Sonderausgabe – Dezember 2007 Europäische Kommission Magazin des Europäischen Forschungsraums Meerespolitik Die Vielfalt der Ozeane ISSN 1830-799X research eu research*eu, das Magazin des Europäischen Forschungsraums, will zur Erweiterung der demokratischen Debatte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beitragen. Es wird von unabhängigen Journalisten verfasst und analysiert und stellt Forschungsprojekte, Ergebnisse sowie Initiativen vor, deren Akteure, Frauen und Männer, zur Stärkung und Bündelung der wissenschaftlichen und technologischen Exzellenz Europas beitragen. research*eu wird auf Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch – vom Referat Information und Kommunikation der GD Forschung der Europäischen Kommission herausgegeben. Es erscheint zehnmal im Jahr. edito research*eu Chefredakteur Michel Claessens Planet Meer Ein weiteres europäisches Paradoxon: Obwohl Europas Territorium um ein Dreifaches kleiner ist als der afrikanische Kontinent, sind die europäischen Küsten zusammengenommen dreimal so lang wie die afrikanischen. Trotzdem bleibt die Meerespolitik im Wesentlichen fragmentiert und auf die nationale Ebene konzentriert. Jedoch berühren Meere und Ozeane alle Mitgliedstaaten der Union, und zwar sowohl im wörtlichen Sinn, denn fast die Hälfte ihrer Bevölkerung lebt weniger als 50 km von den Küsten entfernt, als auch im übertragenen, da die Herausforderungen für die Wirtschaft, die Umwelt und die Gesellschaft immens sind. Fischerei, Verkehr, Handel, Umweltverschmutzung, Erwärmung und Tourismus – die Meere und Ozeane stehen im Mittelpunkt zahlreicher Vorgänge, die eng miteinander verbunden sind und interagieren. Daher ist ein breites integriertes, sektorenübergreifendes sowie transnationales Management absolut erforderlich. Dies ist die Zielsetzung der Europäischen Kommission in ihrem kürzlich veröffentlichten „Blaubuch“. Es ist ein politisches Dokument, gleichzeitig aber auch eine Vision, die, wie unsere Leser mit Interesse feststellen können, die wissenschaftliche Forschung zum Schlüsselelement dieser politischen Vision erhebt. Die Meere sind die Wiege allen Lebens auf der Erde, dessen Geburt 3,8 Mrd. Jahre zurückliegt. Wasser ist das Symbol des Lebens und macht unseren Planeten zu einer einmaligen Erscheinung in diesem Winkel des Universums. Dieser einzigartige und lebenswichtige Aspekt allein müsste uns bereits dazu zwingen, dieses Naturelement zu respektieren. Aber die menschliche Spezies, die auch nur eine Vertreterin der biologischen Vielfalt auf der Erde ist, stört und bedroht diesen riesigen „lebendigen Organismus“, den die Ozeane darstellen. Mit seinem auf hoch komplexen Bedingungen beruhenden Gleichgewicht, den gegenseitigen Abhängigkeiten und Interaktionen muss dieses System als ein Ganzes angesehen und behandelt werden. Davon hängen sein und unser Überleben ab. In der Hoffnung, dass diese grundlegenden Gedankengänge auch bei unseren Politikern etwas bewegen… Michel Claessens Chefredakteur Die in diesem Editorial und den Artikeln wiedergegebenen Meinungen sind nicht bindend für die Europäische Kommission. Sie möchten die Druckversion von research*eu erhalten? Lektorat der Sprachversionen Julia Acevedo (ES), Stephen Gosden (EN), Regine Prunzel (DE) Allgemeine Koordination Jean-Pierre Geets, Charlotte Lemaitre Redaktion Didier Buysse, Jean-Pierre Geets Autoren Charlotte Brookes, Delphine d’Hoop, Carlotta Franzoni, Matthieu Lethé, Cyrus Pâques, François Rebufat, Julie Van Rossom Übersetzungen Martin Clissold (EN), Silvia Ebert (DE), Michael Lomax (EN), Consuelo Manzano (ES) Grafik Gérald Alary (Projektleiter), François Xavier Pihen (Layout), Yaël Rouach (Koordination und Produktionsablauf ), Daniel Wautier (Druckfahnenkorrektur) Illustrationen Christine Rugemer Design Gregorie Desmons Internetversion Dominique Carlier, Katherine O’Loghlen Titelseite Eingang zu einer unterseeischen Grotte vor Marseille (Le Veyron). Im Zentrum des Bildes ist der Röhrenschwamm Haliclona mediterranea inmitten von Steinkorallen (Scleractinia) und zahlreichen anderen stiellosen Organismen zu sehen. Labor für Vielfalt, Evolution und funktionelle marine Ökologie, Marseille (FR) ©CNRS Photothèque/Thierry Perez. Uauro Sie können das Magazin kostenlos über die Website abonnieren. http://ec.europa.eu/research/research-eu Gewünschte Ausgabe: □ Französisch □ Englisch □ Deutsch □ Spanisch Druck Enschedé/Van Muysewinkel, Brüssel Sie können aber auch diesen Abschnitt ausfüllen (bitte in Druckbuchstaben) und an folgende Adresse zurückschicken: research*eu ML DG1201 Boîte postale 2201 L-1022 Luxembourg Wenn Sie mehrere Exemplare einer bestimmten Ausgabe erhalten wollen, schicken Sie ihre Bestellung zusammen mit Ihrer vollständigen Anschrift und einer kurzen Begründung bitte Auflage dieser Nummer 118 000 Alle Ausgaben von research*eu sind auch auf der Website der GD Forschung zu finden: http://ec.europa.eu/research/research-eu • per E-Mail an: [email protected] • per Fax an: (+32-2-295 82 20). Name: .................................................................................................................................................................. Organisation: ........................................................................................................................................ Anschrift: ...................................................................................................................................................... ........................................................................................................................................................................................... PLZ: ................................................................ Stadt: ............................................................................... Land: ..................................................................................................................................................................... Falls Sie ein oder mehrere Exemplare älterer Ausgaben erhalten möchten, schicken Sie uns eine kurze Nachricht per E-Mail oder per Fax. Gesamtproduktion PubliResearch Für die Ausgabe verantwortlich: Michel Claessens Tel.: +32 2 295 9971 Fax: +32 2 295 8220 E-mail : [email protected] © Europäische Gemeinschaften, 2007 Nachdruck mit Quellenangabe gestattet Weder die Europäische Kommission noch irgendeine Person, die im Namen der Kommission handelt, sind für die Verwendung der in dieser Publikation enthaltenen Informationen oder für eventuelle, trotz der sorgfältigen Vorbereitung der Texte noch vorhandene Fehler verantwortlich. INHALT Transversalität 4 Für eine integrierte Vision der Meere und Ozeane In einer Europäischen Union, in der die Fläche der Meere größer ist als die des Landes, ist eine rationelle Bewirtschaftung der Meere und Ozeane unumgänglich. Präsentation der Arbeit der Taskforce, die 2005 von der Kommission zu diesem Zweck eingesetzt wurde. 5 Der alte Mann und das Meer, ein notwendiger Kurswechsel Gespräch mit Boris Worm, Meeresbiologe an der Universität Dalhousie (Canada). Er beschäftigt sich mit der Frage nach einer positiven und nachhaltigen Interaktion zwischen Mensch und Meeresumwelt. Primäres Ökosystem Biodiversität 8 Wettlauf mit der Zeit in den Meerestiefen Marine Ökosysteme und biologische Vielfalt sind in Gefahr. Die Wissenschaftler des europäischen Netzwerks Marbef wollen die biologische Vielfalt der Ozeane erforschen, bevor sie für immer verschwindet. Panorama einer Welt in der Tiefsee mit Tausenden von Spezies. Tiefsee 10 Die verborgene Seite der Erde Scheinwerfer auf die großen Tiefen und ihre Geheimnisse dank der wissenschaftlichen Plattform Hermes, die die unterseeischen Reliefe und ihre einmaligen Ökosysteme untersucht. Kohlenstoff 13 Das CO2 zwischen Himmel und Meer Das Wasser auf unserem Planeten absorbiert das CO2, aber die Grenzen dieser riesigen Senke werden spürbar. Das Forschungsprogramm CarboOcean analysiert dieses Phänomen und greift den Konsequenzen einer möglichen Sättigung vor. Nahrungsquelle Meer Überfischung 16 Lösungen dringend gesucht Wie kann man die Überfischung der Meere senken und gleichzeitig einen traditionellen Beruf schützen? Die Fischerei und ihre Enttäuschungen: ein Lagebericht. Aquakultur 19 Die kulinarische Zukunft der Meere Die Aquakultur bietet sich als Alternative ersten Grades für die Fischerei an. Aber auch sie muss in Harmonie mit der Umwelt durchgeführt werden. Blaue Biotechnologie 22 Unterwasser-Goldgrube für die Biotechnologie Potenzielle Arzneimittel gegen den Krebs, biologisch abbaubare Kunststoffe, revolutionäre Antibiotika, Energieproduktion. Die Ozeane sind voller Lebewesen, die für den Menschen eine wertvolle Ressource darstellen. Energie 25 Ein wellenfressender Drache Die Projekte für die Energiegewinnung aus dem Meer an den europäischen Küsten häufen sich. Zu diesen gehört auch das Brandungskraftwerk Wave Dragon. Fragile Grenzen Küstenmanagement 27 89 000 km europäische Küsten Um dauerhaft mit den komplexen natürlichen und vielfältigen Küstensystemen im Einklang leben zu können, verfolgt die EU ein Integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM). Das Projekt Spicosa, erarbeitet Zukunftsszenarien, um der Küstenzerstörung vorzubeugen. 30 Tourismus gegen Tourismus Die Ankunft der Besucher an den europäischen Küsten stellt jedes Jahr aufs Neue einen wahren Katalysator für Wachstum und Beschäftigung in der EU dar. Aber wer von Tourismus spricht, muss auch von den negativen Folgen auf das Sozialgefüge, auf das wirtschaftliche Gleichgewicht und auf die Qualität der Umwelt sprechen. Verschmutzung 32 Hilfstrupp aus dem Meer Im Kampf gegen die Verschmutzung, einer der Hauptkrankheiten unserer Meere, sind einige marine Organismen zu beliebten Verbündeten geworden. Maritimer Raum Verkehr 35 Forschung: Gallionsfigur des Schiffsbaus Bestandsaufnahme des strategischen Schiffbausektors. Mit der Technologieplattform Waterborne TP mobilisiert Europa seine Kräfte. Sie steht für maritime Innovation, die eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit garantieren soll. 38 Häfen am toten Punkt Während der ungezügelten Intensivierung der Hafenaktivitäten erreichen die Aufnahmekapazitäten des „Alten Kontinents“ ihre Grenzen. Zwar gibt es verschiedene innovative Lösungen, die aber nicht umgesetzt werden. Das Projekt Capoeira versucht die Gründe für diese Kluft zwischen Forschung und Gesellschaft zu entschlüsseln. Navigation 41 Ein Kontrollturm für den Verkehr auf den Meeren Wie soll man 20 000 Schiffe managen, die ständig vor den europäischen Küsten kreuzen? Angesichts der Informationsflut, die zwischen Schiffen und Küstenbehörden kreist, versucht das Programme MarNIS durch Rationalisierung, Organisierung sowie Risikobegrenzung den Vermittler zu spielen. Ozeanografische Forschung 42 Bewertung: exzellent Als wahrer Leitsatz der ozeanografischen Forschung breitet sich die Exzellenz in alle vier Himmelsrichtungen Europas aus. Einblick in ein paar Zentren, die der ganze Stolz der EU sind. NRO 43 Die Stachel der Zivilgesellschaft Während sich der Planet Meer im Alarmzustand befindet, sensibilisieren, agieren und wirken NRO besser als jeder andere auf die Politik ein und setzen diese unter Druck. Ein Blick auf diese selbstlosen Lobbyisten. Bild der Wissenschaft 44 Victor und die heißen Quellen Der Unterwasserroboter von Ifremer. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 3 Für eine integrierte Vision der Meere und Ozeane Kein Bürger der Europäischen Union lebt weiter als 700 km von einer Küste entfernt und fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in Meeresnähe, also in einer Entfernung von weniger als 50 km. Vier Meere (das Mittelmeer, das Schwarze Meer, die Nordsee und die Ostsee) und zwei Ozeane (der Atlantik und die Arktis) grenzen an die EU. Das sind 89 000 Küstenkilometer – mehr als das Doppelte der russischen Küsten. Die Meeresgebiete, die in den Rechtsraum der Mitgliedstaaten fallen, sind flächenmäßig größer als das Festland. Daraus kann man den eindeutigen Schluss ziehen, dass ein vernünftiges Management der Meere und Ozeane notwendig ist. A Heutzutage ist das Management der Meeresregionen fragmentiert: Verschiedene zuständige Behörden treffen Entscheidungen, die sich als gegenläufig herausstellen können, negative Auswirkungen auf die Umwelt haben oder sich auch auf einen anderen Wirtschaftssektor schädlich auswirken können. Um solche Konflikte zu vermeiden, richtete die Europäische Kommission Anfang 2005 eine Taskforce ein. Unter der Leitung der für Sektorpolitik in maritimen Angelegenheiten zuständigen Kommissare arbeitet diese Taskforce im Rahmen der strategischen Ziele 2005-2009 zur Wiederbelebung der Lissabonner Strategie. „Unsere Mission war es“, erklärt John Richardson, Leiter dieser Taskforce, „Wirtschaft und Beschäftigung in den Küstenregionen Europas unter Berücksichtigung der Qualität der Meeresumwelt und der Lebensqualität in den Küstenregionen anzukurbeln.“ Nach einer Reihe von Vorabkonsultationen wurden die Ideen in einem Grünbuch über „Die künftige Meerespolitik der EU“ gesammelt, das am 7. Juni 2006 veröffentlicht wurde. Alle Ideen lie- 4 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 fen in eine Richtung: zu einem breiten und sektorenübergreifenden Management aller Angelegenheiten, die mit dem Meer zu tun haben. Die Stimme der Zivilgesellschaft „Auf der Grundlage dieses Grünbuchs“, fährt John Richardson fort, „wurde eine umfassende Konsultation in der Zivilgesellschaft in Gang gesetzt. Aus diesem Anlass wurden über 250 Konferenzen und Seminare überall in Europa veranstaltet. Gleichzeitig sind über das Internet über 480 Beiträge mit neuen Ideen bei uns eingegangen.“ „So viele Beiträge hatten wir gar nicht erwartet“, freut sich Richardson. „Aber man kann auch sagen, dass die Reaktionen auf die Vorschläge des Grünbuchs insgesamt gesehen positiv ausgefallen sind: Eine große Mehrheit der Beiträge stimmt einer integrierten Meerespolitik der Europäischen Union zu, wobei es hinsichtlich der Vorgehensweise natürlich unterschiedliche Ansichten gibt.“ Wie geht es jetzt weiter? „In diesem Herbst“, erklärt John Richardson, „wurde ein Blaubuch © Shutterstock TRANSVERSALITÄT von der Europäischen Kommission vorgestellt und verabschiedet. Es fasst die Ergebnisse dieser großen Konsultation zusammen und enthält auch eine politische Vision, wie sich die Zukunft einer integrierten Meerespolitik gestalten wird. Dazu werden ein erster Aktionsplan und Maßnahmen vorgestellt, um diese politische Vision in die Tat umzusetzen.“ „Die wissenschaftliche Forschung als Motor der politischen Aktion“ „Wie im Grünbuch so wird auch im Blaubuch die Forschung als ein Schlüsselelement dieser politischen Vision angesehen“, fügt John Richardson hinzu. „Sie versetzt die Europäer tatsächlich in die Lage, ihre Spitzenposition im maritimen Sektor beizubehalten und sich der weltweiten Konkurrenz zu stellen. Aber die wissenschaftliche Forschung ist auch ganz einfach ein Motor für ein besseres Wassermanagement und deshalb auch für eine koordinierte Entscheidungsfindung in Meeresangelegenheiten.“ Die Meere und Ozeane stehen im Zentrum zahlreicher Interaktionen und Vorgänge. Um politische Entscheidungen zu optimieren, muss man sie verstehen. Man muss die Ökosysteme und ihre Funktionsmechanismen in ihrer ganzen Komplexität begreifen. Das gilt auch für Störungen, die durch den Menschen verursacht werden. Fischerei, Tourismus, Handel, Verkehr, die Klimaerwärmung und die Umweltverschmutzung haben unerwünschte Auswirkungen auf die Meeresumwelt. Mit diesen Fragestellungen und Problemen beschäftigt sich diese Ausgabe. Zusammen gesehen bieten sie einen Überblick über die Komplexität des „Systems der Meere und Ozeane“: Alles erhält sich gegenseitig, alles ist voneinander abhängig und alles wirkt sich auf alles aus. Für ein effizientes Management dieses Systems gibt es nur eine Lösung: Man muss es als ein Ganzes verstehen. Matthieu Lethé TRANSVERSALITÄT Der alte Mann und das Meer ein notwendiger Kurswechsel Kann der Mensch die Ozeane leerfischen? Boris Worm, Spezialist für Meeresbiologie an der Universität Dalhousie in Halifax (Kanada), ist der Ansicht, dass die heute ausgebeuteten Fischbestände bis Mitte des Jahrhunderts erschöpft sein könnten. (1) Aber trotzdem behält er einen klaren Kopf und sucht durch die Erforschung anderer Meeresbewirtschaftungsmodelle nach Lösungen, wie man den Menschen und die Meeresumwelt miteinander in Einklang bringen könnte. Er schlägt vor, sich von einem lokalen und fragmentierten Konzept weg und hin zu einem globalen Ansatz für die Ökosysteme zu bewegen, um die für das Überleben der Ozeane und des Menschen wesentliche biologische Vielfalt zu bewahren. Der Ozean wird nicht unendlich lange die durch den Menschen verursachten Folgen absorbieren können. Welche deutlichen Zeichen sprechen dafür? Es gibt viele Zeichen und sie sind sehr unterschiedlich. Die Fischpopulationen werden ärmer, die globalen Fangmengen sinken langsam – und das trotz gesteigerter Bemühungen im Fischfang und leistungsfähiger Techniken. Viele Experten sind sich einig, dass die Grenze der Ausbeutung erreicht bzw. überschritten ist. Gleichzeitig sind die Zeichen der Umweltverschmutzung entlang der Küsten offensichtlich. Die berüchtigten „toten Zonen“, wo massive Algenblüten auftreten, werden immer zahlreicher. Wenn sich die Algen auf dem Grund zersetzen, brauchen sie den Sauerstoff im Wasser vollständig auf und ersticken die gesamte Meeresfauna in dieser Zone. Auch die Klimaerwärmung trägt zur Veränderung der Planktongemeinschaft an der Basis der Nahrungsmittelkette bei und wirkt sich auf die Fischbestände aus, die sich von diesen ernähren. Dadurch wird das Gleichgewicht des gesamten Ökosystems der Küsten gestört. Der Weltbank zufolge leben 50 % der Weltbevölkerung weniger als 60 km vom Meer entfernt, Tendenz steigend. Ja, das ist eine wahre Herausforderung für die Menschheit. Die Ökosysteme der Küsten sind für das Leben in den Ozeanen von großer Bedeutung. Sie filtern und transformieren viele Abfälle und Schadstoffe, die wir ins Meer werfen. Zum Beispiel kann eine einzige Austernkolonie das Wasser in einer Bucht in wenigen Tagen filtern. Die Küstengebiete sind auch die Fortpflanzungsgebiete, die Kinderstube und die Nahrungsgebiete vieler Lebewesen: Fische, Säugetiere, Vögel… Aber die Verschmutzung und die Zerstörung von Zonen, wie den Mangroven oder den unterseeischen Wiesen, führen auch zur Zerstörung der Wasserqualität und zu steigenden Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit dem Konsum von Produkten aus dem Meer. Die erwähnte Boris Worm „Die Zeichen der Umweltverschmutzung entlang der Küsten sind offensichtlich und die toten Zonen werden immer zahlreicher.“ Algenblüte tötet die Fische und verseucht die Weichtiere, die sich dadurch für den Verzehr nicht mehr eignen und gefährlich sind. Sicherlich handelt es sich hierbei um natürliche Phänomene, die vor allem durch das Einfließen von stickstoffhaltigem Dünger aus der Landwirtschaft hervorgerufen und verstärkt werden. Das häufige Auftreten dieser Algenblüten deutet wahrscheinlich auf ein Ungleichgewicht und eine wichtige Veränderung der ökologischen Abläufe hin. In Ihren jüngsten Arbeiten sprechen Sie davon, dass die meisten Fischbestände bis zur Mitte des Jahrhunderts (1) erschöpft sein werden. Ist die Fischereiindustrie zu diesem Zeitpunkt schlecht beraten? Gut bewirtschaftete Fischgründe sind selten. Zu hohe Flottenkapazitäten, zu hohe Fangquoten im Vergleich zu den wissenschaftlichen Empfehlungen oder auch illegale Fangpraktiken sind die Hauptgründe für research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 5 © Shutterstock TRANSVERSALITÄT „Bis heute wurde der Fischfang artenweise verwaltet. Der ökosystemspezifische Ansatz möchte ein Ökosystem in seiner Gesamtheit verstehen.“ die Erschöpfung der Ressourcen. Zum Beispiel schätzt der Internationale Rat für die Erforschung des Meeres (ICES, International Council for the Exploration of the Sea), dass nur 35 % bis 65 % aller tatsächlich durchgeführten Fänge deklariert werden, und signalisiert, dass der Fehler in der Verwaltung der Fangüberwachung liegt. Diese Probleme treten verschärft in Regionen auf, die von mehreren Ländern ausgebeutet werden, wie die Hochsee und das Mittelmeer, oder in denen ein Mangel an Rechtsvorschriften und Überwachungen oder auch Interessenkonflikte alltäglich sind. Manche denken, dass man nur abwarten muss, bis sich ein überfischter Bestand wieder erholt. Ist das denn so einfach? Sicherlich nicht. Man stellt fest, dass sich zahlreiche überfischte Fischbestände nach einem längeren Niedergang nicht erholen. Der neufundländische Kabeljau wird beispielsweise seit 15 Jahren nicht mehr befischt, aber sein Bestand hat sich nicht erholt. Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte sind nötig, damit ein Fangstopp Früchte tragen kann. Ein Fischfangverbot ist allerdings auch nicht ausreichend, damit sich ein Bestand wieder erholen kann, denn oft hat sich das gesamte Ökosystem verändert. Wenn beispielsweise eine Raubfischpopulation dezimiert wurde, vermehren sich kleinwüchsige Arten, die sich dann von den Eiern und Larven der Raubfische ernähren, die sich ihrerseits nicht erholen können. Im Osten Kanadas konnten sich die Heringsbestände vermehren, nachdem der Bestand an Kabeljau, der sich von Heringen ernährt, gesunken ist. Man könnte nun denken, dass der Kabeljau jetzt mehr Nahrung hat und sich so auch schneller regenerieren kann. Aber man rechnet dabei nicht mit dem Hering, der sich von den Kabeljaularven ernährt. Deshalb kann sich der 6 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Bestand nicht erholen. Andere Arten sind bei der Untersuchung derartiger Wechselwirkungen wahrscheinlich auch zu berücksichtigen. Das impliziert, dass man das gesamte Ökosystem bei der Ausarbeitung und Durchführung von Bewirtschaftungsmaßnahmen berücksichtigen muss. Die biologische Vielfalt steht an erster Stelle, sowohl zwischen den Arten als auch im Rahmen einer Art selbst, denn die genetische Vielfalt ist auch ein Reichtum, der die Anpassungsmöglichkeiten einer destabilisierten Art verstärkt. Worin würde ein solcher ökosystemspezifischer Ansatz bestehen? Bis dato wurde der Fischfang jeweils für jede einzelne Art verwaltet. Der ökosystemspezifische Ansatz versucht, ein Ökosystem in seiner Gesamtheit zu verstehen, als eine Einheit, er versucht, seine Bestandteile und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten zu untersuchen, um daraus eine angepasste Form der Bewirtschaftung abzuleiten. Er berücksichtigt die Interaktionen zwischen den Arten, die Klimaveränderungen und die ozeanografischen Veränderungen, die Fluktuation der Wasserqualität, den Lebensraum, aber auch alle menschlichen Aktivitäten, die auf die Meeresumwelt einwirken: Fischfang, Tourismus, Ölbohrungen, Küstenentwicklung, Umweltverschmutzung. Durch die Integration dieser facettenreichen Dimensionen versucht man eine Bewirtschaftung einzurichten, die sich an Veränderungen anpassen kann. Die Zielsetzung ist, die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Erwartungen zu optimieren. Sicherlich besteht noch weiterer Forschungsbedarf, um marine Ökosysteme besser zu verstehen, aber wir verfügen über ausreichende Kenntnisse, um diese Ansätze umzusetzen. Wir müssen heute damit beginnen und unser Wissen allmählich erweitern, indem wir die Auswirkungen der von uns getroffenen Maßnahmen untersuchen. Zu warten, bis wir ein umfassendes Fachwissen der marinen Ökosysteme erlangt haben, bevor wir diese Form des Managements in Betracht ziehen, ist sicherlich nicht die richtige Lösung. Viele sprechen davon, die Meeresschutzzonen auszuweiten und zu erhöhen… Die Meeresschutzzonen (2) sind tatsächlich ein Eckstein für das Management der Ökosysteme. Sie dienen zahlreichen Arten als Refugium, schützen empfindliche Lebensräume und erlauben es, die Folgen der Fehler, die an anderen Stellen gemacht wurden, abzumildern. Es sind auch nützliche Zonen, um den Zustand der Ökosysteme zu bewerten. Die Meeresschutzzonen stellen 1 % der Ozeane dar, während zahlreiche Wissenschaftler schätzen, dass 20 % bis 30 % der Ozeane unter Schutz gestellt werden müssten. (3) Ein interessanter Weg wäre es, die Meeresschutzzonen zu vernetzen, dabei läge jede Zone von der nächsten in einer Entfernung, die den Austausch von Arten und Fischbrut ermöglichen würde. Sie würden über eine höhere Störungsresistenz verfügen. Die Kosten zur Pflege eines solchen Netzes liegen zwischen 5 und 19 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Diese Initiative würde rund eine Million Arbeitsplätze schaffen. Die Kosten sind geringer als die für die Subvention der Fischereiindustrie (zwischen 15 und 20 Mrd. US-Dollar jährlich). Warum sollte man nicht über eine Umverteilung dieser Subventionen nachdenken? Was würden Sie den Verantwortlichen gerne mitteilen, die die Ozeane bewirtschaften? Als Wissenschaftler würde ich empfehlen, dass die Bewirtschaftung der Ökosysteme umfassend eingeführt wird, um überfischte Fischgründe wiederzubeleben, wichtige Lebensräume zu schützen, die Verschmutzung zu überwachen und bedrohte Arten zu schützen. Die Subventionen, die eine Überfischung unterstützen, sollten umverteilt werden, um eine bessere Bewirtschaftung der Fischgründe zu erreichen und die Ökosysteme zu bewahren. Gesetze zur Schaffung wirtschaftlicher Anreize wären ein weiteres Mittel, um die Fischereigemeinschaft zur Einführung von Praktiken anzuregen, die mit der Meeresumwelt respektvoller umgehen. Solche Ansätze haben positive Auswirkungen sowohl für die marinen Ökosysteme als auch für die Menschen, die vom Meer leben. François Rebufat (1) Science, 3. November 2006, Bd. 314 (2) Siehe Artikel, Lösungen dringend gesucht, S. 16 (3) Zahlen vom 5. World Parks Kongress, Durban 2003 myweb.dal.ca/bworm/ © WWF-Canon/Cat Holloway © WWF-Canon/Jürgen Freund © CNRS Photothèque/Claude Carre Primäres Ökosystem „Aufsuchen will ich die Grenzen der Nahrung schenkenden Erde, den Okeanos, Urquell der Götter.“ So spricht Hera, Gattin des Zeus in der Ilias. Homers Vision ist nicht falsch. Das Meer ist der besondere Schmelztiegel, der das Leben auf der Erde vor 3,8 Mrd. Jahren ermöglicht hat. Die Cyanobakterien sind die ersten Lebensformen. Die Forscher erkunden ununterbrochen die dunkle Welt der Meere, in der sich die erstaunlichsten Wesen verbergen, die ganz ohne Licht und unter extremsten Umgebungsbedingungen leben können. Heute wissen die Wissenschaftler, dass die Ozeane wesentlich für den Erhalt des atmosphärischen Gleichgewichts verantwortlich sind, indem sie über 90 % des Kohlenstoffs der Erde aufnehmen und außerdem riesige Mengen an Methan speichern. Eine „Senke“, deren Verhalten im Kontext der globalen Klimaveränderung von großer Bedeutung ist. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 7 BIODIVERSITÄT Wettlauf mit der Zeit D Das Leben begann vor etwa 3,8 Milliarden Jahren im Meer und hat sich stetig diversifiziert, um auch die extremsten Lebensräume zu besiedeln. Heute aber schaden Überfischung, Zerstörung der Lebensräume, Wasserverschmutzung, die Einbringung fremder Arten und der Klimawandel den Meeresökosystemen und der biologischen Vielfalt. Die Forscher des europäischen Netzwerkes MarBEF (Marine Biodiversity and Ecosystem Functioning) haben ein letztes Abenteuer in den Meeren begonnen: Sie wollen die zahlreichen Lebensformen in den Ozeanen entdecken, bevor diese eventuell ausgestorben sind. ie Ozeane werden als „Wiege des Lebens“ auf dem Blauen Planeten betrachtet. Sie beherbergen eine unvorstellbare Vielfalt an Ökosystemen und Arten. Dieser Reichtum ist nur relativ wenig erforscht: Selbst wenn 240 000 im Meer lebende Arten erfasst sind, sind doch etwa 10 Millionen andere bisher unentdeckt geblieben. Das europäische Forschungsnetzwerk MarBEF (1) hat es sich zum Ziel gesetzt, mehr über diese Arten und ihre Lebensräume zu erfahren, und versucht daher, die Funktionsweise der Meeresökosysteme zu erkunden, die mit der biologischen Vielfalt zusammenhängt. Mit mehr als 700 Forschern von 92 Instituten aus 24 europäischen Ländern ermöglicht diese Plattform die Integration von interdisziplinären Forschungstätigkeiten zur biologischen Vielfalt in den Meeren und die Bereitstellung der gewonnenen Informationen für eine breitere Öffentlichkeit. „Durch die Vereinigung einer Vielzahl von Projekten kann das Netzwerk die Tendenzen in Europa beobachten“, erklärt Herman Hummel, stellvertretender Leiter von MarBEF. „Unsere 18 Forschungsgebiete konzentrieren sich auf die globalen Tendenzen der biologischen Vielfalt der Meere in den Ökosystemen, auf die Funktionsweise der Ökosysteme und auf die sozioökonomische Bedeutung der biologischen Vielfalt.“ Caranx sexfasciatus (oder Bigeye), lebt im Pazifischen Ozean. Die Bedrohung der biologischen Vielfalt betrifft alle Arten, die in den Ozeanen und an ihren Rändern leben, da sie alle unzertrennlich miteinander verbunden sind. 8 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 © WWF-Canon/Jürgen Freund Empfindliche Biodiversität In den unterschiedlichen Meeren herrscht nicht der gleiche Artenreichtum. „Bestimmte Ökosysteme beinhalten gerade einmal knapp mehr als 100 Arten, während andere mehrere Tausend umfassen“, unterstreicht Herman Hummel. „Es gibt zahlreiche Gründe für diese Unterschiede: Vor allem in der Ostsee, die vor etwa 10 000 Jahren von den Gletschern freigegeben wurde, ist die biologische Vielfalt geringer als in den tropischen Regionen, die von der Eiszeit verschont blieben und in denen mehr Arten mehr Zeit hatten, sich weiterzuentwickeln. Im Inneren desselben Systems kann es durch das Vorhandensein BIODIVERSITÄT in den Meerestiefen Schmetterlingseffekt Vom 2 µm großen Phytoplankton über Riesenkalmare bis hin zu den Walen sind alle Bewohner der Ozeane untrennbar miteinander verbunden. Jede Gruppe spielt eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung des Gleichgewichts in seiner Umgebung und ist an der Erhaltung anderer Lebensformen beteiligt. Jede Veränderung bei einer Art hat folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Auswirkungen auf eine große Zahl von Organismen, die miteinander verknüpft sind. Die Überfischung bedroht beispielsweise nicht nur die gejagten Arten: Sie schadet der globalen Funktionsweise der Ökosysteme derart, dass sie völlig durcheinander gebracht werden. Laut mehrerer Studien, die unter anderem in den Zeitschriften „Science“ und „Nature“ veröffentlicht wurden, ist die Artenvielfalt der Meeresräuber in sämtlichen Meeresregionen der Erde im Laufe der letzten 50 Jahre drastisch zurückgegangen. In diesem Zeitraum haben sich diese Populationen (insbesondere die Wale) in den großen Ozeanen global um 90 % verringert. Dieses Verschwinden löst eine „Nahrungs“-Kettenreaktion aus. Kleinere Fische vermehren sich stark und fressen Zooplankton. Und weniger Zooplankton führt dazu, dass das Phytoplankton, von dem es sich ernährt, überhand nimmt. Das bleibt natürlich nicht ohne Konsequenzen für zahlreiche Arten. Die Phytoplanktonalgen begünstigen nämlich die Entwicklung von Bakterien, die dem Wasser seinen Sauerstoff entziehen. Bestimmte Algen produzieren auch starke Neurotoxine, die, wenn sie in die Nahrungskette gelangen, sowohl Krustentiere, Fische, Vögel und Meeressäuger als auch die Menschen bedrohen, die diese Organismen direkt oder indirekt verzehren. Die Ökosysteme werden auch durch das Eindringen fremder Arten gestört. Diese Eindringlinge kommen an den Rümpfen oder im Ballast von Schiffen oder beim Austausch unter Muschelzüchtern in andere Gebiete, wo sie sich weitab von ihrem ursprünglichen Lebensraum rasch entwickeln und mit den einheimischen Arten konkurrieren. Ein Beispiel aus der Geschichte hierfür ist die Pantoffelschnecke (Crepidula fornicata): Diese Schnecke von der Ostküste der USA, die im 18. Jahrhundert zusammen mit Austern nach Europa eingeschleppt wurde, hat sich den Lebensraum und die Nahrung der Austern erobert. Ist das Gleichgewicht wiederherzustellen? Obwohl auch die zunehmende Bewirtschaftung der Küstengebiete zu einer Verarmung der Küstenlebensräume führt, ist das Problem in der Tiefsee noch gravierender. Da die Ozeane einen Teil des CO2 aus der Luft absorbieren, © CNRS/Photothèque/Claude Carre eines bestimmten Lebensraums ebenfalls zur explosionsartigen Vermehrung der Vielfalt kommen, wie z. B. in den hydrothermalen Kaminen der Tiefeseegräben.“ Auf gleiche Weise, wie dies gegenwärtig in den Urwäldern geschieht, sterben auch bei der Zerstörung der Lebensräume im Meer seine Bewohner aus. Und in Europa? „Unsere Meeresökosysteme leiden unter der Überfischung, der Zerstörung der Lebensräume, der Wasserverschmutzung, der Einbringung fremder Arten und dem globalen Klimawandel“, erklärt Herman Hummel. „Die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt sind uns größtenteils unbekannt. Die verschiedenen Arten erfüllen unterschiedliche Funktionen und eine Mindestzahl dieser Beteiligten ist notwendig, damit das Ökosystem ordnungsgemäß funktionieren kann.“ versauern sie derart, dass insbesondere die ersten Glieder der Nahrungskette – Korallen, Muscheln und Krustentiere – bedroht sind. Außerdem nimmt saures Wasser weniger CO2 auf. Verbleibt dieses jedoch in der Atmosphäre, wirkt sich dies verschärfend auf die globale Erderwärmung aus. Besonders ernst ist das Problem in der Arktis, wo der Temperaturanstieg zwei- bis dreimal höher ist als anderswo: 3 °C im Laufe der letzten 50 Jahre. In 30 Jahren ist die Eiskappe bereits um 15 bis 20 % geschmolzen – und falls sich diese Tendenz nicht umkehrt, wird das Gleichgewicht der örtlichen Flora und Fauna unwiderruflich gestört. „Durch den Druck auf die Umwelt muss befürchtet werden, dass Arten aussterben, noch bevor wir sie entdeckt haben“, betont Herman Hummel. „Darum müssen wir so schnell wie möglich eine Bestandsaufnahme der Artenvielfalt vornehmen. Unser Netzwerk hat bereits rund zehn Datenbanken aufgestellt, in denen etwa 70 000 Arten in Europa erfasst sind.“ Will man politische Maßnahmen für einen nachhaltigen Blauen Planeten festlegen, müssen unbedingt die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf die Meeresökosysteme beurteilt werden. Aber reicht das aus? „Es muss ein Netzwerk von Schutzzonen entworfen werden, in denen die biologische Vielfalt effizient bewahrt werden kann“, meint Herman Hummel. „Diese Zonen müssen sich zweifellos über eine Fläche von mehreren hundert km2 erstrecken, damit sich nachhaltige Bestände entwickeln können.“ Charlotte Brookes (1) Das Exzellenznetz MarBEF wird von der Europäischen Union mit 8,7 Mio. EUR über eine Dauer von fünf Jahren finanziert. Nesseltiere, Blumentiere. Nesseltiere, zu denen Tausende Arten gehören, gibt es in zwei Formen: als sessile (Korallen, Seeanemonen…) oder als Hydrozoen, wie diese Quallen. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 9 TIEFSEE © T.Lundalv, TMBL Die verborgene Seite der Die moderne Erkundung der Tiefsee wirft ebenso viele Fragen auf, wie sie Geheimnisse lüftet. Birgt sie noch weitere erschließbare Ressourcen? Beeinträchtigen Umweltverschmutzungen und Klimawandel ihre einzigartigen Ökosysteme? Und wie können wir sie schützen? Auf all diese Fragen versuchen Wissenschaftler, wie hier im Projekt Hermes (1), eine Antwort zu finden. Kontinent Sedimentbedeckung Kontinentalrand Kontinental- Gefälleänderung plateau (132 m im Durchschnitt) (0°07°) Ozeanisches Becken Kontinentalhang (4°) Kontinentalsockel KONTINENTALE ERDKRUSTE Tiefseeebene (4000-6000 m) Mittelozeanischer Rücken (2000-3000 m) OZEANISCHE ERDKRUSTE Quelle Planète-Terre/Pierre-André Bourque 10 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Die Kontinentalränder sind Gegenstand zahlreicher Forschungsaktivitäten und bieten den größten Teil der potenziellen Nutzungsmöglichkeiten in Untiefen. G ebirge, Vulkane, Canyons, Thermalquellen… Das Bild des Unterwasserreliefs, das wir als Laien vor Augen haben, das aber auch in der herkömmlichen Meeresliteratur gezeichnet wird, spiegelt kaum seine ganze Vielfalt und Komplexität wider. Diese Ökosysteme sind durch ihre unzähligen der benthonischen Welt (2) eigenen Strukturen sehr vielgestaltig und durch die sie bestimmenden Systeme höchst komplex. Außerdem sind sie auch noch voneinander abhängig, was die Aufgabe der Wissenschaftler ungeheuer erschwert. Gegenwärtig werden bei den Untersuchungen die spezifischen Eigenheiten jedes einzelnen Teils des Unterwasserreliefs getrennt erfasst. Denn obwohl die Meere und Ozeane 70 % der Erdoberfläche bedecken, kennen wir nur knapp 1 % ihrer Bewohner. Das Leben am Kontinentalrand Die Ozeanografen interessieren sich intensiv für die Kontinentalränder, die steilen Hänge an der Grenze zwischen den Kontinentalplatten und den Tiefseeebenen. An den Erde Gorgonenhäupter (Gorgonocephalus caputmedusae) leben in 290 m Tiefe in der Region von Skagerak vor den Küsten Norwegens. Kontinentalrändern treffen die ozeanische und die Kontinentalplatte zusammen. Sie sind mit Spalten übersät, aus denen zahlreiche Gase, insbesondere Methan, austreten. Außerdem türmen sich hier die terrestrischen Sedimente auf, die über die Flussmündungen oder Meeresströmungen hierher transportiert wurden, bevor sie in die Tiefseegräben hinunterfallen. Im Gegensatz zu den Tiefseeebenen, auf denen es kaum Leben gibt, haben sich auf den Kontinentalhängen zahlreiche Organismen angesiedelt, die sich hauptsächlich von der organischen Materie in den Sedimenten ernähren. Es sind unzählige einzigartige Ökosysteme, die aber auch sehr empfindlich sind, weil sie sich speziell an die Tiefsee angepasst haben. Sie ist ein Ort der Extreme mit schwachem Licht, niedriger Temperatur und wenig Sauerstoff. Jede plötzliche Veränderung dieses Biotops könnte das Leben unzähliger, oftmals noch unbekannter Organismen auf der Erde auslöschen. „Die Erdölindustrie und die Fischerei interessieren sich gleichermaßen immer stärker für die Tiefsee, da die verfügbaren Ressourcen © T.Lundalv, TMBL. TIEFSEE Kaltwasserkorallen W enn von Korallen die Rede ist, denkt man unweigerlich an die wunderbaren Strände in den tropischen Regionen der Erde. Doch eine andere Korallenart entwickelt sich auch in den dunklen Tiefen des Meeres. Sie ist weniger farbenreich als ihre südlichen Verwandten, dafür aber erstreckt sich ihr Vorkommen über ein sehr viel größeres Gebiet, wie erst kürzlich dank der besseren Technologien für Kolonie der Koralle Lophelia die Erkundung der Tiefsee entdeckt wurde. Diese Korallenriffe pertusa, die am Sacken Reef in wachsen in Tiefen von 40 m bis 6 500 m in allen europäischen Norwegen lebt. Meeren, von den norwegischen Fjorden bis hin zu den gemäßigten Wassern des Mittelmeers, wie auch sonst überall auf der Erde. Obgleich die Lophelia Pertusa, eine weiße Koralle, die bekannteste Vertreterin ist, wurden doch bis heute allein im nordöstlichen Atlantik nicht weniger als 1 300 verschiedene Arten erfasst. Die Kaltwasserkorallenriffe können sich über mehrere Kilometer erstrecken und bilden das Herzstück eines artenreichen Ökosystems, das Schutz, Unterkunft und Nahrung für eine Vielzahl von Meeresorganismen bietet, zu denen auch zahlreiche Fische mit Handelswert gehören. Abgesehen von den Beeinträchtigungen durch den Klimawandel und durch Offshore-Erdölbohrungen werden ganze Flächen von Kaltwasserkorallen von den Grundschleppnetzen der Fischer abgerissen, die den Meeresboden nach Fischen absuchen. Diese Korallen entwickeln sich zehnmal langsamer als die tropischen Korallen. Sie benötigen mehrere hundert, ja sogar tausend Jahre für ihr Wachstum und werden in nur einem kurzen Augenblick vollkommen zerstört. In den letzten Jahren haben einige Länder, darunter Norwegen, Irland und Großbritannien, Maßnahmen zum Schutz dieser kaum erforschten Arten angeordnet. Endlich gibt es einen rechtlichen Rahmen, der die zahlreichen Aufrufe der Wissenschaftler berücksichtigt, die sich für dieses verborgene Biotop interessieren. in zugänglicheren Gebieten zurückgehen. Daher müssen wir unbedingt den benthonischen Lebensraum besser ergründen, um seine Störanfälligkeit zu bewerten und schließlich auch den politischen Verantwortlichen nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden vorschlagen zu können“, erklärt Philip Weaver, Forscher am National Oceanography Center of Southampton – NOCS (UK) und Koordinator des europäischen Projekts Hermes, einer interdisziplinären wissenschaftlichen Plattform, die sich die Erforschung der europäischen Kontinentalränder zum Ziel gesetzt hat. Hierbei handelt es sich um ein besonders schwieriges Unterfangen für die Europäische Union, deren Kontinentalränder eine Fläche von 3 Mio. km² aufweisen. Angesichts des enormen Ausmaßes dieser Aufgabe konzentrieren sich die Forscher von Hermes auf sieben strategische Zonen, die auf ökologischer Ebene als „Hotspots“ betrachtet werden. Der Grand Canyon von Portugal Zu diesen Gebieten gehören die portugiesischen Canyons. Nazaré, ein riesiger Canyon vor der Küste Portugals, erstreckt sich über etwa 250 km, womit er sich fast mit seinem amerikanischen Verwandten in Colorado messen kann. An manchen Stellen ist er 5 000 m tief. Nazaré stellt eine der letzten Etappen für die terrestrischen Sedimente dar, die in die Tiefseeebenen unterhalb des Kontinentalhanges transportiert werden. Die in den Tiefseegräben lebenden Organismen sind stark von dieser Sedimentzufuhr abhängig, da sie eine große Menge organischer Materie mit sich führt. Der Mechanismus dieses Phänomens ist einfach, aber wirksam: Die Sedimente häufen sich im Canyon auf und bilden im Laufe der Zeit große Abhänge. Je mehr Sedimentschichten sich übereinander ablagern, desto instabiler werden die Abhänge. Wenn sie aufgrund eines geologischen Ereignisses, wie z. B. eines Erbebens, zusammenstürzen oder einfach nur das Gleichgewicht verlieren, entstehen dabei wahre Sedimentlawinen, die sogenannten Trübungsströmungen. Von der Schwerkraft geschoben, stürzen sich große Wassersäulen mit ihren Sedimentladungen auf den research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 11 © NOCS TIEFSEE Grund des Canyons und landen in seiner Mündung, wo sie einen bathyalen Kegel oder Sedimentfächer bilden. Auf diese Weise legen die Sedimente große Strecken mit einer Geschwindigkeit von bis zu mehreren Dutzend km/h zurück. Die Strömungen, deren Häufigkeit je nach Canyon variiert (etwa alle 400 Jahre beim Nazaré-Canyon), sind so stark, dass sie unterseeische Telekommunikationskabel zerreißen oder Beobachtungsstationen, die von Wissenschaftlern an den Seiten des Canyons befestigt wurden, abreißen können. „Die Trübungsströmungen erodieren die Canyons und zerstören alles, was ihnen in den Weg kommt. Wir versuchen, die Fähigkeit der Ökosysteme zu ermitteln, sich von derartigen Ereignissen wieder zu erholen. Dadurch können wir dann die Auswirkungen verschiedener menschlicher Aktivitäten bewerten, die um die Canyons herum stattfinden könnten“, fügt Philip Weaver hinzu. Schlammvulkane Die Anhäufung der Sedimente am Fuß der Kontinentalabhänge ist die Ursache für ein weiteres geologisches Phänomen, das charakteristisch für die Kontinentalränder ist. Große Mengen Kohlenwasserstoff steigen über einfache Gasschlote, Pockmarks (3) oder auch Schlammvulkane aus dem Meeresgrund auf. Die Wissenschaftler nennen diese Ausströmungen kalte Austritte, im Gegensatz zu den sehr heißen Hydrothermalquellen, die sich in der Nähe der ozeanischen Rücken befinden, wo eine rege Vulkantätigkeit herrscht. „Diese Ausströmungen, die hauptsächlich aus Methan bestehen, sind die Folge der Zersetzung der organischen Materie in den Sedimenten oder stammen aus Erdöllagerstätten in größeren 12 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Der von den Forschern des Hermes-Projekts untersuchte ozeanische Canyon Nazaré hilft u. a. beim Verständnis der komplexen Beziehungen zwischen dieser unterseeischen Spalte und seiner Umgebung Tiefen. Genauso wie Wasser wird auch Methan in den Sedimenten der Sedimentschicht eingeschlossen. Durch den Druck steigen beide über Spalten im Meeresboden auf“, erklärt Jean-Paul Foucher, Koordinator der Sparte, die sich bei Hermes mit den kalten Austritten beschäftigt, und Forscher im Fachbereich Marine Geowissenschaften am Ifremer (4). „Gegenwärtig versuchen wir die Schlammvulkane, ihren Ausstoß von manchmal großen Mengen Gas und Wasser sowie das besondere Ökosystem, das für sie so typisch ist, zu erfassen und besser zu verstehen.“ Eine Vielzahl von Organismen bevölkert diese atypischen Strukturen, und aufgrund der Fortschritte bei der Unterwasserkartografie wird ihre Liste immer länger. Eine Mission wurde erst kürzlich im Golf von Cadiz auf der „James Cook“, einem ozeanografischen Forschungsschiff des NOCS, abgeschlossen. Aber auch viele andere im Rahmen von Hermes organisierte Expeditionen beschäftigen sich mit den unterseeischen Schlammvulkanen. Der eindruckvollste unter ihnen ist der Häkon Mosby in 1 100 m Tiefe vor der norwegischen Küste. „Seit etwa zehn Jahren beobachten wir eine außergewöhnliche Entgasung an der Oberfläche des Häkon Mosby. Dieser Schlammvulkan wurde bereits wiederholt beobachtet, um seine Erschütterungen sowie das für ihn charakteristische Ökosystem zu verstehen. Wie bei anderen Schlammvulkanen oder Pockmarks wird auch beim Häkon Mosby ein Teil des ausströmenden Methans in Form von Hydratkristallen, einem festen Gemisch aus Gas und Wasser, abgeschieden. Dieses könnte eine enorme Energiequelle für die Zukunft darstellen, obgleich es durch die Erwärmung der Ozeane (5) auch gleichzeitig Gefahren mit sich bringt.