PID, PND, Forschung an Embryonen

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DOKUMENTATION
PID, PND, Forschung
an Embryonen
Aufsätze
Berichte
Diskussionsbeiträge
Kommentare
im Deutschen Ärzteblatt
Beiträge aus 2008
www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung
VORWORT
DOSSIER ZUR EMBRYONENFORSCHUNG
PID, PND, Forschung
an Embryonen
Das Deutsche Ärzteblatt gibt eine erweiterte Dokumentation heraus,
die im Internet abgerufen werden kann.
ls das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2002 seine erweiterte Dokumentation zu embryonaler Stammzellforschung, pränataler Diagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID) vorlegte, war die Diskussion über diese Themen in vollem Gange. Ein Ende ist
nach wie vor nicht in Sicht.
Ausgelöst wurde der öffentliche Diskurs durch den
vom Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) vorgelegten „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik“ im März 2000. Von Anfang an hat sich das Deutsche Ärzteblatt an der Debatte
beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort
kommen lassen. In einem Sonderdruck aus dem Jahr
2001 wurden diese Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf, zusammengefasst. Unmerklich verlagerte sich der Schwerpunkt dann von der Diskussion
über die Präimplantationsdiagnostik zur Forschung an
und mitEmbryonen und zur Gewinnung von Stammzellen. Die Meinungsbildung in der Ärzteschaft spiegelt
sich in der Berichterstattung und Kommentierung des
Deutschen Ärzteblattes wider, wie das jährlich aktualisierte Dossier verdeutlicht. Auch im Jahr 2008 sind im
Deutschen Ärzteblatt zahlreiche Beiträge zu der Thematik erschienen. Darin wird deutlich, dass nach wie vor
großer Diskussionsbedarf besteht. Nach langen Debatten sprach sich das Parlament im vergangenen Jahr für
eine Lockerung des Stammzellgesetzes von 2002 aus.
Mit großer Mehrheit unterstützte das Parlament am 11.
April in zweiter und dritter Lesung den Antrag von René
Röspel (SPD). Er sieht eine Verschiebung des Stichtags
für den Import von embryonalen Stammzelllinien von
Januar 2002 auf den 1. Mai 2007 vor. Ferner wird die
Strafandrohung für Forscher, die mit jüngeren Zelllinien
arbeiten, auf das Inland begrenzt. Internationale Kooperationen in diesem Forschungsbereich werden somit
vereinfacht.
A
sche Indikation wurde jedoch insofern erweitert, als die
Schwangere ohne zeitliche Befristung und ohne Beratung
abtreiben kann, wenn sie eine schwere psychische Beeinträchtigung wegen der zu erwartenden Behinderung des
Kindes geltend machen kann. Die Bundesärztekammer
hat immer wieder auf diesen Missstand aufmerksam gemacht und forderte unter anderem, dass sich die Frauen,
soweit keine unmittelbare Gefahr für ihr Leben besteht,
mindestens drei Tage vor dem geplanten Schwangerschaftsabbruch beraten lassen. Die fünf Initiativen, über
die im Dezember im Bundestag beraten wurde, haben einen Großteil der Forderungen der BÄK aufgenommen.
Die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und -Redakteure
zu diesen Themen sowie Aufsätze und Kommentare von
Ärzten, Wissenschaftlern und Theologen mit teilweise
konträren Ansichten findet man in dieser erweiterten
Dokumentation wieder. Zusätzlich können unter anderem auch der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik, wichtige Gesetze, wie das
Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz, Positionspapiere und Stellungnahmen sowie die Entschließungen der Deutschen Ärztetage abgerufen werden.
I
Gisela Klinkhammer
Klärungsbedarf im Bereich der pränatalen
Diagnostik
Im Bereich der pränatalen Diagnostik besteht ebenfalls
weiterhin Klärungsbedarf. So steht in diesem Jahr eine
Regelung von Spätabtreibungen an. Die Neuregelung des
Schwangerschaftsabbruchs im Jahr 1995 sollte unter anderem verhindern, dass Kinder aufgrund einer Behinderung oder Krankheit abgetrieben werden. So fiel dann
zwar die embryopathische Indikation weg, die medizini-
A 327
D O K U M E N TAT I O N
Vorwort zur 1. Auflage
Beiträge zum Diskurs
Als der Vorstand der Bundesärztekammer den „Diskussionsentwurf
zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorlegte, rief er zugleich zu einem öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit nunmehr
rund eineinhalb Jahren und hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag in der Presse gefunden. Inzwischen bringen auch Funk und
Fernsehen fast täglich Diskussionen
nicht mehr nur zur Präimplantationsdiagnostik (PID), sondern auch
zur Embryonenforschung.
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich
von Anfang an an dem Diskurs beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen lassen. In diesem Sonderdruck sind diese Beiträge,
beginnend mit dem Diskussionsentwurf, zusammengefasst. Die Redaktion hat sich sehr um Vollständigkeit
bemüht, gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass vielleicht
ein Leserbrief oder eine kleinere Notiz fehlen. Die Diskussion ist im Übrigen keineswegs abgeschlossen. Weitere Beiträge für spätere Hefte des
Deutschen Ärzteblattes sind in Satz –
Stoff genug für eine allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks.
Der Dokumentation der im Deutschen Ärzteblatt erschienenen
Beiträge vorangestellt sind ein Interview mit dem Präsidenten der
Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, geführt im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden 104. Deutschen Ärztetages, sowie der Bericht über die einschlägige Diskussion beim vorangegangenen 103. Deutschen Ärztetag.
Impressum
Dokumentation „PID, PND, Forschung an Embryonen“
Chefredakteur:
Heinz Stüwe, Köln
(verantwortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der
gesetzlichen Bestimmungen)
Gisela Klinkhammer, Herbert Moll
Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet)
Michael Peters
Inge Rizk
Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln
Chefs vom Dienst:
Redaktion:
Technische Redaktion:
Schlussredaktion:
Verlag:
A 328
Im Grunde genommen müsste
eine vollständige Dokumentation
über die Auffassungen der Ärzteschaft zu der mit Präimplantationsdiagnostik
zusammenhängenden
Thematik weitaus früher beginnen,
zumindest mit dem 88. Deutschen
Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde seine Haltung zur Invitro-Fertilisation (IVF) formulierte. Bereits damals wurden die daraus entstehenden Probleme der Embryonenforschung klar erkannt, der
Umgang mit den sogenannten überzähligen Embryonen diskutiert. Der
Ärztetag sprach sich schließlich
mit großer Mehrheit zugunsten von
IVF aus. Zur Embryonenforschung
stellte er fest: „Experimente mit
Embryonen sind grundsätzlich abzulehnen, soweit sie nicht der Verbesserung der Methode oder dem
Wohle des Kindes dienen.“ Diese
Formulierung war ein wenig strenger als die Vorstandsvorlage, entsprach aber noch einer zugleich vorgelegten Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht in Heft 22/1985), die der Ärztetag pauschal „begrüßte“. In einer
weiteren Richtlinie äußerte sich der
Wissenschaftliche Beirat später, ohne Zutun des Ärztetages, zur Forschung an frühen menschlichen
Embryonen (veröffentlicht in Heft
50/1985). Danach dürfen menschliche Embryonen „grundsätzlich“
nicht mit dem Ziel der Verwendung
zu Forschungszwecken erzeugt
werden. Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden erhebliche Spannun-
gen innerhalb des Beirates zu dieser
Frage überdeckt. Die Richtlinien
sprechen sich hingegen eindeutig
für Untersuchungen, die der Verbesserung der Lebensbedingungen
des jeweiligen Embryos und gleichzeitig dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn dienen, aus, sofern
Nutzen und Risiken miteinander
sorgfältig abgewogen werden.
Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss 1988 in Frankfurt eine Änderung der (Muster-)Berufsordnung.
Die Delegierten entschieden sich für
einen Mittelweg: Die Erzeugung von
Embryonen für Forschungszwecke
wurde untersagt und dem ein weiterer
Satz hinzugefügt: „Grundsätzlich
verboten ist auch die Forschung an
menschlichen Embryonen.“ Bei Einhaltung strikter Kriterien wurden allerdings Forschungen für zulässig gehalten, sofern sie der Deklaration von
Helsinki entsprechen.
Machen wir einen Sprung zum
100. Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach. Die damals neu strukturierte, bis heute geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet gleichfalls die
Erzeugung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken.
Verboten sind ferner diagnostische
Maßnahmen an Embryonen, „es sei
denn, es handelt sich um Maßnahmen zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener Erkrankungen im Sinne § 3 Embryonenschutzgesetz“.
Und das gehört der Vollständigkeit halber dazu: Seit 1991 gilt das
Embryonenschutzgesetz mit seinen
strengen Regeln – strengeren als sie
1985 von der ärztlichen Selbstverwaltung und ihren wissenschaftlichen Beratern formuliert worden
waren.
I
Norbert Jachertz
I N H A LT
Dokumentation in chronologischer Reihenfolge
Vorwort zur 7. Auflage:
PID, PND, Forschung an Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Vorwort zur 1. Auflage:
Beiträge zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Spätabtreibungen
Die Koalition drückt sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Samir Rabbata
Stammzellgesetz
Neuauflage „2008“ für den Kompromiss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Eva Richter-Kuhlmann
Beiträge aus dem Jahr 2008
Editorial
Extrakorporale Befruchtung
Woche für das Leben
Hoffen auf Gesundheit statt Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Gisela Klinkhammer
Peter Propping
Embryonale Stammzellforschung
Ein ethisches Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
Stammzellgesetz
Orientierungslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Kommentar von Norbert Jachertz
Gisela Klinkhammer, Eva Richter-Kuhlmann
Stammzelldebatte
Ringen um den Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
Pränatale Diagnostik
Hohe Zuverlässigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Dr. med. Bernt Schulze, Prof. Dr. med. André Reis
Eva Richter-Kuhlmann
Hohe ethische Standards gefordert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Stammzellforschung
„Ich habe das Rad nicht neu erfunden“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
Interview mit Bischof Wolfgang Huber
Eva Richter-Kuhlmann
Regenerative Medizin im Aufbruch
Wann das Leben beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
„Die EU-Kommission schießt gerne
mal übers Ziel hinaus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Gisela Klinkhammer
Interview mit Peter Liese
Editorial
Die Perfektionierung der Polkörperdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
„Wir fühlen uns der Würde des Menschen verpflichtet“
Peter Propping
Übersichtsarbeit
Polkörperdiagnostik – ein Schritt in die
richtige Richtung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Katrin van der Ven, Markus Montag, Hans van der Ven
A 308
Interview mit Christiane Woopen
362
D O K U M E N TAT I O N
Heft 1 2, 7. Januar 2008
EDITORIAL
Extrakorporale Befruchtung
Eine wichtige Literaturanalyse zur Höhe des Fehlbildungsrisikos bei
In-vitro-Fertilisation und intrazytoplasmatischer Spermieninjektion
Peter Propping
eit der Geburt von Louise Brown 1978, dem ersten durch In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugten
S
Kind, ist diese Methode der assistierten Reproduktion
sehr schnell zu einem Routineverfahren geworden. Mit
der IVF kann die Unfruchtbarkeit bei der Frau infolge
eines Tubenverschlusses überwunden werden.
Als Anfang der 1990er-Jahre die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) zur Behandlung der Unfruchtbarkeit des Mannes eingeführt wurde, waren viele
beunruhigt. Die Sorgen galten gesundheitlichen Risiken
für die durch ICSI gezeugten Kinder, auch wenn das
Verfahren die Erfolgsrate der extrakorporalen Befruchtung deutlich erhöhen konnte und auf diese Weise vielen
Eltern die Erfüllung ihres Kinderwunsches ermöglichte.
Imprinting-Defekte – Grund zur Sorge?
Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn:
Prof. Dr. med. Propping
A 330
Die Injektion eines Spermiums in eine Eizelle stellt immerhin ein ziemlich „gewaltsames“ Verfahren dar: Mit
dem Spermium wird eine unphysiologische Lösung in
die Eizelle injiziert. Die Zusammensetzung und der
pH-Wert der Lösung können das interne Milieu der
Zellorganellen sowie den Prozess der elternspezifischen
Reprogrammierung des väterlichen und mütterlichen
Erbguts nach der Befruchtung (1) beeinträchtigen. Auch
der Gemeinsame Bundesausschuss hatte die Sorge, dass
die ICSI mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko verbunden sein könnte. Bei Aufnahme der Methode in den Leistungskatalog der GKV im Jahr 2002 verlangte er daher,
dass die Sicherheit des Verfahrens nach 3-jähriger Anwendung überprüft wird.
Bertelsmann und Koautoren (2) untersuchten das
Fehlbildungsrisiko der beiden wichtigsten Verfahren der
extrakorporalen Befruchtung – IVF und ICSI – anhand
einer systematischen Literaturanalyse und stellen ihre
Ergebnisse in dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes vor. Diese Arbeit ist wichtig. Immerhin wird in unserem Land gegenwärtig etwa jedes 80. Neugeborene
durch IVF oder ICSI gezeugt. Seitdem Palermo et al. (3)
ICSI einführten, wurde die Methode sehr rasch zu einem Standardverfahren der Reproduktionsmedizin zur
Behandlung der Unfruchtbarkeit sowohl bei der Frau als
auch beim Mann.
Warum kamen die Sorgen vor einem erhöhten Gesundheitsrisiko nach ICSI auf? Das Verfahren war ohne
systematisch angelegte prospektive Begleitstudien in
die klinische Praxis eingeführt worden. Die Sorgen vor
Risiken nahmen zu, als Beobachtungen über Imprinting-Defekte bei Kindern bekannt wurden, die durch
ICSI gezeugt worden waren (4, 5). Es wäre bedenklich,
wenn die extrakorporale Befruchtung mit einem deutlich erhöhten Gesundheitsrisiko für die so gezeugten
Kinder verbunden wäre.
