Das Osmanische Reich 1 Einleitung Das Osmanische Reich, türkische Reich (1300-1922) erstreckte sich auf dem Höhepunkt seiner Macht über drei Kontinente, von Ungarn im Norden bis nach Aden im Süden und von Algerien im Westen bis zur iranischen Grenze im Osten. Den Mittelpunkt bildete das Gebiet der heutigen Türkei. Mit dem Vasallenstaat Krim dehnte sich das Osmanische Reich bis zur Ukraine nach Südrussland aus. Begründer des Reiches und der Herrscherdynastie ist Osman I. Ghasi. 2 Expansion des Osmanischen Reiches Der erste osmanische Staat war einer der kleinen Nachfolgestaaten des Reichs der RumSeldschuken in Kleinasien. Die geographische Lage ermöglichte es dem Gründer der osmanischen Dynastie, Osman I., die Schwäche des Byzantinischen Reiches auszunutzen und reiche Beute bei Überfällen auf christliches Gebiet zu machen. Der Aufstieg des vom Islam geprägten Osmanischen Reiches ist eng verbunden mit der Anziehungskraft, die dieser Staat auf die Ghasis, die Kämpfer des Heiligen Krieges (Jihad), ausübte, die sich den Osmanen anschlossen, weil diese die führende Rolle im Kampf gegen das christliche Byzantinische Reich im Westen übernahmen. Osmans Eroberungen wurden durch seinen Sohn Orhan fortgesetzt, der 1326 die Stadt Bursa einnahm und es zur neuen Hauptstadt machte. Traditionell war es die Politik der Osmanen, das Reich mit militärischer Gewalt nur auf das Gebiet christlicher Staaten im Westen auszudehnen, jedoch nicht mit Gewalt gegen die turkmenischen Fürstentümer vorzugehen. Der friedliche Erwerb von turkmenischem Besitz 1 durch Kauf, Heirat oder Stiftung von Unfrieden unter den herrschenden Dynastien wurde dagegen als Mittel zur Expansion des Reiches akzeptiert. Auf diese Weise konnten die Osmanen große Gebiete im Westen Anatoliens ihrem Reich angliedern. 1354 eroberten sie Ankara im Zentrum Anatoliens. Im selben Jahr besetzten die Osmanen Gallipoli (Gelibolu) auf der europäischen Seite der Dardanellen, welches den Ausgangspunkt für ihren anschließenden Vorstoß nach Südosteuropa bildete. 1361 nahmen sie Adrianopel (Edirne) ein, das zur neuen Hauptstadt wurde. 1389 besiegte Murad I. die Serben in der Schlacht auf dem Amselfeld, die Osmanen nahmen Thrakien, Makedonien und einen großen Teil von Bulgarien und Serbien ein. Auch die Niederlage gegen den Mongolenfürsten Timur-i Läng (1402) konnten den Ausbau des Reiches nicht stoppen. 1453 eroberte Sultan Mehmed II. Fatih Konstantinopel (Istanbul) und machte es zur dritten Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Die Welle der Eroberungen setzte sich während des ganzen 16. Jahrhunderts fort. Unter Sultan Selim I. (dem Strengen) wurden die Safawiden aus dem Iran besiegt (1514), das Reich wurde ausserdem um Ostanatolien erweitert. 1516 und 1517 wurden die Mamelucken in Syrien und Ägypten geschlagen und ihre Gebiete annektiert. Neben den Besitztümern der Mamelucken eigneten sich die Osmanen auch die heiligen Stätten in Arabien an. Die Mamelucken mussten ihren Anspruch auf das Rote Meer und den Indischen Ozean abtreten. Sohn und Nachfolger Süleiman II., der Große, (auch der Prächtige) wird als der mächtigste aller osmanischen Herrscher angesehen. Während seiner Herrschaft wurde der Irak (1534) dem Reich eingegliedert, und die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum wurde gefestigt. Durch die Annektion von Algier und Überfälle von Piraten der osmanischen Barbareskenstaaten drangen die Osmanen bis in den westlichen Mittelmeerraum vor. Süleiman führte osmanische Truppen weit nach Europa hinein: Belgrad wurde 1521 erobert, die Ungarn in der Schlacht bei Mohács (1526) geschlagen. 