“ Die Bewohner eines extremen Lebensraums Wie funktionieren Schlammvulkane? In welcher Tiefe befindet sich die Quelle dieser Ausstöße von Wasser, Methan und anderen Gasen? Laut Jean-Paul Foucher „ist jeder Vulkan anders und die Aufgabe der Wissenschaftler ist daher enorm. Hier liegt der Lebensraum der Extremophilen, deren hauptsächliche Energiequelle nicht die Photosynthese, sondern die Chemosynthese ist. Hierbei wird Energie anhand der chemischen Bestandteile kalter Flüssigkeiten, insbesondere von Methan, erzeugt.“ Durch diese atypische Fauna und die intensive mikrobielle Aktivität wird ein großer Teil des aus den Quellen der kalten Flüssigkeiten abgegebenen Methans verbraucht. Der Rest wird von der Wassersäule aufgenommen. Aber die Forscher sind über die Auswirkungen des Klimawandels auf das Biotop der kalten Austritte besorgt, denn wenn die Extremophilen aussterben, könnte die massive Freisetzung des nicht verbrauchten Gases katastrophale Auswirkungen haben. Das Treibhauspotenzial (Global Warming Potential, GWP) von Methan ist nämlich 23-mal größer als das von CO2, daher ist es ein gewaltiges und gewichtiges Treibhausgas. Die Untersuchung dieses Biotops erweitert unsere bisher noch spärlichen Kenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen Ozeanen und Atmosphäre und bestätigt vor allem ihren entscheidenden Einfluss auf das Klima. Um dieser Entwicklung vorgreifen zu können, ist eine detailliertere Untersuchung der Vorgänge in der Tiefsee, diesem dunklen Teil der Erde, notwendig. Julie Van Rossom (1) Hotspot Ecosystem Research on the Margins of European Seas. (2) Das Wort „benthonisch“ bezeichnet das Leben auf dem Meeresgrund. (3) Eine Pockmark ist eine Vertiefung an der Oberfläche der Sedimente, die durch Perlokation von Flüssigkeiten durch die Sedimentsäule entstanden ist. (4) Institut Français de Recherche pour l’Exploitation de la Mer (5) Siehe hierzu Das eigentümliche Universum des Methans in den Meerestiefen, Artikel veröffentlicht in RTD Info, Nr. 48, Februar 2006, S. 9 Hermes www.eu-hermes.net/ NOCS – Classroom at sea www.classroomatsea.net/ Ifremer – Fonds marins www.ifremer.fr/exploration/ KOHLENSTOFF ©Leanne Armandi Das CO2 zwischen Himmel und Meer Für das Ozeanplateau der Kerguelen im Südpolarmeer typische Kieselalge (Diatomee), die von den Keops-Forschern untersucht wird. Die Ozeane sind wahre Kohlenstoffsenken. Ohne sie wäre die globale Erderwärmung heute bereits viel weiter fortgeschritten – und dieser Verzögerungsprozess vollzieht sich bereits seit etwa zwei Jahrhunderten. Dennoch könnten diese riesigen Kohlenstoffsenken womöglich bald gesättigt sein, wenn die anthropogenen CO2-Emissionen auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben. Um dieses Phänomen zu verstehen, haben sich die Forscher des europäischen Programms CarboOcean auf die Gewässer der Erde begeben, um nach Indizien zu suchen, anhand derer sich ihr CO2-Absorptionsvermögen sowie die Folgen einer eventuellen Sättigung bewerten lassen. D as CO2 macht zwischen Luft und Wasser keinen großen Unterschied. Es bewegt sich problemlos von einem Element zum anderen und strebt dabei eine gleichmäßige Verteilung an. Wenn der Kohlenstoffgehalt in der Luft steigt, was seit Jahrzehnten der Fall ist, absorbiert das Meer den Überschuss und stellt das Gleichgewicht wieder her. Wenn jedoch das CO2 in der Luft relativ stabil ist, sind die Wechselwirkungen mit dem Meer vielfältiger Art; es lassen sich zwei Hauptmechanismen unterscheiden: die physikalische Pumpe und die biologische Pumpe. Der ozeanische Kohlenstoffkreislauf Die physikalische Pumpe funktioniert aufgrund der thermohalinen Zirkulation der Ozeane, dem riesigen Wärmeaustauscher der Erde. An den Polen kühlt sich das Meereswasser deutlich ab, sein Salzgehalt nimmt zu und es bildet sich Packeis, wobei das Salz nicht an der Eisbildung beteiligt ist und im Wasser zurückbleibt. Das kältere und salzhaltigere Wasser hat folglich eine höhere Dichte und sinkt in die Tiefen des Ozeans ab. Das kalte Tiefenwasser strömt nun in subtropische Gebiete, wo es sich erwärmt. Da es dabei an Dichte verliert, steigt es an die Oberfläche auf, um dann wieder an die Pole zurückzuströmen. Dieser Kreislauf ist etwa 80 000 km lang. Ein Wassermolekül braucht tausend Jahre, um diesen bei einer Geschwindigkeit von einigen Millimetern pro Sekunde einmal zu durchlaufen. Dieses „Förderband“ saugt wie eine Pumpe einen Teil des Kohlendioxids in unserer Atmosphäre auf. Da CO2 sich in Wasser desto besser löst, je kälter es ist, wird es von den Gewässern an den Polen in großen Mengen absorbiert und dann in die Tiefen gezogen. Mehre Jahrhunderte später, wenn das Wasser die subtropischen Gebiete erreicht, erwärmt es sich und ist mit CO2 übersättigt, das dann wieder an die Luft abgegeben wird. Ein Teil des im Wasser gelösten Kohlendioxids hat jedoch nicht die Zeit, wieder in den Kreislauf einzutreten, und wird direkt vom Phytoplankton bei der Photosynthese und über die Nahrungskette auch von anderen Meeresorganismen aufgenommen. Das ist das Prinzip der biologischen Pumpe. Die organische Materie dieser Meeresorganismen – Abfälle, Kadaver – wird im Oberflächenwasser wiederverwertet und das in ihr enthaltene CO2 nach einigen Tagen oder Monaten wieder an die Atmosphäre abgegeben. Ein Zehntel dieser organischen Masse wird, laut Experten, in tiefere Wasserschichten exportiert. Dort bleibt das Kohlendioxid dann ein Jahrhundert, ein Jahrtausend oder sogar über geologische Zeitalter hinweg, wenn es auf dem Grund in Form von Meeressedimenten abgelagert wird. Ist die physikalische Pumpe kaputt? Diese beiden Mechanismen, insbesondere die physikalische Pumpe und in geringerem Maße die biologische Pumpe, sorgen dafür, dass ein großer Teil des in die Atmosphäre ausgestoßenen anthropogenen CO2 eingelagert wird. Aber wie viel? Und wie lange? Und was passiert, wenn die Kohlenstoffsenken gesättigt sind? Auf all diese Fragen versucht das europäische Forschungsprogramm CarboOcean seit dem 1. Januar 2005 eine Antwort zu finden. „Wir wollen die CO2-Massen quantifizieren, research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 13 die die Ozeane seit Beginn des industriellen Zeitalters (vor 200 Jahren) aufgenommen haben, heute aufnehmen und noch künftig bis zum Jahr 2200 aufnehmen werden“, erklärt Christoph Heinze, Koordinator des Projekts CarboOcean. CarboOcean wird im Sechsten Rahmenprogramm gefördert und bei einem Gesamtbudget von 20 Mio. EUR von der Europäischen Kommission mit 14,5 Mio. EUR finanziert. Es konzentriert sich hauptsächlich auf den Atlantischen und den Arktischen Ozean und auf das Südpolarmeer. „Den ersten Ergebnissen unserer Analysen zufolge“, fährt Christoph Heinze fort, „scheint die physikalische Pumpe im Nordatlantik, die das CO2 in die Tiefen befördert, nicht mehr so gut zu funktionieren wie zuvor. Als Erklärungsversuch können verschiedene Hypothesen aufgestellt werden, aber wir warten noch auf weitere Informationen, um endgültige Schlussfolgerungen über die Ursachen und Auswirkungen dieser Verlangsamung zu ziehen. Vor kurzem haben wir das gleiche Phänomen auch im Südpolarmeer festgestellt.“ Doping für die biologische Pumpe? Seit vielen Jahren haben die Forscher bereits beobachtet, dass an bestimmten Stellen der Erde – dem Südpolarmeer, dem OstäquatorialPazifik, dem Nordpazifik – die biologische Pumpe auch nicht mit ihrer vollen Kraft läuft, da ein Mangel an Phytoplankton herrscht. Manche glauben, dass es ausreichen würde, sie wieder „in Schwung“ zu bringen, damit sie mehr CO2 aus der Atmosphäre aufnimmt. Woran liegt dieser Mangel? Dem Phytoplankton fehlt Eisen. Seit 1993 durchgeführte Experimente zeigen nämlich, dass Eisen ein wichtiger Nährstoff für das Wachstum von Mikroalgen ist. Es ist ganz offensichtlich, dass durch Zugabe geringer Mengen Eisen in den Ozean das Phytoplankton an Kraft gewinnt, wodurch die während der Photosynthese aufgenommene CO2-Menge ansteigt. Aber für Stéphane Blain, Direktor der Expedition Keops (Kerguelen Ocean and Plateau compared Study), „haben diese Experimente Zweifel aufkommen lassen. Denn auch wenn es offensichtlich ist, dass die biologische Aktivität aufgrund dieser Düngung sich an der Oberfläche verstärkt – beispielsweise die Photosynthese –, bleibt doch weiterhin die Frage unbeantwortet, wie viel von dem absorbierten CO2 in die Tiefen 14 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 © Andrea Volbers KOHLENSTOFF Diese Expedition wurde von den Forschern des CarboOcean-Projekts angeregt und ermöglichte norwegischen Schülern eine Fahrt auf dem Forschungsschiff „Hans Brattstrøm“, das mit einem Planktonnetz und hydrografischen Sensoren ausgestattet ist. gelangt. Nun ist aber allein dieser Transfer in die Meerestiefen das Zeichen dafür, dass sich die biologische Pumpe in Gang gesetzt hat.“ Handelsunternehmen wie Planktos haben trotz dieser Unsicherheit keine Bedenken zu handeln. Ihr Unternehmensmodell ist relativ einfach: Sie verkaufen CO2-Kredite an umweltverschmutzende Unternehmen oder Gebietskörperschaften, damit diese eine ausgeglichene Bilanz in Bezug auf CO2Emissionen vorweisen können. Planktos übernimmt es dann, die Emissionen seiner Kunden auszugleichen, indem es beispielsweise in Wiederaufforstungsprojekte auf den verschiedenen Kontinenten investiert. Das Unternehmen hat sich auch vorgenommen, demnächst die Düngung von Phytoplanktonzonen anzubieten. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass dieses Vorgehen rentabel ist und dass das CO2 auch wirklich langfristig in die Tiefen der Ozeane transportiert wird. Nach den ersten Experimenten sind die Wissenschaftler jedenfalls sehr skeptisch, hinzu kommen eventuelle unerwünschte Nebenwirkungen. Um dieser schwierigen Frage auf den Grund zu gehen, hat die Expedition Keops Anfang 2005 Beobachtungen im Bereich des Ozeanplateaus der Kerguelen im Südpolarmeer durchgeführt. Dieser Ort wurde speziell aufgrund seiner saisonalen Planktonblüte ausgesucht, „die ganz klar auf eine Eisenzufuhr zurückzuführen ist“, erklärt Stéphane Blain. „Dieses Eisen kommt auf natürliche Weise aus den tieferen Schichten des Ozeans. Ein Aspekt unserer Studie war die Untersuchung der Gründe für diese Zufuhr. Ein weiterer war die Beobachtung der daraus resultierenden Folgen. Und dabei haben wir festgestellt, dass das natürliche System das CO2 sehr wirksam in die Tiefen exportiert. Aber die Bedingungen für diese natürliche Zufuhr unterscheiden sich grundlegend von denen einer künstlichen Beigabe, bei der Eisen in die Oberflächenschichten geworfen wird. Man kann zwar sicher sagen, dass eine künstliche Eisenzufuhr die CO2Aufnahme in den Oberflächenwassern erhöht, aber man kann nicht soweit gehen zu behaupten, dass ein dauerhafter Export des CO2 in die tiefen Schichten des Ozeans stattfinden wird.“ CO2 + H2O = Kohlensäure Wenn sich das CO2 im Wasser löst, wird in einer chemischen Reaktion Kohlensäure gebildet. Mit anderen Worten: Das vom Ozean absorbierte CO2 erhöht den Säuregrad des Wassers, auch wenn dies auf natürliche Weise geschieht. Vor dem industriellen Zeitalter lag der pH-Wert (1) der Ozeane bei 8,16, heute liegt er jedoch nur noch bei 8,05. Bei gleich bleibenden CO2-Emissionen in die Atmosphäre müsste der pH-Wert im Jahre 2100 bei ungefähr 7,60 liegen. Nun erinnert Christoph Heinze aber daran, dass „das Überleben eines großen Teils der Meeresorganismen, von denen einige als Grundlage der Nahrungskette im Meer dienen, unter anderem auch vom pH-Wert abhängt. Die Versauerung kann daher das Leben in den Ozeanen verändern. Insbesondere kleinere Organismen mit einer Kalkschale wären am stärksten betroffen und würden geschwächt.“ „Wenn sich die Kohlenstoffsenken in den Ozeanen weiter abschwächen“, schließt der Koordinator von CarboOcean, „müssen wir wahrscheinlich die aktuellen Szenarien für die Treibhausgasemissionen nach unten korrigieren. Für die Gemeinden würde das bedeuten, dass sie unbedingt ihren Energieverbrauch senken müssen, der für einen großen Teil des CO2 in der Atmosphäre verantwortlich ist.“ Matthieu Lethé (1) Auf der Messskala für den Säuregrad haben die sauersten Substanzen einen pH-Wert von 0, die basischsten Substanzen einen pH-Wert von 14 und reines Wasser ist neutral mit einem pH-Wert von 7. © WWF-Canon/Mike R.Jackson © WWF-Canon/Isaac Vega © Greenpeace/Gavin Newman Nahrungsquelle Meer Obwohl es lange Zeit hieß, dass das Meer unerschöpflich sei, neigt sich das Leben in ihm nun dem Ende zu. Dem WWF zufolge sind 76 % der Fischbestände bereits überfischt oder stehen kurz davor. 300 000 Meeressäugetiere geraten jedes Jahr in die Fangnetze. Der „nachhaltige Fischfang“ muss dennoch kein Mythos bleiben. Es wäre bereits ausreichend, wenn der Fang den erneuerbaren Grundstock der Ressourcen nicht überschreiten würde. Voraussetzungen für eine solche Bewirtschaftung wären Regulierung, Fangquoten und geschützte Meeresbereiche. Angesichts der Nachfrage kann die Aquakultur sogar einen Gewinn für die Ernährung darstellen, wenn diese unter kontrollierten Bedingungen betrieben wird. Dies gilt sowohl für die Zuchtprodukte als auch für die benachbarten wilden Arten, die im Küstenbereich oder in dessen Nähe leben. Geschützt und richtig bewirtschaftet quellen die Ozeane über vor Reichtum. Sie bieten auch Möglichkeiten für die Pharmaforschung und für neue Energieformen, vor allem für Wellenkraftwerke. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 15 ÜBERFISCHUNG Lösungen dringend gesucht Verschließen wir uns nicht den Tatsachen: Der große blaue Ozean ist nicht von unerschöpflichem Reichtum, wie man immer glaubte. Und das noble Bild, das man mit der Fischerei verbindet, verliert durch die Überfischung nach und nach an Glanz. Wissenschaftler und Fischer widersprechen einander. Die einen warnen vor den katastrophalen Auswirkungen der Überfischung, die anderen verteidigen ihren Beruf, von dem sie leben. Dass die Wildfischbestände langfristig geschützt werden müssen, darüber sind sich alle einig. Aber wie? Die wissenschaftliche Forschung hält noch nicht alle Antworten bereit. Außerdem müssen die politischen Instanzen dies berücksichtigen. © Ifremer/Olivier Barbaroux 16 H © Australian Fisheries Management Authority Fischfang von Rotem Thun in Favgnana (Sizilien – IT). Diese überfischte Art ist ein Wanderfisch; er wandert über große Strecken im Nordatlantik und in den angrenzenden Meeren von kälteren Regionen, in denen er sich ernährt, in wärmere Regionen, in denen er laicht. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Außergewöhnlicher Fischfang? Industrieller Fischfang mit Schwerpunkt auf dem Kaiserbarsch (Hoplostethus atlanticus). at Europa seine Meeresressourcen sorgfältig genug verwaltet? Nach 25 Jahren gemeinsamer Fischereipolitik (GFP) ist die Bilanz überaus erschreckend. Die Berichte der FAO (1) zum Zustand der weltweiten Fischbestände zeigen, dass der Anteil der nachhaltig bewirtschafteten Fischarten auch weiterhin abnimmt und von 40 % im Jahre 1974 auf nur 23 % im Jahre 2005 gesunken ist. Und die Europäische Union ist davon direkt betroffen. Der nordöstliche Atlantik, aus dem mehr als zwei Drittel der europäischen Fänge stammen, gehört zu den Gebieten, in denen die Artenvielfalt am stärksten bedroht ist. (2) Hier sind 46 % der Bestände überfischt, verkümmert oder gerade in der Erholungsphase, während dies auf weltweiter Ebene nur 25 % der Fischbestände betrifft. Die GFP „muss sich, da sie keinen Wechsel zur nachhaltigen Nutzung der Fischereiressourcen bewirkt hat, ändern. Bestandserhaltung, wirtschaftliche Entwicklung und politischer Ansatz weisen Mängel auf“, konnte man 2001 im Grünbuch der Europäischen Kommission über die Zukunft der Gemeinsamen Fischereipolitik lesen. Endlich eine ambitionierte Reform… Einer der Hauptgründe für diesen Misserfolg ist die Tatsache, dass es den politischen Verantwortlichen schwer fällt, wirtschaftliche und ökologische Erfordernisse zu vereinen. Bei 76 % der Vertragsverletzungsverfahren hinsichtlich der GFP gegen Mitgliedstaaten geht es um Überfischung. Die GFP wurde zu lasch angewendet. Seitdem sie 1982 ins Leben gerufen wurde, konnte sie zwar nationale Interessenkonflikte eindämmen, aber gegen die Überfischung hat sie leider nichts ausrichten können. Wirtschaftliche Vormachtstellung oder wahltaktische Absichten? Wie dem auch sei, es ist den Politikern selten gelungen, die Fangquoten im Einklang mit den wissenschaftlich festgelegten zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) festzusetzen, wie es für die Erneuerung der Populationen notwendig gewesen wäre. Einige Subventionen hatten das Ziel, die Fangflotte schrittweise zu verkleinern und gleichzeitig die verbleibenden Boote zu modernisieren. Löblich, aber wirkungslos: Die Verringerung der Anzahl der Boote wurde durch die Erhöhung der Fangkapazität der einzelnen Boote wieder ausgeglichen. Heute wissen wir, dass die Artenvielfalt der Ozeane auf einer komplexen Verflechtung von Synergien zwischen den verschiedenen Meeresorganismen beruht, deren Überleben von einem empfindlichen Gleichgewicht abhängt, das ihre Umwelt reguliert. Diese Vielschichtigkeit war zum Zeitpunkt, als die GFP erarbeitet wurde, noch unzureichend bekannt, sodass die GFP den Zustand der Fischbestände ausschließlich anhand von Häufigkeits- und Mortalitätsindikatoren, aufgrund der Befischung in den jeweiligen Beständen und unabhängig von der Entwicklung der Ökosysteme beurteilte. Die im Jahre 2002 überarbeitete GFP soll endlich eine nachhaltige Befischung der Meeresressourcen erreichen. Hierfür ist ein größerer Beitrag durch die Forschung erforderlich, denn die Kenntnisse über den Ozean als System sind noch unzurei- © WWF-Canon/Jason Rubens ÜBERFISCHUNG chend, um effizient den neuen ökosystemorientierten Ansatz der Kommission einzuführen. Wie zählt man das Unzählbare… und zwar fehlerfrei? „Wir arbeiten an der Bewertung einer Ressource, die man nicht einzeln zählen kann. Daher müssen wir den Zustand der Populationen auf Umwegen anhand von statistischen Modellen messen“, erklärt Pierre Petitgas. Der Biologe und Geostatistiker am Ifremer ist der Koordinator von Fisboat, einem europäischen Projekt, das sich die Optimierung der Bewertungsmethoden für Meeresressourcen zum Ziel gesetzt hat. Beim aktuellen Prozess werden Daten aus Probennahmen durch Wissenschaftler im Meer sowie aus den Fangerklärungen der Fischer herangezogen. Während Verzerrungen der Stichproben aus dem Meer berechnet und berichtigt werden können, lässt sich nicht feststellen, in welchem Maße die Fischer die tatsächlichen Fang- und Beifangmengen angeben. Daher muss die Zuverlässigkeit der Bewertungsmethoden, die einerseits auf den wissenschaftlichen Probennahmen und andererseits auf den Daten der durch die Fischer gemachten Erklärungen beruhen, unbedingt verbessert werden. „Die Quantifizierung der Unsicherheiten ist ein unverzichtbarer Bestandteil der wissenschaftlichen Empfehlungen. Hierbei handelt es sich um eine notwendige Voraussetzung für die Integration des Vorsorgeansatzes in den Entscheidungsprozess der neuen Politik“, unterstreicht das Ifremer. Ein weiterer Fehler besteht darin, politische Entscheidungen auf unvollständige Zahlen zu stützen. „Wenn man nur die demografischen Indikatoren berücksichtigt, kann man auch nur eine Teildiagnose der reellen Situation erstellen. Das ist wie bei einem Bauern, der 20 % der Haifischarten sind vom Aussterben bedroht, insbesondere weil die Jungtiere sich in Netzen verfangen, die gar nicht für sie ausgelegt wurden. Einer der jüngsten Gewinner bei Smart Gear, einem Innovationswettbewerb für nachhaltige Fischerei, den der WWF organisiert, hat ein Magnetsystem erfunden, mit dem man Haifische von Trawlern und Langleinenfischern fernhalten kann, die auf Thunfisch- und Schwertfischfang sind. sein Getreide ausschließlich in einem begrenzten Umkreis prüft, ohne sich davon zu überzeugen, ob auch der Rest seiner Kultur normal wächst“, sagt Pierre Petitgas. Mit großer Wahrscheinlichkeit war das die Ursache für den Zusammenbruch der Kabeljaubestände in Kanada, bevor 1992 ein Moratorium beschlossen wurde. Damals wurden mehrere biologische Indikatoren, die im Rahmen von Forschungskampagnen gemessen wurden – wie die Sterblichkeitsrate, Alter bei Eintritt der Geschlechtsreife, räumliche Verteilung der Population –,in den Berichten für die politischen Entscheidungsträger nicht erwähnt. Eine nachträgliche Untersuchung ergab jedoch, dass diese Indikatoren für Bestandsschäden bereits existierten, bevor die Zivilgesellschaft darüber informiert wurde. Der europäische Meeresraum muss folglich zuverlässiger und vorhersagekräftiger beurteilt werden. Das ist die Aufgabe von Fisboat, dessen Bewertungsmethoden im CIEM (3) getestet werden. Smart Gear: Neue Fischfanggeräte Eine weitere Herausforderung ist die Entwicklung neuer Fischfanggeräte für einen schonenden Umgang mit der Meeresumwelt. Angesichts der beeindruckenden Anzahl von Organismen, die sich ungewollt in den Netzen befinden, steht viel auf dem Spiel. Diese Zahl reicht von 3,8 % bei umweltschonenden Fischfanggeräten bis zu 50% bei einigen anderen Booten, wie z. B. bei Grundnetzschleppern, die außerdem unschätzbare Schäden in den empfindlichsten marinen Lebensräumen, etwa bei den Kaltwasserkorallen, anrichten. Ozeanografen und Naturschutzverbände prangern diese Fanggeräte immer stärker an, denn die genauen Konsequenzen für das benthonische Ökosystem, das besonders research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 17 lange braucht, um sich wieder zu erholen, sind noch unzureichend erfasst. Bleibt also nur, den Fischern andere Möglichkeiten vorzuschlagen. Seit 2005 organisiert der WWF den internationalen Wettbewerb SmartGear, der allen Tüftlern offen steht: Fachleuten aus der Fischereiindustrie, Ingenieuren, Lehrern und Studenten. Ziel: Förderung von Erfindungen, die den Schutz der Umwelt und die Rentabilität der Fischgründe vereinen. Die innovativsten Lösungen sind manchmal überraschend einfach. Mit der Erfindung des Gewinners von 2006 lassen sich negative