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Die Lebenswelt des Mittelmeers war in der Frühen
Neuzeit we­sent­lich durch
kulturelle,
kaufmännische
und auch militäri­sche Un­
ternehmun­gen mit­einander
ver­woben. Das Meer stellte
eine dynamische Grenze
dar. Die christlichen Seemächte Spanien, Frankreich
und Venedig wie auch das
muslimische
Osmani­sche
Reich kämpften um die wirt­
schaftli­che und politische
Vorherrschaft. Der Krieg zur
See war dabei ein Mittel der
Wahl. Eine der heraus­
ragenden Per­sönlich­kei­ten
stellte Chayreddin (Khayr
ad-Din) Barbarossa dar, der um 1474 auf der Insel Lesbos als jüngster
Sohn eines ehemaligen Janitscharen geboren wurde. Er verließ um 1500
seine Heimat und avancierte in den folgenden Jahren zu einem der bedeutendsten Korsaren des Mittelmeers. 1516 eroberte er zusammen mit
seinem Bruder Algier, das er zwischen 1518 und 1546 regierte. Seine
militärischen und politischen Erfolge führten ihn schließlich an den Hof
Sultan Süleymans nach Konstantinopel, dessen Oberhoheit über Nordafrika er anerkannte. Chayreddin reorganisierte die Werf­ten des Osmanischen Reiches und schuf so eine schlagkräftige Flotte, welche die osmanische Herrschaft im Mittelmeerraum des 16. Jahr­hun­derts garantierte.
Im Zuge dieser Fahrten eroberte er (vorübergehend) Tunis und etablierte
zunächst auch dort die Herrschaft der Hohen Pforte. Es gelang ihm, die
Herrschaft Venedigs und auch die der Spanier zurückzudrängen – heftige Seeschlachten folgten. Frankreich verbündete sich im Kampf gegen
Spanien mit dem Osmanischen Reich und erwies Chayreddin hohe
Ehren, wie das hier abgebildete Portrait zeigt: es hängt bis auf den heutigen Tag in einem französischen Schloss. Chayreddin Barbarossa starb
1546.
72
Nordafrika in der Frühen Neuzeit
In den Jahrzehnten um 1500 erlebten beide Ufer des Mittelmeeres
eine Umbruchphase. Neue Seewege und Kontinente wurden
entdeckt, neuartige Schiffe und Waffen verbreiteten sich, neue
Großreiche rivalisierten miteinander. Bei aller Feindschaft blieben jedoch die Länder rings um das Mittelmeer vielfältig mitein­
ander verflochten.
Ägypten bestand praktisch aus einer großen Flussoase mit
sehr ergiebiger Landwirtschaft, was zu einer gewissen Vereinheitlichung führte und der Obrigkeit die Kontrolle erleichterte.
Dagegen war der Westen Nordafrikas (der Maghreb: Marokko,
Algerien, Tunesien, Libyen) dünn besiedelt, gering urbanisiert,
wirtschaftlich und technisch relativ wenig entwickelt. Ertragreicher Ackerbau war nur in wenigen Regionen möglich; eine
große Rolle spielten nomadische Viehhaltung und Handel.
Die geografischen Gegebenheiten (Wüsten, Gebirge, wenige
ständige Flüsse) begünstigten lokale Autonomie und erschwerten
den Aufbau staatlicher Strukturen. Die Reiche des Maghreb konzentrierten sich auf die Handelszentren, deren Umland und das
Gebiet loyaler Stämme; abseits davon schwand die Macht des
Herrschers rasch. Zwar lässt die Schwäche staatlicher Strukturen
den damaligen Maghreb auf den ersten Blick als »Wilden Westen« der Arabischen Welt erscheinen, aber gerade unter diesen
Bedingungen waren von lokalen Autoritäten eingeforderte, feste
Regeln und verlässliche Gruppenzugehörigkeiten unverzichtbar.