1529 blieb jedoch die Belagerung Wiens durch Süleiman erfolglos. 3 Staats- und Gesellschaftsstruktur des Osmanischen Reiches Mit den Eroberungen von Süleiman II., dem Prächtigen, erreichte das Osmanische Reich seinen Höhepunkt. Er ließ die Regelung des Sozialwesens, der Verwaltung und der Regierung kodifizieren und schuf so die Grundlage für das bis zum Ende des Reiches geltende osmanische Recht. Die Gesellschaft war in eine führende osmanische Oberschicht und in eine Klasse von Untertanen (Rajahs), die „behütete Herde” des Sultans, gegliedert Das grundlegende Recht des Herrschers bestand darin, über die Reichtümer des Landes zu bestimmen. Der Sultan verteilte sie auf administrative und wirtschaftliche Einheiten und übertrug deren Verwaltung seinen Vertretern, die ebenfalls das Recht zum Einzug der anfallenden Steuern hatten. Diese Beamten wurden als „Sklaven” des Sultans betrachtet; da jedoch Sklaven in der Gesellschaft Vorderasiens den sozialen Status ihrer Herren 2 erwarben, stiegen sie zur eigentlichen Herrscherschicht in der osmanischen Gesellschaft auf. Ihre Macht war begrenzt auf Funktionen, die mit der Verwaltung der Reichtümer des Reiches sowie mit der Ausweitung und Verteidigung der sozialen Stellung, die dies ermöglichte, zu tun hatten. Um diese Funktionen wahrnehmen zu können, wurde die Oberschicht grundlegende „Institutionen” oder Fraktionen unterteilt: in vier (1) Die imperiale Fraktion, verantwortlich für den so genannten Innen- oder Palastdienst, kümmerte sich um den Haushalt des Sultans, während der (2) „Außendienst”, die Ministerien, die einem Großwesir als regierendem Stellvertreter des Sultans unterstanden, die Staatsgeschäfte leitete. Die wichtigste Institution des osmanischen Staates war (3) die Armee. Die ersten Truppen bestanden aus der türkischen Kavallerie (spahis). Je mehr Land erobert wurde, desto grösser war der Sold, den die türkisch-muslimischen Glaubenskrieger bekamen. Die leicht bewaffneten Reiter reichten jedoch für eine effektive Kriegsführung nicht aus. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts begannen die Osmanen, Söldnertruppen (aus z. B. Sklaven und Kriegsgefangenen) zu rekrutieren. Ab dem 15. Jahrhundert wurden christliche Jugendliche (devshirme) aus dem Balkan eingezogen. Aus diesen Truppen (Kapikulli) gingen die Janitscharen hervor. Diese trugen wesentlich zu den militärischen Erfolgen der Osmanen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts bei. (4) Die religiös-kulturelle Fraktion vergab unter den muslimischen Untertanen des Sultans religiöse Führungsämter und trug die Verantwortung für das Bildungs- und Rechtswesen. Wichtige Positionen wurden dabei von den Kadis besetzt, welche für die Kommunalverwaltung und das Strafrecht verantwortlich waren. Die Verwaltung bediente sich der türkischen Sprache, die in arabischer Schrift geschrieben wurde. Die herrschende Klasse bestand aus zwei rivalisierenden Gruppen: (1) muslimische Turkmenen, Araber und Iraner, die im 14. und 15. Jahrhundert zusammen die türkische Oberschicht des Osmanischen Reiches stellten, und (2) christliche Kriegsgefangene und Sklaven, die angeworben, zum Islam bekehrt und nach dem berühmten Dewschirme-System (Knabenlese) ausgebildet wurden. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts übernahm diese Gruppe die Führungsrolle und beherrschte die ehemalige Oberschicht. Die Bevölkerung des Osmanischen Reiches war hinsichtlich Sprache, Kultur und Religion heterogen. Die Mehrheit der Bevölkerung in den europäischen Provinzen stellten Christen der orthodoxen Kirche. In Thrakien, Makedonien, Bulgarien, Bosnien und Albanien verbreitete sich allerdings der Islam. In den asiatischen Provinzen bildeten Muslime die Mehrheit der Bevölkerung, viele von ihnen waren Anhänger des Sufismus. Der Staat ließ den Religionsgemeinschaften bei der Regelung ihrer Angelegenheiten freie Hand. Die Bevölkerung war in Religionsgemeinschaften (Millets) sowie in wirtschaftlichen und sozialen Gilden und Zünften organisiert. Die jüdischen, griechisch-orthodoxen, armenischen, gregorianischen und muslimischen Millets sowie die später hinzukommenden römischkatholischen, protestantischen und bulgarisch-orthodoxen Millets erhielten eine gewisse religiöse und kulturelle Autonomie zugebilligt. Die meisten Menschen lebten als Bauern 3 auf dem Land, etwa 15 Prozent waren Stadtbewohner. Außerdem standen viele Nomaden und Halbnomaden unter osmanischer Herrschaft. Die ersten drei Jahrhunderte des Osmanischen Reiches waren eine Zeit des Wohlstands, der sich in der Entfaltung einer reichen Kultur widerspiegelte: in der türkischen Musik und Literatur (Geschichte, Geographie und Poesie), in der Malerei und vor allem in der Architektur. 4 Niedergang Der Niedergang des Osmanischen Reiches begann gegen Ende der Regierungszeit von Süleiman II. und dauerte bis zum Ende des 1. Weltkrieges an. Von offizieller Seite wurde auf den Verfall des Reiches mit zwei unterschiedlichen Vorgehensweisen reagiert. In der Zeit der traditionellen Reform (1566-1807) wollte man die Wiederherstellung der alten Institutionen, während in der Zeit der modernen Reform (1807-1918) die alten Institutionen aufgegeben und neue, aus dem Westen kommende Vorbilder übernommen wurden. 4.1 Die Gründe des Verfalls Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts kontrollierten die Sultane sowohl die türkische Aristokratie als auch die durch das Dewschirme-System zum Islam bekehrten Christen und deren Nachkommen durch eine Balance der Macht, bei dem beide Gruppierungen gegeneinander ausgespielt wurden. Unter der Regierung Süleimans wurden die Dewschirme immer stärker und übernahmen die Führungspositionen. Zu dieser Zeit begann das Reich auch unter der in einer Ära des inneren Friedens entstandenen Überbevölkerung zu leiden. Dies führte schließlich auf dem Land und in den Städten zu Arbeitslosigkeit. Diese Arbeitslosen schlossen sich häufig zu Räuberbanden zusammen, die Stadt und Land gleichermaßen 4 verunsicherten. Durch die inkompetente, korrupte und ineffektive Regierung wurde die Landwirtschaft vernachlässigt, das Reich litt unter Hungersnöten und Epidemien, und ganze Provinzen fielen unter die Herrschaft örtlicher Feudalherren. Die Untertanen litten stark unter diesen Bedingungen, wurden jedoch zum Teil durch das System der Millets und der Gilden, die einen Stützpfeiler der Gesellschaft darstellten und bei Bedarf auch Regierungsfunktionen übernahmen, vor dem Schlimmsten geschützt. Die Osmanen zeigten sich aus mehreren Gründen nicht sehr besorgt über den Reichsverfall. Zum einen war Europa für mindestens ein Jahrhundert so stark mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass es die Schwäche des Osmanischen Reiches nicht bemerkte und auch nichts unternahm, um aus dieser Situation Vorteile zu ziehen. Zum anderen profitierte der Großteil der herrschenden osmanischen Klasse von dem Chaos im Land. Und schließlich nahmen die Osmanen die Veränderungen, die Europa um vieles mächtiger als zuvor werden ließen, nicht bewusst wahr. Sie gingen nach wie vor davon aus, dass die islamische Welt dem christlichen Europa noch immer weit überlegen sei. Unter diesen Bedingungen sah die herrschende Klasse keinen Grund, Veränderungen vorzunehmen oder Reformen durchzuführen. Nach einer gewissen Zeit begannen die Mächte Europas aber die Schwäche des Osmanischen Reiches zu begreifen und daraus Nutzen zu ziehen. 