Geschichte der Türkei

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Einleitung
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internationalen Bedingungen getroffen wurde. Folglich kam es auch kaum
zu Brüchen mit dem autoritären System, das die Modernisierungsbewegung geschaffen hatte. In der Türkei war also Demokratie nicht die
Folge eines sozio-ökonomischen Veränderungsprozesses, sondern löste
vielmehr diesen aus. Das Kapitel setzt sich insbesondere mit den gesellschaftlichen, ethnisch-religiösen Bruchlinien und primordialen Verbindungen auseinander, die sich nach dem Übergang zur Demokratie mit
politisch-demokratischen Strukturen zu vermischen begannen. Auch die
Rolle der Armee und die Folgen ihrer Intervention in den demokratischen
Prozess stellen einen zentralen Punkt des Kapitels dar. Der demokratische
Transitionsprozess wurde einerseits durch die politische Polarisierung der
1970er Jahre und andererseits durch die anti-demokratischen Interventionen des Militärs in Frage gestellt.
Kapitel fünf beginnt mit dem Putsch der Generäle im Jahr 1980 und
zeigt dessen Folgen auf. Der Putsch ermöglichte die reibungslose Einführung der Marktwirtschaft. Es kam zur Zerschlagung der Linken, die von
den Eliten als eine Gefahr für die Einheit der Nation betrachtet worden
waren. Der Putsch verhalf damit der politischen Rechten zum endgültigen Sieg. Der Islam wurde im Zuge der Einführung der Marktwirtschaft
als ein sozialer Dämpfer bewusst durch den Staat eingesetzt. Es sollte zu
einer Aussöhnung zwischen kemalistischem Laizismus und Islam kommen. Davon wurden insbesondere konservative Gruppen begünstigt.
Mit den 1990er Jahren begann der Aufstieg der Islamisten. Das Kapitel
setzt sich näher mit den Hintergründen dieses Aufstiegs auseinander,
deutet auf die Rückschläge hin und behandelt die Spaltung der Bewegung und die Gründung einer reformierten islamistischen Kraft. Die
Entideologisierung zu Gunsten eines Wertkonservativismus versöhnte
die islamistische Bewegung mit der Marktwirtschaft und ermöglichte
ihre nachhaltige Integration in das demokratische System. Aufgrund
des autoritären Charakters der kemalistischen Institutionen schien die
Integration mit Europa für die Islamisten ein Ausweg aus ihrer Diskriminierung. Das konservative-islamische Segment der Gesellschaft, das
durch die Hegemonie des kemalistischen Projektes der Verwestlichung
von der Mitsprache in Politik und Wirtschaft ausgeschlossen war, konnte
durch die AKP zu einem Teil des Systems werden. Dadurch konnte das
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Einleitung
demokratische System gestärkt werden. Gleichzeitig verschob sich aber
durch den EU-Beitrittsprozess das Gleichgewicht. Kritiker stellen einen
Machtverlust der etablierten kemalistischen Kräfte zu Gunsten der reformierten Islamisten fest.
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I.
Das osmanische Reich
Das Entstehen eines Großreiches
Die Geschichte der osmanischen Dynastie beginnt mit Osman Bey
(1258 – 1326). Osman Bey erbte von seinem Vater Ertuğrul Bey die Herrschaft über ein Gebiet im nordwestlichen Anatolien, in der Umgebung
von Söğüt, zwischen Eskişehir im Osten und Bursa im Westen gelegen.
Die Dynastie der Osmanen gründete sich auf einem der vielen kleinen
Fürstentümer, die nach dem Zerfall des seldschukischen Reiches in Anatolien entstanden waren. Diese türkischen Fürstentümer befanden sich
zum Teil im Kampf miteinander, zum Großteil aber in Auseinandersetzung mit dem ehemals mächtigen Byzantinischen Reich (Ost-Rom).
Byzanz, das einst über den Bereich des gesamten östlichen Mittelmeeres
geherrscht hatte, befand sich in einem Rückzugs- und Zerfallsprozess.
Neben Angriffen der Araber, Plünderungen durch die Kreuzritter und
Interventionen der Venezianer wurde Byzanz zudem durch interne Streitigkeiten und Instabilität geschwächt.
Osman I. konnte seine Kraft gegen den großen Nachbarn mobilisieren
und sein Herrschaftsgebiet auf Kosten der Byzantiner rasch ausweiten.
Dadurch war das Osmanische Reich, dessen Gründung von Historikern
mit dem Jahr 1299 angesetzt wird, von Anfang an ein multi-kulturelles,
multi-ethnisches und vor allem multi-konfessionelles Staatswesen.
Als Osman I. starb, überließ er seinem Sohn Orhan ein Gebiet, das
dreimal so groß war wie jenes, das er seinerzeit von seinem Vater geerbt
hatte. Expansion sollte zu einem wesentlichen Bestandteil der Identität
und noch mehr des ökonomischen Systems des entstehenden Großreiches werden. In kurzer Zeit sollten die Osmanen als Herrscher über das
gesamte östliche Mittelmeer und die angrenzenden Regionen das Erbe
der arabischen Großreiche, sowie des Byzantinischen Reiches, antreten.
