Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin (GTE) GTE 2016 Einführung in die medizinische Ethik Dr. Timo Sauer, M. A. Dr. Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Klinisches Ethik-Komitee Überblick Moral, Ethik, angewandte Ethik I. Moral, Ethik und angewandte Ethik Ethik und Moral II. Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Moral (lat: mos=sitte, Gewohnheit, Charakter) ... ist die Gesamtheit der tradierten und durch Tradierung stabilisierten Verhaltensnormen einer Gesellschaft. III. Informed Consent IV. Klinische Ethik vs. Forschungsethik Ethik (gr: ethos=Charakter, Sitte, Brauch) ... ist die philosophische Reflexion auf Moral ... ist Moralphilosophie Moral, Ethik, angewandte Ethik Moral, Ethik, angewandte Ethik Ausdifferenzierungen des Ethik-Begriffs Differenzierung nach Geltungsanspruch → nach Geltungsanspruch → nach Methode → nach Begründungsansatz → nach Gegenstandsbezug → normative Prinzipien (Anspruch auf Allgemeingültigkeit) → evaluative Fragen des guten Lebens (kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit) Hintergrund: Pluralität der Lebensentwürfe 1 Moral, Ethik, angewandte Ethik Moral, Ethik, angewandte Ethik Differenzierung nach Methode Differenzierung nach Begründungsansatz → deskriptive Ethik → Deontologische Ethik → Utilitarismus → Tugendethik Die deskriptive Ethik beschreibt beschreibt und analysiert vorhandene moralische Haltungen und Überzeugungen. → normative Ethik Die normative Ethik begründet moralische Urteile und Einstellungen. Moral, Ethik, angewandte Ethik → Deontologische Ethik (Etymologie: Deon (gr.)= das Notwendige, die Pflicht) Moral, Ethik, angewandte Ethik Deontologische Ethik: Immanuel Kant (1724-1804) Der Kategorische Imperativ (Universalisierungsformel): Deontologische Ethiken sind Ethiken, die unbedingte Normen formulieren. Die Moralität von Handlungen wird primär im Hinblick auf die Übereinstimmung mit Normen beurteilt. (→ Pflichtethik). Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Grundlegungen zur Metaphysik der Sitten) Moral, Ethik, angewandte Ethik Deontologische Ethik: Immanuel Kant (1724-1804) Der Kategorische Imperativ (Selbstzweckformel) Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. Moral, Ethik, angewandte Ethik → Konsequenzialismus Der Konsequenzialismus ist ein Überbegriff für Ansätze, die die (moralische) Richtigkeit von Handlungen nach den Konsequenzen beurteilen. → Utilitarismus (Grundlegungen zur Metaphysik der Sitten) 2 Moral, Ethik, angewandte Ethik Vier Elemente des Utilitarismus 1. Die Moralität einer Handlung ergibt sich aus deren Folgen (Folgenprinzip). 2. Die Folgen werden nach dem Nutzen beurteilt (Utilitätsprinzip). 3. Bezugspunkt ist nicht das Gute im Hinblick auf bestimmte Ziele und Interessen, sondern das an sich Gute (z. B. das Wohlergehen). 4. Entscheidend ist nicht nur das Wohlergehen des Handelnden sondern das Wohlergehen aller Betroffenen (Aggregationsprinzip). Moral, Ethik, angewandte Ethik → Tugendethik Moral, Ethik, angewandte Ethik Utilitarismus: Jeremy Bentham (1748-1832) Utilitätsprinzip: Mit dem Prinzip des Nutzens ist jenes Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Gruppe zu vermehren oder zu vermindern, um deren Interessen es geht. (An Introduction to the Principles of Morals and Legislation) Moral, Ethik, angewandte Ethik Tugendethik: Aristoteles (384-322 v. Chr.) Für die Handlungsorientierung entscheidend ist die Entwicklung (u. A.) der vier Kardinaltugenden: Tugendethik ist der Überbegriff für Ansätze, die die Kultivierung bestimmter menschlicher (Charakter-) Eigenschaften (Tugenden) zum Zwecke einer „guten“ Lebensgestaltung thematisieren. - Klugheit - Gerechtigkeit - Tapferkeit und - Besonnenheit. Anschluss an die Medizinethik: Der tugendhafte Arzt, der gewohnheitsmäßig zum Wohl des Patienten handelt (Pelligrino / Thomasma 1993) Moral, Ethik, angewandte Ethik Deontologie, Konsequenzialismus, Tugendethik Moral, Ethik, angewandte Ethik Differenzierung nach Gegenstandsbezug Richtig handeln bedeutet... - nach der Tugendethik tugendhaft, - nach der deontologischen Ethik aus pflichtgemäß und - nach der utilitaristischen Ethik konsequenzenorientiert Angewandte Ethik ist Ethik bezogen auf einen distinkten gesellschaftlichen Bereich. → Bereichsethiken handeln. 