FORUM MEDIZIN UND PHILOSOPHIE PROTOKOLL Retraite Nr. 3 2. Jahrgang 2013/2014 27. Juni 2013 ________________________________________________________________________ 1. Teil: Vorstellung und Diskussion von 2 CAS – Arbeiten Beat Gerber: „Nichtstun in der Medizin“ Christian Studer: „Gibt es ein Kontinuum des ICH einer an Demenz erkrankten Person“ Die Arbeiten wurden mit der Einladung zugestellt. Die beiden Referenten stellen die wesentlichen Punkte mitsamt der Motivation zur Arbeit dem Plenum nochmals vor. Beat Gerber: Diskussionsleitung Hans Ueli Schläpfer Es geht um „Tun und Lassen“, um handeln, unterlassen. Medicus curat, natura sanat. Für Beat Gerber ist „nichts tun“ dem „nicht tun“ gleichgestellt. Es stellt sich stets die Frage nach Wert und Konsequenzen diagnostischer und therapeutischer Massnahmen Ein anderer Aspekt ist „nicht tun“ als Folge von „nicht wissen“ Sinnlose Aktivität generiert falsche Hoffnung, demgegenüber kann „nichts tun“ Hoffnung ersticken. Die hebräisch-christliche Eschatologie mit Gott als übergeordneter Instanz ist säkularisiert. Der Arzt muss priesterliche Funktionen übernehmen, hat aber diese übergeordnete Instanz nicht mehr und steht gegenüber dem Patienten direkt verantwortlich gegenüber. Die Heilsversprechen werden relativiert. Bewusstes Nichtstun ist auch eine Aktivität. Sie bedingt situatives Handeln. Wichtig ist, dass der Patient egalitär wahrgenommen wird und in ehrlichem Gespräch Anspruch auf offene Aufklärung hat. Der Arzt darf nicht zum Sklaven des Machbarkeitswahns werden. Marco Meier schliesst die Diskussion als philosophischer Coach ab: Er weist auf den kulturellen Aspekt der asymmetrischen Ebene des „dauernd handeln müssens“ und erwähnt die Sinnhaftigkeit, die Transzendenz ärztlicher Handlung: „In allem was man tut das Gegenteil denken“ (Habermas), Alternativen aufzusuchen. Kommentar des Schriftführers: Es gibt verschiedene Weisen ärztlichen Handelns. Die wichtigsten davon sind das „hic et nunc“: Es steht vor allem bei Notfällen zu Gebote und ist die häufigste Maxime in der täglichen Sprechstunde. Das „hic et quare“: Die Maxime eher für Spitalärzte: Weshalb bist du da? Wobei sich das „quare“, das weshalb, die Anamnese, in degressiver Ausführlichkeit von der Psychiatrie über sämtliche species der Inneren Medizin, die Allgemeinpraxis bis zu den operativen Disziplinen erstreckt. (Wer ein Carpaltunnelsyndrom operiert, will in der Regel nichts über die Grossmutter wissen) Das „hic et mane“, wobei sich „mane“, morgen, als indefiniter Zeitraum „ex tunc“ in die Zukunft erstreckt. Ich pflegte meinen Patienten jeweils zu sagen:“Mir ist es nicht wichtig, wie es Ihnen heute geht. Wichtig ist, dass es Ihnen morgen gut geht“. In diesem „hic et mane“ verbirgt sich die Kunst, das Richtige zu tun. Und richtig kann in Beurteilung der Gesamtsituation eines Patienten aufmerksames und prospektives Nichtstun sein. Christian Studer: Diskussionsleitung Katharina Glatz Christian Studer hat in sensibler Reflexion seines eigenen Handelns gegenüber seiner eigenen in kurzer Zeit dement gewordenen Mutter die Frage des „ich“ bearbeitet. Der Begriff „ich“ ist zunächst an Sprache gebunden. Bei Demenz nimmt das IchBewusstsein ab. Was ist „ich“? Eine Projektion Angehöriger? Ein virtuelles Konstrukt? Eine Frage der Identität? Ist die eigene Mutter mehr oder ein anderes „ich“? Martin Buber: „Ich entsteht nur durch du“, es ist ein Kulturphänomen. Gibt es eine geistige Qualität ausserhalb der Physikalischen? Das wird von anweseden Physikalisten vehement verneint. Das „ich“ als Konstruktion: Die Ich-Orientierung ist die stabilste Orientierung. Die Sozialisierung bestimmt die Begriffe Bleibt die Frage: Wo entsteht die Kohärenz zwischen Person und Gehirn? Das Gehirn allein gibt nicht Person. Semantik: Die Sprache bleibt, die Vorstellungen ändern sich Notwendig ist die Entwicklung einer Plausibilität als Hilfswissenschaft. Für Christian Studer steht die Prozessphilosophie von Whitehead im Vordergrund. Er stellt diese Thesen dem Funktionalismus von Denett entgegen. Die Arbeit regt zu profunder Reflexion über ein Thema an, das vordergründig selbstverständlich ist: Wer bin ich? Was ist ich? Wie lange bin ich ich? Ich und du, ich als Projektion. Kontinuum des ich. 2. Teil: „Ethik als Macht“ Prof. Dr. phil. Jean Claude Wolf, Universität Freiburg i.Ue Die Zusammenfassung des Vortrags ist im Anhang dieser Aufzeichnungen Bestandteil derselben. Diskussion: Ethik vor dem Hintergrund eigener weltanschaulicher Werte. Sie kann missbraucht werden. Moral verfestigt Machtpositionen: „Wie würde ich entscheiden, wenn ich nicht in der Machtposition wäre?“ Beispiel: Viel, sehr viel verdienen empfindet man für sich selbst niemals als ungerecht, wenig verdienen dagegen schon. Heucheln hat eine gesellschaftliche Funktion: Bsp. Politiker mit Wahlversprechen. Zusammenhang „Macht – Moral – Recht (v.a. Strafrecht)“ Reflektierter Utilitarismus: Folgen der Handlung / Unterlassung, Folgen übermoralischer Handlungen (Moralfolgen) Ideal versus Regeln: Ideale haben eine andere Aufgabe. Sie werden nie sanktioniert (und wenn, dann nur positiv) Thomas Hobbes: Alles ist egoistisch, Liebe, Selbstliebe. Egoistische Resonanz des Handelns: Kann jemand, der in der Hölle gelandet ist, Gott immer noch verehren und lieben? Kommen Interessen vor Idealen? Ethik muss mit Argumenten überzeugen. Moral ist mit Macht verbunden, die Ethik sollte sie davor befreien. Ethik als kulturelles Phänomen, als Element der Evolution „rein positives Recht“ ohne Ueberbau ist lebenspraktisch nicht möglich. Das wird von anwesenden Physikalisten bestritten. Sind Ethik-Kommissionen „Feigenblatt“ oder „Gremien der Sachkompetenz“? Ein ethisches Expertenwissen existiert nicht. Ethik ist bestenfalls eine Hilfswissenschaft. Ethik ist im Fundament pluralistisch. Der philosophische Pragmatismus hat keine Begründungsansprüche mehr. Moral kan als sozialer Integrationsfaktor betrachtet werden: Baruch de Spinoza wechselt vom Judentum zum Christentum und ist schliesslich weder da noch dort integriert Das Lernen und die Uebernahme von Aussenbetrachtungen sind wesentliche Ansätze zur Toleranz. Kommentar: Die Ethik sagt, was man tun muss, damit das eigene Gewissen schweigt, Die Moral sagt was man tun muss, damit die Nachbarn das Maul halten. (Friedhelm Moser „Der philosophische Flohmarkt“ Eichborn-Verlag Frankfurt a.M.) Schluss: Die Retraite ist gelungen. In allen Themen haben sich sehr gute und ergiebige Diskussionen ergeben. Die Zeit verlief eilends. Wohltuend war die Fortsetzung der Gespräche und Diskussionen beim Nachtessen in der Bodega Espanola im Niederdorf. Burkhard sei Dank für die Reservation. 28.06.2013 Beat Ineichen