Daher konnten die um 1500 in Tunis, Tlemcen und Fes regierenden Dynastien nur auf einen unzureichenden Verwaltungsapparat zurückgreifen und blieben auf die Unterstützung der
Stämme angewiesen. Die den Herrscher direkt unterstützenden
Personen und Gruppen (Machsan) stellten Krieger und sorgten
für die Eintreibung von Abgaben. Um ihre Abhängigkeit von
einzelnen Stämmen zu verringern, stützten die Herrscher sich
auf die wenigen Städte und versuchten nach Möglichkeit, eine
übergreifende religiöse Legitimität zu erlangen.
73
I. Historische Entwicklungen
Osmanen und Spanier
Das Osmanische Reich eroberte 1516/17 das Mamlukenreich in
Syrien, Ägypten und Westarabien und stieg für 400 Jahre zur
führenden Macht im Nahen Osten auf. Auf dem afrikanischen
Kontinent reichte die osmanische Herrschaft bis an die Rotmeerküste des Sudans und Eritreas, das heutige Algerien, Libyen und
Tunesien wurden erworben, aber Marokko wurde nie Teil des
Reiches.
Herrschaft wurde überall vor der Entstehung moderner Staat­
lichkeit punktuell, symbolisch und in Zusammenarbeit mit lokalen Eliten ausgeübt. Ein Gewaltmonopol, ein jederzeit mögliches
Eingreifen von Behörden in das Leben des Einzelnen oder eine
allgemeine Gültigkeit und Anwendung von Gesetzen waren
nicht vorstellbar. Daher wurde der größte Teil des Osmanischen
Reiches nach heutigen Maßstäben sehr lasch regiert und blieb in
den meisten Belangen autonom.
Dies traf auf Ägypten und mehr noch auf Libyen, Tunesien
und Algerien zu, aber es gab keinen Zweifel an ihrer Zugehörigkeit: Im Namen des osmanischen Sultans wurden Predigten gehalten und Münzen geschlagen, Abgaben flossen von Kairo nach
Konstantinopel. Mit der Versorgung der Heiligen Städte Mekka
und Medina erfüllte Ägypten außerdem eine politisch und religiös zentrale Aufgabe. Die übrigen afrikanischen Provinzen
schickten keine Steuern, unterstützten aber bis weit ins 19. Jahrhundert regelmäßig die osmanischen Flottenoperationen.
Nach dem Fall Granadas 1492 trugen Portugal und Spanien
die Reconquista (d.h. die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel von den Muslimen) nach Afrika und eroberten zahlreiche
Küs­tenstützpunkte, um die Seewege und nach Möglichkeit das
Hinterland zu kontrollieren. An der Atlantikküste hielt Portugal
mehrere Häfen (zum Beispiel Tanger, Agadir), während Spanien
Festungen und Städte entlang der Mittelmeerküste vom noch
heute spanischen Melilla über Oran und Tunis bis nach Tripolis
besetzte. Unter umgekehrten Vorzeichen diente der Glaubenskrieg auch den nordafrikanischen Muslimen zur Rechtfertigung
von Übergriffen. Bis ins späte 16. Jahrhundert war nicht klar, wo
die Reconquista enden würde, da sie in den Machtkampf zwi74
Nordafrika in der Frühen Neuzeit
schen den osmanischen und spanisch-habsburgischen Weltmäch­
ten überging.
Die osmanischen Vorstöße nach Zypern, Kreta, Malta und
Nordafrika waren der Versuch, den Flotten der Lateiner ihre
jahrhundertealte Seeherrschaft über das Mittelmeer zu entreißen. Aber die lange Reihe spektakulärer Seeschlachten, Feldzüge
und Belagerungen sowie das Vorhalten riesiger Flottenverbände
und Militärkontingente überforderten auf Dauer selbst die Ressourcen der osmanischen und habsburgischen Weltreiche. Außer­
dem war nicht nur das Mittelmeer, sondern auch Südosteuropa
Schauplatz des Konflikts. Gleichzeitig stand das Osmanische
Reich im Konflikt mit Persien und am Indischen Ozean mit Portugal.