Auswirkungen der Fischerei auf die Haifischpopulationen verhindern; 20 % der Haifischarten sind nämlich bereits vom Aussterben bedroht. Wie funktioniert das? Es werden die Abneigung der Haifische gegen starke Magnetfelder und ihre einzigartige Fähigkeit, diese zu erkennen, ausgenutzt. Starke Magneten werden oberhalb der Haken an den Langleinen platziert, mit denen Schwert- und Thunfisch gefangen wird. Dadurch können die Haifische von den tödlichen Leinen abgeschreckt werden. Der dritte Preis ging an eine dänische Erfindung. Sie ermöglicht es, den Fang von Jungfischen und kleinen Fischen ohne Handelswert zu reduzieren, indem das Rückhaltenetz am Steerteingang (4) verändert wurde. Dank kleiner elastischer Rohre, die auf eine Leine aufgefädelt sind, besitzt das Netz Maschen mit „variabler Geometrie“, mit denen nur große Fische zurückgehalten werden, und die kleineren unverletzt ins Meer zurückkehren können. Dieses System ist flexibler, einfacher und ungefährlicher in der Handhabung. Es wird von den Fischern des Blauen Wittlings auf den Färöer-Inseln weitgehend eingesetzt, seit im Juni 2006 ein Gesetz in Kraft getreten ist, das die Verwendung von Rückhaltenetzen vorschreibt. Die Zukunft: Meeresschutzzonen Diese technischen Optimierungen lösen jedoch nicht das Grundproblem: Durch die Fischerei werden die größten Fische mit der höheren Laichproduktion, deren Laich auch lebensfähiger ist, herausgefangen. Bei dieser Selektion werden folglich die kleinen und unfruchtbareren Exemplare begünstigt und die bereits vom Aussterben bedrohten Populationen weiter geschwächt. Dadurch 18 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 © WWF-Canon / Michel Gunther ÜBERFISCHUNG sinkt auch die Hoffnung darauf, dass sich die Artenvielfalt in den Meeren wiederherstellen lässt. Beim Schellfisch, einer stark überfischten Art, wurde beobachtet, dass er früher geschlechtsreif wird, was definitiv die Größe und Fortpflanzungskapazität der Exemplare einschränken könnte. Optimal wäre die Einrichtung von Erholungsgebieten, in denen die Organismen ihr volles Potenzial erreichen könnten. Jede Art entwickelt sich jedoch in einer ganz spezifischen Umgebung. Damit diese Rückzugsgebiete in Bezug auf die außergewöhnliche Artenvielfalt auch tatsächlich wirksam sind, müssten sie folglich sehr viele verschiedene Lebensräume umfassen. Aus sozioökonomischer Sicht wäre die Einrichtung von Naturreservaten in großem Maßstab, in denen sämtliche Fischereiaktivitäten untersagt sind, undenkbar, denn es wäre eine Katastrophe für die Fischfangindustrie. Es ist jedoch möglich, strategische Gebiete abzugrenzen, in denen die fischereilichen Aktivitäten strenger geregelt werden, um einen besseren Schutz der Ökosysteme zu gewährleisten. Das ist das Konzept der Meeresschutzgebiete, einer der Prioritäten der Reform der GFP von 2002. Dieser Ausdruck ist allerdings irreführend, da er sowohl für Naturreservate, die für sämtliche fischereiliche Aktivitäten geschlossen sind, als auch für Gebiete mit einer strengeren Regulierung der Fischgründe verwendet wird, in denen die Vorschriften je nach dem zu schützenden Ökosystem variieren können. Hierbei handelt es sich um ein allgemeineres Konzept, das die ökologischen Erfordernisse und die sozioökonomischen Notwendigkeiten vereinbaren soll. Wie aber lassen sich derartige Räume abgrenzen und verwalten? Anhand welcher Indikatoren sollte ihre Wirksamkeit bewertet werden? Auf all diese Fragen versuchen europäische Forschungsprogramme, wie z. B. Protect, eine Schildkröte Caretta, geschützte Tierart auf Zakynthos in der Bucht von Laganas, (Ionische Inseln - GR). Antwort zu finden, indem frühere Experimente ausgewertet werden. In einem im Februar 2006 veröffentlichten Bericht analysieren die Forscher von Protect sechs Beispielfälle von Meeresschutzzonen (5) im Nordatlantik. Die fünf europäischen Fälle haben einen Punkt gemeinsam: Sie sind alle erfolglos. Das verwundert nicht: Das Ziel ihrer Einrichtung ist vage und nur wenige Indikatoren wurden im Voraus zur Beurteilung ihrer Auswirkungen definiert. „Das bedeutet nicht, dass das System unwirksam ist. Damit die Einrichtung von Meeresschutzgebieten Erfolg hat, müssen sämtliche Prozesse und Aktivitäten im Zielgebiet berücksichtigt und die langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen vorhergesagt werden können“, erklärt Ole Vestergaard, Forscher am Difres (6) und Koordinator von Protect. „Wir versuchen Zukunftsmodelle zu entwickeln, die eine optimale Planung ermöglichen. Hierzu gehören z. B. die Formulierung präziser Verwaltungsziele und die Ermittlung der notwendigen Vorabinformationen über die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen Umwelt und menschlichen Tätigkeiten.“ Große Hoffnungen ruhen auf den Forschungstätigkeiten, die mit Blick auf eine ökosystemorientierte Verwaltung der Fischfänge entwickelt wurden. Hierbei handelt es sich aufgrund der unglaublichen Vielfalt von Synergien in der Meereswelt um ein besonders schwieriges Vorhaben. Bleibt abzuwarten, welche Lösungen die Politiker für diese neuen Verwaltungsmethoden finden. Denn hier sind sich die Fachleute ganz sicher: Ein Meeresschutzgebiet muss unbedingt von klaren, unzweideutigen Rechtsvorschriften gestützt werden, die rigoros durchgesetzt werden. Julie Van Rossom (1) Welternährungsorganisation – Seit 1974 veröffentlicht die FAO die SOFIA-Berichte, in denen der Zustand der Fischbestände weltweit beurteilt wird. (2) Diese Liste enthält auch den Südostatlantik sowie den Südostpazifik und die Thunfischfanggründe auf hoher See im Pazifischen und Atlantischen Ozean (SOFIA 2006). (3) International Council for the Exploration of the Sea. (4) Der Steert befindet sich am Ende des Grundschleppnetzes. (5) Hier im Sinne von sämtlichen Maßnahmen zur Verwaltung eines Meeresgebiets. (6) Danish Institute for Fisheries Research. FAO www.fao.org FISBOAT www.ifremer.fr/drvecohal/fisboat PROTECT www.mpa-eu.net AQUAKULTUR Fisch ist für einige Völker lebenswichtige Eiweißquelle, für andere Gesundheitskapital. Sein Verbrauch ist derart gestiegen, dass die natürlichen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um der weltweiten Nachfrage gerecht zu werden. Eine hervorragende wirtschaftliche Chance für die Aquakultur, die jedoch mit zahlreichen gesundheitlichen Risiken und Umweltproblemen einhergeht. Z u einem Zeitpunkt, an dem die Fangquoten insgesamt bei um die 95 Mio. Tonnen pro Jahr stagnieren, konzentrieren sich die Hoffnungen auf die Aquakultur, die bereits 46 % der für den Verzehr vorgesehenen Produktion abdeckt. In Europa wird hauptsächlich der Bereich der marinen Aquakultur ausgebaut, der in der EU nur wenig entwickelt ist, obgleich er mehr als die Hälfte der weltweiten Aquakulturproduktion liefert. „Mehr als die Hälfte der europäischen Küsten sind zu stark den Wellen und Winden des Atlantiks ausgesetzt – ein Faktor, der die Einrichtung dieser Art von Zucht erschwert“, erklärt Alistair Lane, Direktor der Europäischen Gesellschaft für Aquakultur (EAS – European Aquaculture Society). „Zahlreiche Innovationen ermöglichen jedoch in absehbarer Zeit die Erweiterung der europäischen marinen Aquakultur. Eine vielversprechende Aussicht, vor allem für die Fischer, die bereits aufgrund der Überfischung mit dem Verlust vieler Arbeitsplätze zu kämpfen haben. Die Beteiligung der Fischer an der Entwicklung der Aquakultur im Meer ist ein großer Vorteil, denn keiner kennt dieses Milieu besser als sie“, schließt Alistair Lane. Die Aquakultur könnte folglich eine hervorragende Alternative zur Überfischung darstellen, sofern diese althergebrachte Technik im Einklang mit ihrer Umwelt praktiziert wird. Davon hängt sowohl eine gesunde Population wild lebender Arten als auch die Nachhaltigkeit des gesamten Sektors ab. Diesbezüglich hat die Europäische Kommission 2002 ihre erste Strategie für die europäische Aquakultur eingeführt, die die Forschungsbereiche festlegt, um die Produktion zu erhöhen, eine optimale Qualität für die Verbraucher aufrechtzuerhalten und Umweltschutz auf hohem Niveau zu gewährleisten. Obwohl diese Strategie 2007 Gegenstand einer breit angelegten Konsultation zur Verbesserung des Systems war, sind die drei ursprünglichen Ziele auch weiterhin aktuell. Begrenzung der Umwelteinflüsse Die Aquakultur bringt zahlreiche Umweltprobleme mit sich: Nitrate und Phosphate aus Exkrementen, Antibiotika, Reinigungsmittel oder Einschleppung faunenfremder Arten. Ein schwieriges Problem, dem die Forscher besondere Aufmerksamkeit widmen, denn über die genaue Funktionsweise der Meeresökosysteme ist bisher nur wenig bekannt. Nach dem Vorsorgeprinzip, das insbesondere durch die neue Gemeinsame Fischereipolitik (1) von 2002 vorgeschrieben wird, muss die wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich einer Aktivität © European Aquaculture Society Die kulinarische Zukunft der Meere Aquakultur in der Türkei. Diese Farm befand sich in der Nähe eines Feriendorfs und musste verlegt werden, um nicht die Entwicklung des örtlichen Tourismus zu behindern. im Meer zumindest durch eine vorherige vollständige wissenschaftliche Bewertung der Umweltrisiken abgefedert werden. Ein derartiger Ansatz ist auch im Interesse der Aquakulturen, deren Rentabilität zum großen Teil von einer gesunden Umwelt abhängt. Deutlicher Beleg hierfür sind die regelmäßigen Verluste der Schalentierproduzenten aufgrund der starken Vermehrung bestimmter Algen, die Toxine produzieren. Es bleiben allerdings andere unbekannte Faktoren, insbesondere in Bezug auf Schadstoffe, denn die Zuchtanlagen können nicht mit Wasserumlaufsystemen ausgestattet werden, und alle Abfälle werden ins Meer eingeleitet. Außerdem befürchten die Spezialisten eine Veränderung des genetischen Erbes der wild lebenden Arten, die sich mit Fischen kreuzen, die aus den Zuchtanlagen entwichen sind. Doch unsere Erkenntnisse auf diesem Gebiet sind noch recht spärlich. Die Gefahren der Aquakultur quantitativ zu bestimmen, ist das Hauptziel von Ecasa (2). Dieses Projekt soll die besten Indikatoren ermitteln, anhand derer sich die Umweltbelastung durch die Aquakultur bewerten lässt, um dann research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 19 AQUAKULTUR Lachszucht in Vestnes (Norwegen). Eine Praxis, die die Überfischung „ausgleichen“ und die Wildarten in der Nähe schützen könnte. Aquakultur – Kurzer geschichtlicher Überblick ie Spuren der ersten rudimentären Fischzuchten stammen aus der Zeit um 2000 v. Chr. und wurden in China und Ägypten entdeckt. Anderthalb Jahrtausende später begannen die Griechen mit der Austernzucht, während die Vallikultur, bei der die auf ihrem Weg ins Brackwasser gefangenen Fische zurückgehalten werden, erst im 15. Jahrhundert aufkommt. Erst mit der Entdeckung der künstlichen Befruchtung der Lachse im 17. Jahrhundert wurde der gesamte Lebenszyklus einer Fischart kontrolliert. Das 20. Jahrhundert sieht den Boom der Aquakultur als neue Eiweißquelle für die rapide wachsende Weltbevölkerung. Die ersten Aalzuchten kamen in Japan in den 50er Jahren auf. In den folgenden zehn Jahren etablierte sich die Zucht der Regenbogenforelle in Europa und den USA. Ab den 70er Jahren kamen mit Makrele, Wels und bestimmten Muschelarten die ersten Besatzfischereien auf, bei denen die frühen Entwicklungsstadien kontrolliert werden, um den natürlichen Lebensraum wieder neu zu besetzen. In den folgenden Jahrzehnten verbreiteten sich neue Aquakulturen, hauptsächlich im Meer, mit der Produktion von Lachs, Garnele, Seebarsch bzw. Dorade und seit kurzem mit der Zucht von Thunfisch, dessen Vermehrung jedoch noch unzureichend kontrolliert wird. Hier werden die Satzfische im Meer gefangen und dann in der Aquakultur gemästet. Diese Praxis hat sich jedoch den Zorn einiger Umweltschutzorganisationen zugezogen… D geeignete Modelle für die verschiedenen europäischen marinen Aquakulturen entwickeln zu können. Da die marine Aquakultur sich den Raum außerdem mit anderen Nutzern des Meeres teilen muss – Touristen, Freizeithäfen, Fischer usw. – soll das Projekt auch die Standorte auswählen, die sich für die Entwicklung von Fischfarmen am besten eignen. Die Hauptaufgabe dieses Maßnahmenkatalogs besteht darin, den Betreibern ein besseres Verständnis für die Wechselbeziehung zwischen Aquakultur und Umwelt zu vermitteln. Nachhaltiges Fischfutter © WWF-Canon/Jo Benn Die europäische marine Aquakultur konzentriert sich insbesondere auf die Zucht von Raubfischen. Die drei hauptsächlich produzierten Arten, Atlantischer Lachs, Steinbutt und Seebarsch, ernähren sich in ihrem natürlichen Lebensraum ausschließlich von Fischen. Um 1 kg Lachs zu produzieren, sind jedoch Mehl und Öl aus 4 kg Fisch notwendig. Eine Praxis, die ernste Probleme für die Nachhaltigkeit in sich birgt. Die verstärkte Raubfischzucht setzt folglich einen stärkeren Druck auf die pelagischen Fischbestände (3) mit geringem Handelswert voraus, die für die Herstellung der notwendigen Mengen Fischmehl und -öl benötigt werden. Ersatzstoffe pflanzlichen Ursprungs werden schon jetzt den Futtermitteln für die Fischzucht beigemischt, jedoch muss die Technik verbessert werden, 20 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 AQUAKULTUR Optimierung der Aquakulturproduktion Ein gesundes Produkt ist sicher ein wichtiges Anliegen für den Verbraucher, es ist jedoch nicht das einzige Qualitätskriterium. Das Auge isst bekanntlich immer mit: Ein missgebildeter Fisch würde folglich keinen Platz auf unserem Teller finden. Dieses Phänomen wird in natürlichen Lebensräumen automatisch durch Prädation geregelt, was für die Zuchtanlagen jedoch einen drastischen Gewinnverlust bedeutet, denn ein missgebildeter Fisch frisst mehr und wird folglich aus der Produktion entfernt. Durch Ermittlung und Abänderung der Faktoren, die das Auftreten von Missbildungen fördern, lassen sich Verluste senken und damit die Produktivität der Die norwegische Station für Aquakulturforschung (Fiskeriforskning) in Tromsø bildet den Kern von Ethiqual, das im Rahmen des europäischen Seafoodplus-Projekts durchgeführt wird. Die Forscher beobachten insbesondere das Verhalten und die Stresstoleranz der verschiedenen Zuchtfischstämme. sind: Temperatur, Futter und Umgebung des Zuchtbeckens. „Wir versuchen herauszufinden, wie diese Faktoren optimiert werden können, um den Anteil missgebildeter Fische bei den fünf verschiedenen Zuchtarten zu begrenzen“, sagt Margreet van Vilsteren, Projektassistentin bei der FEAP. „In Forschungszentren wird eine experimentelle Phase durchgeführt. Die Ergebnisse werden dann vor Ort in den zehn Zuchtanlagen, die an dem Projekt teilnehmen, getestet. Auf diese Weise können wir sie in der Praxis unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bewerten und ihre optimale Wirksamkeit gewährleisten.“ Andere Studien versuchen, die Kontrolle sämtlicher Entwicklungsstadien der Fische durch die Aquakultur zu nutzen, um die vorteilhaften Eigenschaften der Meeresprodukte zu erhöhen. Im Rahmen von Seafoodplus (7), einem weiteren umfassenden EU-finanzierten Forschungsprogramm mit dem Ziel, Meereserzeugnisse aufzuwerten, versucht Edward Schram, Forscher bei IMARES (8), die Fischfilets mit organischem Selen anzureichern, wovon einige Bestandteile krebshemmende Eigenschaften haben sollen. Daher hat der Wissenschaftler den Futtermehlen für die Aquakultur Knoblauch zugesetzt, der bekanntermaßen reich an organischem Selen ist. Das Experiment war ein Erfolg: Im Fleisch der Versuchstiere, Afrikanische Welse, wurde eine deutliche Selenanreicherung festgestellt, ohne dass ihr Stoffwechsel gestört wurde. „Wir warten jetzt darauf, dass die Universität Madrid eine Versuchsmethode entwickelt, mit der sämtliche © Ifremer/Olivier Barbaroux Zuchtanlagen erhöhen. Eine derartige Verbesserung würde zu einer Senkung der Produktionskosten für Satzfische führen, was für den gesamten Aquakultursektor von Vorteil wäre. Finefish (6), ein Projekt unter Leitung des Verbandes der Europäischen AquakulturProduzenten (FEAP, Federation of European Aquaculture Producers), versucht genau dieses Problem durch die Untersuchung der drei Hauptfaktoren zu erreichen, die offensichtlich für Missbildungen bei Jungfischen verantwortlich © Sandie Millot um die Auswirkungen der Aquakultur auf die frei lebenden Fischbestände zu begrenzen. Gleich mehrere Forschungsprojekte versuchen, dieses Problem zu lösen, unter ihnen auch AquaMax (4), das zum Großteil von der Europäischen Kommission finanziert wird. Dieses Projekt soll neue Futtermittel entwickeln und deren Qualität und Auswirkungen auf den Lebenszyklus der einzelnen Fische in der Aquakultur, auf die Zucht sowie auf die Verbraucher und die Umwelt bewerten. „Die größte Schwierigkeit besteht darin, die ideale pflanzliche Zusammensetzung zu finden, die eine qualitativ hochwertige Ernährungsalternative gewährleistet. Eine langwierige Arbeit, denn jede Art hat ihre spezifischen Bedürfnisse“, erklärt Bente Torstensen, Forscherin am NIFES (5) und verantwortlich für den Teil Fettstoffwechsel der Lachse im Rahmen von AquaMax. Dieser Ansatz hat nicht nur den Vorteil, die Verwendung von Wildfängen zu beschränken, sondern verbessert auch die Produktqualität. „Die natürliche Umgebung enthält oftmals zahlreiche Schadstoffe, die von den wild lebenden Wasserorganismen aufgenommen werden“, erklärt Bente Torstensen. „Durch die geringere Verwendung von Fangfisch lässt sich die Kontaminierung der Zuchtfische besser kontrollieren, wodurch natürlich auch die Gefahren für die Verbraucher gesenkt werden können. Jedoch könnte durch die Verwendung von pflanzlichen Ressourcen der Pestizidgehalt der Produkte steigen. Leider gibt es keine Patentlösung. Daher müssen die Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden, um das ideale Ersatzmittel zu finden.“ Pelletsfütterung in den Seebarschkäfigen bei Cannes Aquaculture in Golfe-Juan (Frankreich). Selenbestandteile identifiziert und quantifiziert werden können, die in den Fischfilets festgestellt werden. Der Übergang des Selens wurde nachgewiesen, aber wir müssen sicher gehen, dass die betreffende Substanz auch tatsächlich im Fischfleisch vorhanden ist“, erklärt Edward Schram. Bleibt abzuwarten, wie die Verbraucher reagieren. Eine Studie im Rahmen von Seafoodplus zeigt, dass sie den neuen, verbesserten Naturprodukten etwas zurückhaltend gegenüber stehen… JVR (1) Siehe Fischereiartikel S. 16-18. (2) An Ecosystem Approach for Sustainable Aquaculture. Die Europäische Kommission finanziert das Projekt mit 2,5 Mio. EUR. (3) Fische im offenen Meer in den oberen Schichten der Wassersäule (0 bis 200 m). (4) Sustainable Aquafeeds to Maximise the Health Benefits of Farmed Fish for Consumers – Die Europäische Kommission unterstützt hier mit 10,5 Mio. EUR bei einem Gesamtbudget von 15 Mio. EUR. (5) National Institute for Nutrition and Seafood Research (NO). (6) Improving sustainability of European fish aquaculture by control of malformations – Das Gesamtbudget beträgt 4,8 Mio. EUR, wovon 3 Mio. EUR von der Kommission getragen werden. (7) Health promoting, safe seafood of high eating quality in a consumer driven fork-to-farm concept. (8) Institute for Marine Resources and Ecosystem Studies (NL). www.ecasa.org.uk/ www.aquamaxip.eu/ www.aquamedia.org/finefish/ www.seafoodplus.org/ research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 21 BLAUE BIOTECHNOLOGIE Unterwasser-Goldgrube für Polarfische oder Bakterien in Hydrothermalquellen – manche Meereswesen wählen so unwirtliche Lebensräume, dass es schwer verständlich erscheint, wie sie überhaupt überleben können. Ihre Widerstandsfähigkeit unter außergewöhnlichen Bedingungen, wie beispielsweise bei einem starken Salzgehalt oder unter extremen Temperaturen, oder ihre Fähigkeit, Toxine zu bilden, haben die Neugierde der Forscher des Exzellenznetzwerks „Marine Genomics Europe“ (1) erregt. Langsam aber sicher interessieren sich die Biotechnologien für diese erstaunliche Natur, die uns womöglich neue Medikamente gegen Krebs, biologisch abbaubare Kunststoffe oder revolutionäre Antibiotika liefern könnte. „M anche Organismen überleben in extremen Tiefen, ohne Sauerstoff (zumindest fast) und bestehen bei außerordentlich hohen oder niedrigen Temperaturen“, stellt Mike Thorndyke fest, Verantwortlicher für die Aspekte Evolution, Entwicklung und biologische Vielfalt im Netzwerk Marine Genomics. „Wie kommen diese Tiere unter derartigen Bedingungen zurecht? Wie überleben sie große Tiefen mit extremen, unglaublichen Temperaturen und Druckverhältnissen? Das versuchen wir zu verstehen, denn der Stoffwechsel dieser Wesen liefert eine Gelegenheit für sinnvolle Entdeckungen für alle, auch im Bereich der menschlichen Gesundheit. Auch die Enzyme dieser Organismen erweisen sich als interessanter als die gewöhnlich verwendeten, denn man kann sie beispielsweise in stark salzigen Lösungen oder bei extremen Temperaturen einsetzen. Extremophile Nehmen wir den Fall der Polarfische. Wie können sie dem Frost standhalten? Dreißig Jahre intensiver Forschungsarbeiten waren 22 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 erforderlich, um das Geheimnis ihrer Widerstandsfähigkeit bei eisigen Wassertemperaturen zu lüften. Ein Team kanadischer Biologen wies nach, dass sich „Frostschutz“-Proteine, die zehnmal aktiver sind als alle bis dahin bekannten, an Eiskristalle heften und sie damit am Wachstum hindern. Eine Eigenschaft, die sich im medizinischen Bereich als sehr nützlich erweisen könnte, z. B. für die Lagerung von Organen und für die Kryochirurgie, eine Technik, bei der Krebszellen durch Gefrieren abgetötet werden. Ein anderes Beispiel: Das Bakterium Desulfotalea hält der Kälte stand, da es sich bei negativen Temperaturen in Meeressedimenten bewegt. Würde man die nur bei mittleren Temperaturen wirkenden (mesophilen) Pendants des Bakteriums mit diesem Enzym ausstatten, könnten die Lebensmittelindustrie oder der Waschmittelsektor große Energieeinsparungen erzielen. Am anderen Ende des Thermometers lebt das Bakterium Pyrococcus abyssi in Thermalquellen. Seine optimale enzymatische Aktivität erreicht es bei Temperaturen zwischen 80 und 110 °C. Die biochemischen Eigenschaften dieser Enzyme könnten sie zu wertvollen Werkzeugen für künftige Technologien der DNARekombination machen. Bestimmte Enzyme dieser Art sind übrigens bereits im Handel: Die DNA-Polymerase I wird aus dem thermophilen Bakterium Thermus aquaticus isoliert und für Kettenreaktionen durch Polymerase (PCR) verwendet, um mehrere Gene für die In-vitro-Forschung zu produzieren. Die Liste der für die Biotechnologie nützlichen Substanzen aus dem Meer wächst unablässig und umfasst sowohl Proteine als auch Lipide oder beispielsweise „CAZy“ (CarbohydrateActive Enzymes), die in der Lage sind, komplexe Kohlenhydrate in „Grünes Benzin umzuwandeln“. Bestimmte Bakterien werden beim Abbau von Polymeren verwendet, einem Verfahren, mit dem die Wissenschaftler des Ifremer (Institut français de recherche pour l’exploitation de la mer) einen vollständig biologisch abbaubaren Kunststoff herstellen. Die Entdeckung von Mikroorganismen, die in der Lage sind, sehr hohen Temperaturen standzuhalten oder unter anderen extremen Bedingungen zu überleben, dürfte zu revolutionären industriellen Anwendungsmöglichkeiten führen“, erklärt Philippe Goulletquer, französischer Koordinator für biologische Vielfalt im Meer und an der Küste am Ifremer. „Deshalb ist die biologische Vielfalt eine Voraussetzung für die Biotechnologie.