Christoph Lumer RATIONALER ALTRUISMUS Eine prudentielle Theorie der Rationalität und des Altruismus 2., durchgesehene und ergänzte Auflage mentis PADERBORN Nachwort zur zweiten Auflage Nachwort zur zweiten Auflage Die erste Fassung dieses Buches – die von der vorliegenden nur wenig abweicht – habe ich 1992 an der Universität Osnabrück als Habilitationsschrift im Fach Philosophie eingereicht. Die in ihm entwickelten Theorien sind weitgespannt, innovativ, im Detail ausgefeilt und weit ausgreifende konstruktive Beiträge zur Handlungstheorie, zur rationalen Nutzen- oder Wünschbarkeitstheorie und zur Theorie des moralisch Guten. Da das Buch aber wegen des akademischen Zwecks recht technisch ist und ich ursprünglich gerne noch ergänzende Diskussionen eingefügt hätte, habe ich es zunächst nicht publiziert. Erst 2000 ist es, wiederum aus akademischen Gründen, innerhalb kürzester Zeit im Universitätsverlag Rasch, Osnabrück, in erster Auflage veröffentlicht worden. Diese erste Druckfassung war im wesentlichen identisch mit der Habilitationsschrift. Ich hatte nur einige Literaturhinweise ergänzt und wenige Stücke gestrichen. (Vor allem die Diskussion der Habermasschen Diskursethik war schon 1997 separat veröffentlicht worden (Lumer, Habermas) und ist deshalb in die erste Auflage des "Rationalen Altruismus" nicht aufgenommen worden.) Der Verlag Rasch ist inzwischen in den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht aufgegangen, und das Buch "Rationaler Altruismus" ist seit Ende 2008 nicht mehr lieferbar. Ich freue mich, daß nun die zweite Auflage des Buches "Rationaler Altruismus" im Mentis-Verlag erscheint, und danke dem Mentis-Verlag und insbesondere Michael Kienecker für die Aufnahme in das Verlagsprogramm und die gute Kooperation! Die zweite Auflage ist gegenüber der ersten unverändert; es wurde lediglich das ausführliche Register hinzugefügt, das den Weg durch die vielen Definitionen und Theorieteile erleichtern möge. Die Wiederveröffentlichung, trotz 17 Jahren Abstandes von der Beendigung des Manuskripts, empfahl sich wegen der ungebrochenen Aktualität der in dem Buch entwickelten Theorien. Eine starke Begründung moralischer Prinzipien ist ein dauerndes Desiderat, zumal in Zeiten fundamentalistischer Bedrohung, skrupelloser Macht- und Habgier sowie interkultureller Wertkonflikte. Aber die Idee einer solchen Begründung hat in der aktuellen Ethik nicht gerade Konjunktur. Die Metaethik hat sich (nach den in dieser Hinsicht fruchtbareren 1970er und 1980er Jahren) wieder erheblich von der kriteriologischen oder Prinzipienethik entfernt; und der aktuell florierende ethische Realismus mit der illusorischen Annahme, man brauche die richtige Ethik nur zu entdecken, behindert auch konstruktivistische Begründungsansätze, wie sie im vorliegenden Buch entwickelt werden. In der gegenwärtigen kriteriologischen Ethik selbst dominiert hingegen der methodische Intuitionismus, der sich einer starken Moralbegründung verschließt, statt dessen einfach auf die Intuitionen des jeweiligen Theoretikers vertraut – argumentationstheoretisch gesehen eine permanente Petitio principii. Insofern liefert die ethische Theorie des "Rationalen Altruismus" mit ihrer starken methodischen Begründung nach wie vor einen markanten Beitrag zu einer Diskussion, die dringend verstärkt werden müßte. Die hier verfolgte prudentialistische Strategie der Moralbegründung, also durch eine prudentielle Verbesserung der Theorien des (persönlichen) Guten sowie der individuellen Rationalität eine intuitiv akzeptablere rationale Begründung von Moral zu erreichen, ist eben- 653 Anhang falls nach wie vor