
Umweltforschungsrat NERC (National
Environmental Research Council). Es
unterstützt den Wissenstransfer, indem
es sein Fachwissen mit der Regierung,
den Unternehmen und gemeinnützigen
Organisationen teilt.
www.noc.soton.ac.uk
© Stein Sandven, NERSC.
Polarbär auf einem Logo eines
Instituts, bedroht durch Klimawandel
und die Eisschmelze.
www.ices.dk/
IEO I Instituto Español
de Oceanografia (ES)
Dieses multidisziplinäre Forschungszentrum befasst sich in erster Linie mit
Problemen, die durch die Ausbeutung
der natürlichen Ressourcen und durch
die Umweltverschmutzung entstehen.
Durch Forschungs- und Beratungstätigkeiten trägt das IEO zur Entwicklung
und Pflege industrieller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Aktivitäten
bei, die mit der nachhaltigen Nutzung
der Ozeane zusammenhängen.
und den Binnenmeeren befasst, und
sieht sich selbst im Rahmen des
Möglichen als ein Katalysator für die
Entscheidungsfindung auf politischer
und gesellschaftlicher Ebene.
© NIOZ
Forschungsschiff Pelagia.
NIOZ I Royal Netherlands
Institute for Sea Research (NL)
Gegründet 1876 ist das NIOZ eine der
ältesten meereskundlichen Einrichtungen Europas. In enger Zusammenarbeit mit Physikern, Chemikern, Geologen
und Biologen bemüht es sich um eine
multidisziplinäre Forschung, die sich
hauptsächlich mit den Küstengebieten
NERSC I Nansen Environmental
and Remote Sensing Center (NO)
Das NERSC bemüht sich um ein besseres Verständnis und die Überwachung
der ökologischen und klimatischen
Fluktuationen sowohl auf regionaler
als auch auf globaler Ebene. Es befasst
sich vor allem mit der Modellierung
der Ozeane, mit der Erarbeitung von
Daten, der Fernerkundung und der
Klimaforschung.
www.nersc.no/main
(1) www.eurocean2007.com/
42
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
NRO
DIE STACHEL DER ZIVILGESELLSCHAFT
Ihre leidenschaftlichen Aktionen und ihre
menschliche Prägung rütteln die
Öffentlichkeit wach. Einer Umfrage von
Euractiv (1) zufolge sind Nichtregierungsorganisationen (NRO) die effizientesten
Kommunikatoren, um der Debatte zwischen
der EU und ihren Bürgern Tiefe zu verleihen.
Sie werden zu wahren Lobbys und können
Druck auf politische Entscheidungsträger
und Unternehmensleiter ausüben, um ihre
Ziele zu erreichen. Wenn das Meer in Gefahr
ist, läuten die emblematischsten NRO die
Alarmglocken.
Greenpeace, die Agitatorin
Als echte Aktivistin für den Schutz des Planeten
klagt Greenpeace offen alle Übeltäter der
Ozeane an und konfrontiert sie mit ihren
Missetaten. Ihr Talent wurzelt in ihrer Fähigkeit,
die Bürger direkt anzusprechen, indem sie
besonders auffällige und medienwirksame
Aktionen durchführt. Die spektakulären
Kampagnen im Kampf gegen den Walfang in
Japan – bei denen sich die Aktivisten direkt in
die Schusslinie der Harpunen stellten, um die
Wale zu schützen – sind zum wichtigsten
Markenzeichen der Organisation geworden.
Seit 2002 führt die Esperanza – ihren Namen
hat das Schiff von den Cyberaktivisten von
© Greenpeace/Daniel Beltrá
Im Kampf gegen die Walfänger
nähert sich die Esperanza
der Stadt Sydney.
Greenpeace – ganz besondere Missionen durch,
wie zum Beispiel die Kampagne gegen die
Fischkutter, die im Ärmelkanal Delfine töteten,
oder gegen die Schleppnetzfischerei im
Nordatlantik.