Schließlich beendeten die Großmächte 1581 den »heißen«
Konflikt und setzten ihre Ressourcen anderenorts ein. Andalusien blieb unter christlicher, das nordafrikanische Festland unter
muslimischer Herrschaft, und das Osmanische Reich verzichtete
auf die Expansion im westlichen Mittelmeer. Nordafrika verlor
zwar seine strategische Bedeutung, die wechselseitigen Kaperfahrten und Überfälle wurden jedoch eifrig fortgesetzt.
Infolge der Reconquista ließen sich zahlreiche aus Spanien
und Portugal vertriebene Muslime in den Maghrebländern nieder, wo sie noch für Generationen als Andalusier bezeichnet
wurden. Viele der ebenfalls vertriebenen sephardischen Juden
fanden Aufnahme in Nordafrika, in der Levante, in Konstantinopel und in Thessaloniki, das zur Stadt mit der weltweit größten
jüdischen Gemeinde wurde.
Da die spanische Krone die verbliebenen, zwangschristianisierten Muslime als »Fünfte Kolonne« des Osmanischen Reiches
fürchtete, wurden deren letzte Nachfahren noch 1609 ausgewiesen. Die Andalusier trugen in Nordafrika dazu bei, dass die Bevölkerung vor allem der Städte noch etwas bunter wurde; außer
Arabisch, Berberisch, Türkisch, Griechisch und der Mischsprache der mediterranen Seefahrer (Lingua Franca) war auf den
Straßen auch Spanisch zu hören.
Vor dem Eingreifen des Osmanenreiches waren die Spanier
und Portugiesen ihren nordafrikanischen Gegnern durch Feuerwaffen und neuartige Schiffe technisch überlegen. Kaperfahrten
waren eine im ganzen Mittelmeerraum überaus gängige Mög75
Die Seeschlacht von
Lepanto am
7. Oktober 1571
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I. Historische Entwicklungen
Nach der Besetzung des
geostrategisch wich­ti­
gen Zyperns durch die
Osmanen am 1. Novem­
ber 1570 konnte Papst
Pius V. die christlichen
Mittelmeerstaaten
für Ausschnitt aus dem Gemälde »Seeschlacht von
einen Kampf unter dem Lepanto« (7. Oktober 1571), von Andrea
Vicentino, 1595/1605, Öl auf Leinwand.
Banner der Heiligen Liga
einen. Unter dem Oberbefehl des 31-jährigen Admirals Don Juan de Austria entsandten die
Republik Venedig, das Königreich Spanien, der Kirchen­staat und italienische Kleinstaaten ihre Flotten. Don Juan, gebürtiger Regensburger
und Halbbruder des spanischen Königs Philipp II., stach mit 208 Galeeren und 6 Galeassen sowie kleineren Kampfschiffen vor dem sizilianischen Messina in See. Zwischen dem Peloponnes und dem griechi­
schen Festland bei Lepanto, heute Nafpaktos, trafen am Morgen des
7. Oktober 1571 die bis dahin größten Galeerenflotten des Orients und
Okzidents aufeinander. Beide Flotten waren nahezu gleichstark. Der
osmanische Oberbefehlshaber Ali Pascha führte seinerseits 210 Galee­
ren und weitere Kampfschiffe in die Schlacht. Der Vorteil lag jedoch
bei Don Juan, der mit seinen modernisierten Galee­ren und den 6 Galeassen über feuerkräftige Großkampfschiffe verfügte. Die Kanonen zerschlugen die Reihen der Osmanen Schiff um Schiff. Auf den Galeeren
kämpften die 32 000 Soldaten der Liga die 25 000 osmanischen Soldaten mit ihren Arkebusen im Feuerkampf nieder, während jene fast ausschließlich Pfeil und Bogen nutzten. Auch hier lag mit einer stärkeren
infanteristischen Feuerkraft der Vorteil bei den Verbündeten. In der
vierstündigen Schlacht wurde der Widerstand der Osmanen nicht nur
wegen der Enthauptung Ali Paschas gebrochen. Die Truppen der Liga
kämpften die Osmanen nieder, bis jene mit dem verbliebenen Fünftel
ihrer Flotte den Rückzug antraten. Mit dieser Schlacht endete das Zeitalter der Ruderschiffe und Rammsporne. Die Ära der Segelschiffe und
76
Nordafrika in der Frühen Neuzeit
Kanonen begann. Der spanische Kriegsteilnehmer Miguel de Cervantes griff die Seeschlacht von Lepanto in seinem Werk Don Quijote
auf. Politisch blieb die Schlacht ohne weitreichende Folgen. Zypern
wurde nicht zurückerobert, und die Osmanen stellten in wenigen Monaten eine neue Flotte auf. Die Heilige Liga jedoch zerbrach.