Die extrakorporale Befruchtung, meist durch ICSI,
ist auch Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik (PID). Dieses Verfahren ist in Deutschland durch
das Embryonenschutzgesetz verboten. Es wird aber in
vielen Ländern bei Risikopaaren praktiziert, um die Geburt eines Kindes mit einer schweren genetischen
Krankheit zu verhindern. Auch deswegen ist es wichtig,
eventuelle Gesundheitsrisiken für die durch ICSI gezeugten Kinder zu kennen.
Wie Bertelsmann und Koautoren (2) hervorheben,
fällt die große Varianz der Fehlbildungsraten nach extrakorporaler Befruchtung auf, die in den Publikationen
berichtet werden. Aufgrund der veröffentlichten Daten
ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Zeugung durch
ICSI das Fehlbildungsrisiko der Kinder im Vergleich zur
IVF deutlich erhöht. Dies ist beruhigend. Die Manipulation an der Eizelle scheint also kein Risikofaktor für
Fehlbildungen zu sein. Die meisten publizierten Angaben beziehen sich allerdings auf lebend geborene Kinder. Eine spontane frühe Selektion geschädigter Embryonen oder die Induktion von Aborten wegen fetaler
Fehlbildungen kann nicht ausgeschlossen werden.
Vergleichbares Risiko bei IVF und ICSI
Eine vergleichbare Erhöhung des Fehlbildungsrisikos
sowohl durch IVF als auch durch ICSI – etwa aufgrund
einer hormonellen Stimulation der Frau – kann momentan nicht ausgeschlossen werden. In der größten prospektiven Kohortenstudie von Katalinic et al. (6) beliefen sich die unkorrigierten Raten für größere angeborene Fehlbildungen bei Zeugung durch ICSI auf 8,7 %
im Vergleich zu 6,1 % in einer retrospektiven Kontrollgruppe (Differenz 2,66 %). Nach Berücksichtigung verschiedener Einflussfaktoren reduzierte sich die Differenz in dieser deutschen Studie (Lübeck) auf 1,36 %.
Wie Bertelsmann und Koautoren zeigen, haben darüber
hinaus 5 von 8 Studien keinen signifikanten Unterschied ergeben.
Prospektive Studien notwendig
Die prospektive Erhebung langfristiger Gesundheitsdaten bei Kindern, die durch Verfahren der assistierten Reproduktion gezeugt wurden, ist schwierig, insbesondere
wenn gleichzeitig für mögliche Einflussfaktoren kontrol-
D O K U M E N TAT I O N
liert werden soll. Trotzdem ist der Forderung von Bertelsmann und Koautoren (2) nach großen prospektiven Kohortenstudien zuzustimmen. Die durch ICSI oder IVF gezeugten Kinder sollten idealerweise sogar bis in das Erwachsenenalter beobachtet werden. Immerhin kann nicht
völlig ausgeschlossen werden, dass bespielsweise Imprinting-Fehler im weiteren Leben zu Stoffwechselstörungen führen oder etwa das Tumorrisiko erhöhen. Erfreulicherweise zeigten sich in einer Kohorte von 109
prospektiv untersuchten Kindern, die durch ICSI gezeugt
worden waren, im Alter von 10 Jahren keine Unterschiede in der psychomotorischen Entwicklung und im IQ im
Vergleich zu normal gezeugten Kindern (7).
Reproduktionsmedizinische Methoden dürfen sich
nicht nur an der Rate der geborenen Kinder orientieren.
Die Sicherheit des Verfahrens und die möglichen Risiken für das Kind müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Wenn die Gesundheitsrisiken nach fast 30 Jahren
der Anwendung von IVF und ICSI, falls überhaupt, nur
wenig erhöht zu sein scheinen, dann ist dies erfreulich,
jedoch kein Grund, weniger wachsam zu sein.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des
International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 19. 11. 2007; revidierte Fassung angenommen: 26. 11. 2007
LITERATUR
1. Haaf T: Geschlechterkonflikt im frühen Embryo: Elternspezifische Reprogrammierung des väterlichen und mütterlichen Erbguts nach der
Befruchtung. Dtsch Arztebl 2003; 100(36): A 2300–8.
2. Bertelsmann H, de Carvalho Gomes H, Mund M, Bauer S, Matthias K:
Das Fehlbildungsrisiko bei extrakorporaler Befruchtung. Dtsch Arztebl
2008; 105(1–2): 11–7.
3. Palermo G, Joris H, Devroey P, van Sterteghem AC: Pregnancies after
intracytoplasmic injection of single spermatozoon into an oocyte. Lancet 1992; 340: 17–8.
4. Cox GF, Bürger J, Lip V, Mau UA, Sperling K, Wu BL, Horsthemke B: Intracytoplasmatic sperm injection may increase the risk of imprinting
defects. Am J Hum Genet 2002; 71: 162–4.
5. DeBaun MR, Niemitz EL, Feinberg AP: Association of in vitro fertilization with Beckwith-Wiedemann syndrome and epigenetic alterations
of LIT1 and H19. Am J Hum Genet 2003; 72: 156–60.
6. Katalinic A, Rösch C, Ludwig M, German ICSI Follow-up Study Group:
Pregnancy course and outcome after intracytoplasmic sperm injection: a controlled, prospective cohort study. Fertil Steril 2004; 81:
1604–16.
7. Leunens L, Celestin-Westreich S, Bonduelle M, Liebaers I, PonjaertKristoffersen I: Follow-up of cognitive and motor development of
10-year-old singleton children born after ICSI compared with spontaneously conceived children. Hum Reprod 2007, vorab elektronisch
publiziert.
Prof. Dr. med. Peter Propping
Institut für Humangenetik der Universität Bonn
Wilhelmstraße 31, 53111 Bonn
Extracorporeal Fertilization – Important Review of The Literature on
Congenital Anomaly Associated with In Vitro Fertilisation and Intracytoplasmic Sperm Injection
Dtsch Arztebl 2008; 105(1–2): A 9–10
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0009
@
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
A 331
Heft
Heft1 4,
2,25.
7. Januar
Januar2008
2008
Ein ethisches Dilemma
Zurzeit wird über mehrere Entwürfe eines Stammzellgesetzes diskutiert.
Dabei gilt es, Forschungsfreiheit und die Hoffnung auf Heilung gegenüber
dem Embryonenschutz abzuwägen.
ie Debatte im Deutschen Bundestag wird mit Spannung erD
wartet: Noch vor der Osterpause will
das Parlament festlegen, ob und
möglicherweise wie das geltende
Stammzellgesetz geändert werden
soll. Zur Disposition stehen zurzeit
Oben: Yamanaka
zwei Gesetzentwürfe und ein selbstveröffentlichte dieses
ständiger Antrag. Ein vierter und
Bild mit Nervenzellen,
fünfter Gesetzentwurf werden in den
die sich aus den neu
nächsten Tagen und Wochen erwarprogrammierten
Hautzellen entwickelt tet. Wie die Entscheidung ausfällt, ist
und bleibt ungewiss, allein aufgrund
haben.
des komplizierten parlamentarischen
Abstimmungsprozesses. Fest steht:
Mittlerweile ist aus der Diskussion
um die Stammzellforschung ein
handfester Konflikt geworden, eine
engagierte Debatte in der Bevölkerung, ein politischer Poker um Mehrheiten über Fraktionsgrenzen hinweg
und sogar eine Auseinandersetzung
zwischen den Konfessionen.
„Die aktuelle Stichtagsregelung ist mit Blick
auf den vom Stammzellgesetz intendierten
Embryonenschutz nicht erforderlich.“
Prof. Dr. Jochen Taupitz, Institut für Deutsches, Europäisches
und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik,
Universität Mannheim
„Eine Änderung des Stammzellgesetzes
ist aus rechtlicher Sicht nicht notwendig . . .
Eine Abschaffung des Stichtags käme einer
Aushöhlung des Gesetzes gleich.“
Rainer Beckmann, Richter am Amtsgericht Kitzingen
A 332
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und viele Wissenschaftler
halten es für notwendig, die deutsche
Stichtagsregelung zum Import von
humanen embryonalen Stammzelllinien zumindest zu ändern oder ganz
zu streichen und die Strafandrohung
für Wissenschaftler aufzuheben. Für
die deutschen Stammzellforscher
steht in diesem Frühjahr viel auf
dem Spiel: Eine Gesetzesänderung
könnte neue wissenschaftliche Perspektiven eröffnen. Ein Stopp des
Imports von embryonalen Stammzellen könnte aber auch das Ende
ihrer bisherigen wissenschaftlichen
Arbeit bedeuten.
Nach dem geltenden Stammzellgesetz dürfen deutsche Wissenschaftler unter Androhung von Strafe nur an embryonalen Stammzelllinien arbeiten, die vor dem 1. Januar
2002 im Ausland hergestellt wurden. Diese Regelung war 2002 nach
heftigen Debatten vom Parlament
als Kompromiss beschlossen worden. Doch viele Forscher beklagen,
dass er sich mittlerweile als Sackgasse erweise. Die alten Zelllinien
seien mit tierischen Zellen kontaminiert und damit unbrauchbar. Zudem brächte die Tatsache, dass die
Arbeit mit jüngeren Zelllinien im
Ausland für deutsche Forscher strafbar ist, enorme Einschränkungen in
der internationalen Kooperation mit
sich. Es bestünde die Gefahr, dass
sich Deutschland wissenschaftlich
isoliere, wenn es sich ausschließlich
auf die Forschung mit adulten
Stammzellen beschränke.
Mit ihren wiederholten Forderungen steht die Wissenschaft nicht allein da. Rückendeckung erhält sie
von höchster Stelle: von Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie
auch von Bundesforschungsministerin Annette Schavan. Aber auch
Gegenwind gibt es reichlich. Erst
vor wenigen Tagen sprachen sich in
einem Gruppenantrag 115 Abgeordnete für die Beibehaltung der
geltenden Gesetzeslage aus.
Damit steht Deutschland 2008
wieder vor der gleichen Gewissensfrage wie vor sechs Jahren. Forschungsfreiheit und die Hoffnung
auf Heilung gilt es, gegenüber dem
Embryonenschutz abzuwägen – ein
schier unlösbares ethisches Dilemma, bei dem einzig der persönliche
Standpunkt zählt. Wieder werden
die Abgeordneten diese Frage ohne
Fraktionszwang entscheiden können. Auf den Weg gebracht sind
zwei verschiedene Entwürfe eines
Stammzellgesetzes sowie ein selbstständiger Antrag, ergänzt werden sie
demnächst vermutlich durch zwei
weitere Gesetzentwürfe:
Die Zitate sind den Stellungnahmen der Experten
anlässlich der Anhörung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung am
9. Mai 2007 entnommen.
Foto: AP/Yamanaka
EMBRYONALE STAMMZELLFORSCHUNG
D O K U M E N TAT I O N
Antrag auf den Weg gebracht, der
sich für die Beibehaltung der geltenden Stichtagsregelung einsetzt. Unterstützt wird dieser Antrag von der
Mehrheit der Grünen, von Herta
Däubler-Gmelin (SPD), Hans-Michael Goldmann (FDP) und von einer Reihe von CDU-Abgeordneten,
innerhalb der Partei „Lebensschützer“ genannt. Sie hatten sich auch
auf dem CDU-Parteitag Anfang Dezember letzten Jahres entschieden
gegen die Ausweitung des Imports
menschlicher embryonaler Stammzellen ausgesprochen. Julia Klöckner (CDU) warnte vor einer „ethischen Wanderdüne“. Wenn man einmal den Stichtag verschiebe, werde
das immer wieder passieren. Dennoch konnten sich die Gegner einer
Gesetzesnovellierung innerhalb der
CDU nicht durchsetzen. Mit knapper Mehrheit fasste der Parteitag
letztlich den Beschluss, den geltenden Stichtag nicht festzuschreiben
und zeigte sich damit offen für eine
Lockerung des Stammzellgesetzes.
4. Beschränkung der Strafandrohung auf das Inland: Einen weiteren Gesetzentwurf kündigte Priska Hinz (Die Grünen) an. Er soll die
Strafandrohung für Wissenschaftler
nur auf die embryonale Stammzellforschung im Inland beschränken.
5. Importverbot von embryonalen
Stammzellen nach Deutschland:
Nicht ausgeschlossen ist aber auch
die Rückkehr zu einem völligen Importverbot von embryonalen Stammzellen. Als sehr wahrscheinlich gilt
zumindest die Vorlage eines fünften
Antrags. „Es gibt Überlegungen, in
einem weiteren Gesetzentwurf die
Einschränkung der embryonalen
Stammzellforschung zu fordern“,
sagte Hubert Hüppe (CDU) dem
Deutschen Ärzteblatt. Mit diesem
Entwurf wolle man die Meinung der
Bevölkerung widerspiegeln. Anlass
für die Ankündigung war die Umfrage von TNS-Infratest im Auftrag
des Bundesverbands Lebensrecht
zum Thema Stammzellforschung,
die am 17. Januar in Berlin vorgestellt wurde. Ihr zufolge lehnen 61
Prozent der Deutschen die Forschung mit embryonalen Zellen ab
„Humane embryonale Stammzellen werden in
den kommenden Jahren enorme Bedeutung für die
Krankheitsforschung und die Medikamentenentwicklung erlangen.“
Prof. Dr. med. Oliver Brüstle, Institut für Rekonstruktive Neurobiologie,
Universität Bonn
„In den nächsten Jahren sind keinerlei therapeutische
Anwendungen unter Verwendung von humanen
embryonalen Stammzellen zu erwarten ... Die deutsche
Stichtagsregelung ist ein ethisches Minimum.“
Prof. Dr. med. Lukas Kenner, Molekularpathologe an der Medizinischen
Universität Wien
Eine Verschiebung
des Stichtags hält
Bundesforschungsministerin Annette
Schavan für „ethisch
verantwortbar“.