vielversprechend. Einer der wenigen seit der Abfassung dieses Buches erschienen alternativen prudentialistischen Ansätze der Moralbegründung stammt von Christoph Fehige (Fehige, Soll ich?). Gegenüber dem vorliegenden Werk hat es jedoch u. a. den Nachteil, daß wegen der fehlenden handlungs- und motivationspsychologischen Fundierung die in ihm aufgestellten Rationalitäts- und Moralitätsforderungen an motivationspsychologischen Gegebenheiten vorbeigehen. Durch die im "Rationalen Altruismus" vorgeschaltete empirische Handlungstheorie wird dieses Problem hingegen vermieden. Der hier gewählte starke dreistufige Aufbau von empirischer Handlungstheorie, prudentieller Rationalitäts- und Wünschbarkeitstheorie sowie rationalistischer, altruistischer Ethik findet sich m. W. überhaupt nur in Richard Brandts "Theory of the Good and the Right" (Brandt, Good). M. E. ist Brandts Theorie ein weitgehend unterschätzter paradigmatischer struktureller Ansatz der Moralbegründung. Allerdings krankt seine inhaltliche Durchführung schon an der Handlungstheorie: Brandts spätbehavioristische Handlungspsychologie ist nicht nur inzwischen veraltet; da sie keinen Aufschluß über die kognitiven Vorgänge bei der Entscheidung gibt, liefert sie auch keine Grundlage für eine detailliertere kognitive Rationalitätstheorie. Insofern stellt die Theorie des "Rationalen Altruismus" immer noch die einzige aktuelle Ausarbeitung dieses dreistufigen Begründungskonzepts dar. Die in den Kapiteln 3 und 5 vorgelegte empirische Handlungstheorie mit ihren Handlungsgesetzen liefert bislang als einzige eine aktuelle, vollständig ausgearbeitete systematische Basis für eine kognitive prudentialistische Rationalitätstheorie. Dies alleine bedeutet schon einen großen Fortschritt gegenüber – zum großen Teil sogar nur impliziten – handlungstheoretischen Ad-hoc-Annahmen, die heutzutage in der philosophischen Rationalitätstheorie und Ethik üblicherweise gemacht werden. (Hume beispielsweise hatte demgegenüber die handlungstheoretischen Voraussetzungen seiner Rationalitätstheorie und die moralpsychologischen Voraussetzungen seiner Ethik in systematischen Theorien ausgearbeitet.) Zudem enthält die in den Kapiteln 3 und 5 entwickelte Handlungstheorie eine ganze Reihe einzelner innovativer Theorieteile und Hypothesen, die u.a. bekannte, aber verwickelte Phänomene erklären: die Theorie der Dynamik innerer Bewertungsfunktionen (Abschn. 3.6), die Konzeption der Affekthandlungen sowie der antizipierend affektiven Bewertungsfunktionen (Abschn. 5.3) und des persönlichkeitstheoretisch korrigierten Hedonismus (Abschn. 5.4), das axiologische Handlungsgesetz mit der Flexibilisierung der Kriterien für die schliche Wünschbarkeit (Abschn. 3.4) usw. M. W. sind in der Zwischenzeit keine alternativen und besseren Erklärungsvorschläge für die genannten Phänomene entwickelt worden. Die stärkste prudentielle philosophische Theorie der Rationalität und des Guten (der Wünschbarkeit), die von Philosophen (in der einen oder anderen Version) mit Abstand am breitesten akzeptiert ist, ist der Volle-Informations-Ansatz. Danach ist p besser für ein Subjekt als q, wenn dieses Subjekt p bei voller Information über (und lebendiger Repräsentation von) p und q (inklusive deren Konsequenzen) dem q vorziehen würde. Die ausgearbeitetste Version dieser Theorie ist immer noch die von Brandt (Good, Teil 1); andere Varianten stammen z. B. von Griffin (Well-being) und Egonsson (Preference). Diese Theorie hat aber, trotz ihrer Popularität, eine Reihe von Schwächen. U. a. sind Menschen nie voll informiert und könnten sich diese Informationen auch nie alle gleichzeitig