GK
lichkeit, diesen Nachteil auszugleichen, um den Gegner zu verunsichern, Nachschublinien zu gefährden sowie Waffen, Sklaven
und Schätze zu erbeuten. Diese Aussichten zogen Abenteurer
an, unter ihnen die von den ägäischen Inseln stammenden Brüder Barbarossa.
Unter Chayreddin Barbarossa eroberten Korsaren und Janitscharen 1529 Algier, wo dieser als osmanischer Statthalter eingesetzt wurde. Eine osmanische Streitmacht nahm das vom
Orden der Johanniter (Malteser) besetzte Tripolis 1551 ein, 1574
folgte das von Spanien abhängige Tunis. Von diesen Häfen aus
wurden die Kaperfahrten der muslimischen Korsaren organisiert.
In Marokko machten außerdem vertriebene Andalusier ausgehend von Rabat/Salé in der kleinen Republik von Bou Regreg
(1627–1668) den Atlantik zwischen Gibraltar, den Kanaren und
Azoren unsicher. So wie der Kampf gegen die christlichen Mächte das Kaperwesen rechtfertigte und die »Regentschaften« von
Algier, Tunis und Tripolis legitimierte, diente er auch in Marokko zur Legitimation von Herrschaft. Spiegelbildlich zur Reconquista sah man sich gerne als Vorkämpfer des unverfälschten
Islams, so dass ein Sultan in Erklärungsnot geriet, der sich aus
Furcht vor der osmanischen Übermacht gegenüber Spanien
kompromissbereit zeigte.
Korsaren und Mamluken
Der Kaperkrieg der Korsaren wurde umgekehrt auch mit christlicher Rechtfertigung geführt, vorwiegend von den Malteserrittern, daneben vom toskanischen Orden der Stephansritter, von
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Quelle: Putzger, Atlas und Chronik zur Weltgeschichte, 2002, S. 116 f.
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Die Osmanische Herrschaft im Mittelmeerraum um 1550
I. Historische Entwicklungen
Nordafrika in der Frühen Neuzeit
den Uskoken Dalmatiens und von Privatunternehmern. Auf beiden Seiten bestand das lukrativste Geschäft darin, Gefangene zu
machen, um sie zu versklaven oder um für sie Lösegeld zu erpressen. Es handelte sich jedoch nicht um gesetzlose Piraterie,
sondern um von der jeweiligen Obrigkeit gedeckte Freibeuterei.
Deshalb konnten Handelsschiffe unter der Flagge verbündeter
Mächte oder gegen Zahlung von Schutzgeld unbehelligt passieren, was schon die Androhung von Überfällen zu einem lohnen­
den Unternehmen und zu einer Belastung für die Handelsschifffahrt machte.
Größere christliche Staaten vereinbarten Schutzgeldzahlun­
gen in Verträgen mit den Regentschaften. Einige kleinere Staaten, wie die Hansestadt Hamburg, richteten Sklavenkassen ein,
eine frühe Form der Versicherung für den möglichen Freikauf
von in Gefangenschaft geratenen Seeleuten. Vorwiegend auf
katho­lischer Seite widmeten sich Orden und Stiftungen dem
Sklavenfreikauf. Umgekehrt wurden muslimische Sklaven in
Spanien, Italien, Frankreich, England oder Deutschland seltener
losgekauft, obwohl es dort ebenfalls Kollekten und Stiftungen zu
diesem Zweck gab.