1571 drang die Flotte der Heiligen Liga unter Don Juan de Austria in den östlichen Mittelmeerraum vor und zerstörte die osmanische Flotte in der Seeschlacht bei Lepanto. Dieser Niederlage begegneten die Osmanen mit dem Bau einer vollständig neuen Flotte, die sie in die Lage versetzte, die Kontrolle des Mittelmeerraumes für ein weiteres halbes Jahrhundert zurückzugewinnen. Trotzdem setzte sich in Europa die Ansicht durch, dass die Osmanen zu besiegen seien. Am Ende des Krieges mit Österreich (1593-1606) musste der Sultan den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches als gleichrangigen Partner anerkennen und die Tributpflicht Österreichs aufheben, was den europäischen Mächten die Schwäche des Osmanischen Reiches noch deutlicher vor Augen führte. 4.2 Reformen und Verluste Erst als das Reich, von dem ihre Privilegien und ihr Reichtum abhingen, von außen bedroht wurde, akzeptierte die führende Schicht die Reformen. 1623 eroberte Schah Abbas I. von Persien Bagdad und den Osten des Irak und schürte eine Reihe turkmenischer Revolten in Ostanatolien. Als Antwort darauf etablierte Sultan Murad IV. erneut die alten Herrschaftsstrukturen und erhöhte damit die Effizienz der herrschenden Klasse und der Armee. Diese so genannten traditionellen Reformen wurden mit der Hinrichtung von Tausenden von Personen, welche die islamische Gesetze und Traditionen nicht respektiert hatten, eingeleitet. In der Folge gelang es, die Perser aus dem Irak zu vertreiben und den Kaukasus zu erobern (1638). Unter Murads Nachfolger setzte jedoch der Niedergang der Zentralautorität wieder ein. Der Türkisch-Venezianische Krieg führte zum Aufstieg der Köprülü-Dynastie von Großwesiren, die ein weiteres Mal die ehemalige Macht des Osmanischen Reiches wieder herzustellen versuchten. 1683 unternahm der letzte Großwesir der Köprülü, Kara Mustafa Pascha, einen erneuten Versuch, Wien zu erobern. Nach einer kurzen Belagerung fiel die osmanische Armee jedoch ganz auseinander. Diese Tatsache ermöglichte es einer neuen Europäischen Heiligen Liga, Teile des Reiches zu erobern. Nach den Friedensverträgen 5 von Karlowitz (1699) mussten Ungarn und Transsilvanien an Österreich, Dalmatien, der Peloponnes und wichtige ägäische Inseln an Venedig, Podolien und der Süden der Ukraine an Polen sowie Asow und die Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres an Russland abgetreten werden. 4.3 Landgewinne und weitere Verluste Selbst in dieser Phase war das Osmanische Reich jedoch noch genug stark, schlimme Missstände zu beseitigen und durch die Übernahme moderner europäischer Waffen und Taktiken sogar verlorene Gebiete zurückzugewinnen. 