Foto: dpa
1. Komplette Streichung des
Stichtags: In einem interfraktionellen Gesetzentwurf fordern die FDPForschungspolitikerin Ulrike Flach
und Rolf Stöckel (SPD), die bislang
geltende Stichtagsregelung komplett zu streichen und durch eine
Einzelfallprüfung zu ersetzen. Auch
soll die Strafandrohung gegen deutsche Wissenschafter entfallen, die
sich an Forschungsprojekten mit
embryonalen Stammzellen im Ausland beteiligen. Unterzeichnet haben diesen „Entwurf eines Gesetzes
für eine menschenfreundliche Medizin“ auch die CDU-Abgeordneten
Katharina Reiche und Peter Hintze.
Vermutlich werden die meisten
FDP-Abgeordneten diesen Antrag
unterstützen.
2. Verschiebung des Stichtags:
Ein weiterer parteiübergreifender
Gesetzentwurf kommt aus der SPD.
Deren Bioethik-Experte, René Röspel, plädiert darin für eine einmalige
Verschiebung des Stichtags auf den
1. Mai 2007. Unterstützt wird er von
weiten Teilen der SPD, aber im Kern
auch von Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) und Bundesforschungsministerin Annette Schavan
(CDU). Die Ministerin betonte, dass
ein Durchbruch bei adulten Stammzellen nur möglich sei, wenn zuvor
an embryonalen Stammzellen geforscht werden könne. Eine Verschiebung des Stichtags sei deshalb
„ethisch verantwortbar“.
3. Beibehaltung der bisherigen
Rechtslage: Abgeordnete aller Fraktionen, vor allem aber von der Union und Bündnis 90/Die Grünen,
haben jüngst einen selbstständigen
und fordern die ausschließliche Verwendung von adulten Stammzellen.
Hintergrund für die erneute heftige Debatte sind die Fortschritte auf
dem Gebiet der Stammzellforschung seit der Verabschiedung des
deutschen Stammzellgesetzes im
Jahr 2002. Für besondere Aufmerksamkeit sorgten die Ergebnisse von
Woo Suk Hwang. Der südkoreanische Stammzellforscher präsentierte 2004 der Weltöffentlichkeit die
ersten geklonten menschlichen Embryonen. So schnell, wie die Hoffnung auf die Heilung von Krankheiten durch individuell hergestellte
Ersatzzellen aufkeimte, zerplatzte
sie aber auch. Anfang 2006 stellten
sich nämlich sämtliche Ergebnisse
als Fälschungen heraus. Seitdem
werden die Erfolge im Bereich der
Stammzellforschung mit besonderer Vorsicht betrachtet.
Skepsis erzeugt auch die jüngste
Erfolgsmeldung der Forscher um
Robert Lanza von Advanced Cell
Technology, USA. Sie geben an,
menschliche embryonale Stammzellen gewonnen zu haben, ohne den
Embryo zu zerstören. Aus 43 Em-
A 333
Foto: dpa
D O K U M E N TAT I O N
bryonen stellten sie fünf Stammzelllinien her. Dazu verwendeten sie eine Technik, die auch bei der Präimplantationsdiagnostik genutzt wird,
in Deutschland jedoch durch das
Embryonenschutzgesetz verboten
ist. Deutsche Stammzellforscher
messen der Methode deshalb keinen
großen praktischen Wert bei.
Im Herbst vergangenen Jahres
war sich die Wissenschaftswelt allerdings einig: Bei den Forschungsergebnissen von Shinya Yamanaka
(Japan) sowie James Thomson und
Junying Yu (USA) handele es sich
um einen entscheidenden Durchbruch in der Stammzellforschung,
um einen „Wendepunkt in der Erforschung der Reprogrammierung“.
Den beiden Wissenschaftlerteams
gelang es, ausdifferenzierte Fibroblasten der menschlichen Haut zu
sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) zu reprogrammieren. Dazu benutzten sie
Gene, die sie mithilfe von Retroviren in die Zellen einschleusten.
Dass die Umwandlung von ausdifferenzierten Körperzellen in den
Urzustand nun auch bei humanen
Zellen gelang, lässt viele Menschen
hoffen, dass die Stammzellmedizin
eines Tages ohne Embryonen auskommen wird. Doch bis klinisch
anwendbare Ergebnisse vorliegen,
werden vermutlich noch einige Jahre vergehen. Ein eindeutiger Wegweiser für die Gestaltung eines neuen deutschen Stammzellgesetzes
A 334
Scharfe Kritik am
Stammzellbeschluss
der CDU übte der
Kölner Erzbischof,
Joachim Kardinal
Meisner.
kann der Durchbruch von Japan
und den USA somit nicht sein. Um
die Reprogrammierungsforschung
voranzubringen, würden von den
bereits etablierten humanen embryonalen Stammzelllinien die besten neuen Zelllinien als „Goldstandard“ benötigt, mahnte die Deutsche Forschungsgemeinschaft und
bekräftigte ihre Forderung nach einer Gesetzesnovellierung.
Scharfe Kritik an der Unterstützung der Forscher durch die Politik
kam erwartungsgemäß von kirchlicher Seite. Zunächst meldete sich der
Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner, zu Wort. Er kritisierte
vor allem Bundesforschungsministerin Annette Schavan, die sich eindeutig gegen die Position der katholischen Kirche gestellt habe. „Dass
sie dennoch ihre Eigenschaft als ,katholische Theologin‘ in die Waagschale wirft, ist ein Missbrauch des
Wortes ,katholisch‘ für eine von
durchsichtigen Forschungsinteressen motivierte Kampagne“, sagte
Meisner. Rückendeckung erhielt der
Kölner Erzbischof von Gebhard
Fürst, dem Bischof von RottenburgStuttgart. Er bedauerte gegenüber
dem „Tagesspiegel“ den Beschluss
des Parteitags. Die Kluft zwischen
Kirchen und Union sei in Fragen der
Bioethik „ganz klar größer geworden“, betonte Fürst. „Um es klar zu
sagen: Wenn bei der CDU ,C‘ draufsteht, muss auch ,C‘ drin sein.“ Bei
der Bioethik sind ihm inzwischen die
Grünen näher als die Union. „Wir sehen, dass die Ehrfurcht vor dem Leben und der Schöpfung bei dieser
Partei sehr stark ausgeprägt ist.“
Der Mainzer Bischof und Vorsitzende der Deutschen Bischofskon-
„Nach fünf Jahren intensiver internationaler
Forschung hat sich das Forschungsfeld gewandelt,
und eine Überprüfung der Regelungen von 2002
erscheint angesichts der geänderten Sachlage
auch ethisch angemessen.“
Prof. Dr. Klaus Tanner, Theologe an der Universität Halle-Wittenberg
„Es gibt in der Stammzelldiskussion keine
grundsätzlich neuen ethischen Argumente oder
Aspekte, die eine Reformierung des Gesetzes
erforderlich machen würden.“
Prof. Dr. Hille Haker, Moraltheologe, Katholische Theologie,
Universität Frankfurt am Main
ferenz, Karl Kardinal Lehmann,
sprach sich dafür aus, im Bundestag
den Fraktionszwang in dieser Frage
aufzuheben. Es gehe schließlich
nicht um die bloße Frage des Termins, sondern um die Grundsatzentscheidung, ob man menschliches
Leben zu Forschungszwecken töten
dürfe. „Unsere Antwort ist ein entschiedenes und klares Nein. Das
kann ich so im Parteitagsbeschluss
der CDU nicht mehr erkennen.“
Doch der Stammzellbeschluss
der CDU hat nicht nur zu einer Auseinandersetzung der Partei mit der
katholischen Kirche geführt, die
christlichen Kirchen ziehen in dieser Frage ebenfalls nicht an einem
Strang. In einem Beitrag der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“
(FAZ) vom 27. Dezember 2007 erkennt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD), Bischof Wolfgang Huber, in
der Debatte „Züge eines Kulturkampfs“. Er kritisiert indirekt Kardinal Meisner, wenn er meint:
„Manche katholische Stimme beansprucht, die allein vertretbare christliche Position zu artikulieren. Gemeint ist damit ein generelles Nein
gegenüber aller Forschung mit embryonalen Stammzellen.“
Es sei nicht nur legitim, sondern
geradezu notwendig, dass kontroverse Standpunkte innerhalb der
evangelischen Kirche ausgesprochen würden. Bei der Stichtagsregelung müsse man ebenfalls das Für
und Wider sorgfältig gegeneinander
abwägen. Embryonen seien auch für
ihn keine „Sachen“, mit denen man
nach Belieben verfahren könne,
schrieb Huber. Doch um der Forschung mit adulten Stammzellen
und der von ihr erhofften therapeutischen Fortschritte willen sei gegenwärtig noch eine Forschung mit embryonalen Stammzellen notwendig.
Die EKD selbst bekräftigte bei ihrer
Synode im November 2007, dass sie
„die Zerstörung von Embryonen zur
Gewinnung von Stammzelllinien
ablehnt“. Auch sie hält, wie Huber,
eine Verschiebung des Stichtags nur
dann für zulässig, wenn die derzeitige Grundlagenforschung aufgrund
der Verunreinigung der Stammzelllinien nicht fortgesetzt werden kann
und wenn es sich um eine einmalige
D O K U M E N TAT I O N
Stichtagsverschiebung auf einen
bereits zurückliegenden Stichtag
handelt.“
Der Osnabrücker katholische
Theologe Prof. Dr. theol. Manfred
Spieker warf Huber in seiner Antwort vom 2. Januar in der FAZ vor,
er mache sich „zum kirchlichen
Anwalt der Forschungslobby in der
Deutschen
Forschungsgemeinschaft“. Er ignoriere die Aussagen
von Forschern, die mit adulten
Stammzellen arbeiteten, dass sie der
ethisch so umstrittenen embryonalen Stammzellforschung nicht bedürften. Auch die Erfolge bei der
Reprogrammierung von Hautzellen
zu pluripotenten Stammzellen berücksichtige der Ratsvorsitzende
nicht. Ethische Urteile, die den
Schutz der Menschenwürde und das
Tötungsverbot Unschuldiger betreffen, beanspruchen eine Evidenz, die
nach Ansicht Spiekers jedes Abwägen verbietet. Er betrachtet Hubers
Eintreten für eine Verschiebung des
Stichtags nicht nur als Kurswechsel,
sondern auch als das „Ende der ökumenischen Gemeinsamkeit in den
Fragen der modernen Biomedizin“.
Innerhalb der evangelischen Kirche blieb Hubers Auffassung ebenfalls nicht unwidersprochen. So forderte Bayerns Landesbischof Johan-
nes Friedrich, der Embryonenschutz
müsse ohne jede Einschränkung
aufrechterhalten bleiben. Eine wissenschaftliche Forschung mit Embryonen sei „Tötung menschlichen
Lebens“ und ethisch nicht zu verantworten. Der Mainzer katholische
Moraltheologe Prof. Dr. theol. Johannes Reiter warnte davor, in dieser Frage einen Keil zwischen Katholiken und Protestanten zu treiben.
■
Gisela Klinkhammer
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
@
Ein Forum zum Thema im Internet:
www.aerzteblatt.de/foren/stammzellen
PRO UND KONTRA AUS DER DÄ-REDAKTION
Pro Stichtagsverschiebung
Das Stammzellgesetz aus dem
Jahr 2002 sollte novelliert werden. Eine Verschiebung des
Stichtags vom 1. Januar 2002
auf beispielsweise den 1. Mai
2007 würde das geltende Recht
keineswegs aushebeln, sondern lediglich der
ursprünglichen Intention des Gesetzes gerecht
werden. Damals wie heute geht es um die fundamentale Frage, ob in der Forschung Stammzelllinien aus menschlichen Embryonen verwendet werden dürfen. Unter strengen Auflagen ja,
lautete der Kompromiss des Parlaments vor
sechs Jahren.
Dieser Kompromiss sollte in seinen Grundzügen auch weiterhin Bestand haben. Fest steht:
Der Verbrauch von Embryonen bleibt ethischmoralisch nicht verantwortbar. Darauf würde eine solche Gesetzesänderung jedoch auch nicht
abzielen. Signale, Embryonen in großem Stil für
die Forschung zu nutzen, würden durch die Ver-
Kontra Stichtagsverschiebung
Es ist gibt gute und nachvollziehbare Gründe, die für eine
Verschiebung des Stichtags
sprechen. Doch wenn man davon ausgeht, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt (und bisher gibt es noch keine überzeugenden Argumente, die dagegensprechen), dann darf der
Zweck die Mittel nicht heiligen. Das heißt, dass
menschliches Leben, auch sich heranbildendes
menschliches Leben, nicht zum Zweck medizinischer Forschung getötet werden darf. Die
schiebung des Stichtags von Deutschland nicht
ausgehen. Deutsche Wissenschaftler hätten allerdings die Möglichkeit, sich straffrei an internationalen Forschungsprojekten, bei denen
Stammzelllinien jüngeren Datums verwendet
werden, zu beteiligen und diese vor dem Stichtag im Ausland etablierten Zellen für die eigene
Forschung zu nutzen.
Auf diese Weise ließe sich auch in Zukunft
eine qualitativ hochrangige Forschung in
Deutschland gewährleisten. Denn von den „alten“ Stammzelllinien sind momentan wegen
genetischer Instabilität und Kontaminierung
mit tierischen Produkten nur noch wenige einsetzbar. Zudem ist noch unklar, ob alle Zelllinien das gleiche Differenzierungspotenzial besitzen. Ein vergrößerter Pool von einsatzfähigen
Linien wäre unter diesem Gesichtspunkt hilfreich.
Nicht allen Forderungen der Wissenschaft
muss man nachgeben. Doch die meisten
scheinen im Hinblick auf das große Potenzial
der Stammzellforschung gerechtfertigt. Dabei
lässt sich die Forschung an adulten und embryonalen Stammzellen nicht isoliert betrachten. Beide Bereiche haben viele Berührungspunkte und bedingen einander. Die Stammzellmedizin insgesamt ist es, die es ermöglicht,
Mechanismen der Zelldifferenzierung, der Reprogrammierung sowie der Entstehung und
Heilung von Krankheiten zu erkennen. Nicht
ohne Grund arbeiten viele international renommierte Labors mit beiden Zellpopulationen.