Offenbar war man auf christlicher Seite weniger an Lösegeld
oder Gefangenenaustausch interessiert als zum Beispiel an Ruderern für die Galeeren. Ein entsprechendes Angebot des marok­
kanischen Sultans Mulay Ismail schlug der französische König
Ludwig XIV. aus, weil der Verlust tausender muslimischer Ruder­
sklaven seine Mittelmeerflotte lahmgelegt hätte.
Christliche Sklaven in Nordafrika, die zum Islam übertraten,
konnten sich dort eine neue Existenz aufbauen. Daneben gab es
auch freiwillige »Arbeitsmigration«, etwa von westeuropäischen
Seeleuten, die im 17. Jahrhundert einen beträchtlichen Teil der
Schiffsbesatzungen stellten. Wer von diesen sogenannten Renegaten einmal heimkehrte, stand begreiflicherweise unter starkem
Rechtfertigungsdruck und musste sich in Spanien, Portugal und
Italien bei der Inquisition um einen »Persilschein« bemühen.
Auch über das Schicksal einiger protestantischer Rückkehrer aus
weit entfernten Regionen sind bisweilen Einzelheiten bekannt.
So berichtete der nordfriesische Seefahrer Hark Olufs in seinen
Erinnerungen, dass er in der algerischen Unterprovinz Constantine von der Gefangenschaft bis in hohe Ämter aufgestiegen sei.
79
I. Historische Entwicklungen
Obwohl solche Geschichten abenteuerlich klingen und mit
Vorsicht zu betrachten sind, scheinen sie nicht völlig aus der Luft
gegriffen zu sein, denn tatsächlich wurde der größte Teil der
Schiffsbesatzungen und des Militärs außerhalb von Nordafrika
rekrutiert. Renegaten standen im Osmanischen Reich bei entsprechenden Fähigkeiten und Beziehungen alle Karrieremöglichkeiten offen; in Nordafrika konnten sie bis an die Spitze der
Provinzregierung gelangen. Die Aufnahme und Nutzung von
Talenten ohne Rücksicht auf deren Herkunft war eine Stärke des
ethnisch und religiös äußerst vielfältigen Osmanischen Reiches.
Mindestens seit dem 10. Jahrhundert hatten muslimische
Herrscher und Würdenträger junge Sklavenkinder von als besonders geeignet geltenden Völkern gekauft, um sie im eigenen
Haus islamisch erziehen und militärisch ausbilden zu lassen und
dann als loyale Gefolgsleute einzusetzen (Mamluken). Verschiedene Ausformungen dieser türkischsprachigen Militäraristokratie spielten bis ins 19. Jahrhundert hinein eine wesentliche Rolle
in der Geschichte Nordafrikas und des Nahen Ostens.
Neben der bekannten Rekrutierung von christlichen Untertanen (Devschirme) für das Janitscharenkorps stiegen im Osmanischen Reich regelmäßig aus dem Balkanraum, Tscherkessien,
Georgien oder Abchasien stammende Sklavinnen und Sklaven
bis in höchste Positionen einschließlich des Grosswesirats auf.
Selbst die meisten Sultane waren durch ihre Mütter kaukasischer
oder südosteuropäischer Abstammung. Der Status eines Sklaven
war keineswegs mit einem Makel behaftet, sondern durchaus
mit der Zugehörigkeit zur Oberschicht vereinbar.
Auch die führenden Militäraristokraten (Beys) Ägyptens erwarben ihre Sklaven vorwiegend im Kaukasusraum, um sie zur
nächsten Generation von Mamluken heranzuziehen. Dadurch
bildeten sich mächtige »Häuser« heraus, die unter der Führung
der Beys deren Mamluken mit Solda­ten des Provinzmilitärs und
Angehörigen der städtischen Oberschichten verbanden. Ein solches Haus konnte zugleich Miliz, politische Partei und Wirtschaft­
unternehmen sein und stand in oft erbitterter Rivalität mit anderen Häusern.