3 Moral, Ethik, angewandte Ethik hph / FH Ludwigshafen Was ist medizinische Ethik? → Medizinethik ist die systematische Reflexion auf moralische Fragen des Gesundheitswesens → Grundlage der Bearbeitung von ethisch relevanten Entscheidungskonflikten in der klinischen Praxis → Medizinethik ist angewandte Ethik des Gesundheitswesens Klinisches EthikKomitee Timo Sauer M. A Moral, Ethik, angewandte Ethik Pragmatische Systematik der Medizinethik: der „Lifecircle“ → Lebensanfang → Lebensende → Sonstige Aspekte Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Die vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Normative Grundlagen der Medizinischen Ethik Prinzipienethik: Beauchamp, Tom L. / Childress, James F.: Principles of biomedical ethics (1979) Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Die vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik ● Prinzipienethische Grundlage der Klinischen Ethik ● Fürsorgeprinzip (beneficence) ● Prinzipien „mittlerer Reichweite“ (keine ● Autonomieprinzip (autonomy) Letztbegründung) ● Einfache und gut nachvollziehbare Form! ● Nichtschadensprinzip (nonmaleficence) ● Gerechtigkeitsprinzip (justice) ● Enthalten in ärztlichen Ethik-Kodizees (z. B. Charta der ärztlichen Berufsethik etc). 4 Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Prinzip (des Respekts vor) der Autonomie Prinzip der Fürsorge ● Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung ● (positive) Pflicht zur Hilfestellung ● Förderung der Wahrnehmung des Rechtes ● Pflicht zur Förderung und Erhaltung der körperlichen Integrität (Kontextsensibilität) ● Pflicht zur bestmöglichen Therapie ● Patienteneinwilligung bei medizinischen ● Pflicht zur Lebensverlängerung Maßnahmen („informed consent“) ● Pflicht zur Erhaltung und Steigerung der ● Anerkennung von Patientenverfügung / mutmaßlicher Wille bei Nichteinwilligungsfähigkeit Lebensqualität Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Das Prinzip des Nichtschadens Das Prinzip der Gerechtigkeit ● (negative) Pflicht zur Schadensvermeidung ● Gebot der Fairness ● Schaden impliziert Lebensverkürzung und ● Keine Diskriminierung wegen der ethnischen Zugehörigkeit, wegen Geschlecht oder politischer Meinung etc. Minderung der Lebensqualität ● Jeder ärztliche Eingriff ist ein „Schaden“ ● Verteilungsgerechtigkeit ● Rechtfertigung durch Patientenzustimmung nötig ● Rechtfertigung durch medizinische Indikation ist nötig (Minimalinvasivität!) ● gleicher Zugang zu materiellen und immateriellen Ressourcen ● faire Verteilungsmechanismen Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Prinzip Klassische Konflikte: Autonomie (autonomy) Prinzip Fürsorge vs. Autonomie (→ Einwilligung) Fürsorge vs. Nichtschaden (→ Indikation) Prinzip Fürsorge Gerechtigkeit (beneficience) (justice) → Wie können die einzelnen Prinzipien gewichtet werden? Prinzip Nichtschaden (nonmaleficience) 5 Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Primat der Autonomie! Prinzip Nichtschaden (nonmaleficence) Prinzip (nonmaleficence) Prinzip Autonomie Fürsorge (autonomy) (beneficence) Prinzip - - - Aus dem Autonomieprinzip folgt des Selbstbestimmungsrecht des Patienten, medizinische und pflegerische Eingriffe bedürfen der Einwilligung, der Patient muss in die Lage versetzt werden, eine eigenständige Entscheidung zu treffen (informed consent), das Recht auf Selbstbestimmung bleibt auch bei dauerhafter oder vorübergehender Nichteinwilligungsfähigkeit bestehen! Informed Consent (beneficence) Prinzip Gerechtigkeit (justice) Prinzipienethik (Beauchamp / Childress) Fürsorge (autonomy) Prinzip Autonomie als Leitprinzip der (westlichen) Medizinund Pflegeethik Prinzip Autonomie Gerechtigkeit - Prinzip Nichtschaden (justice) Informed Consent Informed Consent = Informierte Einwilligung → Aus dem Autonomieprinzip folgt: Die Einwilligung in medizinische Maßnahmen darf kein rein formaler Akt sein! Definition: Informiert ist die Einwilligung dann, wenn der Patient durch angemessene Aufklärung die Vor- und Nachteile einer medizinische Behandlung in vollem Umfang verstanden hat. Informed Consent Informed Consent = Informierte Einwilligung Informed Consent = Informierte Einwilligung → Die Aufklärung muss enthalten: Bedingung für den informed Consent: - Allgemeine Hinweise zu den Risiken → Einwilligungsfähigkeit des Patienten - spezielle Hinweise zu den Risiken im konkreten Fall - Erkenntnisfähigkeit - Alternative Behandlungsmöglichkeiten - Steuerungsfähigkeit → Die „informierte Einwilligung“ ist die (Rechts-) → ≠ Geschäftsfähigkeit Grundlage für einen medizinischen Eingriff 6 Informed Consent Klinische Ethik vs. Forschungsethik Kommission oder Komitee? - (Bio-) Ethikkommission - (Forschungs-) Ethikkommission - Ethik-Komitee Klinische Ethik vs. Forschungsethik Klinische Ethik vs. Forschungsethik (Bio-) Ethikkommission (Forschungs-) Ethikkommissionen - Allgemeine Betrachtungen zu Fragen der sind interdisziplinäre Gremien (Ärzte und Juristen) zur Beratung bei bzw. zur Überwachung von • Forschungsvorhaben am Menschen • oder mit humanen Geweben • und bei epidemiologischer Forschung • mit personenbezogenen Daten • in Bezug auf rechtliche / berufsrechtliche und ethische / berufsethische Aspekte. (angewandten) Ethik - Erarbeitet Stellungnahmen - Politikberatung - Technikfolgenabschätzung → z. B. Deutscher Ethikrat, Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO) Klinische Ethik vs. Forschungsethik (Forschungs-) Ethikkommissionen gibt es - in den medizinischen Fakultäten und - bei den Landesärztekammern. → Es gibt 53 EK (Stand 2014) Klinische Ethik vs. Forschungsethik Deklaration von Helsinki • Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki. Empfehlungen für Ärzte, die in der biomedizinischen Forschung am Menschen tätig sind verabschiedet von der 18. Generalversammlung des Weltärztebundes in Helsinki im Juni 1964 verabschiedet. • Revisionen: 1975 Tokio, 1983 Venedig, 1989 Hong Kong, 1996 Somerset Wichtige Grundlage neben Gesetze und Leitlinien: Die Deklaration von Helsinki West, 2000 Edinburgh, 2008 Seoul → Aktuelle Revision vom Oktober 2013 in Fortaleza. 7 Klinische Ethik vs. Forschungsethik Klinische Ethik vs. Forschungsethik Deklaration von Helsinki (Auswahl) Ethik-Komitee • Die Ziele der Forschung (Erkenntnisgewinn) dürfen niemals Vorrang vor den Rechten der Menschen haben. Ein Ethik-Komitee ist ein interdisziplinäres Gremium zur • Forschung am Menschen bedarf einer sorgfältigen Abwägung zwischen Risiken und Nutzen. - Mitglieder aus allen klinischen Bereichen, aus allen relevanten Berufsgruppen • Die Risiken dürfen den Nutzen nicht überschreiten. • Studien an vulnerablen Personen dürfen nur dann durchgeführt werden, wenn es hierzu keine Alternative gibt und die Personen einen potenziellen Nutzen von der Studienteilnahme haben. • Die Teilnahme Einwilligung. an Studien beruht auf einer Wahrung der moralischen Integrität einer Klinik. informierten - Am KGU: Benennung durch den Vorstand Konkret: - Mitwirkung an Aus-, Fort- und Weiterbildung - Ethische Fallberatung - Entwicklung von Leitlinien Klinische Ethik vs. Forschungsethik Ethikberatung (oder Ethik-Fallberatung) - Beratung bei ethisch relevanten Entscheidungskonflikten - Ziel der Beratung: die richtige Entscheidung für den Patienten, Entlastung der Mitarbeiter, Verbesserung der Kommunikation und des Arbeitsklimas - Die „Letztentscheidung“ bleibt beim behandelnden Arzt Literaturempfehlung zur Vertiefung Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch. (Hrsg.) Urban Wiesing et al. (neuste Ausgabe) (Lektüre ist nicht Voraussetzung für die Klausur!) 8