Das europäische System und seine orientalische Wendemarke –

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Björn Rosenstiel
Das europäische System und seine orientalische
Wendemarke –
Eine kritische, kulturhistorische Untersuchung über die
Gestaltung des Europäischen Konzerts im Rahmen der
Orientalischen Frage und des Krimkrieges
1. Einleitung ………………………………………………………………………..2
2. Tour d`horizon Die Großmächte und das Osmanische Reich (17741798)………………………………………………………………………………....4
2.1. Vom Abwehrkampf zum Eroberungsfeldzug………………………………..4
2.2. Napoleon in Ägypten…………………………………………………………10
3. Europäisches Konzert und Orientalisches Gleichgewicht………….....14
3.1. Die Neuordnung der Staatenwelt nach 1815………………………………14
3.2. Die Orientalische Frage………………………………………………………25
3.2.1. Rückzug, Verfall und Reformen…………………………………………...25
3.2.2. Explosiver Balkan-Nationalismus…………………………………………31
3.2.3. Das Eingreifen der Großmächte…………………………………………..35
3.3. Die doppelte Nahostkrise (1831-1841)……………………………………..44
4. Der Krimkrieg (1853-1856) Die Wasserscheide des Konzerts………...56
4.1. Diplomatischer Auftakt 1841-1853…………………………………………..56
4.1.1. Kranker Mann am Bosporus……………………………………………….56
4.1.2. Leiningen- und Menshikov-Mission……………………………………….66
4.1.3. Die Wiener Note vom Juli 1853……………………………………………71
4.2. Diplomatie und Krieg…………………………………………………………..86
4.2.1. Vom russisch-osmanischen Krieg…………………………………………86
4.2.2. ...zum Krimkrieg…………………………………………………………......94
4.3. Kriegsziele und Frieden……………………………………………………...104
4.3.1. Wiener Konferenz 1855……………………………………………………104
4.3.2. Der Pariser Frieden 1856………………………………………………….111
5. Schluss………………………………………………………………………….120
6. Literatur / Quellen……………………………………………………………..130
1. Einleitung
Es war ein denkwürdiger Versuch, dass die Großmächte England, Russland,
Österreich
und
Preußen,
diese
aus
der
Koalition
gegen
Napoleon
hervorgegangene Allianz, schließlich auch den Verlierer Frankreich beitreten
ließen. Dieses seit 1814/15 Gestalt annehmende System, das als „concert
européene“ in die Geschichte einging, sollte im Sinne des „principiis obsta“
dazu beitragen, Streitigkeiten so früh wie möglich zu schlichten und Kriege,
wenn sie denn ausbrechen sollten, noch im Keim zu ersticken, um so auf das
Ökonomischste dem Frieden und Wohlstand zu dienen.
Unter Historikern wie Paul W. Schroeder gilt das Wiener System als ein
Meilenstein auf dem Weg zu geregelten internationalen Beziehungen, weshalb
in diesem Zusammenhang auch gerne von einer Transformation europäischer
Politik
resp.
einer Weiterentwicklung
der
politischen
Praxis
des
18.
Jahrhunderts zu neuen Formen der Konfliktbewältigung gesprochen wird.
Rückblickend kann gewiss einiges als gelungen angesehen werden, doch die
politische Ordnung, die im Jahre 1815 der gesellschaftlichen Realität nur noch
leidlich adäquat war, büßte aufgrund der unaufhaltsamen Veränderungen in
den Gesellschaften ihre Nützlichkeit immer mehr ein. M.a.W.: Das System
verlor zusehends an Wirkkraft.
Doch
waren
es
dabei
nicht
nur
gesellschaftliche,
innenpolitische
Veränderungen, die auf die Beziehungen der Großmächte und ihr fragiles
politisches Gleichgewicht einwirkten. Betrachtet man die in der Zeit zwischen
1830 und 1878 abgehaltenen Konferenzen1, kann man sich des Eindrucks
nicht erwehren, dass die komplizierte und verworrene Orientalische Frage resp.
der osmanische Rückzug aus den eroberten Gebieten und der damit
einhergehende Verfall des Osmanischen Reiches die europäische Staatenwelt
außerordentlich häufig beschäftigt hat. Ja, sie lag offenbar geradezu im
Mittelpunkt der Bemühungen des „Europäischen Konzerts“, den Frieden in
Krisen internationalen Ausmaßes zu bewahren. Dabei standen wohl nicht
zuletzt Verachtung, Hass und Furcht vor dem Osmanischen Reich hinter dem
1
Bei Baumgart, W., Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale
Beziehungen 1830-1878, in: Handbuch der Geschichte internationaler Beziehungen, Bd. 6,
Paderborn 1999, S.155.
unwiderstehlichen Drang, sich auf Kosten des osmanischen Staates, der im 19.