In den Ländern des Maghreb bestimmte seit Langem das
Spannungsverhältnis zwischen der Regierung mit ihren Verbündeten und den autonomen Stämmen die innenpolitische Situa­
80
Nordafrika in der Frühen Neuzeit
tion. Nun aber glichen die osmanischen Provinzregierungen die
strukturelle Schwäche ihrer Herrschaft gegenüber der Gemengelage lokaler Gruppen durch Rekrutierung von außerhalb aus.
Deshalb rekrutierten die Janitscharen von Algier, Tunis und Tri­
po­lis ihren Nachwuchs grundsätzlich in Rumelien und Anatolien.
Diese in den osmanischen Kernprovinzen rekrutierten Truppen
waren zwar nicht sehr zahlreich, aber relativ gut ausgebildet
und ausgerüstet. Dies demonstrierten sie bei der jährlichen Ex­
pedi­tion (Mahalla) zu den autonomen Stämmen, die dazu diente,
die Souveränität des Staates zu zeigen und Abgaben einzutreiben.
Dagegen waren die marokkanischen Herrscher stärker auf
die Unterstützung loyaler Stämme angewiesen, obwohl sie ebenfalls versuchten, sich durch Rekrutierung von europäischen Renegaten, osmanischen Söldnern oder westafrikanischen Soldaten
(Abîd) von der Stammespolitik unabhängiger zu machen. Allerdings konnte man damit vom Regen in die Traufe geraten: Die
Abîd wurden Mitte des 18. Jahrhundert vorübergehend so mächtig, dass sie den Sultan nach Belieben ein- und absetzen konnten.
Ein wichtiges über den Stammeszugehörigkeiten und -allian­
zen stehendes Element waren in Marokko Mystiker-Heilige und
städtische Rechtsgelehrte, da die islamische Religion und Rechtsordnung dem Herrscher eine von politischen Interessengruppen
unabhängige Legitimation versprach. Die Wattasidensultane
(1465–1549) waren deshalb im Nachteil gegenüber der folgenden
Dynastie der Saadier (1549–1664), die zwar nicht für einen mächti­
gen Stamm standen, aber vom Propheten Mohammed abstamm­
ten und als solche weniger auf die Unterstützung der Rechtsgelehrten angewiesen waren als andere Herrscherfamilien. Auch
die Nachfolger der Saadier, die bis heute herrschenden Alawiden, sind Nachfahren des Propheten (Scherifen).
Während im Maghreb lokale Heilige und Scherifen die Szenerie bestimmten, erlangten in Ägypten die beiden obersten
Scheiche der mystischen Bruderschaften großen Einfluss, und
der Vorsteher der aufstrebenden al-Azhar-Hochschule wurde
zum führenden Vertreter der eng mit dem Staat verbundenen
Rechtsgelehrten. Mystikerscheiche und Rechtsgelehrte stellten
ein »ziviles« Gegengewicht zu den Militäraristokraten dar.
Das wichtigste Regierungsgremium Ägyptens war der Rat
des Statthalters (Vali/Pascha), dem die höchsten Offiziere des
81
I. Historische Entwicklungen
Provinzmilitärs, der Schatzmeister und der oberste Richter angehörten, wobei der Statthalter in der Praxis recht begrenzte Befugnisse besaß, aber mit wechselndem Erfolg ein prekäres Gleich­
gewicht aufrechterhielt. Tunis, Algier und Tripolis wurden in
unterschiedlichen Konstellationen von einem Rat aus Janitscharen-Offizieren, Korsarenkapitänen und einigen städtischen Notabeln unter Vorsitz des Statthalters beherrscht. Die Autonomie
der Maghrebprovinzen zeigte sich darin, dass die Hohe Pforte
nach einigen Jahren keinen Statthalter mehr schickte, sondern
einen aus der Mitte der lokalen Militäraristokratie bestimmten
Anführer (Bey oder Dey) in dieser Funktion bestätigte und auch
sonst auf direkte Eingriffe weitgehend verzichtete. Westliche Beobachter verglichen die Regierungsform der drei Regentschaften
oft mit den Stadtrepubliken Italiens. Angesichts der Rahmenbedingungen überrascht es nicht, dass Machtkämpfe und Regierungswechsel in ganz Nordafrika im 16. und 17. Jahrhundert
meist gewaltsam vor sich gingen.