1711 stoppten die Osmanen einen Angriff des russischen Zaren Peter I., des Großen, und zwangen ihn zur Rückgabe der in Karlowitz verlorenen Gebiete; im Krieg mit Venedig und Österreich (1714-1717) verloren sie dagegen Belgrad und Nordserbien. Dies führte zu einer neuen Zeit der Reformen, genannt Tulpenzeit (1715-1730), während der die osmanische Armee umorganisiert und modernisiert wurde. Mahmud I. (17301754) führte diese Reformen weiter und liess ein neues Artilleriekorps nach europäischem Vorbild aufbauen. Damit waren die Osmanen im Krieg gegen Russland und Österreich (1736-1739) in der Lage, den Großteil der verlorenen Gebiete in Nordserbien und an der Nordküste des Schwarzen Meeres zurückzuerobern. Anschließend folgte eine Zeit des Friedens zwischen dem Osmanischen Reich und Europa, die in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass die europäischen Staaten in andere Kriege verwickelt waren. Diese Unterbrechung ließ jedoch einmal mehr die herrschende Klasse glauben, dass die Gefahr gebannt sei, und der Reichsverfall setzte schnell wieder ein. In zwei verheerenden Kriegen gegen Russland zwischen 1768 und 1792 zerfiel die osmanische Armee. Bis zum Frieden von Jassy (1792) hatten die Osmanen ihre Gebiete nördlich der Donau verloren und sich von der Krim und den Gebieten östlich vom Dnjestr bis Russland zurückgezogen. In den anderen europäischen Gebieten, in Asien und Afrika waren Herrscher an der Macht, auf die die Zentralregierung nur wenig Einfluss hatte. 4.4 Die Ära der modernen Reform Während des 19. Jahrhunderts verschärfte sich die Gefahr einer Eroberung durch ausländische Mächte noch durch das Entstehen des Nationalbewusstseins der unter osmanischer Herrschaft stehenden Völker. Die nichttürkischen Völker des Reiches forderten ihre Unabhängigkeit und erhielten sie auch nach und nach. Griechenland wurde als erstes Land 1829 in die Unabhängigkeit entlassen. Daraufhin kam es zu Revolten der Serben, Bulgaren und Albaner sowie der Armenier Ostanatoliens. Die osmanischen Herrscher führten daraufhin Reformen durch (1839-1878), die unter dem Namen Tanzimat (türkisch: „Umorganisation”) bekannt wurden. Das Tanzimat wurde unter Mahmud II. geplant und begonnen. Mahmud II. hatte es sich zum Ziel gesetzt, die alte Armee aufzulösen und durch eine neue Armee nach europäischem Vorbild zu ersetzen. Es wurde eine Armee aus Wehrpflichtigen aufgestellt, die durch Steuern finanziert werden sollte. Dazu brauchte es besser ausgebildete Beamte und Offiziere. Ausserdem begann man mit dem der Modernisierung der Infrastruktur, neue Städten, Straßen, Eisenbahnen und Telegraphenlinien entstanden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die Osmanen zum ersten Mal verstärkt Kredite im Ausland auf, um die Reformen finanzieren zu können. 1875 konnte aber das Reich die Zinsen für seine Auslandsschulden nicht mehr bezahlen. 6 Moderne landwirtschaftliche Methoden brachten eine Verbesserung der Produktion. Aber auch restriktive Maßnahmen gegen Minderheiten waren Teil der neuen Politik, die vor allem während des 1. Weltkriegs zu Massakern an Armeniern führte. 4.5 Europäische Interessen Wirtschaftliche, finanzielle, politische und diplomatische Probleme behinderten die Tanzimatsreformen. Die industrialisierten europäischen Staaten benötigten das Osmanische Reich als Lieferanten billiger Rohstoffe und als Absatzmarkt für ihre Fertigprodukte. Durch die Kapitulationen – Verträge, in denen die Sultane Europäern seit dem 16. Jahrhundert gestatteten, im Osmanischen Reich nach ihren eigenen Gesetzen und unter ihren eigenen Konsuln zu leben – konnten die Europäer die Osmanen daran hindern, Importe aus dem Ausland zu begrenzen und verhinderten so einen wirksamen Schutz der erst im Entstehen begriffenen Industrie. Da die Osmanen zum grössten Teil von Kapital und technischem Wissen ausländischer Unternehmen