Jahrhundert zusehends schwächer wurde, zu bereichern.
Dass die nach 1815 währende Friedenszeit durch den Krimkrieg beendet
wurde, der als russisch-osmanischer Krieg begann, scheint demnach kein
Zufall gewesen zu sein. Als Höhepunkt der Orientalischen Frage weist der
Krimkrieg als der erste bewaffnete Konflikt im 19. Jahrhundert mit sich
anbahnender
Weltkriegs-Dimension
darauf
hin,
dass
das
politische
Gleichgewicht Europas mit dem Orient als vermeintliches Gegengewicht
unlängst verknüpft war und dass darüber die augenscheinlich schweren
Spannungen
aufgrund
der
unterschwellig
von
imperialistischen
Eroberungswünschen bestimmten europäischen Großmächtebeziehungen vor
der Entladung standen.
Dementsprechend soll in den folgenden Kapiteln die Entwicklung und
Arbeitsweise des Europäischen Konzerts im Rahmen der Orientalischen Frage
nachgezeichnet werden, wobei es die Frage zu beantworten gilt, inwiefern der
Krimkrieg eine Wendemarke für das europäische System darstellte. In diesem
Zusammenhang empfiehlt es sich jedoch nicht nur zu beantworten, ob das
Konzert der europäischen Mächte über diesen „sonderbarsten aller Kriege“
(Golo Mann) dann endgültig zerstört worden ist, sondern vor allem auch, ob es
als ein von seinen Anhängern verstandenes „système des contre-poids“ der
Komplexität und Vielschichtigkeit der internationalen Politik überhaupt gerecht
werden konnte.
In diesem Sinne soll zunächst unter Punkt 2 ein einleitender Überblick über
die Beziehungen der Großmächte zum Osmanischen Reich in das Thema
einstimmen und zugleich einen kurzen Einblick in die politische Praxis des 18.
Jahrhunderts erbringen. Danach wird in Punkt 3 die Entwicklung des
Europäischen Konzerts nachgezeichnet, die Orientalische Frage in ihren nach
Winfried Baumgart ausgeführten drei Stufen erläutert und schließlich über die
doppelte Nahostkrise von 1831-41 die Regulationsfunktion der Orientalischen
Frage
und
des
orientalischen
Gleichgewichts
herausgearbeitet,
damit
letztendlich in Punkt 4 der Krimkrieg zum Gegenstand der Betrachtungen
werden kann. Dabei soll versucht werden, über den diplomatischen Auftakt, die
Kriegsziele und den Friedensschluss ein Bild von der Wirkung des Krieges auf
das europäische System zu zeichnen.
2. Tour d`horizon – Die Großmächte und das Osmanische Reich (17741798)
2.1. Vom Abwehrkampf zum Eroberungsfeldzug
Nichts Ungewöhnliches war die diplomatische Krise, die sich im 18.
Jahrhundert in Hinblick auf das Osmanische Reich zuspitzte: es schien
endgültig reif zur Auflösung. Seit dem Frieden von Karlowitz 1699 wurden
osmanische Gebiete ungeniert zum „Spekulationsobjekt“2 der beiden östlichen
Großmächte Österreich und Russland, die als Hauptakteure im Kampf um
dessen Erbe agierten. Das Ergebnis der Ausweitung ihrer kriegerischen
Aktionen
mit
den
Mitteln
der
Unruhestiftung
und
Aufhetzung
der
nichtmuslimischen Untertanen des Sultans war ein 41 Jahre andauernder
Kriegszustand in der Zeit von 1688 bis zum Frieden von Jassy 1792 die Folge.3
Aufgrund der als Wirtschaftsförderung erkannten Wirkung des Krieges
stiegen Österreich und Russland schnell zu Großmächten auf. Gleichzeitig
löste sich infolge der Kriegsgewinne das nach europäischer Hegemonie
trachtende und über die erste polnische Teilung geographisch unanfechtbar
gewordene Zarenreich aus der Rolle des österreichischen Juniorpartners und
strebte nun entschieden nach Höherem.4
Über den Ausgang des in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden
russisch-türkischen Krieges von 1768-1774, dessen historischer Markstein der
am 21. Juli 1774 geschlossene Vertrag von Küçük Kainardşe war5, schuf St.