Handel und Wandel
Etwa bis Mitte des 17. Jahrhunderts profitierte Nordafrika von
seiner zentralen Lage im Handelsnetz zwischen Südeuropa,
Afrika südlich der Sahara und dem östlichen Mittelmeerraum.
Gold, Sklaven und Elfenbein aus dem Süden wurden gegen Salz,
Tuch, Pferde und Waffen aus dem Norden getauscht. Über Ägypten wurden außerdem bis ins 17. Jahrhundert Gewürze, später
Kaffee in den Nahen Osten und nach Europa gebracht.
Um 1700 erwies sich das Kapergewerbe, nicht zuletzt aufgrund britischer und französischer Bombardierungen der Häfen,
als nicht mehr lohnend genug und erhielt immer weniger Unterstützung von der Obrigkeit, zumal es auch der Hohen Pforte nicht
mehr ins Konzept passte. Da der Transsaharahandel ebenfalls weniger profitabel wurde, verlegten sich die Provinzfürsten und die
mit ihnen verbundenen Eliten im 18. Jahrhundert darauf, das Hinterland effektiver zu besteuern, kommerzielle Landwirtschaft zu
betreiben und den Außenhandel zu kontrollieren. Viele Kaufleute
und Führer der ägyptischen Mamlukenhäuser gelangten in dieser
Zeit durch Kaffeehandel zu beträchtlichem Wohlstand.
82
Nordafrika in der Frühen Neuzeit
Die seit jeher intensiven wirtschaftlichen Verbindungen Nord­
afrikas mit den anderen Ufern des Mittelmeers wurden im späten
18. Jahrhundert allmählich einseitiger: Westeuropäische Mächte
erwarben zunehmend Privilegien, bauten den politischen Einfluss ihrer Konsulate in Nordafrika aus und bestimmten immer
mehr das Wirtschaftsgeschehen.
Zunächst brachte das 18. Jahrhundert den westlichen osmanischen Provinzen eine gewisse Stabilität; im Gegensatz zu den
blutigen Regierungswechseln ihrer Vorgänger starben die meisten algerischen Deys friedlich im Bett, in Tunesien etablierte sich
1705 die Familie der Husayniden, in Tripolis 1711 die der Karamanli als lokale Machthaber. Die Suche der Provinzeliten nach
neuen Einnahmequellen führte indes dazu, dass sie versuchten,
bisher autonome Regionen unter direkte Kontrolle zu bringen,
und mit steigendem Steuerdruck zur Rebellion trieben. Im Zeitalter der Napoleonischen Kriege lebte das Kaperwesen nochmals
auf, wurde aber durch modern ausgerüstete Strafexpeditionen
Frankreichs, Großbritanniens und der USA endgültig unterbunden.
Während der Krisenzeit im letzten Drittel des 18. Jahrhundert kippte die delikate Machtbalance in ganz Nordafrika. Aufgrund politisch instabiler Verhältnisse, verheerender Kriege, Dürren und Seuchen brach die Wirtschaft ein, und es kam zu einem
Bevölkerungsrückgang. Nach zwei verlustreichen Kriegen gegen
Russland und der französischen Invasion Ägyptens verlor das
Osmanische Reich im 19. Jahrhundert die Herrschaft über Nordafrika an westliche Mächte, hielt sich aber in Libyen bis 1912.
Henning Sievert
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