lebendig repräsentieren; wir wissen deshalb nicht, wie voll informierte Personen entscheiden; und selbst wenn wir alle Informationen hätten, würde uns die Theorie keinen Rat geben, wie wir auf 654 Nachwort zur zweiten Auflage dieser Basis entscheiden sollten. Ein großer Teil dieser Probleme entsteht dadurch, daß VolleInformations-Ansätze holistische Black-box-Theorien sind, die einen bestimmten Input fordern – volle Information – und Rationalität dann über den zugehörigen Output definieren, ohne aber etwas über die Funktionsweise der black box Entscheider zu sagen. Die oben, in Kapitel 4, entwickelte Wünschbarkeitstheorie ist m. W. die einzige grundlegende prudentialistische und präferentialistische Alternative zu diesem Ansatz. Sie ist analytisch – basiert auf einer Detailanalye möglicher Entscheidungsmodi (Kap. 3 und 5) – und synthetisch, schreibt in ihren Definitionen und Rationalitätsmaximen genau vor, wie die Wünschbarkeit auf der Basis entsprechender Informtationen zu bestimmen ist, wobei sich diese Vorschriften an den aufklärungsstabilen Entscheidungsmodi orientieren. (Richard Brandts Wünschbarkeitstheorie, die ja ebenfalls mit einer empirischen Handlungstheorie verbunden ist, konnte diese Art von Synthese wegen des behavioristischen Zuschnitts der von ihm verwendeten Handlungspsychologie nicht leisten, der eben keine Informationen über die genauen Entscheidungswege liefert.) Damit vermeidet sie die sich aus dem Holismus ergebenden Probleme des Volle-Informations-Ansatzes. Die hier vorgelegte prudentielle Wünschbarkeitstheorie ist deshalb eine starke und bessere Alternative zum Mainstream. Als ich 1992 die moralische Wünschbarkeitsfunktion Utilex entwickelt habe (s. o. Abschn. 7.2-3), lag die Idee einer Synthese aus ökonomischem, aber gegenüber Verteilungsproblemen intrinsisch indifferentem Utilitarismus und gerechtigkeitsorientiertem, aber unökonomischem und gegenüber Gutgestellten hartherzigem Leximin / Maximin (Rawls) in der Luft: Das verbesserte moralische Wünschbarkeitskriterium sollte die Interessen der schlechter Gestellten stärker berücksichtigen als die der besser Gestellten, aber nicht unendlich viel besser. Thomas Nagel ist m. W. der erste Philosoph, der derartige Ideen veröffentlicht hat, sie aber noch für egalitaristisch hielt (Nagel, Tanner); aber auch Ökonomen haben schon in den 1980er Jahren nach solchen Synthesen Ausschau gehalten.1 In 1995 und 1997 veröffentlichten Aufsätzen hat Parfit diese Idee erstmalig "priority view" genannt (Parfit, Priority; Parfit, Lindley), worauf die deutsche Bezeichnung "Prioritarismus" zurückgeht. Utilex ist also eine prioritaristische moralische Bewertung. Der Prioritarismus ist (zwischen 1978 und 1995) anscheinend mehrfach unabhängig voneinander erfunden worden; Utilex ist eine dieser Erfindungen; und der Prioritarismus erfreut sich heute wachsender Beliebtheit. Utilex ist aber in gewissen Hinsichten auch der aktuellen Diskussion des Prioritarismus voraus. 1. Utilex präzisiert den Prioritarismus quantitativ, modelliert ihn – als einzige mir bekannte Theorie – durch eine spezielle exponentielle Gewichtungsfunktion (s. o., S. 620 f.). Exponentielle Gewichtungsfunktionen sind die einzigen, die eine adäquate Modellierung eines in der Stärke beliebig kalibrierbaren Prioritarismus zwischen Utilitarismus als dem einen und Leximin als dem anderen Extrem erlauben (Lumer, Prioritarian 22-30). Die exponentiellen Gewichtungsfunktionen sind also die beste Modellierung des Prioritarismus. 