Auf dem vergangenen Weltozeantag
(8. Juni 2007) hat Greenpeace drei vorrangige
Themen in ihrer Sensibilisierungskampagne
vorgebracht: den Schutz des Roten Thunfischs,
der weitgehend überfischt ist, die Notwendigkeit,
die Verbraucher über die dringende
Erweiterung der Vielfalt der konsumierten
Arten zu informieren, und die Einrichtung eines
großen Netzes von Meeresschutzzonen für
40 % der Ozeane. Dadurch könnten die
Ökosysteme wiederbelebt werden und sich die
Populationen im Meer erholen.
oceans.greenpeace.org/fr/
WWF, die Diplomatin
Der WWF (World Wide Fund for Nature), die
größte unabhängige Organisation zum Schutz
der Natur auf der Welt, hat sich stark der
nachhaltigen Entwicklung verpflichtet. Seine
Expertengruppen sind in über 40 Ländern tätig
und schenken ihre Aufmerksamkeit vor allem
20 maritimen Ökoregionen, zu denen auch die
Eiskappen am Nordpol und die Korallenriffe
gehören. Um seine Mission besser durchführen
zu können, hat der WWF ein EU-Verbindungsbüro
in Brüssel eingerichtet, das wie ein Katalysator
für die Einflussnahme wirkt und einfühlsam auf
Entscheidungen auf europäischer Ebene
einwirken kann. Durch eine breite und
übergreifende Vision für den Schutz der Meere
reiht sich der WWF in die neue europäische
Strategie für die Meere ein – man könnte auch
sagen, dass er sich von ihr inspirieren lässt.
Er arbeitet eng mit Wissenschaftlern, Fischern,
Wirtschaftswissenschaftlern, Rechtsanwälten,
Lobbyisten und anderen Kommunikationsexperten zusammen, um sein eigenes
Meeresprogramm durchzuführen.
Der WWF hat 2002 eine Kampagne gestartet,
mit der die gemeinsame Fischereipolitik
Europas geändert werden sollte. Ihre Ziele bis
2020: Einführung eines besonders
nachhaltigen Fischereisystems und die
Gründung von Meeresschutzzonen für 10 %
der Ozeane.
Friends of the Earth International,
die Solidarische
Seit 1969 mobilisiert das größte Ökologennetz
der Welt (70 Länder) gegen aktuelle
Umweltprobleme, indem es diese in einen
wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Kontext stellt. Diese Freunde der Erde handeln
wie eine Art Dachverband, wobei jedes Mitglied
in seinen eigenen Aktionen autonom bleibt.
Friends of the Earth ist bei öffentlichen
Veranstaltungen (Festivals, friedliche
Demonstrationen) präsent und verbreitet eine
Botschaft, die sich selbst als sachbezogen und
zentral sieht. Durch ihre Bemühungen für die
Durchführung gemeinsamer Aktionen mit
Vereinigungen, Gewerkschaften und anderen
gleich gesinnten Gesellschaftsbewegungen
sensibilisiert diese NRO den Bürger im Hinblick
auf seine aktive Rolle beim Schutz der Umwelt.
So vereint das Mittelmeerprogramm MedNet
seit 1992 die Mitgliedsorganisationen in
Kroatien, Zypern, Frankreich, Italien, Spanien,
Tunesien und im Mittleren Osten, um alle
Umweltschutzbewegungen rund ums
Mittelmeer zu stärken. Am Ende hofft MedNet,
ein Tourismusmodell zu entwickeln, das
Abfallmanagement in der Region zu
organisieren und – bis 2010 – die Folgen der
Gründung einer europäischen Freihandelszone
im Mittelmeerraum vorauszusehen.
www.foeeurope.org/
(1) www.euractiv.com
Beschützer der
Ozeane
Seas at Risk
www.seasatrisk.org
European Bureau for Conservation
& development (EBCD)
www.ebcd.org
Fondation Nicolas Hulot « Planète eau »
www.planete-eau.org
EUCC Die Küstenunion
www.eucc.net
Oceania
www.oceania.org
Deepwave
www.deepwave.org
www.worldwidelife.org/oceans/
research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007
43
© Ifremer/Campagne Phare 2002
KI-AH-07-S03-DE-C
BILD DER WISSENSCHAFT
Victor und die
heißen Quellen
Im östlichen Pazifik führt Victor 6000 Probenentnahmen und Messungen
an einer Hydrothermalquelle in 2 630 m Tiefe durch. Dieser ferngesteuerte
Unterwasserroboter ist Eigentum von Ifremer und spielt eine Schlüsselrolle im
Projekt „Phare 2002“. Er hilft den Forschern, die Funktionsweise der in diesen
heißen Umgebungen – manche Quellen sind bis zu 350 °C heiß – lebenden
Artengemeinschaften zu analysieren, die Ende der 1970er Jahre entdeckt
wurden. Seitdem leistet Victor 6000 dort seinen Dienst. Der Roboter ist mit
acht Kameras ausgestattet. Im Rahmen der Momerato-Expedition erkundete
er 2006 das unterirdische Leben der hydrothermalen Emissionen auf dem
Mittelatlantischen Rücken südlich der Azoren.
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