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Das osmanische Reich
Die Grenzlage zum Byzantinischen Reich und der Kampf gegen dessen
christliche Armee hatte das osmanische Fürstentum zu einem Zentrum
des ideologischen Kampfes im Namen des Islams gemacht. Seit den
Anfängen im siebenten Jahrhundert befand sich der Islam in Auseinandersetzung mit Byzanz. Schon 624 wird von der ersten militä­rischen
Auseinandersetzung arabischer Truppen mit den Byzantinern in Palästina
berichtet. Nur zwei Jahrzehnte später beendeten die Araber die byzantinische Vorherrschaft über das östliche Mittelmeer und eine islamische
Armee stand zum ersten Mal vor den Mauern Konstantinopels. Insgesamt
kam es zu zwölf Expeditionen, um die Stadt zu erobern. Die Eroberung
Konstantinopels blieb den arabischen Armeen jedoch verwehrt. Die
Stadt wurde dadurch für Muslime sowie Christen zu einem Symbol des
Widerstands gegen die Expansion des Islam. (Ahmad, 1993)
Die Osmanen sahen sich als Krieger im Namen des Islam. Die Idee
des Dschihad, des Krieges gegen die Ungläubigen, hatten die Osmanen
von den Seldschuken übernommen. Das kleine Fürstentum Osmans
wurde aufgrund der Grenzlage zum Byzantinischen Reich zu einem
Anziehungspunkt für muslimische Kämpfer aus der gesamten Region.
Vor allem turkmenische Stammesführer und Krieger, die auf der Flucht
vor den aus dem Osten vordringenden Mongolen in Richtung Westen
gewandert waren, schlossen sich den Osmanen im Kampf gegen die
Byzantiner an.
Expansion beinhaltete demnach neben einer wirtschaftlichen und
machtpolitischen Komponente auch eine religiös-ideologische Mission,
vergleichbar mit jener der christlichen Kreuzfahrer. Die osmanischen
Krieger galten, falls sie im Krieg fielen, als şehit (Märtyrer) bzw., wenn
sie überlebten und heimkehrten, als gazis. Die religiöse Mission förderte
zweifelsohne den Kampfgeist der osmanischen Krieger und trug dazu
bei, dass sie eine Schlacht nach der anderen erfolgreich schlagen konnten. (Vgl. Ahmad, 1993: 16)
Als Mehmet II. (der Eroberer) (Fatih Sultan Mehmet) 1453 mit seinen Truppen Konstantinopel eroberte, war er davon überzeugt, dass er
damit eine göttliche Vorsehung erfüllt habe, nämlich, dass die Stadt für
Muslime vorbestimmt war. (Vgl. İnalcık,1998: 249) Die Eroberung Konstantinopels stellte einen Wendepunkt dar. Während die christliche Welt
Das Entstehen eines Großreiches
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den Verlust Ostroms beklagte – allerdings war niemand den Byzantinern
zu Hilfe gekommen –, besiegelte die Eroberung Konstantinopels den
Aufstieg der Osmanen zu Herrschern über ein Großreich.
Am Höhepunkt seiner Macht sollte es sich über ein Territorium, das
vom heutigen Ungarn und Serbien über den gesamten Süd-Balkan und
Rumänien, vom Schwarzmeerraum über Anatolien, Syrien, Palästina,
den Irak, Kuwait, Jordanien, die arabische Halbinsel, einschließlich der
heiligen Stätten (Mekka und Medina), den Jemen über Ägypten, bis an
die nordafrikanische Küste an den Ausläufern des Atlasgebirges reichte,
erstrecken.
Mit Konstantinopel verleibte sich die auf Expansion ausgerichtete
Dynastie eine Stadt mit langer imperialer Tradition ein. Die Osmanen
übernahmen in weiten Bereichen nicht nur die byzantinische Tradition
der absoluten Herrschaft und des Verwaltungswesens, sondern Mehmet
sah sich auch als der Nachfolger des byzantinischen Kaisers. Die Verlegung der osmanischen Hauptstadt und des Sitzes des Sultans von Edirne
(Adrianopel) nach Konstantinopel, das er in Istanbul umbenannte, sollte
diesen Anspruch bekräftigen.
Der Sultan und sein Hof sollten ähnlich wie der byzantinische Kaiser das absolute Zentrum der staatlichen Macht darstellen. Denn alle
Macht ging vom Sultan aus.
Turkmenische Notabeln, die bislang ein politisches Gegengewicht
zum Herrscher gebildet hatten und die am ehesten eine Basis für eine
vererbbare Aristokratie dargestellt hätten, wurden nach der Eroberung
Konstantinopels und der Errichtung der zentralen, absoluten Herrschaft
des Sultans ausgeschaltet und ihr Eigentum und Landbesitz konfisziert.
(Vgl. Ahmad, 2003: 19)
Die Bevölkerung Konstantinopels war durch Kriege, Bürgerkriege
und Hungersnöte stark dezimiert. Mehmet II . siedelte deshalb Menschen aus den umliegenden Regionen in der Hauptstadt an. Er achtete
dabei darauf eine türkisch-muslimische Mehrheit zu schaffen, dennoch
war die Bevölkerung der neuen Hauptstadt weitgehend kosmopolitisch.
Neben Türken zählten vor allem Griechen und Armenier, sowie Angehörige anderer christlicher Gruppen sowie Juden zu den Bewohnern der
Hauptstadt. (Vgl. İnalcık, 1998: 253)
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