Auch bei der jüngst erfolgreichen Reprogrammierung von menschlichen Hautzellen zu
künstlichen Stammzellen verwendeten Yamanaka und Thomson embryonale Stammzellen
zum Vergleich. Dass pluripotente Stammzellen
durch alternative Methoden gewonnen werden
können, ist denkbar. Langfristig könnte der
Einsatz von embryonalen Stammzellen überflüssig werden. Bis dahin sollte man die Forschung jedoch nicht unnötig erschweren. ■
Stichtagsregelung versucht diese Instrumentalisierung menschlicher Embryonen zu verhindern. Durch sie wird die zweckgerichtete Herstellung und Tötung von Embryonen umgangen, und Forscher werden auf sogenannte überzählige Embryonen verwiesen. Fraglich ist, ob
es überhaupt ethisch zu rechtfertigen ist, diese
überzähligen Embryonen für Forschungszwecke zu instrumentalisieren. Doch konnte eine zeitliche Befristung immerhin sicherstellen,
dass eine spätere „verbrauchende“ Nutzung
von Embryonen bei deren Tötung keine Rolle
spielen dürfe. Jetzt scheint allerdings einzutreten, was Kritiker der Einführung der Stichtags-
regelung schon immer befürchteten: Einer Verschiebung wird voraussichtlich als Nächstes
die völlige Aufhebung folgen. Die Frage, ob mit
einem Verbot der embryonalen Stammzellforschung die Konkurrenzfähigkeit der deutschen
Forschung gefährdet ist, darf übrigens in einer
solch fundamentalen ethischen Frage kein Argument sein. Abgesehen davon gibt es bisher
auch noch keine Beweise für medizinische Erfolge der Forschung mit embryonalen Stammzellen. Dies alles spricht für eine Förderung der
ethisch unbedenklichen Forschung mit adulten
■
Stammzellen.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Gisela Klinkhammer
A 335
D O K U M E N TAT I O N
Heft 11, 14. M rz 2008
STAMMZELLFORSCHUNG
Das Parlament hat die Forschungsfreiheit und die Hoffnung auf Heilung gegenüber dem Embryonenschutz abzuwägen (DÄ 4/ 2008: „Ein ethisches Dilemma“ von Gisela Klinkhammer und
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann, und DÄ
48/2007: „Reprogrammierungserfolge
entzünden erneut Debatte“ von Dr. med.
Eva Richter-Kuhlmann).
Noch viele Fragen offen
In dem Artikel wird die anstehende
Entscheidung als Dilemma zwischen Forschungsfreiheit und
Hoffnung auf Heilung beziehungsweise Embryonenschutz erwähnt.
Ist es denn wirklich so? Wird da
nicht ein Dilemma konstruiert?
Nehmen Gegner der embryonalen
Stammzellforschung die Hoffnung
auf Heilung? Verhindern sie Heilungschancen für Leidende? Stellt
die Möglichkeit der adulten
Stammzellforschung nicht ebenso
eine Hoffnung auf Heilung dar?
Und das ohne das Dilemma mit
dem Embryonenschutz? Der Aussage von Bundesforschungsministerin Annette Schavan, dass ein
Durchbruch bei adulten Stammzellen nur möglich sei, wenn zuvor an
embryonalen Stammzellen geforscht werden könne, dürften Forscher adulter Stammzellen widersprechen (wie auch Prof. M. Spieker) und die Ergebnisse von Shinya
Yamanaka und Jungying Yu aus
dem vergangenen Jahr ein gegenteiliger Beweis sein. Die Wegeslänge zur klinischen Anwendung
ist zweifellos in beiden Forschungssparten noch nicht absehbar. Im Kasten „Embryonen aus
Hautzell-DNA geklont“ wird dann
auch von „diesem Zellhaufen“ gesprochen, bei dem es sich nun doch
um einen Embryo handelt! Warum
diskutiert man eigentlich eine Verschiebung des Datums? Warum
dann 1. Januar 2007 und nicht wenigstens 2008? Dann sollte man
doch ehrlich sein und eine weitere
Verschiebung in x-Jahren gleich
offenlassen. Ein Argument gegen
weitere Verschiebungen wird nur
schwer zu finden sein. Entscheidend sollte bleiben, dass menschli-
A 336
ches Leben nicht zur Disposition
steht. Wie Frau Klinkhammer darstellt, gibt es keine überzeugenden
Argumente, die zeigen, dass nach
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle noch nicht menschliches
Leben besteht. Aus dieser Zelle
kann sich der Mensch
entwickeln . . . Dieses Leben kann
nicht zur Disposition gestellt werden, wenn es um möglicherweise
irgendwann realisierbare Heilung
geht, die noch keineswegs gewiss
ist.
Dr. med. Birgitta Stuebben,
Lech-Mangfall-Kliniken gGmbH am Klinikum
Landsberg, Bürgermeister-Dr.-Hartmann-Straße
50, 86899 Landsberg am Lech
Ein anderes ethisches
Problem
. . . In der öffentlichen Debatte über
die ethischen Probleme der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen (hESZ) ist seit
Jahren zwar dem Problem des Embryonenverbrauchs eine zentrale
Bedeutung beigemessen worden,
aber dies ist nicht das einzige Problem, das es hier gibt. Wie sich jetzt
zeigt, ist es noch nicht einmal das
ernsteste und schwierigste der Probleme, die diese Forschung aufwirft. Ich habe seit Jahren, seit Beginn der Stammzelldebatte, darauf
hingewiesen, dass die Potenzialität,
die die Stammzellen gegenüber anderen Zellen auszeichnet, Probleme
eigener Art aufwirft, und habe darüber auch des Öfteren (u. a. im DÄ
und kürzlich im Journal of Medical
Ethics) veröffentlicht . . . Mein
Hauptargument und die zentrale
Besorgnis, die sich daran knüpft,
ist, dass hESZ aufgrund ihrer besonderen Differenzierungspotenz
(„Pluripotenz“ oder, wie ich als Alternativterminus vorgeschlagen habe, Omnipotenz) totipotenten Zellen früher Embryonen so nahe stehen, dass man aus ihnen relativ
leicht und mit guter Erfolgsquote
lebensfähige Individuen klonen
kann, und zwar mit dem Verfahren
der tetraploiden Komplementierung. Das ist nach heutigem Kenntnisstand nur mit frühembryonalen
Zellen (Blastomeren) und eben
ESZ möglich. Dies wird in vielen
Labors weltweit bei der Maus exer-
ziert, und kein einschlägig tätiger
Forscher zweifelt daran, dass es
auch mit menschlichen ESZ erfolgreich durchführbar wäre. Dass dies
Implikationen für einen Informed
Consent (bei der Embryonenspende
und dem anschließenden Einsatz
der hESZ) und für Patentierungsfragen hat, haben wir in unseren
Veröffentlichungen schon hervorgehoben. Und nun kommt im Hinblick auf Ihren Artikel der Clou:
Diese Überlegungen und diese Bedenken greifen natürlich in vollem
Umfang auch für die durch Reprogrammierung aus somatischen Zellen (Fibroblasten) erzeugten pluripotenten/omnipotenten Zellen!
Dass auch diese „biologischen Artefakte“ (um einen Terminus des
US-amerikanischen President’s
Council on Bioethics zu benutzen)
ein direktes Klonen von lebensfähigen Individuen per tetraploider
Komplementierung möglich machen, ist bereits von der JaenischGruppe an der Maus gezeigt worden (Wernig, M. et al.: Nature 448,
318–24, 2007). Dieses ethische
Problem ist also durch Beschreiten
des Alternativwegs zur Erzeugung
von ESZ-ähnlichen Zellen nicht beseitigt worden; vielmehr wird es eine viel größere Dimension einnehmen, sobald die angestrebten verbesserten Verfahren der Reprogrammierung (die u. a. das Tumorrisiko eliminieren sollen) entwickelt worden sind und zu einer
breiten Anwendung dieser Technologie geführt haben werden. Man
bedenke nur, dass es ja doch schon
etwas Tiefgreifendes für den Zellspender bedeuten muss, dass aus
seinen Zellen nach der Reprogrammierung zumindest theoretisch
(nach Kryokonservierung auch
noch nach seinem Tod) ihm genetisch in wesentlichen Merkmalen
gleiche Individuen geklont werden
könnten, sollte das zu irgendeinem
Zeitpunkt irgendwer intendieren.
Ich bin überzeugt, dass es an der
Zeit ist, die mit der Potenzialität der
embryonalen Stammzellen zusammenhängenden ethischen Bedenken
nun endlich ernsthaft in die Erörterungen einzubeziehen. Hier liegt
die wahre Dimension der ethischen
Herausforderungen, vor die uns die
D O K U M E N TAT I O N
Forschung an pluripotenten/omnipotenten Stammzellen stellt!
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Werner Denker,
Lürsweg 20, 45239 Essen
Ethisches Dilemma?
Die embryonale Stammzellforschung wird als ethisches Dilemma, als „Zwangslage“ bezeichnet.
Aber trifft dies überhaupt zu? Muss
denn die Forschungsfreiheit hier
zwischen zwei in gleicher Weise
schwierigen Dingen wählen? Ich
denke nicht! Vor der berufsethischen Verpflichtung zum „salus aegroti“ steht doch hippokratisch das
„primum nil nocere“! Die Herstellung embryonaler Stammzellen
setzt das Töten des unschuldigsten
aller Menschen, des Embryos, voraus, den der Philosoph der Aufklärung I. Kant bereits als „Weltbürger“ anerkannte und für dessen
Lebensrecht er sich einsetzte –
übrigens ohne unser detailliertes
Wissen über dessen eigene Organisationskraft ab der Karyogamie.
Um den Erkenntnisstand der Aufklärung und die aus ihr erwachsene
Lebenskultur nicht erneut zu konterkarieren, sollte sich die moderne
Medizin auf die klinisch erfolgreiche adulte Stammzelltherapie konzentrieren und für die begleitende
Grundlagenforschung in verantwortlicher Weise tierische embryonale Stammzellen verwenden, raten
u. a. Prof. L. Kenner, Wien, und
Prof. A. Bauer, Heidelberg. Kurz:
Man löse sich von der (zwanghaften?) Fixierung auf bisherige Verfahren und setze seine wissenschaftliche Kreativität ungeteilt für
ethisch und rechtlich unbedenkliche Methoden ein. So beweglich
und frei ist der Forscher doch!
Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Markusberg 24
e, 54293 Trier
Ethische Verwirrung
Das von Ihnen angeführte ethische
Dilemma der Stammzellforschung
stellt sich als ethische Verwirrung
dar, insbesondere auch, was die erwähnte Kritik aus Reihen der katholischen Kirche betrifft. Bis 1869
vertrat die katholische Kirche bei
der Abtreibung in Anlehnung an
die antike biblisch-talmudische
Stufenlehre der Sukzessivbeseelung, später auch Epigenese genannt, eine Fristenlösung. Ein Embryo galt erst ab dem 40. Tag nach
Empfängnis als „beseelt“, erst danach galt eine Abtreibung als Tötung, so auch bei Thomas von Aquin. Als Papst Sixtus V. 1588 diese
Unterscheidung von unbeseeltem
und beseeltem Status eines Embryos abschaffen wollte, gab es einen solchen Sturm der Entrüstung
im Kirchenvolk, dass diese Fristenlösung nur drei Jahre später von
seinem Nachfolger wieder eingeführt wurde und bis 1869 (Papst Pius IX.) Bestand hatte. Die ebenso
willkürliche Lehre der Simultanbeseelung vom Zeitpunkt der Empfängnis ab, auf welche die Kirchenvertreter sich jetzt berufen, fand
erst 1917 Eingang in das katholische Kirchenrecht . . . Erst 1875
wurde erstmals die Verschmelzung
von Eizelle und Samenzelle beobachtet und später die Idee der Simultanbeseelung geboren . . .
Zunächst fiel auf, dass die Befruchtung der Eizelle zwar das erste Ereignis bei der Entstehung eines menschlichen Individuums ist,
aber nicht das absolut entscheidende. Aus einer befruchteten Eizelle
können nach Implantation mehrere
Individuen entstehen, eineiige
Zwillinge. Erst die Einnistung in
den Uterus führt also zur Individualität. In Anlehnung an die antike
Stufenlehre unterscheiden auch
namhafte katholische Theologen
zwischen artspezifischen, individualspezifischen und personenspezifischen Stadien der Embryonalentwicklung . . . Sie finden ihre
Entsprechungen in der modernen
Fortpflanzungsbiologie, insbesondere in den Erkenntnissen aus der
Genom- und Epigenomforschung,
die nahelegen, dass es sich bei den
präembryonalen Stadien von der
Zygote bis zur Blastozyste nicht
um Individuen handelt. Auffällig ist
zunächst die hohe Verlustrate von
über 70 Prozent vor der Implantation. Bezogen auf die Geburtenrate
gehen in Deutschland jährlich mehr
als 1,5 Millionen befruchtete Eizellen unbemerkt verloren und weltweit mehr als 250 Millionen. Das
allein sollte schon die Diskussion
um die Forschung an einigen wenigen Stammzellreihen
relativieren . . . Absurd ist es,
Stammzellen in der Petrischale besser zu schützen als den Embryo im
Mutterleib . . . Mit diesem Widerspruch lebt das Stammzellgesetz.