abhingen, waren sie gezwungen, in den letzten Jahren des Tanzimats so hohe Kredite bei europäischen Banken aufzunehmen, dass über die Hälfte des gesamten Staatseinkommens von den Zinsen verschlungen wurde. Darüber hinaus stieg in der Bevölkerung der Unmut über die neue moderne Verwaltung. Eine Gruppe liberal gesinnter Intellektueller mit konstitutionellen Zielen, bekannt unter dem Namen Jungtürken, forderte damals, dass die Macht der herrschenden Klasse und der Beamten eingeschränkt wurde, und wollte ein Parlament einführen. Da die Jungtürken von den Führern des Tanzimats politisch verfolgt wurden, flohen sie ins Ausland, wo sie ihre Forderungen veröffentlichten. Zur gleichen Zeit entstand in den seit kurzem unabhängigen Balkanstaaten eine starke Widerstandsbewegung, die sich die Kontrolle über das Gebiet Makedonien zum Ziel gesetzt hatte. In Griechenland, Serbien und Bulgarien entstanden Unabhängigkeitsbewegungen. 4.6 Staatsstreich und Verfassung Zu diesem Zeitpunkt führten eine neue internationale Krise, ein drohender Krieg mit Russland und Österreich und die konstitutionellen Bestrebungen einer Gruppe von Reformern zum Sturz des Sultans Abd ül-Asis. Nach der kurzen Regierungszeit von Murad V. bestieg Sultan Abd ül-Hamid II. den Thron. Er erließ eine Verfassung und willigte in die Bildung eines repräsentativen Parlaments ein, das 1877 zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, aber bald darauf wegen des Krieges mit Russland wieder aufgelöst wurde. Auf dem Berliner Kongress (1878) trug Abd ül-Hamid in Zusammenarbeit mit Großbritannien zu einer Lösung der internationalen Krise bei. Unter dem Eindruck der Bedrohung durch die europäischen Mächte löste Abd ül-Hamid jedoch das Parlament auf und setzte eine autokratische Regierung (1878) ein. Die Macht wurde im Palast konzentriert, jede Opposition wurde unterdrückt. Abd ül-Hamid gelang es, finanzielle Stabilität herzustellen und die Wirtschaft anzukurbeln, aber die politische Unterdrückung rief schließlich die liberale Widerstandsbewegung der Jungtürken auf den Plan. Diese setzte die Wiedereinführung von Verfassung und Parlament in einem als jungtürkische Revolution (1908) bezeichneten Aufstand durch. Der Erfolg des neuen konstitutionellen Regimes wurde jedoch sehr schnell von einer Reihe politischer Ereignisse geschmälert. 7 Österreich annektierte Bosnien und die Herzogewina, Bulgarien gliederte Ostrumelien ein, und in Makedonien und Ostanatolien kam es erneut zu gewaltsamen Terrorakten. Abd ül-Hamid und seine Anhänger im Palast lasteten diese Probleme dem neuen Regime an und unternahmen im April 1909 eine Konterrevolution. Das Parlament wurde aufgelöst und viele der Abgeordneten verhaftet. Aber die von den Jungtürken angeführte Armee in Makedonien marschierte auf Istanbul, schlug die Konterrevolution nieder und setzte den Sultan ab. Die nachfolgenden osmanischen Herrscher saßen zwar auf dem Sultansthron, hatten jedoch keine Regierungsgewalt mehr. 4.7 Die Zeit unter den Jungtürken Die Jahre zu Beginn der Ära der Jungtürken (1908-1918) waren die demokratischste Zeit in der Geschichte des Osmanischen Reiches. Verfassung und Parlament wurden wieder eingesetzt und politische Parteien zugelassen. Die stärkste Partei war die von den Jungtürken gegründete Partei für Einheit und Fortschritt; daneben entwickelte sich jedoch noch eine Vielzahl anderer Parteien. Die Reformen der Jungtürken, die alle Lebensbereiche erfassten, erreichten ihren Höhepunkt in der Trennung von Kirche und Staat im