Petersburg unversehens eine strategische Bedrohungslage für das fragile
politische Gleichgewicht Europas. Wegen der darin liegenden historischen
Machtverschiebung nimmt dieser Kontrakt darum eine besondere Stellung in
den internationalen Beziehungen des 18. Jahrhunderts ein – und das nicht nur,
weil in ihm die Russen, ähnlich wie bei der ersten polnischen Teilung, ihr
Unverständnis
vom
europäischen
Gleichgewicht
nicht
nur
auf
noch
drastischere, gefährlichere Weise dokumentierten, sondern auch wegen der
Widersprüche in den russischen und osmanischen Originalfassungen über
deren genauen Inhalt dazu beitrugen, dass seither eine große Verwirrung
2
Buchmann, B. M., Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien
1999, S.156.
3
Grunebaum, G. E. von, Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von
Konstantinopel, Frankfurt/Main 1970, S.108.
4
Schroeder, P. W., The Transformation of European Politics, Oxford 1994, S.20ff.
5
Ebd., S.25.
herrschte,
die
durch
die
spätere
Übersetzung
in
die
französische
Diplomatensprache noch wesentlich verstärkt wurde und bis weit in das 19.
Jahrhundert nachwirkte.6
Dem Artikel XI fehlte es zwar nicht an Klarheit, der die Freiheit des
Schiffsverkehrs durch die Meerengen sowie die Freiheit des Handels in den
europäisch wie asiatischen Provinzen des Osmanischen Reiches betonte und
mit dem es Zarin Katharina II. gelungen war, den russischen Einfluss im
Schwarzen Meer enorm auszubauen.7 Und nicht minder deutlich war Artikel III,
der eben diese Position untermauerte, indem er der Babiâli, der Hohen Pforte,
die Anerkennung der Unabhängigkeit des Krimkhanats abrang, dessen
Schicksal, trotz der am 21. März 1779 geschlossenen Konvention von Ainali
Kavak8, lange Zeit im Ungewissen geblieben war.
Als unklar, um nicht zu sagen: zwei- und mehrdeutig, sind hingegen die
Artikel VII und XIV des Vertrages anzusehen. In ihnen spiegelten sich ebenso
religiöse wie auch politische Belange eines russischen Selbstverständnisses,
dem die Vorstellung vom „Dritten Rom“ die nötige Rechtfertigung verschaffen
sollte. Dies hatte zur Folge, dass acht Monate nach Vertragsunterzeichnung die
Zarin die griechisch-orthodoxe Kirche samt aller Gläubigen im Osmanischen
Reich als unter russischer Obhut stehend erklärte. Dies aber war eine
„sorgfältige Falschdeutung“9 des Artikels VII, der die Verpflichtung auf Schutz
des christlichen Glaubens allein dem Sultan auferlegte.10 Der ursprüngliche
Bezugspunkt dieser Verpflichtung war Artikel XIV, der nur den Bau und die
russische
Interessenvertretung
einer
öffentlich
zugänglichen
russisch-
orthodoxen Kirche in Konstantinopel erlaubte.
Angesichts dieses russischen Hegemonialstrebens im allgemeinen und der
Unterzeichnung des Kontrakts von Küçük Kainardşe im besonderen wurde sich
6
Davison, R. H., Essays on Ottoman and Turkish History, 1774-1923. The Impact of the West,
Texas 1990, S.33, 37.
7
Die Russen übernahmen die Festungen Jenikale und Kertsch, womit sie in der Lage waren,
die Verbindung zwischen dem Asowschen Meer und dem Schwarzen Meer zu kontrollieren.
Des weiteren erhielten sie Sonderrechte in den Donaufürstentümern, obwohl diese weiterhin
Bestandteil des Osmanischen Reiches waren, und es war ihnen gestattet, eine ständige
Botschaft in Konstantinopel zu errichten.
8
Infolge dieser Konvention akzeptierte Russland die religiösen Bande zwischen den
Krimtataren und dem Sultan unter der Auflage einer Bestätigung der Unabhängigkeit. Siehe
Anderson, M.S., The Eastern Question 1774-1923. A Study in International Relations, New
York/London 1966, S.7.
9
Lewis, B., Kaiser und Kalifen. Christentum und Islam im Ringen um Macht und Vorherrschaft,
München 1996, S.46.
10
Palmer, A., Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, München 1992, S.78.