Zygoten, welche bei natürlicher
Befruchtung millionenfach der Vernichtung anheimfallen, werden in
vitro streng geschützt, während das
beginnende menschliche Leben,
welches im Uterus einen hohen
Schutz genießt, 100 000-fach dem
Eigennutz einer hedonistischen Gesellschaft geopfert wird. Ein Programm, welches in Billionen unserer Zellen vorhanden ist, ist noch
kein Mensch, auch nicht, wenn es
zu einer totipotenten Stammzelle
reprogrammiert wird. Die Gleichstellung von Stammzellen mit Embryonen und den Forschern ein Tötungsgeschäft zu unterstellen, welches in Wirklichkeit die Gesellschaft an den Embryonen begeht,
sind absurd. Aufgabe der Medizin
ist seit Tausenden an Jahren nicht
nur die Anwendung, sondern auch
die Schaffung bestmöglichen Wissens. An der Mauer der Stammzellforschung soll damit Schluss
sein . . .
Dr. med. Rolf Klimm, Bach 2, 83093 Bad Endorf
A 337
D O K U M E N TAT I O N
Heft 8, 22. Februar 2008
STAMMZELLDEBATTE
Ringen um den Kompromiss
Eva Richter-Kuhlmann
elig sind die, die Frieden stiften“, zitierte Margot
von Renesse (SPD) 2002 kurz vor der entscheiS
denden Abstimmung zum Stammzellgesetz aus der
Bergpredigt. In diesem Jahr wohnte von Renesse der
Debatte im Deutschen Bundestag am 14. Februar lediglich auf der Besuchertribüne bei. Doch auch ohne ihre
mahnenden Worte scheint der aktuelle Stammzellstreit
erneut auf einen Kompromiss hinauszulaufen. Die
fast vierstündige Debatte zeigte: Viele Parlamentarier
bemühen sich um einen ethisch vertretbaren Weg in
der Gewissensentscheidung zwischen Forschungsfreiheit und dem Verbrauch von menschlichen embryonalen Stammzellen.
Notwendig wird ein Überdenken des Stammzellkompromisses von 2002 aufgrund der geänderten wissenschaftlichen Rahmenbedingungen. Mittlerweile ist
es durchaus realistisch, pluripotente Stammzellen durch
alternative Methoden, wie die Reprogrammierung, zu
gewinnen und den Einsatz von embryonalen Zellen auf
lange Sicht überflüssig zu machen. Vorerst bleibt jedoch
die Forschung an embryonalen Stammzelllinien neueren
Datums unverzichtbar. Ein erneuter Kompromiss beziehungsweise die „Weiterentwicklung des Stammzellgesetzes von 2002“ – wie Bundesforschungsministerin
Annette Schavan (CDU) eine Verschiebung des Stichtags nennt – wäre somit keine „faule Ausrede“. Sondern
er wäre ein Zeichen für eine vernünftige und überlegte
Entscheidung im Sinne des geltenden Gesetzes.
Zur Diskussion stehen derzeit fünf Initiativen, darunter vier Gesetzentwürfe und ein Antrag auf Beibehaltung der geltenden Gesetzeslage. Als „Radikalpositionen“ gelten sowohl der interfraktionelle Gesetzentwurf
von Ulrike Flach (FDP) und Rolf Stöckel (SPD), die die
Stichtagsregelung komplett streichen wollen, als auch
der Gesetzentwurf von Hubert Hüppe (CDU), der zu
einem völligen Importverbot von embryonalen Stammzellen zurückkehren möchte. Dass einer von ihnen bei
der Abstimmung im Bundestag eine Mehrheit erhält, ist
unwahrscheinlich.
Bereits 184 Abgeordnete haben hingegen den Vorschlag des früheren Importgegners von embryonalen
Stammzellen, René Röspel (SPD), unterzeichnet. Er
plädiert für einen „einmaligen Nachschlag“ und setzt
A 338
sich mit seinem Gesetzentwurf für eine Verschiebung
des Stichtags auf den 1. Mai 2007 ein. Wichtigste „Konkurrenz“ für diesen Vorschlag ist der Kompromiss von
2002 selbst. Er hat ebenfalls viele Unterstützer, nämlich
128. Priska Hinz und Fritz Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen), Julia Klöckner (CDU) und Dr. Herta DäublerGmelin (SPD) wollen den Stichtag 1. Januar 2002
unangetastet lassen. Gleichzeitig zu diesem Antrag
brachten sie einen Gesetzentwurf ein, der als einzige
Modifikation die Strafbarkeitsbestimmungen für Forscher nur auf unerlaubte embryonale Stammzellforschung im Inland beschränkt. Bislang ist den Wissenschaftlern auch die Mitarbeit an Projekten im Ausland
verboten, bei denen Stammzellen jüngeren Datums
verwendet werden.
Trotz weitreichender Spannungen und Anfeindungen
im Vorfeld blieben persönliche Angriffe während der
Bundestagsdebatte aus. Dennoch sehr emotional und
ohne Beachtung der üblichen Fraktionsgrenzen warben
etwa 40 Redner bei den noch unentschlossenen Abgeordneten um die Unterzeichnung der Anträge. Allein
ihrem Gewissen folgend müssen diese sich nun entscheiden. Die Zeichen stehen 2008 erneut auf Kompromiss. Welcher Vorschlag die Mehrheit finden wird, ist
noch offen – vermutlich bis zur Osterpause. Dann soll
die Entscheidung fallen.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Redakteurin für Gesundheits- und Sozialpolitik
D O K U M E N TAT I O N
Heft 7, 15. Februar 2008
INTERVIEW
zu den Themen embryonale Stammzellforschung, Patientenverfügungen, christliches Profil von Krankenhäusern
mit Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Hohe ethische Standards gefordert
Der EKD-Ratsvorsitzende erläutert, warum er unter ganz bestimmten Voraussetzungen einer
Verschiebung des Stichtags beim Import embryonaler Stammzellen zustimmt und warum er
bestimmten Entwicklungen bei einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen skeptisch
gegenübersteht.
Die Entscheidung des CDU-Parteitags,
eine begrenzte Forschung an
embryonalen Stammzellen (ES) zu
ermöglichen – beispielsweise durch
eine Verschiebung des Stichtages –, hat
zu Auseinandersetzungen zwischen der
Union und den Kirchen geführt. Kann
man es Ihrer Ansicht nach als christlich
bezeichnen, Forschung zu verbieten,
die Leben retten kann?
Huber: Es muss zunächst einmal
klar sein, dass dem menschlichen
Embryo von Anfang an menschliche
Würde zuzusprechen ist. Daraus
folgt, dass auch hochrangige Forschungsziele keine Rechtfertigung
für die Herstellung von Embryonen
abgeben können. Man muss sich jedoch der Tatsache stellen, dass bei der
Herstellung menschlicher Embryonen zum Zweck der menschlichen
Fortpflanzung überzählige Embryonen entstehen. Und die einzige Frage,
die man auch aus christlicher Perspektive legitimerweise stellen kann,
ist, ob aus solchen überzähligen Embryonen embryonale Stammzellen
für hochrangige Forschungszwecke
entwickelt werden dürfen. Ich respektiere die Meinung derjenigen, die
auch das für ethisch ausgeschlossen
halten. Aber sie müssen dann zugeben, dass sie das Absterben der über
lange Zeit kryokonservierten Embryonen für die ethisch einzig angemessene Antwort auf diese Situation
halten. Diejenigen, die die embryonale Stammzellforschung grundsätzlich
ablehnen und sich stattdessen für eine
Forschung ausschließlich mit adulten
Stammzellen einsetzen, müssen sich
zudem mit der Frage auseinanderset-
zen, ob die Forschung mit adulten
Stammzellen ohne begleitende Forschung mit embryonalen Stammzellen möglich ist. Obwohl es das vorrangige Ziel bleibt, auf die Forschung
mit embryonalen Stammzellen zu
verzichten, habe ich nach langem
Zögern dem Kompromiss von 2002
Respekt gezollt.
viel Kritik einstecken müssen, sowohl
von der katholischen Kirche als auch
aus den eigenen Reihen. Haben Sie
damit angesichts dieses Synodenbeschlusses gerechnet?
Huber: Auch der Beschluss der
EKD-Synode schließt nicht aus,
dass es andere Positionen in der
evangelischen Kirche gibt, die eben-
In diese Richtung ging auch der
Beschluss der EKD-Synode vom
4. November 2007. Sie hat sich zudem
dafür ausgesprochen, auch ES-Zellen
jüngeren Datums für die Grundlagenforschung zu verwenden, wenn keine
anderen geeigneten Zelllinien mehr zur
Verfügung stehen. Dennoch haben Sie
aufgrund Ihrer Zustimmung zu einer
einmaligen Verschiebung des Stichtags
„
Dem Embryo ist von Anfang
an die menschliche Würde
zuzusprechen.
“
A 339
D O K U M E N TAT I O N
Befürchten Sie das auch?
Huber: Die Gefahr kann ich nicht
von der Hand weisen. Aber von einem Automatismus zu reden, ist in
meinen Augen vollkommen abwegig.
Denn im einen wie im anderen Fall
liegt es weiterhin in der Hand des Gesetzgebers, was geschieht; auch wenn
er jetzt eine einmalige Verschiebung
ablehnen würde, behielte er die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt
eine neue Regelung zu treffen. Ich bin
davon überzeugt, dass der Kompromiss von 2002 dazu beigetragen hat,
dass in Deutschland an den strengen
Regeln des Embryonenschutzgesetzes festgehalten wurde. Dabei soll es
auch weiterhin bleiben. Die Grenze
wird eindeutig dort überschritten, wo
menschliche Embryonen zu Forschungszwecken hergestellt werden.
Das soll die Stichtagsregelung verhindern; dabei bleibt es auch dann,
wenn es zu einer einmaligen Verschiebung des Stichtags kommt.
Ist es ethisch zu rechtfertigen, viel Geld
in eine Forschung zu investieren, deren
Erfolgsaussichten derzeit nur vage sind
und von der, wenn sie Erfolg hat,
wahrscheinlich hauptsächlich die
Menschen in den reichen Industrienationen profitieren werden?
Huber: Ich glaube nicht, dass wir in
Deutschland in diese Forschung so
viel Geld investieren, wie es vielleicht sogar nötig wäre. Wenn ich für
eine Verstärkung plädiere, denke ich
freilich in erster Linie an die Forschung mit adulten Stammzellen, die
in diesem Feld so schnell wie möglich
die allein bestimmende Forschungsrichtung werden soll. Solche Forschung kann am ehesten in reichen
Industriestaaten durchgeführt werden. Ob dabei Ergebnisse erzielt werden, die auch weltweit den Umgang
mit Krankheiten verändern, bleibt
tatsächlich fraglich, aber zu hoffen.
Unbegründet sind diese Hoffnungen
nicht. Ich gehe allerdings auch nicht
davon aus, dass Forschungen mit embryonalen Stammzellen Träger von
A 340
konkreten Heilungschancen sein
würden. Die Heilungshoffnungen
müssen sich in erster Linie auf adulte
Stammzellen richten.
Ethische Grundsatzdiskussionen gibt es
nicht nur am Anfang, sondern auch am
Ende des Lebens. Zurzeit wird intensiv
über Patientenverfügungen diskutiert.
Wie verbindlich sollten Ihrer Ansicht
nach Patientenverfügungen sein?
Huber: Wenn die Äußerung, die ich
gegenüber einem behandelnden Arzt
ausspreche, welche Behandlung ich
wünsche oder ablehne, als verbindlich anerkannt ist, dann hat auch die
Patientenverfügung an dieser Verbindlichkeit Anteil. Der Unterschied
ist nur, dass der Zeitpunkt, zu dem
chen Ethos zu folgen.
Sollten aufgrund der Unkenntnis der
späteren konkreten Situation bestimmte
Bereiche besser gar nicht geregelt
werden?
Huber: Es gibt gute Gründe dafür,
den Bereich dessen, was durch Patientenverfügungen geregelt werden
kann, eng zu definieren. Man muss
aber auch dem Einzelnen einen
gewissen Spielraum lassen. Die
Christliche Patientenverfügung, die
von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam herausgegeben wird, ist generell auf die
Frage bezogen, ob im Fall einer zum
Tod führenden Krankheit bei einem
nicht mehr äußerungsfähigen Pa-
Fotos: Jürgen Gebhardt
falls gut begründet sind. Auf der
Schutzwürdigkeit des Embryos basieren beide, die ablehnende Haltung zudem auf der Befürchtung,
dass es nicht bei einer einmaligen
Verschiebung bleiben wird.
ich eine Patientenverfügung unterschrieben habe, und der Zeitpunkt,
an dem sie gegebenenfalls in Anspruch genommen wird, auseinander
liegen. Es gehört also zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung dazu, dass sie in der konkreten Situation auslegungsbedürftig ist. Die Folgerung, die ich daraus ziehe, ist, dass
eine vorsorgende Vollmacht wichtiger ist als die Beschreibung von vermeintlich konkreten Situationen. Für
die Auslegung gilt, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen
und die Pflicht zur Fürsorge für sein
Leben gleichgewichtig berücksichtigt werden. Eine Patientenverfügung
entbindet Ärztinnen und Ärzte nicht
davon, den Grundregeln des ärztli-
tienten Behandlungen fortgeführt
werden sollen, die in unmittelbarem
Zusammenhang mit der zum Tod
führenden Krankheit stehen. Es besteht aber ausdrücklich auch die
Möglichkeit, weitere Verfügungen
selbst zu formulieren. Ich würde es
für schwierig halten, generell auszuschließen, dass jemand für ein lang
anhaltendes Koma, das unwiderruflich nach allen ärztlichen Einschätzungen zum Tod führen wird, eine
Bestimmung trifft.
Befürworten Sie eine gesetzliche
Regelung von Patientenverfügungen?
Huber: Die Rechtsprechung hat dazu geführt, dass eine gesetzliche Regelung nahezu unvermeidlich ist.
D O K U M E N TAT I O N
Ich bejahe das im Grundsatz, verbinde damit aber manche Sorgen.