2. Utilex zeichnet die exponentielle Gewichtungsfunktion Ge19 als moralische Wünschbarkeitsfunktion aus (S. 625627); und diese Auszeichnung ist durch die Empathieumfangsfunktion motivational, also internalistisch begründet. M. W. ist dies immer noch der bisher einzige begründete Vorschlag für eine quantitative Präzisierung des Prioritarismus und die einzige rationalistische Begründung des Prioritarismus. In manchen Anwendungsfällen wird man keine derartige 1 Zur Geschichte des Prioritarismus s.: Lumer, Prioritarian 1-4. 655 Anhang quantitative Präzisierung benötigen, in komplexeren Entscheidungssituationen ist aber für die Umsetzung der prioritaristischen Idee eine quantitative Präzisierung erforderlich. Utilex hat sich bei einem solchen Einsatz im Rahmen einer umfangreichen Studie, in der diverse Optionen zum Klimawandel verglichen wurden (Lumer, Greenhouse), als moralisches Bewertungskriterium gut bewährt. Der größte Teil der hier entwickelten Theorien und Thesen scheint mir nach wie vor richtig zu sein. Korrekturen, die ich heute vornehmen würde, betreffen für die Gesamtanlage eher unwichtige Teile. Beispielsweise ist die Handlungsdefinition (S. 133; 136 f.) zu einfach (der Absichtsbegriff wird vorausgesetzt, aber nicht definiert, und das Problem der abwegigen Absichtsverursachung ist nicht richtig gelöst); eine differenziertere und theoretisch besser untermauerte Definition steht vor der Veröffentlichung.2 Die gewichtigeren Veränderungen, die ich mir heute für das Buch wünschen würde, wären Ergänzungen der Diskussion und Vervollständigungen der Theorie. Zu ergänzen wäre beispielsweise: eine Diskussion der Handlungs- und Wünschbarkeitstheorie Richard Brandts; ein Bericht über die neueren Ergebnisse der Glücksforschung, die nach der Abfassung des Buches einen wahren Boom erlebt hat; eine Diskussion der nach Parfits Veröffentlichungen verstärkten Debatte über den Prioritarismus;3 vor allem aber eine ausführliche Diskussion der prinzipienethischen Alternativen zum Prioritarismus (die Diskussion von anderen ethischen Theorien bezieht sich in diesem Buch ja fast ausschließlich auf die methodischen Alternativen zum hier entwickelten prudentiellen Begründungsansatz (s. o., insbesondere die Abschnitte 2.3-5)). Die wichtigsten noch fehlenden Vervollständigungen der hier vorgelegten Theorie beträfen hingegen folgende Teile: die Handlungstheorie benötigt eine allgemeinere Ergänzung; die Moralpsychologie müßte noch weiter ausgebaut werden (Ansätze hierzu sind bereits: Lumer, Motive; Lumer, Kantischer); in die Theorie der moralischen Wünschbarkeit müßten noch das Achtungsmotiv und die Solidarität einbezogen werden; vor allem aber fehlt eine Vervollständigung des hier erst vorgelegten axiologischen Teils der Prinzipienethik um den normativen Teil, d. h. die Theorie der moralischen Gebote. Manches davon ist bereits vollendet, vieles in Arbeit, anderes noch gar nicht angegriffen. All diese Änderungswünsche in das Buch aufzunehmen hätte nicht nur dessen Rahmen gesprengt, sondern die Wiederveröffentlichung auch um Jahre verzögert. So scheint es deshalb am besten, die zweite Auflage des "Rationalen Altruismus" unverändert zu belassen, um die ausgearbeiteten Theorieteile wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und die Erweiterungen weiteren Publikationen vorzubehalten. Ich denke, das Buch bietet auch so Stoff genug für eine – hoffentlich – gewinnbringende Lektüre. So wünsche ich denn dem Leser eine anregende Auseinandersetzung mit dem Buch! Siena, im August 2009 Christoph Lumer 2 Der neue Lösungsvorschlag zum Problem der abwegigen Absichtsrealisierung ist bereits in Kurzfassung publiziert: Lumer, Abwegige. 3 Ein Beitrag zu dieser Debatte ist bereits: Lumer, Prioritarian. 656