Österreich langsam der Gefahr bewusst, die aus dem Schacher
um
osmanische Territorien mit dem ehemaligen Partner und neuen Rivalen
resultieren könnte.11 Aus Angst, infolge der russischen Expansion die eigene
Unabhängigkeit als Großmacht zu verlieren, suchte Joseph II. dennoch die
Allianz mit der Zarin. Er unterstützte das „Griechische Projekt“ Katharinas II.,
während er gleichzeitig die Franzosen ermutigte, den Osmanen beizustehen.12
Welche
Gefahren
eine
hervorgehobene
russische
Position
für
das
europäische Gleichgewicht bedeutete, erkannte man auch in Frankreich, das
seit dem 16. Jahrhundert ein Verbündeter der Sultane und seit 1756 ein
Alliierter Österreichs war. Letztlich fürchtete Frankreich im Gegensatz zu
Österreich weniger die politische Isolation, als vielmehr die wirtschaftlichen
Einbußen in der Levante.13
Was man in Paris jedoch nicht erkannte, war die Gefahr, die in der
österreichisch-französischen Allianz von 1763 bis 1790 selber lag, dieser „pact
for management and mutual restrain“14, der das Anwachsen Russlands zu
einem hegemonialen Bedrohungspotential begünstigte, und dass es Choiseul
höchst selbst gewesen ist, der 1768 Sultan Mustafa III. zum Krieg gegen
Russland überredet hatte. Nun beklagte die französische Regierung dessen
Folgen und empfand den daraus resultierenden Friedensvertrag von Küçük
Kainardşe als Schock.15
Die Weltmacht England, geographisch wie ökonomisch ungleich besser
gestellt als Österreich und Frankreich, sah in der aufsteigenden Macht
Russlands keine Bedrohung. Beide Länder waren wirtschaftlich miteinander
verknüpft, hatten keine wesentlichen Zielkonflikte, dafür aber in Frankreich
einen gemeinsamen Feind, weshalb England das Erscheinen der russischen
Marine im Mittelmeer als Gegengewicht zu Frankreich letztlich wohlwollend
begrüßte.16
11
Die gute russische Ausgangsposition im Schwarzen Meer ließ einen Angriff auf Konstantinopel, eventuell sogar eine Erhebung christlicher Untertanen, wahrscheinlicher denn je
erscheinen. Macfie, A.L., The Eastern Question 1774-1923, London/New York 1996, S.7.
12
Schroeder, The Transformation, S.26. Dieses gefährliche Spiel, dessen Regeln Wien nur
zum Nachteil gereichen konnten, waren Joseph und sein Kanzler Prinz von Kaunitz
offensichtlich gezwungen zu spielen, wollten sie nicht dem kräftezehrenden russischen
Expansionismus erliegen.
13
Lewis, B., Der Untergang des Morgenlandes, Bonn 2002, S.34.; Anderson, M. S., The
Eastern Question 1774–1923, S.2.
14
Schroeder, The Transformation, S.42.
15
Ebd., S.35.
16
Schroeder, The Transformation, S.21.
Wirtschaftliches oder politisches Interesse am Nahen Osten zeigte London
bis in die späten 1780er Jahre kaum. Aber obwohl sich London als „natürlicher
Verbündeter“ St. Petersburgs empfand, wie auch vice versa17, blieb die
Beziehung beider Länder nicht ohne Krise und höchst problematisch war die
Möglichkeit einer englisch-russischen hegemonialen Allianz schon aufgrund
schwer lösbarer grundsätzlicher Fragen, wie etwa die Übernahme der Führung
oder die Teilung der Kosten.18
Um 1781/82 korrespondierte Katharina unter dem Einfluss Potemkins und
dem Eindruck eines baldigen Zerfalls des osmanischen Staates mit dem
österreichischen Kaiser und bot ihm ein Bündnis an. Als dann die aus der
Aufteilungseuphorie geborene Selbstsicherheit Katharinas II. ihren vorläufigen
Höhepunkt erreichte, schritt die Zarin zur unlängst vorbereiteten Tat und
annektierte 1783 die Krim, was von England wortlos hingenommen, von
Frankreich und Österreich – wenn auch missbilligend – erwartet wurde. Der
erste Schritt zur Realisierung des „Griechischen Projektes“, schien damit getan.
Doch die Hohe Pforte, ebenso isoliert wie schwach, fühlte sich herausgefordert
und befreite sich im August des Jahres 1787 mit der Erklärung des fünften und
letzten der Türkenkriege von den aufgestauten Aggressionen.19
17
Schroeder, Paul W., Did the Vienna Settlement rest on a Balance of Power?, in: Schroeder,
P.W. (Hrsg.), Systems, Stability and Statescraft: Essays on the International History of Modern
Europe, New York 2004, S.43.
18
Schroeder, The Transformation, S.45.
19
Mit dem Rücken zur Wand stehend und aus der pessimistischen Einsicht, dass die russische
Annexion nur weiteren Druck auf osmanische zur Folge habe, erklärte die Hohe Pforte
Russland den Krieg.
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