Zu ihnen gehört die Vorstellung,
dass eine gesetzliche Regelung die
Patientenverfügung in bestimmten
Bereichen zu einer generellen
Pflicht werden lässt. Das hängt mit
der in Deutschland verbreiteten Neigung zu einer Fixierung auf das gesetzlich Geregelte zusammen. Bereits jetzt wird oftmals in Pflegeheimen bei der Aufnahme regelmäßig
nach einer Patientenverfügung gefragt. Es darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, das Vorliegen einer
Patientenverfügung sei die Voraussetzung für die Aufnahme. Denn zur
Freiheit eines Menschen gehört es
auch, keine Patientenverfügung haben zu müssen. Meine Sorge ist zum
einen, dass eine gesetzliche Regelung dieses Missverständnis auslösen könnte, und zum anderen, dass
eine gesetzliche Regelung das
Gleichgewicht von Selbstbestimmung und Fürsorge für das Leben
ins Rutschen bringen könnte. Das
kann ich unter gar keinen Umständen gutheißen.
die kompliziertesten Fälle landen,
weil diese sich dazu verpflichtet
fühlen, jeden aufzunehmen, der Hilfe
braucht. Man darf auch keine Zeittakte vorgeben, die jede Hinwendung zum Patienten ausschließen. Es
gibt jedoch noch viele Krankenhäuser – auch über den konfessionell
geprägten Bereich hinaus – die
durchaus wissen, welche Bedeutung
gute Seelsorge für den Heilungsprozess hat. An dieser Stelle vertraue
ich darauf, dass christliche Krankenhäuser auch hinsichtlich der Qualität
Vorbild sind und dies künftig weiterhin sein werden. Sie sind dabei
natürlich in die Vorgaben der Ökonomisierung eingebunden. So sehr
man das beklagt, muss man freilich
auch berücksichtigen: Damit wir
auch in Zukunft eine qualitativ
hochwertige Gesundheitsvorsorge
und -fürsorge haben, muss das
Gesundheitswesen finanzierbar bleiben. Deshalb muss man Gesichtspunkte des humanen Umgangs mit
Kranken verstärkt in die Bemühungen um eine wirtschaftliche Führung
von Krankenhäusern einbeziehen;
man darf sie nicht nur der Ökonomi-
sierung des Gesundheitswesens plakativ entgegenstellen.
Das Diakonische Werk fordert derzeit,
die Pflege von Angehörigen in Form von
Freistellungstagen zu unterstützen –
ähnlich wie die Pflege von kranken Kindern. Begrüßen Sie diesen Vorschlag?
Huber: Jeder kann in die Situation
kommen, in der die Fürsorge für die
eigenen Eltern ebenso aufwendig
und anspruchsvoll ist, wie es die
Fürsorge für die Kinder in einer
früheren Lebensphase gewesen ist.
Für Christen ist die Pflege der Eltern nahe liegend, denn das vierte
Gebot, das Gebot, die Eltern zu achten, bezieht sich genau auf diese Situation. Das bedeutet, dass Regelungen, die man in der Fürsorge für
Kinder als notwendig erachtet, im
Prinzip auch auf diese anderen Lebenssituationen übertragen werden
sollen. Man muss Lösungen finden,
die sowohl für den Arbeitgeber als
auch für die Solidargemeinschaft
finanzierbar sind.
■
Die Fragen stellten Gisela Klinkhammer
und Eva Richter-Kuhlmann.
Wie kann man den Menschen die Angst
vor einem Sterben ohne Würde nehmen?
Der ökonomische Druck auf die Krankenhäuser wächst. Auch die evangelischen
Häuser sind ökonomischen Zwängen
unterworfen, beispielsweise den DRGs.
Sehen Sie in dieser Entwicklung eine
Gefahr für die Menschlichkeit und
Christlichkeit in der Medizin?
Huber: Ja, ich habe mich deshalb
dafür ausgesprochen, dass die DRGs
nicht auf alles und nicht auf jeden
angewendet werden dürfen. Ich habe
auch darauf hingewiesen, dass man
aufpassen muss, dass in den christlichen Krankenhäusern nicht allein
Heft 9, 29. Februar 2008
SUCHMASCHINE
Forschung besser finden
Wie viele Graduiertenkollegs fördert
die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) an einer Hochschule?
Wer forscht auf dem Gebiet der Materialforschung in Schleswig-Holstein?
Welche Themenschwerpunkte gibt es
derzeit im Bereich der Stammzellforschung? Die DFG-Suchmaschine
„Gepris – Geförderte Projekte der
DFG“ (Internet: www.dfg.de/gepris)
hilft bei der Beantwortung dieser und
Foto: Fotolia/V2
Huber: Dadurch, dass andere Elemente neben der Patientenverfügung
gefördert werden. Dazu gehört in erster Linie die Stärkung der Palliativmedizin und die breitere Einführung
von ambulanten und stationären
Hospizdiensten. Aber alles, was unter dem Stichwort „aktive Sterbehilfe“ steht und was ja genauer als „Tötung auf Verlangen“ oder als „Hilfe
zur Selbsttötung“ bezeichnet werden
muss, ist aus christlicher Sicht
grundsätzlich abzulehnen.
anderer Fragen. Der recherchierbare
Datenbestand von Gepris umfasst
mehr als 50 000 Projekte, 35 000
Personen und 16 500 Institutionen.
Koordinierte Förderverfahren, zum
Beispiel Sonderforschungsbereiche,
Graduiertenkollegs und Schwerpunktprogramme, sind integriert. Eine erweiterte Suche macht unter anderem die Recherche nach Bundesländern möglich, ein alphabetischer
Katalog lädt zum Stöbern ein. Erstmals kann die individuelle Suchhistorie unter dem Reiter „Mein Gepris“
abgespeichert werden. So gehen Recherchen, die zudem bequem als
PDF-Dokument heruntergeladen
werden können, nicht verloren.
Die Suchmaschine steht seit 1999
im Netz. Seit dem letzten Relaunch
ist sie auch barrierefrei. Künftig sollen zusätzlich die Daten der Exzellenzinitiative sowie Abschlussberichte DFG-geförderter Projekte mit
aufgenommen werden.
EB
A 341
D O K U M E N TAT I O N
Heft 10, 7. M rz 2008
REGENERATIVE MEDIZIN IM AUFBRUCH
Wann das Leben beginnt
Noch vor der endgültigen Entscheidung über eine Novellierung
des Stammzellgesetzes plädierten Wissenschaftler in Berlin
für eine Verschiebung oder Streichung der Stichtagsregelung.
er Termin für eine Fachkonferenz mit dem Titel „RegeneD
rative Medizin im Aufbruch“ war
geschickt gewählt. Kurz nach der
ersten Lesung im Bundestag über
eine Novellierung des Stammzellgesetzes, aber noch vor der endgültigen Entscheidung des Parlaments
erläuterten Wissenschaftler auf der
gemeinsamen Veranstaltung der
Friedrich-Ebert-Stiftung und des
Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), warum sie die
embryonale Stammzellforschung
für notwendig halten.
Mehrere Vorträge dienten dem
Zweck, die Verdienste der regenerativen Medizin herauszustellen. So
berichtete der Geschäftsführer der
Firma Cytonet, Dr. med. Dr. Wolfgang Rüdinger, dass schon heute
Ärzte Verbrennungsopfern mit vitalem Hautgewebe aus dem Labor
helfen könnten. Die Firma Cytonet
züchtete, so Rüdinger, Leberzellen,
um damit Patienten mit Vergiftungen oder angeborenen Stoffwechseldefekten zu helfen. Prof. Dr.
med. Andreas Zeiher, Frankfurt am
Main, berichtete, dass es Stammzellen gebe, mit deren Hilfe das
menschliche Herz unter Umständen
regeneriert werden könne.
Deutschland sollte sich nicht
vom Rest der Welt abkoppeln
„Schon heute ist es möglich, mittels
embryonaler Stammzellen praktisch
jedes beliebige Körpergewebe zu
züchten. Diese gezüchteten Zellen
lassen sich wieder in ein geschädigtes Körperorgan transplantieren,
wodurch dessen Regeneration erreicht wird. Der proof of principle
ist im Tierexperiment erbracht, jetzt
gilt es, diese Verfahren auch auf den
Menschen zu übertragen und so zur
Therapie von Patienten zum Beispiel mit Herzinfarkt, Diabetes oder
A 342
Morbus Parkinson zu nutzen“, sagte
Prof. Dr. med. Jürgen Hescheler,
Köln. Doch dazu eignen sich nach
Ansicht der Forscher die in
Deutschland zugelassenen Zelllinien nur bedingt. Außerdem könne
sich Deutschland nicht vom Rest der
Welt abkoppeln. „Wir müssen die
Voraussetzungen schaffen, damit
wir auch noch künftig an internationalen Forschungsverbünden teilnehmen und insbesondere mit unseren europäischen Stammzellkollegen zusammenarbeiten können.“
Hescheler plädierte deshalb für die
Zulassung neuer embryonaler
Stammzellen.
Diese Ansicht wurde auf der Tagung durchweg geteilt. Der VFA
fordert, so Prof. Dr. Klaus Burger,
Novartis, die Stichtagsregelung für
embryonale Stammzelllinien zu
streichen oder zumindest eine nachlaufende Stichtagsregelung einzuführen und deutschen Wissenschaftlern nicht länger Strafen anzudrohen, wenn sie im Ausland oder im
Rahmen internationaler Kooperationen an in Deutschland verbotenen
Stammzellen arbeiten. Außerdem
sollte die Einfuhr von Stammzelllinien nicht nur für Forschungszwecke, sondern auch für diagnostische, präventive und therapeutische
Zwecke gestattet werden.
Doch was ist mit dem Embryonenschutz? Für die Beantwortung
dieser Frage ist entscheidend, wann
man den Beginn des Lebens ansetzt.
Nach Ansicht Burgers beginnt
menschliches Leben nicht bereits
mit der Verschmelzung von Ei- und
Samenzelle, sondern erst mit der
Einnistung des Embryos in die Gebärmutter der Frau. Sonst müsse
man letztlich jede Zelle als
„menschliches Leben und damit als
schutzwürdig“ bezeichnen, meint
er. Selbst die katholische Kirche sei
bis ins 19. Jahrhundert von einer
stufenweisen Beseelung des Embryos (Sukzessivbeseelung) ausgegangen. Burger sprach sich deshalb
dafür aus, bis zur Nidation vom
„Präembryo“ zu sprechen. Hescheler verglich dieses frühe Stadium
des „Präembryos“ mit dem des
Menschen am Lebensende. So höre
das Leben bereits auf, bevor alle
menschlichen Gene zerstört seien,
weswegen man sich auf das geltende
Hirntod-Kriterium geeinigt habe.
„Stellvertretender
Kulturkampf“
Unterstützung erhielten die Forscher von Prof. Dr. med. Dr. phil.
Urban Wiesing, Tübingen. Er kritisierte vor allem die sogenannten Lebensschützer, die sich gegen jegliche Embryonenforschung aussprechen. Ihnen war bereits der
Kompromiss aus dem Jahr 2002
nicht restriktiv genug. Nach Ansicht
Wiesings führen die Lebensschützer
einen „stellvertretenden Kulturkampf“, in dem es ihnen um eine interpretative Vormachtstellung gehe
und darum, „der Pluralität Grenzen
zu setzen“. Wiesing wies auf den
Wertungswiderspruch hin, dass bereits jetzt Embryonen durch die Spirale und die „Pille danach“ millionenfach daran gehindert würden,
sich weiterzuentwickeln, obwohl es
durchaus andere Verhütungsmöglichkeiten gebe. Eine Anerkennung der
Ansichten der Lebensschützer bedeute auch die Missachtung anderer
Staaten, in denen Embryonenforschung erlaubt sei. Für Wiesing sprechen tragfähige Argumente dafür,
dass eine Verschiebung des Stichtags oder eine Aufhebung mit Einzelfallprüfung nicht den „unverzichtbaren moralischen Grundsätzen des
Zusammenlebens widersprechen“. ■
Gisela Klinkhammer
D O K U M E N TAT I O N
Heft 11, 14. M rz 2008
EDITORIAL
Die Perfektionierung der Polkörperdiagnostik
Eine Konsequenz des Embryonenschutzgesetzes
Peter Propping
aare, die Nachwuchs haben möchten, wollen ein
erhöhtes gesundheitliches Risiko für ihre Kinder
P
vermeiden. Die meisten tun auch alles, um eine eventuelle
Risikoerhöhung rechtzeitig zu erkennen. Dies ist ein natürliches, jedenfalls berechtigtes Interesse, und die Medizin
muss den Paaren dabei helfen. Es sind zum guten Teil soziologische Gründe dafür verantwortlich, dass das reproduktive Zeitfenster der Frau in den letzten Jahrzehnten immer kleiner geworden ist und das Gebäralter zugenommen
hat. Wurden 1975 in der alten Bundesrepublik noch 8,4
Prozent der Kinder von Müttern oberhalb des 35. Lebensjahres geboren, so waren dies 2002 in Deutschland 15,4
Prozent und 2006 bereits 17 Prozent (1). Jenseits des 35.
Lebensjahres der Frau nimmt die Wahrscheinlichkeit einer
Konzeption rapide ab. Die Hoffnung vieler Paare mit Kinderwunsch ruht dann häufig ganz auf der Reproduktionsmedizin, insbesondere auf den Verfahren der In-vitroFertilisation (IVF) und intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI). Das höhere Alter der Frau wiederum hat
eine erhöhte Rate numerischer Chromosomenaberrationen
in den Oozyten zur Folge. Bei einer 40-Jährigen sind 50 bis
70 Prozent der reifen Eizellen von einer Aneuploidie betroffen (2, 3). Die meisten numerischen Aberrationen sind
mit so schweren Entwicklungsstörungen verbunden, dass
es zu einem frühen Absterben des Embryos kommt.
Reduktion von Aneuploidien
Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn: Prof. Dr.
med. Propping
Eine Möglichkeit Aneuploidien in den Eizellen, die für
IVF/ICSI verwendet werden, zu reduzieren, ist die Chromosomenuntersuchung des Polkörpers. Die Polkörperdiagnostik (PKD) kann die IVF/ICSI ergänzen. In dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes stellt die Gruppe um van
der Ven und Montag die Ergebnisse der Methode vor.