“ Chemische Kriegsführung Die Tugenden der Meeresorganismen liegen nicht nur in ihrem originellen Lebensraum, sondern auch in ihrer Lebensweise begründet. Eine sedentäre Lebensweise und ein weicher Körper machen aus manchen Kreaturen wahre Couchpotatoes der Tiefe, die ihre Sicherheit mittels komplexer chemischer Abwehrmechanismen sicherstellen. Mithilfe sekundärer Metaboliten, Molekülen, die neben der Sicherung des Überlebens des Organismus noch andere Funktionen erfüllen (Kampf gegen ökologische Gegner oder Räuber), synthetisieren sie manchmal toxische Substanzen oder nutzen andere Mikroorganismen, um solche zu erlangen. BLAUE BIOTECHNOLOGIE die Biotechnologie E Energieschub Diese Stoffe sind besonders wirkungsstark – sie sollen ja im Wasser Wirkung zeigen – und so vielfältig wie die Mikrofauna und -flora, die sie hervorbringt, und sie interessieren die Wissenschaftler sehr. Ein wahrlich enormes Reservoir an Substanzen, von denen einige beispielsweise zur Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten gegen Infektionskrankheiten oder Krebs führen könnten. Über 16 000 neue Substanzen dieser Art wurden isoliert dank Organismen wie Schwämmen, Ascidien oder Seegras. Genetische Vielfalt In Europa trägt das Netzwerk Marine Genomics zur Entdeckung zahlreicher Metaboliten bei. „Wir sequenzieren DNA-Fragmente, um die genetische Vielfalt an verschiedenen Stellen der europäischen Küsten aber auch anderswo, wie beispielsweise in der Antarktis, zu beurteilen. Das ist wichtig, damit wir Extremophile studieren können, jene Organismen, die unter extremen Bedingungen leben“, erklärt Mike Thorndyke. Das Netzwerk erstellt umfangreiche Datenbanken mit genetischen Daten, die die biotechnologische Forschung unterstützen, wie die Entwicklung von Antibiotika aus DNAFragmenten, die Schaffung von Mikrochips oder die Bereitstellung von Bioreaktoren für die industrielle Herstellung von seltenen Substanzen, wie Wachstumshormonen. Der Direktor des Zentrums für MeeresBiotechnologie und Biomedizin in San Diego (USA), William Fenical, gehört zu den Vorreitern in der Forschung nach neuen Krebswirkstoffen aus dem Meer. Sein Team gelangte von der Erforschung der wirbellosen Tiere zu den Mikroorganismen und entdeckte, dass zahllose Actinomyceten entgegen der vorherrschenden Ansicht, diese Tiere kämen im Meer nicht vor, benthonische Sedimente bevölkern. 2003 haben Forscher nachgewiesen, dass Salinosporamid A, ein aus Actinomyceten isolierter Stoff, die Eigenschaft besitzt, sich an einen Tumor zu binden und sein Wachstum zu hemmen. Heute wird in klinischen nergieerzeugung aus Meeressalat (Ulva latuta), das ist die Idee einer Forschergruppe am dänischen Umweltforschungsinstitut (NERD-DMU). Die Erforschung der Produktion von Bioethanol aus dieser Grünalge steckt zwar noch in den Anfängen, aber die ersten Schätzungen sind ermutigend: Der Meeressalat erzeugt pro Hektar 700-mal mehr Biomasse als ein herkömmliches Weizenfeld. Ulva und andere, ähnliche Arten sind in den meisten Regionen der Welt weit verbreitet, vor allem in den eutrophischen Zonen, wo ihr massives Auftreten allerdings dem lokalen Ökosystem schadet. Ein Umweltproblem, das die Ernte der Algen und ihre Verarbeitung zu Biotreibstoff lösen könnte. Zudem könnten die in Dänemark in Erwägung gezogenen Produktionsplattformen auf den CO2-Überschuss aus den Kraftwerken und den Dünger zurückgreifen. Was will man mehr? Kulinarische Innovationen E twa 20 % der heute von der Menschheit verzehrten Proteine stammen aus dem Meer. Die Vorteile der Meeresprodukte für die Gesundheit sind allseits bekannt und die Zukunft erscheint sehr vielversprechend. Die Fortschritte im Bereich der Genetik dürften in der Tat den Weg für neue Functional-Food-Produkte aus Meeresorganismen ebnen: Sie sind vor allem reich an gesättigten Fettsäuren und Fischprotein und könnten die Risiken mehrerer chronischer Krankheiten reduzieren. Daneben enthalten zahlreiche Meeresorganismen Enzyme, die besonders für die Lebensmittelindustrie von Interesse sind. Die Aminopeptide des Thunfischs reduzieren beispielsweise die Säure bestimmter Nahrungsmittel, während Fischproteasen den Film auf Sepia und Kalmar oder die Membran von Fischlaich entfernen. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil bei der Zubereitung von Lachskaviar… © CNRS/Photothèque/Odile Richard Detail der Schleudern der Rotalge Chondrus crispus. Wenn sie von Mikroben angegriffen wird, verwandelt sich diese Alge buchstäblich in eine Fabrik für Fettsäureoxide, die man für Medikamente verwenden könnte. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 23 BLAUE BIOTECHNOLOGIE „Trotz dieser vielversprechenden Anwendungen leidet die Erforschung der Meeresorganismen und des großen Potenzials, das unsere Meere bieten, unter einem enormen Defizit. Die Meere quellen über vor Schätzen, die es zu nutzen gilt, bevor sie verschwinden“, unterstreicht Mike Thorndyke. Tatsächlich mangelt es der pharmazeutischen Industrie an Interesse für diese Art der Forschung, wegen juristischer Unsicherheiten und Problemen der Disponibilität. In der Tat ist es schwierig, traditionelle Test- und Entwicklungsmethoden bei Stoffen anzuwenden, die nur in sehr geringen Mengen von einem Schwamm in mehreren hundert Metern Tiefe produziert werden. Aber dank einiger begeisterter Meeresforscher nimmt die „Biotech“-Odyssee ihren Lauf. Seit 20 Jahren versucht das Biotech-Unternehmen PharmaMar (ES), die möglichen krebshemmenden Wirkungen von Stoffen aus dem Meer zu bestimmen, die von eigenen Forschern oder anderen Wissenschaftlern entdeckt wurden. Derzeit hat die spanische Firma 40 000 Substanzen und Organismen aus dem Meer erfasst, die möglicherweise über ein therapeutisches Potenzial verfügen. Sechs davon befinden sich in klinischen Tests. Künftig könnte die Forschung allerdings gut auf Kreaturen aus den Tiefen der Meere verzichten. Bei zahlreichen Substanzen dürfte eine Züchtung im Labor möglich sein, zumal sie nicht immer von Meeresorganismen stammen, sondern eher von den zugehörigen Bakterien. Eine andere Option ist auch die Isolierung des Gens, das für die Synthese der bewussten Substanz zuständig ist, um es einem einfacher zu handhabenden Organismus zu „implantieren“. Wie dem auch sei, diese Entwicklungen lassen sich nicht ohne Investitionen privater oder öffentlicher Art vorantreiben, wie das Grünbuch über die Politik in maritimen Fragen der Europäischen Kommission bemerkt. Dort wird die Einrichtung eines blauen Investitionsfonds empfohlen. (2) Charlotte Brookes (1) Finanziert von der Europäischen Kommission mit 10 Mio. EUR über viereinhalb Jahre. (2) Grünbuch der Kommission: Die künftige Meerespolitik der EU: Eine europäische Vision für Ozeane und Meere (7. Juni 2006). 24 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Fangfrische Medikamente Ecteinascidia turbinate. Dieser Intervertebrat aus der Karibik oder dem Mittelmeer liefert die Ausgangssubstanz für das Krebsmittel Yondelis (PharmaMar) Actinomyceten. Das aus dem Bakterium Actinomycete Micromonospora gewonnene Krebsmittel Thicoralin wird derzeit bei PharmaMar entwickelt. Bugula neritina. Dieses weitverbreitete kosmopolite Moostierchen aus dem Meer lebt in Symbiose mit einem Bakterium, das in der Lage ist, ein aktives Biomolekül, das Bryostatin, abzusondern, das als Repulsiv gegen Raubfische wirkt und für seine positive Wirkung bei Pankreas- und Nierenkrebs, bei Leukomen, Melanomen und Non-Hodgkin-Lymphomen bekannt ist. Es befindet sich in der klinischen Phase der Erprobung. Cyanobakterien. Scytonemin ist ein Pigment für Sonnencreme gegen gelb-grüne UV-Strahlen, das man im Blau-Grün der Meeresalgen findet. ZALYPSIS®, Es kann auch zur Entwicklung von Inhibitoren in entzündungshemYONDELIS®, menden und antiproliferativen Mitteln verwendet werden. APLIDIN® sind Aplidium albicans. Dieser Invertebrat erlaubte der Firma PharmaMar, Wirkstoffe aus der eine Substanz gegen Krebs, das Aplidin, zu isolieren, die sich derzeit in Krebsforschung, der klinischen Erprobung befindet. die aus Meeresarten Haifische. Haifische leiden auffällig wenig unter Krebs, vor allem dank gewonnen und von des Squalamins, einer Substanz aus der Leber. Sie könnte im Kampf dem spanischen Biotechnologieunter gegen bestimmte Hirntumoren hilfreich sein. nehmen PharmaMar Japanischer Schwamm. Das KRN 7000 ist keine natürliche Substanz, sondern ein synthetisches Derivat einer Reihe von Auszügen aus eingesetzt werden. einem japanischen Schwamm, Agelas mauritianus. Beim Test an Mäusen bewies die Substanz ihre Wirkung auf Tumoren und zeigt Wirkung bei der Behandlung von Darmkrebs. Conus magus. Diese Kegelschnecke lähmt ihre Beute mithilfe eines giftigen Pfeils. Das Gift wirkt auf Schmerzen wesentlich stärker als Morphin und ist unter dem Namen Prialt auf dem Markt. Schnurwürmer. GST 21 ist die erste Substanz aus dem Meer, die für die Behandlung von Alzheimer erprobt wird. Marthasterias glacialis. Aus diesem Eisseestern wurde vom CNRS in Roscoff (FR) die Substanz Roscovitin gewonnen. Sie blockiert Krebszellen, ohne die gesunden zu beeinträchtigen, und könnte daher eine neue chemische und therapeutische Waffe gegen Tumore werden. © PharmaMar Odyssee mit langem Atem Kaltwasser-Fauna im Nordatlantik in einem Meeresschutzgebiet, die von den Forschern des MarBEF-Projekts untersucht wird (siehe Seite 8). Gadus morhua vor einem Hintergrund aus weißen Korallen (Lophelia pertusa) und orangen Korallen (Paragorgia arborea) im Norden Norwegens in 200 m Tiefe. © Institute of Marine Research (IMR) Tests seine Wirksamkeit für die Behandlung des multiplen Myeloms, einer Blutkrebsart, geprüft. ENERGIE Außer seinen kräftigen Winden, seinen Strömungen und seinen Gezeiten bietet das Meer noch ein weiteres Energiepotenzial: die Kraft seiner Wellen. Ein Blick auf Wave Dragon, eine Anlage zur Produktion von Strom mithilfe der Meeresbrandung. I m Jahr 1986 beobachtet Erik Friis-Madsen, ein dänischer Ingenieur, ein Atoll im Südpazifik und wie die Wellen dort auf den Strand rollen. Wenn sie stark genug sind, überqueren die Wellen die Strandstreifen und sammeln sich in der Mitte des Atolls in der Lagune. Sobald diese zu voll ist, läuft das Wasser durch die zahlreichen Rinnen im Atoll wieder ab und zurück in den Ozean. Der Ingenieur ist überzeugt, dass sich diese natürliche Erscheinung reproduzieren und damit Strom erzeugen lässt. Er beginnt mit ersten Zeichnungen, aus denen dann zehn Jahre später Wave Dragon entsteht: eine kreisförmige Struktur, die im Grunde ein „schwimmendes Atoll“ darstellt, mit einer Turbine in der Mitte, durch die das überschüssige Wasser ablaufen kann. Vom Traum zum Prototypen Richtig Form nimmt das Projekt allerdings erst 1997 an. Erik Friis-Madsen umgibt sich mit einem Team von Mitarbeitern. Hans-Christian Sorensen übernimmt die Leitung des Unternehmens Wave Dragon (DK) und koordiniert auch heute noch dessen Aktivitäten. Die beiden perfektionieren mit wissenschaftlicher und logistischer Unterstützung von Unternehmen und Universitäten ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der hydraulischen und elektrischen Energie. Mehrere Modelle werden im Labor getestet. „Die Grundidee“, erklärt Erik Friis-Madsen, „besteht Drache © Earth-vision.biz Ein wellenfressender Wie ein „schwimmendes Atoll“ sammelt Wave Dragon mit Hilfe seiner beiden langen Arme das Wasser der Wellen in einem leicht erhöhten Zentralspeicher. Wenn man den Speicher leert, treibt das Wasser dann die Turbinen an. darin, die allgemein bekannten Prinzipien klassischer Wasserkraftwerke zu nutzen, nur dass dieses hier offshore betrieben wird. Es ist also recht einfach. Der Wave Dragon besteht aus zwei langen Armen, mit denen die Wellen in die Mitte der Anlage geleitet werden, die in einer Höhe knapp über dem Meeresspiegel schwimmt. Das Wasser wird in einem großen Speicher gesammelt und fließt schließlich durch die Mitte ab, wobei es eine Reihe von Turbinen antreibt, die Strom erzeugen.“ Die Europäische Union beteiligte sich 2002 am Projekt und stellte 1,5 Mio. EUR für die Ausführung und Inbetriebnahme eines Modells im Maßstab 1: 4,5 bereit. Mit einem Gesamtgewicht von 237 Tonnen wurde die Anlage im Juni 2003 im Meer vor der dänischen Küste ausgebracht. Für Hans-Christian Sorensen „war der größte Augenblick in der Entwicklung von Wave Dragon, als wir begannen, regelmäßig Strom in das dänische Netz einzuspeisen“. Die Stromproduktion dieses verkleinerten Prototyps vom Wave Dragon ist jedoch bescheiden und erreicht nicht mehr als 20 kW. Ein echtes Offshore-Kraftwerk „Aber wir haben jetzt etwas besseres“, fährt Hans-Christian Sorensen fort. „Dank einer weiteren Unterstützung durch die Europäische Union (2,4 Mio. EUR) konnten wir im April 2007 ein Abkommen mit Wales unterzeichnen, um vor seinen Küsten eine Großausführung der Produktionsanlage mit 7 MW zu installieren. Wir hoffen, dass diese im August 2008 in Betrieb genommen werden kann. Außerdem haben wir vor, in den nächsten drei Jahren zehn weitere Anlagen mit einer Gesamtproduktion von 77 MW zu konstruieren.“ Wave Dragon kann sich natürlich nicht mit einem klassischen Atomkraftwerk messen, das zwischen 500 und 2 000 MW Strom erzeugt, aber das System bietet dennoch Vorteile, die man nicht vernachlässigen sollte. Zunächst einmal lässt sich die Größe der Produktionsanlagen (indem beispielsweise eine Zentrale aus zehn oder 20 Geräten zusammengestellt wird), aber auch die Anzahl der Turbinen, die jedes Gerät enthält (bis zu 24), modulieren. Des Weiteren benötigt Wave Dragon nur ein Minimum an Wartung, die darüber hinaus auch noch sehr kostengünstig ist. Schließlich beeinträchtigt die Anlage nur in geringem Maße die Umwelt und die Schönheit der Landschaft, wodurch sich leichter die Gunst von Investoren, politischen Entscheidungsträgern und der öffentlichen Meinung gewinnen lässt. Daher kann man der Durchführbarkeit des Projekts wohl mit Optimismus entgegensehen. Matthieu Lethé www.wavedragon.net research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 25 © Shutterstock © Shutterstock © Shutterstock Fragile Grenzen 40 % der Weltbevölkerung lebt in Küstennähe. Innerhalb von fünf Jahren haben die Städte 34 % der Küstengebiete Portugals erobert, in Irland beträgt diese Zahl 27 % und in Spanien 18 %. Ein Viertel der Touristen weltweit reist in den Mittelmeerraum – das sind 158 Millionen Menschen jährlich. Aber seit 1993 drängt das Meer den Küstenrand zurück, im Schnitt um 3 mm pro Jahr. Der Grund dafür liegt in der thermischen Ausdehnung der Ozeane, in der Gletscherschmelze und im Abschmelzen der Eiskappen. Manche Modelle sagen einen Anstieg von 20 cm bis 60 cm bis zum Jahr 2100 voraus. Der Mensch zerstört die biologische Vielfalt und der Klimawandel dehnt die Ozeane aus. Um dieser Zerstörung, die leider bereits auf dem Vormarsch ist, Einhalt zu gebieten, bemühen sich zahlreiche Länder um ein „integriertes Küstenzonenmanagement“ (IKZM). 26 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 KÜSTENMANAGEMENT weniger als 50 km vom Meer entfernt und beutet seine Reichtümer aus: Tourismus, Fischerei, Aquakultur und Industrie. Diese in manchen Fällen miteinander konkurrierenden Aktivitäten bedrohen das Gleichgewicht der Natur, die biologische Vielfalt und auch die kulturellen Merkmale der Küsten. Auch der Klimawandel bedroht sie. Der Anstieg des Meeresspiegels und heftige Küstenstürme, die immer häufiger auftreten, lassen schwere Folgen vorausahnen, zumal diese Probleme ganz verschiedene Bereiche betreffen und es der sektoriellen Politik nur selten gelingt, dem Zerstörungsprozess Einhalt zu gebieten. Obwohl Europa flächenmäßig dreimal in den afrikanischen Kontinent hineinpasst, sind seine Küsten dreimal so lang wie die Afrikas. An diesen Küsten gefährdet der Mensch Wasserressourcen, Bodenstabilität, Meeresökologie und, was besonders besorgniserregend ist, die Wasserqualität. Die EU bemüht sich, ein Integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM) Eine integrierte Bewirtschaftung, einzuführen, das dauerhaft mit aber nicht proaktiv genug diesen komplexen und vielfältigen „Das Bewusstsein für die Küstenproblematik ist Systemen zusammenwirken soll. nicht neu“, sagt Denis Bailly, wissenschaftlicher Da es sich allerdings bei der Koordinator von Spicosa und stellvertretender Wiederherstellung des natürlichen Direktor von CEDEM/UBO (2). „In den 1970er Gleichgewichts um einen Jahre entstand die Idee für ein integriertes langwierigen Prozess handelt, Küstenmanagement. Dazu wurden alle sollte das neue Projekt Spicosa (1) Akteure einer Region zusammengeführt, um es ermöglichen, Zerstörungen die dortigen Probleme zu verstehen und diese zuvorzukommen, bevor zu lösen. Angesichts des Konflikts zwischen Reparaturen notwendig werden. D ie norwegischen Fjorde, die schottischen Lochs oder auch die galizischen Rias sind hervorragende Beispiele für den Kontrastreichtum der europäischen Küsten und die bunte Geografie des Kontinents. Die Heterogenität ihrer natürlichen und sozioökonomischen Merkmale bringen besondere Umweltbedingungen und angepasste Lebensformen hervor. In diesem Lebensraum für die Fauna der Küstensümpfe und für Wildvögel – über 30 % der Küsten sind Schutzgebiete – haben sich auch die Menschen angesiedelt. Sie betreiben Landwirtschaft und bauen Städte – Spiegel von Kulturen, die sich mit dem Handel beschäftigen und sich nach außen richten. Aber heute befinden sich die Küsten im Umbruch. Die Lichter der Leuchttürme verführen und die Küsten sind übervölkert. Über die Hälfte der europäischen Bevölkerung lebt Urbanisierung, Tourismus und Naturschutz interessierte sich Europa für dieses neue Konzept und unterzeichnete 1992 die Erklärung von Rio, mit der das IKZM offiziell wurde.“ Um menschliche Aktivitäten und natürliche Systeme dauerhaft miteinander zu vereinbaren, muss das integrierte Management die physikalisch-natürlichen, sozioökonomischen und rechtlich-administrativen Zusammenhänge der Küstengebiete besser erfassen. Aber die Umsetzungen dieses Managements hatten auf europäischer Ebene eine schlechten Start, da die angetroffenen Probleme und die lokalen Strukturen zu unterschiedlich sind. Mehr palliativ als stärkend werden Maßnahmen meist erst durchgeführt, nachdem sich die Umweltveränderungen bemerkbar gemacht haben. © Shutterstock 89 000 km europäische Küsten Projekt Spicosa – es ist für den Zeitraum 2007 bis 2011 mit 10 Mio. EUR ausgestattet – mit einem neuen methodischen Ansatz. „Angesichts der drohenden Zerstörungen und der einschneidenden Verluste müssen Entscheidungsprozesse im Sinne einer präventiven anstatt einer schadenbehebenden Küstenpolitik beschleunigt werden.“ Die von Spicosa angesteuerte Rückwirkungsschleife stützt sich auf Zukunftsszenarien, die dank einer offeneren Abstimmung erarbeitet werden, auf eine ausreichend verlässliche Datensammlungsmethode, um die politischen Maßnahmen zu unterstützen, und auf wirksame – multimediale und virtuelle – Werkzeuge, um wissenschaftliche und sozioökonomische Daten, die noch zu segmentiert sind, miteinander zu verbinden. Mit diesem transversalen Ansatz werden auch kollaterale Folgen integriert, wie die der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). „53 Partner, Universitäten, KMU und NRO aus 21 Ländern der Europäischen Union entwickeln Instrumente, um das Wissen zu bündeln und die Entscheidungsfindung zu begleiten.“ Aber Spicosa sollte auch die Besonderheiten jeder einzelnen Küstenregion berücksichtigen, damit sein methodischer Rahmen sowohl auf die Dünengürtel Dänemarks als auch auf den französischen Nationalpark Banc d’Arguin oder auf die unendlichen Strände Portugals anwendbar ist. Delphine d’Hoop (1) Science and Policy Integration for COastal System Assessment. (2) Zentrum für Recht und Wirtschaft der Meere and der Université de Bretagne Occidentale (FR). Spicosa greift vor Um irreversible Veränderungen rechtzeitig zu verhindern, versucht es die Union mit dem www.spicosa.eu research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 27 KÜSTENMANAGEMENT Spicosa, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer Pictures © Shutterstock 12 1 Der methodische Ansatz von Barcelona, Mittelmeer Spicosa wird seit September 2007 Urbanisierung und Einleitung an 18 Standorten mit sehr unterverseuchter Abwässer schiedlichen Merkmalen getestet. Spanien hält 2006 den Rekord für die schnellste Sechs dieser Standorte veranschau- Küstenurbanisierung in Europa. Barcelona ist mit lichen die Herausforderungen, vor vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt denen die Forscher stehen. Spaniens. Sie beherbergt Freizeitanlagen, touristi- Die Bucht von Riga, Ostsee Chemische Verschmutzung und Eutrophierung In Riga, der Hauptstadt Lettlands und größten Stadt des Baltikums, leben 720 000 Menschen an der Mündung der Düna und ihrer sehr produktiven Bucht. Sie zeichnet sich durch eine hohe Bevölkerungsdichte und intensive landwirtschaftliche, touristische und industrielle Aktivitäten aus. Aber dieses Gebrodel, das über keine angemessene Infrastruktur für das Abfallmanagement verfügt, verseucht das Grundwasser, und mit dem Zufluss der industriellen Abwässer von Riga und anderen Städten – darunter Pärnu – schreitet die Eutrophierung voran. Mit dem Begriff der Eutrophierung ist eigentlich der Nährstoffreichtum im aquatischen Milieu gemeint. Heute wird mit diesem Begriff das Übermaß an Nährstoffen bezeichnet, die das System nicht schnell genug aufnehmen kann, wodurch der Wasserspiegel langsam in einen Sumpf verwandelt wird. Die überdüngten Wasserpflanzen fangen die Lichtstrahlen auf und verbrauchen den Sauerstoffvorrat im Wasser, dessen Anteil dreißig Mal geringer ist als in der Luft. Dadurch entsteht in der Umgebung im Wasser ein Sauerstoffmangel, bis der Sauerstoff schließlich ganz verbraucht ist, wodurch die Voraussetzungen für die Bildung schädlicher Gase wie Methan geschaffen werden. In der Folge verschwinden aerobe Organismen – Insekten, Schalentiere, Fische, die Meeresvegetation. Das Biotop des Subsystems der Bucht verändert sich genauso wie das gesamte Ökosystem des Golfs. Dies hat natürlich auch Folgen für die Nahrungskette. Für die Anrainer ist schnelles Handeln angesagt: 30 % des lettischen Trinkwassers entsprechen nicht den chemischen Normen des Landes. 