Bildungs- und Rechtswesen sowie in der Einführung der Frauenrechte während des 1. Weltkrieges. Der moderne Staatsapparat wurde auf eine demokratische Basis gestellt, Industrie und Landwirtschaft wurden gefördert und moderne Methoden zur Führung des Staatshaushalts eingeführt. Der erste Balkankrieg führte jedoch zu einer Revolte innerhalb des Ausschusses für Einheit und Fortschritt, worauf ein von Enver Pascha angeführtes Triumvirat versuchte, die Regierungsgewalt zu übernehmen. Es machte sich die Uneinigkeit unter den siegreichen Balkanstaaten zunutze, um Edirne (Adrianopel) im zweiten Balkankrieg zurückzugewinnen. 4.8 Der 1. Weltkrieg Zu Beginn wollte das Triumvirat sich nicht in den Krieg einmischen. Aber das Angebot Deutschlands, das Reich bei der Rückeroberung der verlorenen Provinzen zu unterstützen und die Beschlagnahmung türkischer Kriegsschiffe in England führte das Osmanische Reich zum Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte im Jahr 1914 Türkische Truppen drängten in der Gallipoli-Kampagne ein ganzes Expeditionskorps erfolgreich zurück und nahmen es in Kut-al-Imara im Irak gefangen. Auf der Sinai-Halbinsel blieb die Eroberung des Suezkanals und Ägyptens aber erfolglos und endete mit der von den Briten unterstützten arabischen Revolte auf der Arabischen Halbinsel. Eine britische Truppe überfiel mit arabischer Hilfe Syrien von Ägypten aus und hatte gegen Kriegsende Südanatolien erreicht. Der Angriff Enver Paschas auf Russland am Anfang des Krieges endete auf Grund seiner schlechten Organisation und gleichzeitig ausbrechender Aufstände in den Ostprovinzen erfolglos. Danach konnte Russland Ost- und Mittelanatolien erobern (1915-1916), bis diese Eroberungen 1917 durch die Russische Revolution beendet wurden. Die Folgen dieser Überfälle aus dem Ausland wurden durch innere Revolten, Lebensmittelknappheit, Hungersnot und Krankheiten noch verschlimmert. Rund sechs Millionen Menschen, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Reiches, starben oder wurden getötet, und die Wirtschaft des Landes war stark angeschlagen. 8 4.9 Besetzung und Unabhängigkeitskrieg Nach der Kapitulation des Reiches wurde die türkische Regierung unter die Aufsicht der alliierten Besatzungsmächte gestellt. Auf der Pariser Friedenskonferenz (Vertrag von Sèvres) wurde die Abtretung der Balkanprovinzen und der arabischen Provinzen beschlossen, und die vor allem von Türken bewohnten Gebiete in Ost- und Südanatolien sollten unter ausländische Kontrolle oder die Kontrolle von Minderheitengruppen kommen. Eine große griechische Armee nahm 1922 Izmir ein und überfiel Südwestanatolien. Nach Massakern an der türkischen Bevölkerung stellten die Alliierten aber ihre Unterstützung für Griechenland ein. Als Reaktion auf diese Friedensregelung und als Antwort auf die griechische Invasion entstand in Anatolien unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk die türkische nationalistische Bewegung. Während des türkischen Unabhängigkeitskrieges (1918-1923) widersetzte sich Atatürk erfolgreich den Bedingungen der Alliierten, verdrängte die griechischen und die britischen, französischen und italienischen Besatzungsmächte und setzte eine im Frieden von Lausanne (1923) festgelegte Regelung durch, die der Türkei die uneingeschränkte Kontrolle über die türkischen Gebiete Ostthrakien und Anatolien sicherte. Nach diesem Erfolg wurde die Republik Türkei mit der Hauptstadt Ankara ausgerufen, und das Kalifat des Sultans in Istanbul hörte auf zu existieren (1923). 9