Polkörper stellen gewissermaßen Abfallprodukte der
Oogenese dar. Durch die erste Reifeteilung gelangt je ein
Chromosomensatz in die Eizelle und den ersten Polkörper.
Wenn im Polkörper ein bestimmtes Chromosom fehlt,
muss es zusätzlich in der Eizelle vorhanden sein. Man
kann daher durch Untersuchung des Polkörpers im Differenzverfahren auf eine Fehlverteilung von Chromosomen
in der Eizelle schließen. Da die Kryokonservierung der
Oozyte noch schwierig ist, steht die PKD unter großem
Zeitdruck. Es können maximal 12 der 23 Chromosomen
in die Untersuchung einbezogen werden. Die Darstellung
von Chromosomen ist auch technisch schwierig, weil der
erste Polkörper nur zwei DNA-Kopien, der zweite Polkörper sogar nur eine Kopie enthält. In zwei bis drei Prozent gelingt der Nachweis einzelner Chromosomen nicht.
Die Ergebnisse von van der Ven et al. zeigen, dass bei
Frauen, die aufgrund ihres vorgerückten Alters ein erhöhtes Aneuploidie-Risiko haben, die Abortrate nach PKD
niedriger und die Implantationsrate etwas höher ist. Auch
fand man eine Tendenz zu einer verbesserten Geburtenrate. Zwar sind diese Ergebnisse ermutigend, doch weisen
die Autoren auf die Begrenzungen der Aussagen hin.
Diesen Befunden stehen Resultate gegenüber, die
durch Aneuploidie-Ausschluss mithilfe der Präimplantationsdiagnostik (PID) erhoben wurden (4). Die untersuchten Frauen waren im Durchschnitt jünger als bei van der
Ven et al. Die Schwangerschaftsraten erwiesen sich im
Vergleich zu IVF ohne PID als niedriger. Zur Aufklärung
dieser Diskrepanzen sind weitere Studien erforderlich.
Die PKD ist in Deutschland besonders vorangetrieben
worden, weil das Embryonenschutzgesetz die genetische
Untersuchung früher Embryonalstadien verbietet. Es stellt
sich die Frage, ob es redlich ist, dass wir in Deutschland
weiterhin darauf angewiesen sind, im Ausland erzielte Ergebnisse der PID zum Vergleich heranziehen zu müssen.
Dabei sind die dortigen Ergebnisse zum Teil an deutschen
Paaren erhoben worden, die als „PID-Touristen“ ausländische Zentren aufgesucht haben.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 31. 1. 2008; revidierte Fassung angenommen: 5. 2. 2008
LITERATUR
1. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2006.
www.ec.destatis.de.
2. Hassold T, Jacobs PA, Leppert M, Sheldon M: Cytogenetic and molecular studies of trisomy 13. J Med Genet 1987; 24: 725–32.
3. Kuliev A et al.: Frequency and distribution of chromosome abnormalities in human oocytes. Cytogenet Genome Res 2005; 111: 193–8.
4. Mastenbroek S, Twisk M, van Echten-Arends J et al.: In vitro fertilization
with preimplantation genetic screening. N Engl J Med 2007; 357: 9–17.
Anschrift für den Verfasser
Prof. Dr. med. Peter Propping
Institut für Humangenetik der Universität Bonn
Wilhelmstraße 31, 53111 Bonn
E-Mail: [email protected]
The Optimization of Polar Body Diagnosis – A Consequence of
the Embryo Protection Law
Dtsch Arztebl 2008; 105(11): 189
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0189
@
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
A 343
D O K U M E N TAT I O N
Heft 11, 14. M rz 2008
ÜBERSICHTSARBEIT
Polkörperdiagnostik – ein Schritt in
die richtige Richtung?
Katrin van der Ven, Markus Montag, Hans van der Ven
ZUSAMMENFASSUNG
Einleitung: Die Polkörperdiagnostik (PKD) ist eine neue
Methode zur indirekten genetischen Untersuchung von
Eizellen. Sie wird im Rahmen einer In-vitro-Fertilisationsbehandlung durchgeführt. Die Polkörperdiagnostik ist
labortechnisch anspruchsvoll und kein Routineverfahren,
das unkritisch in großem Umfang eingesetzt werden sollte,
denn ausreichende klinische Daten liegen nicht vor.
Methoden: Selektive Aufarbeitung der Literatur und Auswertung eigener Daten zur Polkörperbiopsie.
Ergebnisse: Das Haupteinsatzgebiet der PKD ist der Nachweis von Chromosomen-Fehlverteilungen (Aneuploidiediagnostik) und mütterlicher Translokationen in Eizellen.
Paternale genetische Faktoren sind nicht und monogene
Erkrankungen nur eingeschränkt diagnostizierbar.
Diskussion: Die Wertigkeit der PKD als Ergänzung zur Steigerung der Erfolgsraten der In-vitro-Fertilisation muss in
klinischen Studien noch belegt werden. Im Fall mütterlicher Translokationen erscheint die PKD zur Senkung der
Abortraten schon heute anwendbar. Durch Fortentwicklung
der Biopsietechniken und molekulargenetischen Diagnostik werden künftig mit der PKD umfassendere Untersuchungen möglich sein.
Dtsch Arztebl 2008; 105(11): 190–6
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0190
Schlüsselwörter: Polkörperdiagnostik, Aneuploidie-Testung,
In-vitro-Fertilisation, Kinderwunsch, Eizelle
ie Polkörperdiagnostik (PKD) ist eine Methode
zur genetischen Untersuchung von Eizellen
D
noch vor Abschluss der Befruchtung (Präkonzeptionsdiagnostik) (1). Die Entnahme und Untersuchung des
ersten und zweiten Polkörpers ermöglicht eine indirekte Aussage über die genetische Konstitution der Eizelle. Im Gegensatz dazu offeriert die Präimplantationsdiagnostik (PID) durch Entnahme und Analyse
einzelner Blastomeren die direkte Untersuchung des
Erbguts eines entstehenden Embryos (2). PKD und
PID sind nur im Rahmen einer In-vitro-Fertilisationstherapie durchführbar. Die Verfahren erlauben den
Nachweis von numerischen Chromosomenfehlverteilungen (Aneuploidien), Translokationen und monogenen Erkrankungen. Ziele dieser Methoden sind, die
Erfolgsraten der assistierten Reproduktion zu verbessern sowie Schwangerschaften und Geburten schwer
erkrankter Kinder zu vermeiden.
Aufgrund der höheren diagnostischen Aussagekraft
hat sich international die Präimplantationsdiagnostik
durchgesetzt. In Deutschland gilt die PID als nicht mit
dem Deutschen Embryonenschutzgesetz vereinbar.
Deshalb hat sich parallel zur anhaltenden ethischen
und juristischen Debatte über Inhalt und Nutzen dieser gesetzlichen Regelung die Polkörperdiagnostik
etabliert.
Neben der methodischen Darstellung werden im
Folgenden auf der Basis einer selektiven Literaturaufarbeitung Möglichkeiten und Wertigkeit der Polkörperbiopsie für verschiedene diagnostische Fragestellungen im zeitlichen und rechtlichen Rahmen des
Deutschen Embryonenschutzgesetzes erläutert und
diskutiert.
Meiose mit Bildung des ersten
und zweiten Polkörpers
Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin,
Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Universitätsklinikum Bonn:
Prof. Dr. med. van der Ven, PD Dr. rer. nat. Montag, Prof. Dr. med. van der Ven
A 344
Der diploide Chromosomensatz der Eizelle wird kurz
vor der Ovulation durch Vollendung der ersten Reifeteilung auf einen haploiden Chromosomensatz reduziert (Grafik 1). Ein Chromosomensatz verbleibt in
der Eizelle, während der zweite Chromosomensatz
unter Bildung des ersten Polkörpers aus dem Zytoplasma ausgeschleust wird.
Nach Eindringen eines Spermiums folgt die zweite Reifeteilung. Dabei spalten sich die zweifädigen
Chromosomen weiter in Chromatiden auf und ein
Chromatidensatz wird unter Bildung des zweiten Polkörpers ausgeschleust. Die Zahl der Chromosomen
D O K U M E N TAT I O N
beziehungsweise Chromatiden in Polkörpern und Eizelle ist nach regulär abgelaufener erster und zweiter
Reifeteilung gleich. Die Polkörper haben für die weitere embryonale Entwicklung keine nachgewiesene
Bedeutung und stehen für diagnostische Maßnahmen
zur Verfügung.
Nach der Fertilisation entwickeln sich in der Eizelle der männliche und weibliche Vorkern, die das maternale und paternale Erbmaterial enthalten. 16 bis
20 h später lösen sich die Vorkernmembranen als Vorbereitung auf die erste Zellteilung auf. Hiermit ist
nach biologischer Definition der Befruchtungsvorgang abgeschlossen.
Regelungen des deutschen
Embryonenschutzgesetzes
Das Embryonenschutzgesetz von 1990 gibt den zeitlichen und therapeutischen Rahmen für Verfahren der
künstlichen Befruchtung in Deutschland vor.
Als Embryo im Sinne des Embryonenschutzgesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige
menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der „Kernverschmelzung“ an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle. Embryonen dürfen einzig zum
Zweck des Embryotransfers erzeugt werden. Nach der
derzeitigen Interpretation dürfen maximal drei Eizellen befruchtet und maximal drei Embryonen einzeitig
auf die Mutter übertragen werden. Da die Polkörperbiopsie zeitlich vor der „Verschmelzung“ der Vorkerne stattfindet, stellt sie eine Maßnahme der Präkonzeptionsdiagnostik dar und ist mit dem Embryonenschutzgesetz kompatibel. Für die Durchführung der
PKD steht jedoch nur ein enger zeitlicher Rahmen von
maximal 20 h zwischen Eindringen des Spermiums
und Sichtbarwerden der Vorkerne zur Verfügung
(Grafik 2).
Zur Erweiterung des engen Zeitrahmens, den das
deutsche Embryonenschutzgesetz vorgibt, könnte theoretisch eine Kryokonservierung der Eizellen im Vorkernstadium bis zum Abschluss der genetischen Diagnostik
erfolgen. Trotz guter Überlebens- und Entwicklungsraten kryokonservierter Eizellen nach Polkörperbiopsie konnten bislang nur wenige fortlaufende klinisch
nachweisbare Schwangerschaften erzielt werden. Aufgrund ungelöster kryobiologischer Probleme stellt
dieses Vorgehen zurzeit noch keine akzeptable Strategie dar.
Entstehung und Häufigkeit von
Aneuploidien
Aneuploidien, das heißt Abweichungen von der regulären Chromosomenzahl, entstehen überwiegend
durch Fehlverteilungen der Chromosomen während
der Meiose (Grafik 3). Bis zu 80 Prozent der Aneuploidien entstehen während der ersten Reifeteilung.
Die Häufigkeit von Aneuploidien in Eizellen steigt
nach dem 35. Lebensjahr stark an. Bei einer 40-Jährigen sind schätzungsweise 50 bis 70 Prozent der reifen Eizellen von einer Chromosomenanomalie betroffen (3).
TABELLE 1
Polkörperdiagnostik (PKD) versus Präimplantationsdiagnostik (PID)
Polkörperdiagnostik
Präimplantationsdiagnostik
Vorteile
Vorteile
Polkörper sind keine embryonalen Zellen
Maternales und paternales Erbgut
beurteilbar
Polkörper verzichtbar für weitere
embryonale Entwicklung
Breiteres Indikationsspektrum
Ggf. größere diagnostische Sicherheit
durch Untersuchung mehrerer Zellen
Nachteile
Nachteile
Information nur über maternales Erbgut
Entnahme embryonaler Zellen
Eingeschränktes diagnostisches Spektrum
Potenzielle Einschränkung der
embryonalen Entwicklungsmöglichkeiten durch Blastomerenbiopsie
Dies erklärt das steigende Abortrisiko bei Patientinnen mit höherem mütterlichem Alter. Ein natürlicher Verlust von Embryonen mit abweichendem Chromosomensatz setzt bereits in frühen embryonalen Entwicklungsphasen ein und gilt als einer der verantwortlichen Faktoren für die vergleichsweise geringe Fertilität des Menschen (4). Neuere Daten belegen jedoch
auch bei jungen Frauen erhebliche individuelle Unterschiede bezüglich der Zahl chromosomal auffälliger
Eizellen und Embryonen (5, 6, 7). Über 90 Prozent
der embryonalen Chromosomenanomalien sind maternalen Ursprungs.
Die Aneuploidieraten in Spermien sind bei normalem väterlichen Karyotyp als gering einzustufen (1
bis 2,5 Prozent), steigen aber mit zunehmender Einschränkung der Spermaqualität signifikant an. Trotzdem tragen Spermien mit abweichender Chromosomenkonstitution selbst bei Verfahren der künstlichen
Befruchtung nur geringfügig zum embryonalen Aneuploidierisiko bei (8).
Indikationen zur Polkörperbiopsie
In Deutschland zielt die Polkörperdiagnostik hauptsächlich auf verbesserte Behandlungserfolge der assistierten Reproduktion und nur in Einzelfällen auf die
spezifische Diagnostik monogener Erkrankungen (9,
10) oder maternaler Translokationen (11).
Im Rahmen der assistierten Reproduktion müsste
die Identifikation chromosomal normaler Eizellen
durch die Polkörperdiagnostik höhere Implantationsund Geburtenraten ermöglichen.
Dies könnte insbesondere für Patientinnen von Vorteil sein, bei denen erhöhte Raten aneuploider Eizellen zu erwarten sind. Dies ist etwa der Fall bei höherem Lebensalter oder bei maternalen Translokationen,
und eventuell auch dann, wenn eine Implantation nach
Embryotransfer („Implantationsversagen“) wiederholt ausbleibt oder bei ungeklärten rezidivierenden
Spontanaborten.