28 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 sche Einrichtungen, Geschäfte und Fischereibetriebe – Aktivitäten, die sich von der Landwirtschaft und Schwerindustrie flussaufwärts der Flüsse Besòs und Llobregat unterscheiden. Diese beiden Flüsse fließen durch Industriezonen, städtische und ländliche Regionen, sammeln die Abwässer und ergießen sich auf die Hochebene, auf der die Stadt liegt. In Spanien fließen 13 % des Brauchwassers direkt ins Meer. Im Jahr 1979 baute Barcelona ein Klärwerk an den Mündungen beider Flüsse. Aber der große Wasserdurchfluss und die riesigen Partikelmengen beeinflussen weiterhin die Interaktionen zwischen Land und Meer. Bakterien und Eutrophierung erobern die Strände, der Transport und die erneute Suspension der Sedimente verursachen Bodenerosion. Und die gesamte Stadtentwicklung 30 km längs der Küste baut auf einem weichen Boden aus Schlamm und Sand auf, dessen unterschiedliche Körnung zu Erdrutschen führen kann. Selbst das Einbrechen von Golfplätzen hätte schwere sozioökonomische Folgen auf die umliegenden Immobilienressourcen. 6 7 8 9 10 13 12 Venedig, Adria Ausbeutung der biologischen Reserven Die Stadt der Dogen und ihre Gondeln ziehen jedes Jahr 14 Millionen Touristen an, die sich den Hafen- und Freizeitaktivitäten, der Industrie, Landwirtschaft oder Fischerei hinzugesellen und die die natürlichen Kräfte und die Widerstandskraft der Lagune im Norden der Adria beeinflussen und ihre Umwelt zerstören. Seit eh und je ist Venedig vom Fischfang geprägt. 60 % der italienischen Venusmuscheln stammen aus seinen Gewässern. Heute fischt man Caparozzoli: zweischalige Muscheln mit großem Handelswert. Aber Motorboote und Mechanisierung zerrütten die Sedimente und tragen sie ab, dadurch schweben diese länger im Wasser, folgen den Meeresströmungen und führen Nähr- und Schadstoffe mit sich. Durch dieses 5 11 18 Standorte, die von den Forschern von Spicosa 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Rigaer Bucht Danziger Bucht Oderhaff Himmerfjärden Limfjord Sonderled Bucht von Clyde Hafen von Cork Scheidemündung KÜSTENMANAGEMENT 15 3 8 18 Phänomen verschlimmert sich die Erosion und die Sedimentmassen werden in die flachen Fahrrinnen transportiert, die mit großem Aufwand ausgebaggert werden müssen. Außerdem verarmen Fauna und Flora durch dieses kontinuierliche Ausbaggern. Eine Konsequenz, die die Fischer zu spüren bekommen, denn sie haben zwischen 1997 und 2001 rund 40 % ihrer Muschelproduktion verloren. Oderhaff, Ostsee Die deutsch-polnische Zusammenarbeit 4 1 2 3 18 15 17 14 16 untersucht werden. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Pertuis Charentais Guadianamündung Küste von Barcelona Bucht von Thau Taranto Mare Piccolo Bucht von Venedig Thermaikos-Bucht Bucht von Kocaeli Donaudelta Bevor die Oder, der größte Fluss der Ostseeanrainer, das Meer erreicht, bildet sie eine doppelte Bucht: das Kleine Haff (DE) und Wielki Zalew (PL). In dieser unter Naturschutz stehenden Mündungsregion, die einen großen ökologischen und kulturellen Wert besitzt, leben Tiere aus den Wäldern, den Dünen und Sumpfgebieten in außergewöhnlichen Landschaften. Aber im Rahmen des wirtschaftlichen Abstiegs lassen die jungen Menschen diese Landschaften im Stich. Die hohe Arbeitslosigkeit – fast 25 % – und der unterschiedliche Lebensstandard in Deutschland und Polen machen den Tourismus auf der Grundlage einer geschützten Natur zum großen Hoffnungsträger. Für die Bewirtschaftung der Oderküsten organisiert sich eine deutsch-polnische Zusammenarbeit. Im Jahr 2002 unterzeichneten die beiden Umweltminister die „AGENDA 21 – Stettiner Haff – Region zweier Nationen“, die dieselben Ziele wie das IKZM verfolgt. Zehn Handlungsbereiche stellen die nachhaltige Entwicklung und das Küstenmanagement ins Zentrum dieser Zusammenarbeit. Das Forum 21 bestimmt Prioritäten und führt diese durch – wissenschaftliche Zusammenarbeit, Bildung und nachhaltiger Tourismus – und ermöglicht Bürgern und Vertretern aus Deutschland und Polen eine aktive Zusammenarbeit, indem sie Ergebnisse untereinander austauschen und ihre Anträge unterstützen. Donaudelta, Schwarzes Meer Landschaftsentstellung durch Touristen Die Donau durchfließt 17 europäische Länder und bildet zwischen der rumänischen und ukrainischen Küste ein Delta. Als von der UNESCO klassifiziertes Paradies für Wildtiere – Schutzgebiet für Millionen Zugvögel, die aus Sibirien kommen – beherbergt dieses Sumpf- und Schilfgebiet ein empfindliches und komplexes Ökosystem, das der Mensch seit der Antike schützt. Heute leben 15 000 Menschen in Symbiose mit dieser Umgebung. Viele traditionelle Fischer scheinen von der modernen Zeit wie abgeschnitten. Aber ein Stück weiter wächst die Stadt Tulcea (RO) mit rasanter Geschwindigkeit. Die Neuankömmlinge wollen sich den lokalen Tourismus zunutze machen. Trotz aller Warnungen verändern illegale Bauaktivitäten die Landschaft. Und die künftigen Straßen, die Klärwerke und touristischen Dienstleistungen werden zahlreiche Bautrupps nach sich ziehen, die auch untergebracht werden wollen. Das Auftauchen der ausländischen Investoren, die auf der Suche nach schnellen Gewinnen sind, macht eine globale Strategie zur Bewahrung des Ökosystems und seiner Reize dringend notwendig. Der Hafen von Cork, Nordsee Die biologische Vielfalt vor dem Anstieg des Wasserspiegels Unterhalb der Wehranlagen aus dem 17. Jahrhundert grenzt der natürliche Hafen von Cork an eine große irische Industriezone. Der zweitgrößte Hafen des Landes beherbergt eine Raffinerie und hundert Pharmaunternehmen, darunter die Riesen Pfizer, Novartis und Janssen Pharmaceutica. Der biologische Reichtum des Küstenökosystems kommt auch dem Tourismus und der Fischerei zugute. Gefangen werden Forelle, Lachs oder Kabeljau neben großen Zuchtbecken für die Muschel- und Austernzucht. Aber die Landwirtschaft und der Hafenbetrieb belasten die Natur viel zu sehr. Beispielsweise werden die Phosphor- und Stickstoffwerte im Wasser durch die intensive Landwirtschaft erhöht, was für die Aquakultur eine Katastrophe darstellt. Global gesehen müsste auch der drohende Klimawandel die Region sehr stark treffen. Der Anstieg des Wasserpegels im Zusammenhang mit stärkeren und häufigeren Stürmen stellt eine direkte Bedrohung für den Hafen dar. Fünf Wasserläufe enden hier und im Winter soll die Regenmenge um 15 % ansteigen. Diese Faktoren werden in Cork zur Küstenerosion und zu lockeren ungefestigten Sedimentablagerungen führen. Um eine langfristige Strategie zu entwickeln, werden Simulationsmodelle und mögliche Szenarien immer dringender. DDH research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 29 KÜSTENMANAGEMENT Tourismus gegen Touris Auf dem weltweiten Tourismusmarkt nimmt die Europäische Union eine zentrale Stellung ein. Die rund 458 Millionen Besucher, die jedes Jahr über die Gebiete ihrer Mitgliedstaaten hereinbrechen, sind unbestreitbar ein Motor der Wirtschaft: fünf Prozent des europäischen BIP stammen direkt und zehn Prozent indirekt aus dem Tourismus. Obwohl er Arbeitsplätze und Wachstum schafft, kann der Tourismus aber auch zum Opfer seines eigenen Erfolgs werden. Das betrifft vor allem die Küstengebiete, die regelmäßig von einem großen Touristenstrom aufgesucht werden, mit schädlichen Folgen für das soziale Gefüge, das wirtschaftliche Gleichgewicht, die Qualität der Umwelt und schließlich auch für die Attraktivität des Tourismus. Vom nicht nachhaltigen Tourismus… Die Folgen eines schlecht beherrschten Küstentourismus zu erfassen, ist eine schwierige Aufgabe, denn man könnte damit viele Seiten füllen. Dennoch haben sich die Beobachter des Sektors verständigt, um drei große Folgenkategorien zu bestimmen: die wirtschaftlichen, die soziokulturellen und die ökologischen. 30 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 © Shutterstock I n wenigen Jahrzehnten ist der Tourismus zu einem unverzichtbaren gesellschaftlichen Phänomen geworden. Jedes Jahr kreuzen sich die Wege von Millionen Reisenden auf dem ganzen Planeten. Bevorzugte Ausrüstung: Badesachen, Strandspielzeug und Sonnencreme. Denn in der ganzen Fülle von Ferienangeboten stehen die Küsten ganz weit vorn auf der Beliebtheitsskala: Sonne, Meer, belebende Luft und idyllische Strände üben eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft aus. Laut Gabor Vereczi, dem Verantwortlichen für nachhaltige Entwicklung bei der Welttourismusorganisation (UNWTO), „ist das Mittelmeer bei weitem das beliebteste Ferienziel weltweit“. 2006 waren fast 160 Millionen Touristen an den europäischen Küsten registriert. die Saisonarbeit zur Norm wird. Die Folge: Die Einkommen reichen nicht aus, um mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten, die durch den Zustrom einer wohlhabenden Bevölkerung hervorgerufen werden, Schritt zu halten – insbesondere auf dem Immobilienmarkt. Dieser Aspekt hat auf soziokultureller Ebene einige Konsequenzen. Angesichts der Ausbreitung von Hotelanlagen und Sommerhäusern an der Küste tendiert die Lokalbevölkerung dazu, ins Binnenland abzuwandern. Häufig haben die Zurückbleibenden keine andere Wahl, als sich an die touristische Nachfrage anzupassen – Gründung von Geschäften aller Art, lokales Kunsthandwerk, das zur Massenware tendiert, und so weiter. Daraus folgt ein Verlust der kulturellen Identität dieser Bevölkerungen, wobei das Aussterben der traditionellen Berufe diesen Prozess noch verstärkt. Auf ökologischer Ebene sind die Folgen eines schlecht beherrschten Küstentourismus unzählig: Goldener Sand und Strohschirme in Bulgarien. Auf wirtschaftlicher Ebene ist klar, dass der Touristenstrom eine positive Wirkung auf die Lokalgemeinschaften hat. Erhebliche Devisenmengen fließen ein und aus diesem Grund haben die Behörden oft massiv in große Infrastrukturen investiert, um das Leben der Touristen bequemer zu machen (Flughäfen, Straßen und Autobahnen, Staudämme, Stadtplanung,…). Die Kehrseite der Medaille sieht aber ganz anders aus, vor allem für die Lokalbevölkerung. Durch den Tourismus verändert sich die Beschäftigungsstruktur. Aktivitäten, die mit der Industrie, der Landwirtschaft und der Fischerei zusammenhängen, drohen zu verschwinden, wogegen - Die übertriebenen Bauaktivitäten und der Bau von Verkehrsverbindungen bilden die Grundlage für zahlreiche Umweltprobleme: die Entwaldung und Zerstörung natürlicher Räume, die Zerstörung von Lebensräumen der Tierwelt, der Abbau von Meersand zur Herstellung von Baumaterial usw. Dabei darf man auch die optischen Folgen nicht vergessen, auch aus ästhetischer Sicht sind diese verheerend. - Wegen der kontinuierlichen Trinkwasserverschwendung durch die Touristen, die täglich die dreifache Wassermenge der Ortsbevölkerung verbrauchen (Schwimmbäder, Bewässerung, Hygiene,…), werden die Wasservorräte mus immer knapper. Hinzu kommt, dass der größte Anteil des Brauchwassers in den meisten Fällen ungeklärt wieder ins Meer eingeleitet wird. - Was für das Wasser gilt, gilt auch für die verschiedenen Energieressourcen: Der Verbrauch an Strom und fossilen Brennstoffen durch die Touristen ist sehr hoch (Klimaanlagen, Heizung, Transport,…), wodurch hohe umweltverschmutzende Abgasemissionen entstehen. Auch produzieren Touristen riesige Abfallmengen, derer sich die Lokalgemeinschaften so gut, wie es geht, annehmen müssen. - Die Küstenerosion: Dämme, Wellenbrecher und Deiche sollen Strände und die Wohngebiete vor den Wellen, der Erosion und möglichen Überschwemmungen schützen. Aber häufig wird das Problem weiter weggeschoben, hinter die urbanisierten Gebiete, dort, wo solche Infrastrukturen nicht existieren. Die Folge: Diese Bereiche werden nach und nach von der Erosion weggenagt. … zum verantwortlichen Tourismus „Seit einigen Jahren sind sich lokale, nationale und internationale Behörden dessen bewusst, dass ein schlecht entwickelter Tourismus sich selbst eine Grube graben kann“, sagt JeanPierre Martinetti, Experte für nachhaltigen Tourismus und Mitglied der Gruppe für nachhaltigen Tourismus (GNT), die von der Europäischen Kommission eingerichtet wurde, um über das Problem des nachhaltigen Tourismus nachzudenken. „Wenn man von nachhaltigem Tourismus spricht“, fährt er fort, „muss man immer den folgenden Widerspruch im Auge behalten: Einerseits kann der Tourismus wie ein Schmarotzer Raubbau betreiben und jedes Milieu zerstören, sogar sich selbst, denn er schadet nicht nur der Umgebung, in die er eindringt, sondern auch sich selbst, wenn er nicht gebändigt wird. In diesem Sinn ist er von jeglicher Vorstellung der Nachhaltigkeit weit entfernt. Andererseits kann er der Hebel für eine nachhaltige Entwicklung sein, als Quelle für eine wirtschaftliche Entwicklung, für den Fortschritt © WWF-Canon/Cat Holloway KÜSTENMANAGEMENT Die drei Stützpfeiler des nachhaltigen Tourismus W irtschaft, Gesellschaft, Umwelt. Um diese drei Worte kommt man nicht herum, wenn man vom nachhaltigen Tourismus spricht. Es geht darum, Wohlstand auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft zu schaffen, indem man sich um die Rentabilität der verschiedenen Wirtschaftssektoren kümmert. Gleichzeitig müssen die Menschenrechte und die Chancengleichheit für alle respektiert, die Armut bekämpft und die verschiedenen Kulturen anerkannt werden. Schließlich muss die Umwelt in ihrer ganzen Vielfalt geschützt werden, vor allem nicht erneuerbare Ressourcen und solche, die für den Menschen einen besonderen Wert darstellen. „Um das endgültige Ziel, die Lebensfähigkeit dieser drei Stützpfeiler, zu erreichen, muss man diese in ausgewogener Weise entwickeln“, erklärt Jean-Pierre Martinetti. „Viel zu oft sind Fehler gemacht worden, weil man den Schwerpunkt nur auf einen der drei Pfeiler gelegt und die anderen vernachlässigt hat.“ Die Entwicklung des Tourismus muss daher das Ergebnis einer weisen Dosierung sein, um auch nachhaltig zu werden. Nur dann wird auch das Milieu, in dem er sich entwickelt, in seiner ganzen Vielfalt respektiert werden. Unterwasservideo. Ein weiteres Plus für exotische Küsten. der Gesellschaft, den Austausch zwischen Menschen, und er kann zur Kenntnis und Valorisierung von Kulturen beitragen und auch einen sorgsamen Umgang mit der Umwelt fördern.“ Die Gruppe für nachhaltigen Tourismus besteht aus Tourismusexperten aus allen Sektoren und Ländern der Europäischen Union und hat ihre Arbeiten im Januar 2005 aufgenommen. Zwei Jahre später veröffentlichte sie ihren Abschlussbericht (1), dem eine umfangreiche Konsultation vorausgegangen war. Für Jean-Pierre Martinetti hat sich „aus diesen Arbeiten eine gemeinsame nachhaltige Kultur des Tourismus herausgebildet, und das trotz der unterschiedlichen Ursprünge und Empfindlichkeiten. Die Herausforderungen lagen ganz klar vor unseren Augen: Verringerung der saisonbedingten Nachfrage, Beherrschung der Auswirkungen des touristischen Verkehrs, Verbesserung der Beschäftigungsqualität im Tourismussektor, Pflege und Stärkung des Wohlstands und der örtlichen Lebensqualität, Minimierung der Ressourceneinsätze und Abfallvermeidung, Beobachtung und Valorisierung des natürlichen und kulturellen Erbes, Ferien für alle und schließlich der Tourismus als Hebel für eine nachhaltige Entwicklung.“ „Der zentrale Auftrag der Gruppe war die Operationalität“, führt der Experte weiter aus. „Deshalb haben wir eine Reihe konkreter Vorschläge ausgearbeitet, die auf die Herausforderungen antworten und sich an die verschiedenen Akteure der Tourismusindustrie richten: an die öffentlichen und privaten Leiter der Ferienziele, an die Reiseagenturen und natürlich an die Touristen selbst und an alle Organisationen, die bei diesen ein nachhaltiges Verhalten beeinflussen könnten (Schulen, Verbrauchervereinigungen, NRO usw.).“ „Jeder dieser Akteure muss spüren, dass er seinen Teil der Verantwortung für einen nachhaltigeren Tourismus trägt“, schließt Jean-Pierre Martinetti. „Aber diese Verantwortung wird zwischen den verschiedenen Akteuren auf allen Ebenen des Tourismussystems aufgeteilt.“ Matthieu Lethé (1) http://ec.europa.eu/enterprise/services/tourism/ tourism_sustainability_group.htm research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 31 © Jakub Kanta VERSCHMUTZUNG Auf den Philippinen arbeiten Teams der Firma Dekonta (CZ) an Biosanierungslösungen nach der Ölpest, die 2006 die Küsten in der Meerenge von Guimaras heimgesucht hat. Hilfstrupp aus dem Meer Die Ozeane sind krank und ihr natürliches Reinigungssystem ist überlastet. Der Kampf gegen die Verschmutzung, eine der Hauptkrankheiten, an denen unsere Meere leiden, ist zu einer der Prioritäten der europäischen Forschung geworden, die im Laufe der Zeit weitere Verbündete gefunden hat: die Meeresorganismen selbst. Cèdre (1), erklärt, ist „die Verschmutzung der Meere so groß, dass es unmöglich ist, sie auf nur eine Weise zu bekämpfen. Bei Cèdre kümmern wir uns nur um durch Unfälle verursachte Umweltverschmutzung. Deren Hauptquelle ist der Schiffsverkehr. Dieses Problem impliziert von sich aus bereits zahlreiche technische Zwänge. Die Arbeit ist allerdings weniger umfangreich als bei der chronischen Umweltverschmutzung, die durch die menschlichen Aktivitäten an Land hervorgerufen wird. Diese tritt unendlich viel häufiger auf und ist heterogener als die durch Schiffe verursachte.“ Aus diesem kurzen Einblick wird eines offensichtlich: Für jede Verschmutzung ist eine eigene Lösung und für jede Verschmutzungsquelle eine spezielle Maßnahme erforderlich! Nötig ist also eine Verknüpfung der Forschungsziele, wobei ein kleiner Anstoß aus der Natur ganz gelegen kommt, um diese zu erreichen. F Von den Wachmuscheln… rüher oder später wird sich die ganze Wucht der Umweltverschmutzung des Festlands in den Tiefen der Meere und Ozeane wiederfinden. Und selbst wenn die Ozeane aufgrund ihrer Größe die Fähigkeit zur Selbstreinigung besäßen, könnten sie nicht die gesamte bunt gemischte, durch den Menschen verursachte kontinuierliche Verschmutzung absorbieren. Wie Christophe Rousseau, stellvertretender Direktor von 32 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Ein Käfig, ein paar Muscheln, ein Verankerungssystem… und schon ist die Überwachungsstation für Küstenwasserverschmutzung fertig. Manchmal sind die einfachsten Lösungen auch die wirksamsten. Das haben die Gestalter des Projekts Mytilos, Start 2004, richtig verstanden, als sie sich für eine aktive Bioüberwachung im Rahmen des Aufbaus eines Kontrollnetzes für chemische Schadstoffe entschieden haben. Dieses Projekt bezieht Fördermittel von über 1,5 Mio. EUR, wovon 800 000 EUR aus dem Programm Interreg III B Medocc stammen, das von FEDER (2) finanziert wird. Ziel von Mytilos ist es, sich die aktive Bioüberwachung zunutze zu machen. Dabei handelt es sich um eine einfache und kostengünstige Methode zur Überwachung der Verschmutzung im westlichen Mittelmeer. „Wir besitzen erschreckend wenige einheitliche Informationen über den Stand der Verschmutzung dieses empfindlichen Meeres, dessen Wasser sich wegen der halbgeschlossenen Meeresform nur beschränkt erneuern kann“, erklärt Charlotte Blottière, Projektkoordinatorin bei Toulon Var Technologies, der Vereinigung, die das Netzwerk Mytilos ins Leben gerufen hat, das wissenschaftlich von Ifremer koordiniert wird. „Die zuständigen Anrainerstaaten haben zwar regelmäßige Wasserkontrollen durchgeführt, aber jeder hat seine eigene Überwachungsmethode benutzt, die jeweils auf nationaler Ebene definiert wurde. Dadurch war der Ergebnisvergleich grenzübergreifend nicht möglich.“ Bei der Bioüberwachung werden lebende Organismen eingesetzt, um den chemischen Verschmutzungsgrad einer Umgebung zu bewerten, in diesem Fall Muscheln. Die Muscheln wurden sozusagen als Zeugen ausgewählt, da sie das Meerwasser bei ihrer VERSCHMUTZUNG © Ifremer/Olivier Barbaroux © IEO & Ifremer © Cèdre Beobachtung toxischen Bioüberwachung durch die Forscher Phytoplanktons im des Mytilos-Projekts. Ifremer-Labor in Nantes. Suche nach ihrem Hauptnahrungsmittel Plankton kontinuierlich filtern. Durch ihre Physiologie sind sie die perfekten Bioakkumulatoren, da sie die verschiedenen Substanzen der Ozeane aufnehmen. Es handelt sich damit also um bemerkenswerte Messwerkzeuge für chemische Verschmutzung! „Die Verwendung von Muscheln als Biosensoren für Verschmutzung wurde bereits in den 1970er Jahre vorgeschlagen, aber in den ersten Versuchen wurden Arten eingesetzt, die direkt aus der Umgebung entnommen wurden. Dieser Ansatz barg jedoch zahlreiche Probleme, wie beispielsweise die Bewertung der Anfangskontamination, den Vergleich der Ergebnisse, die aus verschiedenen Arten erzielt wurden, oder aber die Verfügbarkeit der Muscheln in den Küstengewässern, in denen diese nicht vorkommen“, erklärt Charlotte Blottière. „Um dem abzuhelfen, zieht Mytilos die aktive Bioüberwachung vor. Nach einer Markierung mit Hilfe von GPS, platzieren die Experten die künstlichen Muschelstationen selbst. Das wird durch das sogenannte caging erleichtert, einem System mit Körben und Verankerung. Alle Proben stammen von derselben Spezies (Mytilus galloprovincialis) und kommen aus demselben Referenzposten. Dadurch kann die Anfangskontamination ganz genau bestimmt werden.“ Ende Juni präsentierten die Initiatoren des Mytilos-Netzwerks ein erstes Bild von der Verschmutzung des westlichen Mittelmeers. Auch wenn die Ergebnisse nicht grundlegend von den in nationalen Untersuchungen erzielten abwichen, so beginnt mit dieser Anlage doch endlich eine Zusammenarbeit und die Vereinheitlichung der Verschmutzungsüberwachungsmethoden auf grenzübergreifender Ebene. Mytimed, ein ähnliches Projekt, wurde 2006 auf den Weg gebracht, um das bestehende Netz in die östliche Richtung des Mittelmeerbeckens zu erweitern. © Cèdre Verschmutzung durch die Prestige: Öldecke im Jahr 2002 bei Punta Rocundo in Galizien (ES), und die Erika (rechts), 1999 in Frankreich. … zu den „ölfressenden“ Bakterien Meeresverschmutzung wird oft in einem Atemzug mit der Ölpest genannt. Aber auch wenn das Einleiten von Kohlenwasserstoffen ins Meer eine große Gefahr für die Umwelt darstellt, so haben diese Verunreiniger doch den Vorteil, dass sie biologisch abbaubar sind. Es gibt einige Bakterienstämme, die in der Meeresumwelt natürlicherweise vorkommen und die das Erdöl als Kohlenstoffquelle und folglich als Energiequelle nutzen. Dieser Prozess verläuft mehr oder weniger schnell und ist abhängig von der Art des Kohlenwasserstoffs, der Bakterie und dem Ökosystem. Jedoch können die vom Meer abhängigen Gemeinschaften sich nicht damit begnügen, darauf zu warten, dass die Natur ihr Werk zu Ende führt. Manchmal bedarf es eines kleinen Anstoßes, um den biologischen Abbau zu beschleunigen. „Diese Organismen kommen in den meisten durch Kohlenwasserstoffe verschmutzten Umgebungen bereits auf natürliche Weise vor. Wenn man beispielsweise die Temperatur, die Sauerstoffkonzentration oder den Nährstoffgehalt optimiert, kann man ideale Bedingungen für die Verbreitung der Bakterien schaffen. Dies beschleunigt dann den biologischen Abbau“, führt Petra Zackova, Laborleiterin der Abteilung Sanierung und Umwelt bei Dekonta aus. Das tschechische Unternehmen ist auf die Prävention und Resorption von Verschmutzungen spezialisiert. Die Expertin wurde über den Europäischen Katastrophenschutz auf die Philippinen entsendet, um die Ortsbehörden über die verschiedenen Biosanierungsmöglichkeiten der Ölpest zu informieren, die die angrenzenden Küsten der Meerenge von Guimaras seit August 2006 heimsucht. Mit zahlreichen Mangroven und Korallenriffen verfügt diese Region über eine weltweit einmalige biologische Vielfalt und gibt einer großen Gemeinschaft gewerblicher Fischer Arbeit und Brot. „In der ersten Zeit haben wir Wasser- und Bodenproben an verschiedenen Stellen entnommen, um die Existenz einheimischer Bakterien zu bestätigen und ihr Potenzial für den Abbau des Erdöls zu bestimmen. Die Ergebnisse der Labortests zeigten, dass die lokale Mikroflora bei Zusatz eines geeigneten Katalysators eingesetzt werden kann. Zum Beispiel hatten die stimulierten Wasserbakterien innerhalb eines Monats rund 90 % der Kohlenwasserstoffe abgebaut“, fährt Petra Zackova fort. „Wir arbeiten jetzt an der Isolation dieser Bakterienstämme, um sicherzugehen, dass durch ihren Einsatz kein Risiko für die Umwelt entsteht. Manche dieser Organismen könnten zum Beispiel gefährliche Toxine in die Umwelt des angepeilten Ökosystems abgeben.“ Die Biosanierung ist kein Wunderheilmittel, denn ihr Einsatz kann nur ergänzend zu bestehenden mechanischen und chemischen Methoden zur Ölpestbekämpfung erfolgen. Aber durch sie ist es möglich, an das unfassbare Potenzial der Ozeane anzuknüpfen, dessen biologische Vielfalt bis heute erst zu 1 % erfasst ist. Julie Van Rossom (1) Centre de documentation de recherche et d’expérimentation sur les pollutions accidentelles des eaux, eine französische Organisation, die weltweit als Referenzstelle dient. (2) Interreg III B Méditerranée occidentale (Medocc, Westliches Mittelmeer) ist ein Förderprogramm für die grenzübergreifende Zusammenarbeit in Europa, das durch den Europäischen Fonds für Regionalentwicklung unterstützt wird. Mytilos mytilos.tvt.fr/ Dekonta www.dekonta.com Gemeinschaftsverfahren für den Katastrophenschutz: ec.europa.eu/environment/civil/ research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 33 © Shutterstock © ESPO © ESPO Maritimer Raum Jedes Jahr werden 2 Mrd. Tonnen Frachtgut in europäischen Häfen verladen. Außer dem Be- und Entladen von Containern ziehen die Häfen auch andere Aktivitäten an, beispielsweise Fischerei, maritime Dienstleistungen und in manchen Fällen auch Werftarbeiten. Ihre wachsende strategische Bedeutung hat zu einer Überlastung geführt und eine stark wettbewerbsorientierte Umgebung geschaffen. Die Stärkung der Zwischenhäfen könnte diese Lage entspannen und ein Standortangebot für Übergänge des intermodalen Transports bieten. Die Kombination der Transportmittel bietet tatsächlich eine unbestrittene wirtschaftliche und ökologische Alternative. Über den Seetransport, der fünfmal billiger ist als der Transport über den Landweg, werden heute nicht weniger als 90 % des Außenhandels der Union und über 40 % des Binnenhandels abgewickelt. Er schafft außerdem über drei Millionen Arbeitsplätze in Europa. 34 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 VERKEHR Forschung: © CESA Gallionsfigur des Schiffsbaus Testfahrt des Fährschiffs Berlioz – Chantiers de l'Atlantique (Frankreich). Mit einem Umsatz von 13 Mrd. EUR im Jahr 2006 stellt der Schiffsbau in Europa einen strategischen Sektor dar. Seitdem Japan und Südkorea den Markt für einfache, in Serie produzierte Schiffe unter sich aufgeteilt haben, behält Europa den Vorteil für ausgefeilte Schiffskonstruktionen und Innovation für sich. Aber da auch China nicht schläft, haben sich diese beiden asiatischen Länder auf den Bau von Kreuzfahrtschiffen gestürzt, ein quasi europäisches Monopol und Fundament für die Aktivitäten des alten Kontinents in diesem Sektor. Angesichts dieser Bedrohung mobilisiert Europa seine Kräfte: Mit der Technologieplattform Waterborne TP führt es alle Akteure des Seeverkehrs zusammen, um strategische Entscheidungsprozesse auf eine neue Basis zu stellen, eine dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit zu garantieren und Kurs auf 2020 zu nehmen. S aint Nazaire (FR). Die Baustelle ist riesig, über 15 Fußballfelder groß. Kräne und die 70 m hohe Brücke überragen längs der Trockendocks Hangars, Stahlschneidegeräte und Werkstätten. Die Schweißer beginnen mit der Arbeit, andere machen eine Zigarettenpause. Ein Stück weiter oben hängen drei Männer in Gurten an der Schiffsaußenwand und streichen den Rumpf. Auf 800 Hektar arbeiten 7 300 Menschen in einer der ältesten Schiffswerften Europas an den Ufern der Loire. Motorspezialisten wechseln sich ab mit Brückenausstattern, Elektronikern oder Innenarchitekten. Jeder Spezialist trägt seinen Teil zum Stahlgerippe der Poesia bei, der neuen schwimmenden Stadt, die 325 m lang sein wird und auf der bis zu 6 400 Passagiere Platz haben werden – ein Kunstwerk integrierter Technologien. Und ein Zeitplan mit den einzelnen Aufgaben der Subunternehmer, der von Aker Yards abgestimmt wird. Dies ist eine internationale Unternehmensgruppe, die seit 2006 Eigentümerin der ehemaligen Werft „Chantiers de l’Atlantique“ und 17 weiteren Werften in der ganzen Welt ist. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 35 VERKEHR Verfälschte Spielregeln Dieser Werften-Zusammenschluss illustriert den harten Wettbewerb, der diesen Marktsektor beherrscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten Südkorea und Japan ihre Industriestruktur durch Investitionen in den Schiffsbausektor wieder auf. Dieser Sektor versprach im Hinblick auf Beschäftigung, technologische Innovation und Devisenimport viele Vorteile. Aber massive staatliche Überinvestitionen verzerrten das internationale Handelsgefüge. Nachdem Südkorea seine Produktionskapazitäten unabhängig von der Nachfrageentwicklung mehrfach gesteigert hatte, übernahm das Land 1999 die Führung auf dem Weltmarkt. Diese Politik versetzte der europäischen Schiffsbauindustrie einen schweren Schlag: Innerhalb der vergangenen drei Dekaden verlor sie rund 75 % der Arbeitsplätze in den Werften. Aber dank seiner einmaligen Seefahrtsvergangenheit – von den Handelsrouten bis zur geografischen Eroberung – blieb Europa nicht zurück und sicherte beim Bau komplexer Schiffe seinen Vorteil. Während sich in Asien die Serienanfertigung einfacher Tanker durchsetzte, haben sich die Arbeitskräfte Europas auf die Konstruktion und den Einbau mordernster und ausgeklügelter Ausrüstungen spezialisiert. Dieses Netzwerk von Subunternehmern kann sehr flexibel auf Nachfrage und Spitzentechnologien reagieren. Über 9 000 externe Hersteller – in ihrer Mehrheit KMU – erbringen auf dem alten Kontinent rund 70 % der Gesamtproduktion. Ihnen ist es zu verdanken, dass Europa heute auf dem Schiffsmarkt Nischen mit hohem Mehrwert beibehält, beispielsweise bei Off-shore-Plattformen, Gasund Chemikalientankern, Baggerschiffen, Megajachten und vor allem auf dem Kreuzschiffmarkt, auf dem es praktisch eine Monopolstellung einnimmt. Managementsysteme neben der Kläranlage, der Müllverbrennungsanlage und der Müllpresse (damit keine Verunreinigungen ins Meer gelangen) ihren Platz an Bord ein. Nur in den seltensten Fällen laufen zwei identische Schiffe vom Stapel. Nach langen Bauzeiten und Verlängerungen – drei Jahre Bauzeit für eine Lebensdauer von 30 Jahren – stecken diese Riesen der Meere voller technologischer Anwendungen, die eigens für das jeweilige Schiff entwickelt wurden. Die Anpassung an die Nachfragekriterien führt zu einer konstanten Innovation, die für diesen Sektor charakteristisch ist. Und nur ein engmaschiger Industriezweig, der erfahren und zuverlässig ist, kann den Erwartungen der Reeder gerecht werden, die es im Hinblick auf Lieferverzögerungen oder finanzielle Entgleisungen sehr genau nehmen. Denn die beteiligten Budgets zwingen dazu, die Vermarktung des Schiffes bereits aufzunehmen, wenn es sich noch in Einzelteilen auf der Baustelle befindet. Hier bietet die Vielseitigkeit der europäischen Industrie einen nicht zu leugnenden Vorteil. Auch wenn Asien Dienstleistungen ausländischer Ingenieure anmietet, reicht dies immer noch nicht aus, den alten Kontinent beim Bau komplexer Schiffe zu entmachten. Aber wie lange noch? Korea und Japan visieren bereits seit rund 15 Jahren die Kreuzschifffahrt an. Besorgt durch den jüngsten chinesischen Vorstoß auf den Schiffsbaumarkt, bekräftigen diese beiden Länder heute ihre ehrgeizigen Ziele. Europäischen Industrievertretern zufolge würden sie dennoch mindestens zehn Jahre benötigen, um zu einem Endprodukt zu gelangen. (Anmerkung der Redaktion: In dem Augenblick, in dem diese Ausgabe gedruckt wird, kauft die südkoreanische Werft STX Shipbuilding 39,2 % von Aker Yards auf.) Als direkte Konsequenz entwickelt das Projekt InterSHIP (2) seit 2003 Werkzeuge sowie Konzeptions- und Fertigungsmethoden, um auf der Höhe des Umweltschutzes und der Sicherheitsaspekte zu bleiben, die Rentabilität zu verbessern und den Lebenszyklus der Schiffe zu optimieren. „InterSHIP hat uns in Saint-Nazaire dazu gebracht“, erklärt Pascal Monard, „auch mit anderen europäischen Werften zusammenzuarbeiten, beispielsweise bei der Zusammenlegung der Computernetze, der Anwendung mobiler Informationstechnologie auf den Baustellen und an Bord der Schiffe. Konkret bedeutet das die Vereinfachung aller Daten durch Integration digitaler und analoger Systeme. Im Moment werden 15 Anwendungen an Bord zusammengelegt.“ Ein großer Teil der Gemeinschaft – sieben Werften, Ausrüster, Klassifizierungsgesellschaften und andere – profitiert von Forschungsfortschritten dank InterSHIP. Das Projekt initiierte erfolgreich eine horizontale und eine vertikale Zusammenarbeit und erreichte im Oktober 2007 sein Wettbewerbsziel. „Trotz der starken Konkurrenz in unserem Sektor ist die Zusammenarbeit ein Erfolg, da sie zur Entwicklung von Verfahren beigetragen hat, die leichter zu verbreiten sind als die angewandte Innovation“, fährt Pascal Monard fort. „Daraus sind vor einigen Jahren ein Netzwerk und beeindruckende Verbindungen entstanden. Unsere Beteiligung an anderen Projekten, wie Flagship (2007-2011) – zur Entwicklung eines eingebetteten Systems zur Entscheidungsfindung, zur Steuerhilfe und zur Verbesserung der Sicherheit –, steht in direktem Zusammenhang mit den Verbindungen, die im Rahmen von InterSHIP geknüpft wurden.“ Und schließlich fügt er auf die Zukunft gerichtet hinzu: „Durch InterSHIP war es möglich, die Basis für eine Kooperation ab 2008 zu legen.“ Forschung im Herzen der Schlacht Hightech auf dem Meer Ohne dass man es ihnen anmerkt, verstecken diese touristischen Ozeandampfer hinter ihren Wänden ganze Labyrinthe aus Kreisläufen und Versorgungssystemen. Angesichts der heutigen Standards für Komfort, Sicherheit und Umweltschutz nehmen auch Klimaanlagen – einer der größten Posten im Budget –, Wasserversorgungsanlagen, Lebensmittelspeicher, Sicherheitssysteme und computergesteuerte 36 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 Pascal Monard, verantwortlich für die Abteilung Forschung und Entwicklung bei Aker Yards in Saint-Nazaire, warnt: „Durch diese Verschiebung darf es sich Europa nicht erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, denn die Chinesen planen die Auslieferung ihres ersten Passagierdampfers zwischen 2012 und 2015. Spätestens 2003, beim Start der Initiative LeaderSHIP 2015 (1), wurde Europa sich bewusst, dass es seine Position verteidigen müsse.“ Tief greifend reagieren Diese neue Zusammenarbeit stellt einen guten Fortschritt dar. Aber um auch auf weltweitem Kurs zu bleiben, muss Europa noch weiter vorausschauen. Seit 2005 hat die Technologieplattform Waterborne TP ein Forum eingerichtet, in dem alle europäischen Unternehmensverbände jedes Sektors – Reeder, Wartungs- und Reparaturdienste, Ausrüster –, die politischen Akteure, Forschungseinrichtungen, Universitäten VERKEHR Forschung ist keine Selbstverständlichkeit. Bei Aker Yards bestätigt dies Pascal Monard: „Die Schwierigkeit besteht in der Synchronisierung zwischen den wirtschaftlichen Zwängen, der mittelfristigen Anwendbarkeit und jenen Zwängen, die aus einer Forschungslogik entstehen, die langfristig ausgerichtet ist und normalerweise auch nicht den Anspruch darauf erhebt, in direkte Anwendungen umgesetzt zu werden“. Auch Paris Sansouglou vertritt diese Meinung: „Die langfristige Überlegung ist für die Unternehmen ein allgemeines Problem. Aber wenn man diese auf mehrere Köpfe verteilt, erzielt man einerseits bessere Ergebnisse und andererseits senkt es für jeden die Kosten.“ Die Akteure haben gar keine andere Wahl, denn die Innovation stellt den Schlüssel zur Festsetzung einer dauerhaften Wettbewerbsfähigkeit für die Konstruktion von Kreuzfahrtschiffen dar, der Grundlage der europäischen Schiffbauindustrie. Delphine d’Hoop Werft in Setubal (Portugal). (1) Zusammenschluss von herausragenden Persönlichkeiten, Experten für alle Aspekte des Sektors in Europa. (2) Konzeption und gemeinsame integrierte Konstruktion von Kreuzfahrtschiffen, Passagierschiffen und RO-Pax (Fahrzeug- und Personenfähren). (3) Community of European Shipyards Association www.cesa.eu www.intership-ip.com/ www.flagship.be/ www.waterborne-tp.org/ © CESA und Gewerkschaften vereinigt sind. Paris Sansoglou, Sekretär der Plattform und der koordinierenden Organisation CESA (3), beschreibt die Ziele: „Die Plattform setzt eine grundlegende Überlegung in Gang, um die europäische FuEStrategie aufzustellen und zu koordinieren. Sie bezieht ihre Teilnehmer bereits bei der Definition der Strategie mit ein bis hin zu den daraus folgenden Forschungsprojekten“, erklärt er. „Dadurch wird sichergestellt, dass die europäische Strategie von allen Akteuren akzeptiert und unterstützt wird – und dass, angesichts der Herausforderungen des Marktes, Ziele festgelegt werden, die die Innovationen der Industrie erneut anspornen sollen. Zum Beispiel weiß man, dass das Ziel ‘Null Emissionen’ nicht realisierbar ist, weil dann die Passagiere mit dem Atmen aufhören müssten! Aber wir wollen auf dieses Ziel hinarbeiten.“ „Die Teilnehmer beschreiben diese Strategie in drei Dokumenten. Das erste ist die mittelund langfristige Vision, Vision 2020 genannt, die drei Pfeiler definiert: ein sicherer, nachhaltiger und effizienter Seeverkehr, eine wettbewerbsfähige europäische Schifffahrtsindustrie und der Umgang mit dem steigenden Transportvolumen sowie den Veränderungen der Handelstendenzen“, bemerkt Paris Sansouglou abschließend. „Ab hier bewerten die Akteure die Herausforderungen, vor denen der Sektor steht, und formulieren notwendige Maßnahmen, um diese Ziele in der Strategischen Forschungsagenda von WaterborneWSRA zu erreichen, die den Weg und seine Etappen bis 2020 markieren. Ein Umsetzungsplan aus dieser Agenda – der WSRA Implementation Plan – steht noch aus. Darin werden die Projekte und die Teilnehmer festgelegt“, fährt er fort. Dieser Umsetzungsplan umfasst auch „sehr delikate und politische“ Finanzierungsaufrufe für die Projekte, vertraut Paris Sansouglou an, „denn sie berühren die geschäftlichen Interessen jedes Teilnehmers in einem Sektor, in dem alles durch Untervergabe miteinander verbunden ist.“ Durch diese Initiative setzt sich Waterborne TP das Ziel, auf die Forschungspolitik auf europäischer, regionaler, nationaler und privater Ebene einzuwirken. Außer den Interessen erscheint ein weiteres Problem im Bereich der Fristen. Die langfristige Zusammenarbeit des Privatsektors in der research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 37 VERKEHR Häfen am toten Punkt Muss die historische Rolle der Häfen für die Wirtschaft noch bewiesen werden? Seit langem weist der Duft der Gewürze aus dem Orient, der durch die Lager weht, auf weit gereiste Güter hin. Aber die Volumen steigen durch die Globalisierung unablässig und schaffen logistische Probleme. Die Ausarbeitung einer Lösung für Zwischenhäfen beschäftigt die Forscher, aber die Ideen bleiben im Stadium des Prototypen stehen. Warum verstehen sich Forschung und Gesellschaft nicht? Capoeira (1) versucht die Erfahrungen der Vergangenheit zu analysieren, um die Risiken in der Zukunft zu reduzieren. Aber die Zeit drängt, und die bereits kritische Lage könnte sich verschlimmern. I © Shutterstock m Französischen und Englischen heißt Hafen „Port“, was vom lateinischen „portus“ bzw. dem griechischen „poros“ (deutsch: „Durchgang“) stammt. Seit den Phöniziern und der Blüte Alexandrias haben sich im Gefolge der Expansion des Handels die Häfen, die Tore zur Welt, entwickelt. Das deutsche Wort „Hafen“ hat seinen Ursprung u. a. 38 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 im mittelhochdeutschen Wort „haven“ (Gefäß, Behälter), das sich auch auf den Transport der Waren in „Behältern“, die auf dem Meer fahren, also die Schiffe, erstreckt. An der Semantik hat sich nichts geändert: 6 Mrd. Tonnen Rohstoffe als Massengut oder verschiedene Produkte wurden 2005 über das Meer verschifft. Das sind 90 % des Weltwarentransports. Strategische Knotenpunkte des Transports Ursache für das stetig anhaltende Wachstum im Seetransport ist die wachsende Internationalisierung der wirtschaftlichen Praktiken. Ab Ende der 50er Jahre erleichtert die Erfindung der Container den Umschlag von einem Transportmittel zum anderen. Einmal im Bestimmungshafen angekommen, werden die Waren über Brückenkräne entladen und dann meist per LKW oder Eisenbahn weitertransportiert. Durch die Verwendung von StandardMaßen und -Befestigungssystemen werden sie zur „Intermodalen Transporteinheit“. Geografische Zwänge sind nicht der einzige Grund für die sukzessive Verwendung unterschiedlicher Transportarten. So führen beispielsweise oft die geringeren Kosten des Seetransports dazu, dass diese Lösung ernsthaft in Erwägung gezogen wird. In der Folge haben sich die Häfen angepasst und wurden zu „Hubs“, die als Empfangs- und Verteilerstation für Container auf Landesebene oder gar für einen ganzen Kontinent fungieren. Auch die derzeitige Überlastung der Straße privilegiert den intermodalen Transport. Und die Reeder sind an Zwischenhäfen interessiert, die im Zentrum der Städte liegen. Das ist ein Vorteil, der die Marktposition dieser Häfen dennoch schwierig gestaltet, denn es fehlt an Platz, VERKEHR Knotenpunkt Die in Europa mehrheitlich mittelgroßen Häfen könnten bei der Auslieferung von Waren ins Innere des Landes mit geringeren ökologischen Belastungen eine wichtige Rolle spielen. Aber wie kann man die Reeder, die ihre Schiffe für Fahrten ausstatten und betreiben, vom Nutzen dieser Häfen überzeugen? Wie soll man Container auf einem 30 m breiten Kai entladen, während dieser gleichzeitig von einer Lawine mit 200 Fahrzeugen verstopft wird? Für dieses Problem hat das Projekt Asapp (Automated Shuttle for Augmented Port Performance) eine Antwort gefunden, indem es auf ein Konzept der Firma Reggiane (IT) aufbaut: ein Hochentladesystem für Container auf einer Zwischenplattform, also eine doppelte Arbeitsfläche. Die Container werden mit einem automatischen Shuttle transportiert, dessen Leistung derjenigen der derzeit verwendeten Schwerfahrzeuge gleicht. Nach Angaben der Entwickler optimiert dieses System den Einsatz der Brückenkräne (durch den Umschlag von 200 Containern pro Stunde) und ermöglicht eine schnelle Rentabilität der Investitionen. Für die Idee und den Prototyp hätten sich also Betreiber und Reeder interessieren müssen. Aber seit 2001, dem Ende des Projekts, wurden keine einzige neue Plattform Der größte europäische Hafen, Rotterdam, wickelte 2005 9,3 Millionen Container mit einem Frachtvolumen von 396 Mio. Tonnen ab. Allerdings beginnt der Glanz der nordeuropäischen Häfen gegenüber dem Aufstieg der Häfen im Süden Europas etwas zu verblassen. Valencia, Algesiras und Barcelona gehören heute aufgrund des Handels mit dem Fernen Osten zu den zehn größten Containerhäfen. und kein Shuttle nach dem Vorbild des AsappProjekts an europäischen Küsten (2) gebaut. Analyse in trüben Wassern… Um das Schicksal der Forschungsarbeiten an den Terminals – wie z. B. Asapp – zu verstehen, setzt Capoeira ein Bewertungsraster ein, das die Strategien aller Akteure mit einbezieht: von der Konzeption über das Angebot, den Aufbau des Konsortiums und den Projektverlauf bis zum Ergebnis. Einer der Koordinatoren des Asapp-Projekts, der frühere Land-Terminalbetreiber Jean-Louis Deyris, erklärt uns zunächst, wo das Projekt endete: „Die Arbeiten ergaben tatsächlich ein Terminalkonzept und führten zur Entwicklung eines Shuttles. Auf den in Triest (IT) gebauten Prototyp folgte sogar noch ein zweiter, Asapp 1, mit dem drei Container gleichzeitig transportiert werden können. Aber all das blieb in der Schublade.“ Das Capoeira-Projekt, das mit 0,5 Mio. EUR vollständig von der Kommission finanziert wird, plant eine reflexive Phase bis 2008. Bevor die Zukunft in Angriff genommen wird, ist eine erste Phase erforderlich, bei der die vergangenen Projekte auf die Gründe für ihr Scheitern untersucht werden. Für Jean-Louis Deyris, der ebenfalls für Capoeira tätig ist und methodologische Fragen behandelt, „stellen die angetroffenen Hindernisse eine komplexe Problematik dar, die die einfache Kostenfrage übersteigt. Wir verwenden einen systemischen transversalen Ansatz, um die Kriterien für Erfolg oder Scheitern zu bestimmen. Diese gleichfalls empirische Arbeit zeigt die sehr unterschiedlichen Faktoren und berücksichtigt die Bedürfnisse der Beteiligten – Reeder und Hafenbetreiber – sowie die Art, wie Forschung im Rahmen der Europäischen Kommission organisiert wird. Auch der Markt hat sich entwickelt, vom Angebot der Industriebetriebe, das den Betreibern aufgezwungen wurde, hin zu einem System, in dem der Bedarf der Akteure berücksichtigt wird.“ … und die Ausnahmeerscheinung „Hafen“ Die Unfähigkeit der Akteure, sich zusammenzusetzen und zusammenzuarbeiten, erschien als einer der Hauptgründe für das Das Leben der Häfen in Zahlen D ie Häfen sind die Knotenpunkte bei der Verteilung von Waren auf die Binnennetze: Wenn es hier „hängt“, ist die gesamte nachgelagerte Versorgungskette betroffen. Das spricht für ihre zentrale Bedeutung, wenn man beachtet, dass 3,5 Mrd. Tonnen Waren jährlich in den 1 000 europäischen Häfen umgeschlagen werden, die 90 % des äußeren und 43 % des inneren Handelsvolumens des Kontinents ausmachen. Aneinandergereiht würden diese Container halb um die Erde reichen. Die Häfen der Union sind auch Stätten des menschlichen Lebens. Dem Jahresbericht 2006-2007 der ESPO (3) zufolge haben 2005 in den Häfen 500 Millionen Passagiere Schiffe bestiegen oder verlassen, das sind nahezu zwei Drittel der Europäer. Der Sektor beschäftigt 350 000 Menschen, wenn man die direkt mit den Hafentätigkeiten verbundenen Dienstleistungen einbezieht. Schließlich beherbergt ein europäischer Hafen als Küstenlebensraum im Durchschnitt 250 Seetierarten, 70 Vogelarten und 60 Pflanzenarten. © ESPO und die Häfen können keine ausreichende Aktivität aufnehmen, damit die erforderlichen Infrastrukturen gebaut und die Umschlaggeschwindigkeit der Waren erhöht werden könnten. Diese Leistungsfähigkeit ist jedoch ein Schlüsselfaktor für die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Straßentransport. research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 39 VERKEHR des enormen Handlungsbedarfs in den europäischen Häfen. Sturm naht In der Tat, Europa ist im Rückstand. Die größten Häfen der Union konnten nicht schnell genug expandieren, um die exponentiell wachsenden Exporte aus Asien abwickeln zu können. In Rotterdam wurde beispielsweise die Erweiterung durch umwelttechnische Probleme blockiert. Dadurch kommt es zu chaotischen Stauungen, Lieferverspätungen und sogar zur Umleitung von Schiffen, weil einfach nicht genügend Anlegeplätze zur Verfügung stehen. Die Partnerhäfen beginnen zu zweifeln. Im ersten Quartal 2007 wurden aus diesem Grund 73% der Container mit Verspätung entladen. Und nach Angaben der europäischen Organisation der Seehäfen, ESPO (3), dürfte sich der Seetransport zwischen 2006 und 2015 verdoppeln. Im Rahmen einer vorläufigen Schlussfolgerung erklärt Deyris: „Es stehen große und einschneidende Maßnahmen an, wie beispielsweise der Bau von Hochseehäfen und die sich daraus Häfen als Zufahrten auf die „Autobahnen“ des Meeres J edes Jahr verstopfen Staus 10 % des europäischen Straßennetzes und verursachen einen Verlust von 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts. Allein in der EU der 15 dürfte der Frachtverkehr bis 2010 um 70 % steigen. Die Straße überschreitet mit ihren Infrastrukturkosten, ihrer Belastung für die Landschaft, ihrem Anteil von 90 % an den CO2-Emissionen des Verkehrssektors ihren Sättigungspunkt, und die Räder der Maschine „Transport“ blockieren. Eine Neuorganisation ist unausweichlich. Dieses Ziel verfolgt das Projekt Meeresautobahnen der Generaldirektion Umwelt und Transport, das sich auf den Seetransport für Kurzstrecken konzentriert. Diese Transportart verzeichnete zwischen 1995 und 2002 einen Zuwachs von 25 %. Sie ist sicherer, staufrei, wirtschaftlicher im Treibstoffverbrauch und gleichzeitig auch wettbewerbsfähiger in Bezug auf Zeit und Kosten als die meisten Straßenrouten – vor allem im Hinblick auf natürliche Hindernisse, wie Gebirgszüge. Obst und Gemüse, das jährlich an Bord von 60 000 LKW von Spanien nach Irland und England gebracht wird, wäre auf dem Seeweg 600 bis 1 200 km weniger unterwegs. Aber diese verderblichen Produkte können nicht einen Tag lang an der Mole stehen. Der Seetransport muss sein Dienstleistungsangebot intensivieren können, um die kontinuierliche, sich über Asphalt, Schiene und Wasserwege ergießende Warenflut aufnehmen zu können. Die Entwicklung der Seefahrt (30% des Forschungsbudgets des 6. Rahmenprogramms für den maritimen Sektor) erhält tatsächlich eine breitere Perspektive, indem sie alle Arten des Transports und ihr Ineinandergreifen mit einbezieht. Dieser multimodale (im Zusammenhang mit Containern intermodale) Ansatz ist einer der Schlüssel der EU-Politik. Er fordert ein Überdenken des gesamten Transport-Managements, natürlich eine Erhöhung der Frequenz der Seeverbindungen, aber auch die Definition echter Logistikketten, die den Fluss aller Transportarten organisieren und auf eine begrenzte Anzahl an Zielhäfen konzentrieren, die die Verbindung zu den „Meeresautobahnen“ herstellen. Vier große Korridore wurden bereits festgelegt: in der Ostsee, in Westeuropa, in Südost- und in Südwesteuropa. 40 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 ergebende neue Verteilungslogistik. Aber weder die Forschung noch die Branche selbst sind heute reif genug, um dieser Entwicklung ins Auge zu sehen. Allerdings scheint sich die Tendenz seit kurzem umzukehren: Große Häfen äußern den Wunsch, an laufenden oder künftigen Projekten teilzunehmen.“ DDH (1) Coordinated Action of Ports for integration of efficient innovations and development of adequate research, development and innovation activities. (2) In einem großen europäischen Hafen werden jedoch demnächst Versuche durchgeführt. (3) European Sea Port Organisation. www.capoeiraproject.com ec.europa.eu/transport/white_paper/ Die Aktivität der Häfen wird in Mio. TEU gemessen. Rotterdam (NL) beispielsweise wird mit 9,3 bewertet, Antwerpen (BE) mit 6,5 und Algesiras (ES) mit 3,2. TEU bedeutet „Twenty-foot Equivalent Unit“ und ist die Standardeinheit als Maß für den Transport von Containern, die i.d.R. diese Länge (etwas über 6 m) aufweisen. © ESPO © ESPO Scheitern der Initiativen. „Die Häfen stehen in Konkurrenz, wenn es um die Akquise und den Erhalt des Verkehrs geht. Wenngleich es einige wenige Projekte gibt, die sieben oder acht Partner vereinen, behält in aller Regel jeder sein Know-how für sich. Einige haben sogar ihre eigene Technik. Und das, obwohl in anderen stark wettbewerbsbestimmten Sektoren, wie Luftfahrt- und Automobilindustrie, die Forschung von mehreren Akteuren gemeinsam betrieben wird und sich das Konkurrenzverhalten auf die speziellen Anwendungen des Einzelnen reduziert“, so Deyris weiter. Zudem ist in bestimmten Ländern ein Mangel an Konzertierung der Sozialpartner zu beklagen. Die Phase der Analyse früherer Projekte mündet in eine Erarbeitung von Empfehlungen, die am 19. Oktober in Paris präsentiert wurden. „Die Ergebnisse wurden von der gesamten Gemeinschaft mit Spannung erwartet“, erklärt Deyris, „denn bevor wir Zukunftsszenarien erstellen, haben wir uns die für eine Analyse notwendige Zeit genommen.“ Und das trotz NAVIGATION Ein Kontrollturm für den Verkehr auf den Meeren Informationen von ESPO(1) zufolge werden in den 1 200 Seehäfen der europäischen Küsten jährlich über 3 Mrd. Tonnen Waren verladen. Rund 20 000 Schiffe kreuzen ständig vor unseren Küsten: für die Überwacher der Meere ist das ein wirkliches logistisches Puzzle. Denn dieser dichte Verkehr erzeugt eine regelrechte Flut an Informationen, die zwischen den Schiffen selbst, aber auch mit den Küstenwachen ausgetauscht werden. Seit November 2004 versucht das Forschungsprogramm MarNIS – Maritime Navigation and Information Services – diesen Informationsfluss zu rationalisieren und zu organisieren, um Unfallrisiken einzudämmen. H erald of Free Enterprise, Erika, Prestige… Diese Namen sind noch in Erinnerung: Menschenleben gingen verloren, Ölpest, Vögel mit verklebten Federn. Das darf nie wieder passieren! Unfälle auf dem Meer geschehen jedoch immer noch allzu häufig, mit oder ohne Umweltkatastrophe, mit und ohne menschliches Drama. Vor allem Fischer sind Risiken ausgesetzt: Die tödlichen Arbeitsunfälle in diesem Berufsfeld weisen ein beunruhigendes Größenverhältnis auf. Es liegt bei 2: 1 000. Dagegen liegt dieses Verhältnis in anderen Risikosektoren, beispielsweise im Baugewerbe oder im Bergbau, bei „nur“ 0,3: 1 000. Sehr häufig geschehen diese Unfälle aufgrund von Kommunikationsmängeln zwischen den Schiffen. AIS, überall und immerzu Zur Lösung dieses Problems lautet der Vorschlag der Europäischen Kommission, alle Schiffe und Fischereiboote mit einer Kiellänge von über 15 m zwingend mit einem sogenannten AIS-Gerät (Automatic Identification System) zur automatischen Identifizierung auszustatten. Nach den Vorschriften der Internationalen Schifffahrtsorganisation IMO (International Maritime Organisation) dagegen sind diese Geräte nur für Handelsschiffe mit einer Last von mehr als 300 brt – 300 Bruttoregistertonnen, also 849 m³ – und für Passagierschiffe Pflicht. – Aber was ist ein AIS? Dieses Identifikationssystem besteht aus einem Gerät, mit dem automatisch über eine hohe Frequenz (VHF) Nachrichten ausgetauscht werden. Das AIS ist mit anderen Navigationsinstrumenten des Schiffes – Positionsanzeiger, Geschwindigkeitsmesser, Kursanzeiger usw. – gekoppelt und sendet in regelmäßigen Intervallen ein Informationspaket aus, anhand dessen andere Schiffe und die Küstenüberwachungssysteme die Position des Schiffes ganz genau bestimmen können. Es liefert auch zusätzliche Informationen über die Ladung, die Größe, den Zielhafen und andere wichtige Einzelheiten. Gleichzeitig empfängt das AIS dieselben Informationen von den anderen Schiffen in seiner Nähe und fügt sie zusammen. „Mit diesem System kann die Sicherheit auf dem Meer ganz erheblich verbessert werden“, bestätigt Gabriele Mocci, Leiter für Studien zur Breitbandkommunikation auf See bei Telespazio (IT). „Aber um die Effizienz zu erhöhen, müsste dieses System weltweit auf allen Schiffen eingeführt werden.“ Und genau diesen umfassenden Einsatz möchte die Kommission wenigstens auf europäischer Ebene durchsetzen. MarNIS für ein integriertes Management „Mithilfe des Forschungsprogramms MarNIS“, erklärt der Projektkoordinator Cas Willems, „will die Kommission die Möglichkeiten des AIS weiterentwickeln.“ Das ehrgeizige Ziel von MarNIS, das im November 2004 mit über 40 Partnern – einer davon Telespazio – gestartet wurde, ist die Verbesserung der globalen Sicherheit in europäischen Gewässern. „Um dieses Ziel zu erreichen, spielen Telekommunikationssysteme eine ausschlaggebende Rolle“, unterstreicht der Koordinator von MarNIS. „Wir versuchen vor allem, die Informationen des AIS besser mit anderen Informationen zu koppeln. Dazu zählen Satellitenbilder, Daten von Beobachtungssystemen wie LRIT (Long Range Identification and Tracking Systems), Standortbestimmungsinstrumente wie GPS und Galileo oder auch Kartenanzeigesysteme. Durch die Integration aller Daten und mit Hilfe ihrer grafischen Darstellung in einer einzigen Schnittstelle könnte der Seeverkehr über ein zentrales Kontrollzentrum gesteuert werden, so wie das auch in der Luftfahrt gemacht wird.“ Matthieu Lethé (1) Vereinigung der Europäischen Seehäfen (ESPO – European Sea Port Organization). www.marnis.org research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 41 OZEANOGRAFISCHE FORSCHUNG BEWERTUNG: EXZELLENT Im Juni 2007 führte die Konferenz EurOcean (1) die wichtigsten Vertreter der europäischen Meeresforschung rund um die Frage nach der Rolle der Meereswissenschaften und -technologien in Europa zusammen. Eine solche Veranstaltung hatte bislang noch nicht stattgefunden. Im Hinblick auf die Kenntnisse über Ozeane und Datenverarbeitung steht Europa weltweit an der Spitze und muss diese Position pflegen und weiterentwickeln. Das macht sich in einer intensiveren Koordination auf europäischer Ebene zwischen den spezialisierten nationalen Einrichtungen bemerkbar, aber auch in der Durchführung ehrgeiziger Forschungsprogramme, um diese Spitzenposition dauerhaft zu bewahren und ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial optimal zu nutzen. – Ein Einblick in einige bedeutende Stützpfeiler der europäischen meereskundlichen Exzellenz, die bereits einen sehr hohen Maßstab ansetzen. der Azoren, diese Dynamik besser zu erfassen und sie mit anderen Meeresregionen der Welt im Hinblick auf Biologie, Physik, Chemie und Geologie in einen Zusammenhang zu stellen. © Cédric d'Udekem d'Acoz www.awi.de/de/ DOP/Universität der Azoren I Abteilung für Meereskunde und Fischereiwesen (PT) Die Azoren, die von unausgewerteten Reichtümern nur so überquellen, ziehen die Meereskundler aus allen Spezialgebieten an. An der DOP/UAç werden in erster Linie Forschungen zur Beschreibung, Erprobung und Modellierung ozeanischer Systeme durchgeführt. An Bord des Forschungsschiffs Arquipélago bemüht sich die junge Mannschaft von der Universität Storegga-Kontinentalhang an der norwegischen Küste. IFREMER I Institut de recherche pour l’exploitation de la mer (FR) Dieses Zugpferd der französischen Meeresforschung arbeitet an 25 Küstenstandorten in Frankreich und in den Überseedepartements. Seine Hauptaufgaben sind der dauerhafte Betrieb meereskundlicher Ressourcen, die Überwachung und der Schutz der marinen Küstengebiete sowie die wirtschaftliche Entwicklung der maritimen Welt. www.horta.uac.pt/ Amphipode der Antarktis. AWI I Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (DE) Als Spezialist in diesem Bereich koordiniert das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur für die Forschungen in Arktis und Antarktis zur Verfügung. Es ist der Initiator der Polarstern, einem riesigen Eisbrecher, der seine erste Forschungsexpedition zur Untersuchung des Lebens auf dem Meeresboden der Antarktis durchgeführt hat (siehe research*eu 52). © Ifremer/Vicking 2006 www.ifremer.fr ICES I International Council for the Exploration of the Sea (DK) Das ICES gewährleistet die Koordinierung und die Förderung der Meeresforschung im Nordatlantik und in anderen angrenzenden Meeren, wie der Ostsee und der Nordsee. Diese Organisation ist ein Knotenpunkt für über 1 600 Wissenschaftler aus 20 Ländern des Nordatlantiks. Ihre Zielsetzung: alle möglichen Informationen über das marine Ökosystem sammeln und Wissenslücken schließen. IOPAN I Institute of Oceanology Polish Academy of Sciences (PL) Das IOPAN ist das größte meereskundliche Institut Polens. Im Jahr 2003 wurde ihm von der EU der Status des Exzellenzzentrums für Meereswissenschaften mit Schwerpunkt auf dem Ostseeraum verliehen. Es befasst sich hauptsächlich mit dem Ostseeraum sowie mit dem Nordatlantik und den europäischen Arktisregionen. www.iopan.gda.pl www.ieo.es www.nioz.nl © NOCS Tauchender Forscher NOCS I National Oceanographic Center Southampton (UK) Das NOCS liegt auf einem Campus am Meer und ist eines der fünf größten Meeresinstitute der Welt. Seine 520 Wissenschaftler bilden die Basis sowohl für eine nationale ozeanografische Forscherflotte als auch für strategische Programme für den nationalen Umweltforschungsrat NERC (National Environmental Research Council). Es unterstützt den Wissenstransfer, indem es sein Fachwissen mit der Regierung, den Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen teilt. www.noc.soton.ac.uk © Stein Sandven, NERSC. Polarbär auf einem Logo eines Instituts, bedroht durch Klimawandel und die Eisschmelze. www.ices.dk/ IEO I Instituto Español de Oceanografia (ES) Dieses multidisziplinäre Forschungszentrum befasst sich in erster Linie mit Problemen, die durch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und durch die Umweltverschmutzung entstehen. Durch Forschungs- und Beratungstätigkeiten trägt das IEO zur Entwicklung und Pflege industrieller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Aktivitäten bei, die mit der nachhaltigen Nutzung der Ozeane zusammenhängen. und den Binnenmeeren befasst, und sieht sich selbst im Rahmen des Möglichen als ein Katalysator für die Entscheidungsfindung auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. © NIOZ Forschungsschiff Pelagia. NIOZ I Royal Netherlands Institute for Sea Research (NL) Gegründet 1876 ist das NIOZ eine der ältesten meereskundlichen Einrichtungen Europas. In enger Zusammenarbeit mit Physikern, Chemikern, Geologen und Biologen bemüht es sich um eine multidisziplinäre Forschung, die sich hauptsächlich mit den Küstengebieten NERSC I Nansen Environmental and Remote Sensing Center (NO) Das NERSC bemüht sich um ein besseres Verständnis und die Überwachung der ökologischen und klimatischen Fluktuationen sowohl auf regionaler als auch auf globaler Ebene. Es befasst sich vor allem mit der Modellierung der Ozeane, mit der Erarbeitung von Daten, der Fernerkundung und der Klimaforschung. www.nersc.no/main (1) www.eurocean2007.com/ 42 research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 NRO DIE STACHEL DER ZIVILGESELLSCHAFT Ihre leidenschaftlichen Aktionen und ihre menschliche Prägung rütteln die Öffentlichkeit wach. Einer Umfrage von Euractiv (1) zufolge sind Nichtregierungsorganisationen (NRO) die effizientesten Kommunikatoren, um der Debatte zwischen der EU und ihren Bürgern Tiefe zu verleihen. Sie werden zu wahren Lobbys und können Druck auf politische Entscheidungsträger und Unternehmensleiter ausüben, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn das Meer in Gefahr ist, läuten die emblematischsten NRO die Alarmglocken. Greenpeace, die Agitatorin Als echte Aktivistin für den Schutz des Planeten klagt Greenpeace offen alle Übeltäter der Ozeane an und konfrontiert sie mit ihren Missetaten. Ihr Talent wurzelt in ihrer Fähigkeit, die Bürger direkt anzusprechen, indem sie besonders auffällige und medienwirksame Aktionen durchführt. Die spektakulären Kampagnen im Kampf gegen den Walfang in Japan – bei denen sich die Aktivisten direkt in die Schusslinie der Harpunen stellten, um die Wale zu schützen – sind zum wichtigsten Markenzeichen der Organisation geworden. Seit 2002 führt die Esperanza – ihren Namen hat das Schiff von den Cyberaktivisten von © Greenpeace/Daniel Beltrá Im Kampf gegen die Walfänger nähert sich die Esperanza der Stadt Sydney. Greenpeace – ganz besondere Missionen durch, wie zum Beispiel die Kampagne gegen die Fischkutter, die im Ärmelkanal Delfine töteten, oder gegen die Schleppnetzfischerei im Nordatlantik. Auf dem vergangenen Weltozeantag (8. Juni 2007) hat Greenpeace drei vorrangige Themen in ihrer Sensibilisierungskampagne vorgebracht: den Schutz des Roten Thunfischs, der weitgehend überfischt ist, die Notwendigkeit, die Verbraucher über die dringende Erweiterung der Vielfalt der konsumierten Arten zu informieren, und die Einrichtung eines großen Netzes von Meeresschutzzonen für 40 % der Ozeane. Dadurch könnten die Ökosysteme wiederbelebt werden und sich die Populationen im Meer erholen. oceans.greenpeace.org/fr/ WWF, die Diplomatin Der WWF (World Wide Fund for Nature), die größte unabhängige Organisation zum Schutz der Natur auf der Welt, hat sich stark der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet. Seine Expertengruppen sind in über 40 Ländern tätig und schenken ihre Aufmerksamkeit vor allem 20 maritimen Ökoregionen, zu denen auch die Eiskappen am Nordpol und die Korallenriffe gehören. Um seine Mission besser durchführen zu können, hat der WWF ein EU-Verbindungsbüro in Brüssel eingerichtet, das wie ein Katalysator für die Einflussnahme wirkt und einfühlsam auf Entscheidungen auf europäischer Ebene einwirken kann. Durch eine breite und übergreifende Vision für den Schutz der Meere reiht sich der WWF in die neue europäische Strategie für die Meere ein – man könnte auch sagen, dass er sich von ihr inspirieren lässt. Er arbeitet eng mit Wissenschaftlern, Fischern, Wirtschaftswissenschaftlern, Rechtsanwälten, Lobbyisten und anderen Kommunikationsexperten zusammen, um sein eigenes Meeresprogramm durchzuführen. Der WWF hat 2002 eine Kampagne gestartet, mit der die gemeinsame Fischereipolitik Europas geändert werden sollte. Ihre Ziele bis 2020: Einführung eines besonders nachhaltigen Fischereisystems und die Gründung von Meeresschutzzonen für 10 % der Ozeane. Friends of the Earth International, die Solidarische Seit 1969 mobilisiert das größte Ökologennetz der Welt (70 Länder) gegen aktuelle Umweltprobleme, indem es diese in einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontext stellt. Diese Freunde der Erde handeln wie eine Art Dachverband, wobei jedes Mitglied in seinen eigenen Aktionen autonom bleibt. Friends of the Earth ist bei öffentlichen Veranstaltungen (Festivals, friedliche Demonstrationen) präsent und verbreitet eine Botschaft, die sich selbst als sachbezogen und zentral sieht. Durch ihre Bemühungen für die Durchführung gemeinsamer Aktionen mit Vereinigungen, Gewerkschaften und anderen gleich gesinnten Gesellschaftsbewegungen sensibilisiert diese NRO den Bürger im Hinblick auf seine aktive Rolle beim Schutz der Umwelt. So vereint das Mittelmeerprogramm MedNet seit 1992 die Mitgliedsorganisationen in Kroatien, Zypern, Frankreich, Italien, Spanien, Tunesien und im Mittleren Osten, um alle Umweltschutzbewegungen rund ums Mittelmeer zu stärken. Am Ende hofft MedNet, ein Tourismusmodell zu entwickeln, das Abfallmanagement in der Region zu organisieren und – bis 2010 – die Folgen der Gründung einer europäischen Freihandelszone im Mittelmeerraum vorauszusehen. www.foeeurope.org/ (1) www.euractiv.com Beschützer der Ozeane Seas at Risk www.seasatrisk.org European Bureau for Conservation & development (EBCD) www.ebcd.org Fondation Nicolas Hulot « Planète eau » www.planete-eau.org EUCC Die Küstenunion www.eucc.net Oceania www.oceania.org Deepwave www.deepwave.org www.worldwidelife.org/oceans/ research*eu SPEZIAL MEER I DEZEMBER 2007 43 © Ifremer/Campagne Phare 2002 KI-AH-07-S03-DE-C BILD DER WISSENSCHAFT Victor und die heißen Quellen Im östlichen Pazifik führt Victor 6000 Probenentnahmen und Messungen an einer Hydrothermalquelle in 2 630 m Tiefe durch. Dieser ferngesteuerte Unterwasserroboter ist Eigentum von Ifremer und spielt eine Schlüsselrolle im Projekt „Phare 2002“. Er hilft den Forschern, die Funktionsweise der in diesen heißen Umgebungen – manche Quellen sind bis zu 350 °C heiß – lebenden Artengemeinschaften zu analysieren, die Ende der 1970er Jahre entdeckt wurden. Seitdem leistet Victor 6000 dort seinen Dienst. Der Roboter ist mit acht Kameras ausgestattet. Im Rahmen der Momerato-Expedition erkundete er 2006 das unterirdische Leben der hydrothermalen Emissionen auf dem Mittelatlantischen Rücken südlich der Azoren.