A 345
D O K U M E N TAT I O N
Meiose mit Bildung
des ersten und
zweiten Polkörpers
(PK)
GRAFIK 1
Labortechnische Voraussetzungen
und diagnostische Sicherheit
Labortechnisch kritische Aspekte der Polkörperdiagnostik umfassen:
❃ die atraumatische Eröffnung der äußeren Eizellhülle (Zona pellucida)
❃ die zeitgerechte Entnahme der vollständigen Polkörper
❃ die präzise und umfassende genetische Diagnostik.
Das Eizelltrauma nach laservermittelter Eröffnung
der Zona pellucida wird mit circa 0,5 bis 1 Prozent
angegeben (12). Essenziell bleiben jedoch eine umfangreiche Laborroutine und technische Erfahrung
der beteiligten Biologen und Genetiker. Bei der Aneuploidiediagnostik kann sich der theoretische Vorteil
der PKD statistisch und klinisch erst auswirken, wenn
Zeitlicher Ablauf
der Polkörperdiagnostik; NVK,
Nukleolus-Vorläuferkörperchen
A 346
GRAFIK 2
methodenimmanente technische Risiken, wie zum
Beispiel Eizelltraumata und Fehldiagnosen, minimiert
werden.
Bei der Präimplantationsdiagnostik wurde beobachtet, dass bei Entnahme von ein oder zwei Blastomeren eine signifikante Reduktion des Implantationspotenzials der Embryonen resultieren kann (13, 14,
15). Das methodische Vorgehen muss im Hinblick auf
die Polarität des frühen Embryos kritisch hinterfragt
werden, weil bereits im Vier-Zellstadium alle Blastomere Differenzierungsmarker aufweisen (16). Die
Entfernung einzelner Blastomere könnte die Polarität
des Embryos und damit sein weiteres Entwicklungspotenzial beeinflussen, auch wenn für die verbleibenden Zellen des Präimplantationsembryos eine gewisse
kompensatorische Plastizität postuliert wird. Bei der
PKD werden lediglich Polkörper entnommen, die keine physiologische Bedeutung für die weitere Embryonalentwicklung haben. Ob aus diesem Grund die PKD
der PID im Rahmen der Aneuploidiediagnostik überlegen ist, müssen Studien zeigen.
Methoden zum Nachweis chromosomaler
Fehlverteilungen
Nach Biopsie des ersten und zweiten Polkörpers erfolgt die Darstellung verschiedener Chromosomen
(zumeist der Chromosomen 13, 16, 18, 21, 22) mit
einer Mehrfachproben-Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH). Meiotische Fehlverteilungen der genannten Chromosomen sind häufige Ursache für
Monosomien und Trisomien bei klinisch nachweisbaren Schwangerschaften und führen in hohem Prozentsatz zu Fehlgeburten. Bei der fluoreszenzmikroskopischen Auswertung wird bestimmt, wie viele Kopien
der untersuchten Chromosomen/Chromatiden im ersten beziehungsweise zweiten Polkörper vorhanden
sind.
Aus dem Ergebnis kann man indirekt auf den Chromosomensatz der Eizelle schließen. Mit der gegenwärtigen FISH-Technik können bis zu sechs Chromosomen in einer Bestimmung erfasst werden (17). Im
Zeitrahmen, den das Embryonenschutzgesetz vorgibt,
sind maximal zwei Bestimmungsansätze mit der Analyse von insgesamt zehn bis zwölf Chromosomen
durchführbar, was diese Untersuchungsmethode erheblich limitiert. Die Aussagekraft des Verfahrens
wird weiterhin durch den sogenannten FISH-drop-out
eingeschränkt, bei dem eine FISH-Sonde das zu untersuchende Chromosom nicht darstellt, obwohl es eigentlich vorhanden ist. Die Häufigkeit des FISHdrop-out wird mit zwei bis drei Prozent pro untersuchtes Chromosom veranschlagt.
Weitere Methoden zur simultanen Darstellung aller
Chromosomen wurden in diesem Zusammenhang bereits geprüft, sind aber entweder aus technischen
Gründen nicht praktikabel (18, 19) oder in der Zeitvorgabe des Embryonenschutzgesetzes trotz kürzlich
erreichter technischer Fortschritte noch nicht anwendbar (zum Beispiel comparative genomische Hybridisierung [CGH] und Chiptechnologie) (20–24).
D O K U M E N TAT I O N
Diagnostik monogener Erkrankungen
Die Polkörperdiagnostik kann zur Untersuchung monogener Erkrankungen herangezogen werden, ist aber
der Präimplantationsdiagnostik in Praktikabilität und
Diagnosesicherheit klar unterlegen. Physiologische
Abläufe während der Meiose – wie der Austausch genetischen Materials zwischen den homologen Chromosomen in der Prophase der ersten Reifeteilung
(Crossing-over) gegebenenfalls kombiniert mit einer
vorzeitigen Chromatidensegregation – reduzieren die
Aussagekraft dieser Methode und machen die Analyse
des ersten und zweiten Polkörpers zur Sicherung einer
korrekten Diagnose zwingend notwendig.
Bei monogenen Erkrankungen erfolgt der Nachweis der krankheitsspezifischen Mutation über eine
Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Neben der Kontaminationsgefahr bei Einzelzell-PCR sind methodeninhärente Probleme, wie die ausschließliche Amplifikation eines der zu untersuchenden Krankheitsallele
(Allele-drop-out) zu berücksichtigen. Ein Amplifikationsversagen tritt bei Einzelzell-PCRs in 10 bis
20 Prozent der Fälle auf (25) und kann unerkannt zu
Fehldiagnosen führen.
Ein grundsätzlicher Nachteil der Polkörperdiagnostik besteht darin, dass nur das mütterliche Erbgut untersucht und eine Aussage über mögliche paternale
Faktoren nicht getroffen werden kann. Dies wäre bei
maternalen autosomal-dominanten oder x-chromosomalen Erkrankungen maternalen Ursprungs akzeptabel, weil alle mutationstragenden Eizellen unabhängig
von der genetischen Konstitution des Vaters zu einem
erkrankten Kind führen.
Auch bei der Diagnostik rezessiver Erbgänge müssen
alle mutationstragenden Eizellen (statistisch 50 Prozent) verworfen werden, obwohl die Krankheit sich nur
bei 25 Prozent der entstehenden Embryonen manifestieren würde. Der Grund dafür ist, dass nur 50 Prozent der
Spermien ebenfalls die Krankheitsanlage tragen.
Entstehung
numerischer
Chromosomenaberrationen
(Trisomie/Monosomie) bei der
Bildung des ersten
Polkörpers
GRAFIK 3
Prädiktiver Wert der Polkörperbiopsie
bei der Aneuploidiediagnostik
Schätzungen zur Diagnosesicherheit der Polkörperbiopsie basieren auf Daten aus Abortmaterial. Ausgehend von chromosomenspezifischen Trisomieraten
in Abortmaterial wurde veranschlagt, dass durch
Analyse der Chromosomen 13, 16, 18, 21 und 22
etwa 50 Prozent der Chromosomenaberrationen, die
bei Fehlgeburten im ersten Trimenon auftreten, erfasst
würden (e1). Die geringe Zahl der durch Polkörperbiopsie mit FISH erkennbaren Chromosomen
stellt also eine klare Limitation der Methode dar.
Vergleichende Untersuchungen von Eizellen mitsamt zugehörigen ersten Polkörpern durch FISH
und CGH zeigten, dass bei Einsatz von fünf FISHSonden nur 37 Prozent der tatsächlich vorhandenen
Chromosomenanomalien erkannt wurden. Die Nachweisrate steigt beim Einsatz von zwölf FISH-Son-
TABELLE 2
Ergebnisse der PKD zur Aneuploidie-Testung bei Frauen zwischen 35 und 39 Jahren und
mindestens 2 vorausgegangenen IVF-Versuchen
PKD-Gruppe
Kontrolle
Statistik
Behandlungszyklen
159
163
Alters-Median
37,8
36,9
n.s.
Transferrate
89,3 % (142/159)
90,2 % (147/163)
n.s.
Embryonen/Transfer
1,77 (251/142)
2,02 (297/147)
P < 0,05
Biochemische SS-Rate/Transfer
31,7 % (45/142)
31,9 % (47/147)
n.s.
Klinische SS-Rate/Transfer
28,9 % (41/142)
21,8 % (32/147)
n.s.
Implantationsrate
17,5 % (44/251)
11,8 % (35/297)
P < 0,05
Abortrate
19,5 % (8/41)
28,1 % (9/32)
n.s.
Geburtenrate/Zyklus
20,8 % (33/159)
14,1 % (23/163)
n.s.
Geburtenrate/Transfer
23,2 % (33/142)
15,6 % (23/147)
P = 0,1
Zur statistischen Analyse wurden ANOVA und Chi-square-Test eingesetzt;
PKD, Polkörperdiagnostik; IVF, In-vitro-Fertilisation; n.s., nicht signifikant
A 347
D O K U M E N TAT I O N
TABELLE 3
Ergebnisse der PKD zur Aneuploidie-Testung bei Frauen ✞ 40 Jahren
PKD-Gruppe
Kontrolle
Behandlungszyklen
103
110
Statistik
Transferrate
80,6 % (83/103)
92,7 % (102/110)
n.s.
Embryonen/Transfer
1,75 (145/83)
2,03 (207/102)
P < 0,05
Biochemische SS-Rate/Transfer
20,5 % (17/83)
18,6 % (19/102)
n.s.
Klinische SS-Rate/Transfer
14,5 % (12/83)
14,7 % (15/102)
n.s.
Implantationsrate
9,7 % (14/145)
7,2 % (15/207)
n.s.
Abortrate
14,3 % (2/14)
46,7 % (7/15)
P = 0,06
Geburtenrate/Zyklus
9,8 % (10/103)
7,3 % (8/110)
n.s.
Geburtenrate/Transfer
12,0 % (10/83)
7,8 % (8/102)
n.s.
Zur statistischen Analyse wurden ANOVA und Chi-square-Test eingesetzt;
PKD, Polkörperdiagnostik
den auf 67 Prozent der durch CGH diagnostizier-baren Aneuploidien der Eizell-/Polkörperpaare (13, 22,
23).
Die zusätzliche Analyse des zweiten Polkörpers
verbessert die Nachweisraten chromosomaler Fehlverteilungen deutlich. Eine Untersuchungsreihe an
10 317 Oozyten aus 1 551 IVF-Zyklen (e2) fand bei
FISH-Analyse des ersten und zweiten Polkörpers für
fünf Chromosomen (Chromosom 13, 16, 18, 21, 22)
eine Aneuploidierate von 61,8 Prozent. Ein Drittel der
entdeckten Aneuploidien entstand während der zweiten Reifeteilung und war somit nur im zweiten Polkörper nachweisbar (6, e2, e3).
Während die Aneuploidieraten in Eizellen mit dem
mütterlichen Alter steigen (6, e3), zeigen postmeiotische Anomalien, die während der mitotischen Teilungen des frühen Embryos entstehen (zum Beispiel
Chromosomenmosaike) in allen Altersgruppen vergleichbare Inzidenzen.
Postmeiotische Chromosomenanomalien, nicht jedoch Aneuploidien, korrelieren eindeutig mit veränderter Morphologie und reduzierter Teilungsgeschwindigkeit der betroffenen Embryonen (e3). Da
laut Embryonenschutzgesetz die Auswahl der Eizellen
für den späteren Embryotransfer bereits im Vorkernstadium erfolgen muss, können die genannten Beurteilungskriterien der Embryonenqualität in Deutschland klinisch nicht genutzt werden.
Der Karyotyp der reifen Eizelle ist nach neueren
Studien der hauptsächliche determinierende Faktor
des Entwicklungspotenzials der resultierenden Embryonen. Die Mehrzahl der euploiden Eizellen entwickelt sich zu euploiden Embryonen, die wiederum
in einem wesentlich höheren Prozentsatz das Blastozystenstadium erreichen als Embryonen mit Chromosomenanomalien (93 versus 21 Prozent) (e4). Die
Aneuploidiediagnostik ist somit gerade in Deutschland ein wichtiges Instrument zur Identifikation von
Eizellen mit hohem Entwicklungspotenzial.
A 348
Während Chromosomenanomalien mit Ursprung in
der Meiose alle Zellen des Embryos betreffen, können
postmeiotische Aneuploidien im Hinblick auf die Zahl
betroffener Blastomeren und die Auswirkungen auf
die weitere Entwicklung des Embryos heterogen sein.
Die hohe Diskordanz der Chromosomenbefunde,
die im Rahmen der PID an verschiedenen Blastomeren desselben Embryos erhoben wurden (7, e5), und
die Festlegung adäquater Konsequenzen bei pathologischen Befunden stellen derzeit ein signifikantes
praktisches Problem der Präimplantationsdiagnostik
dar (e5, e6).
Ergebnisse der PKB
zum Aneuploidiescreening
Wie bei der Präimplantationsdiagnostik (12, 15, e6,
e7) ist der Nutzen der Aneuploidietestung bei der Polkörperbiopsie im Hinblick auf eine Steigerung der Erfolgsraten der extrakorporalen Befruchtung zurzeit
noch umstritten.
International wird die Polkörperdiagnostik zum
Aneuploidienachweis in großem Umfang nur von der
Arbeitsgruppe um Verlinsky eingesetzt. Die umfangreichste retrospektive Ergebnisdokumentation dieser
Gruppe umfasst mehr als 1 200 Behandlungszyklen
bei Patientinnen mit einem Durchschnittsalter von
38,5 Jahren und nicht näher definierter reproduktionsmedizinisch „schlechter Prognose“. Die klinische
Schwangerschaftsrate aller Zyklen mit Embryotransfer nach Analyse von fünf Chromosomen wurde mit
22 Prozent angegeben. Durchschnittlich wurden 2,35
Embryonen übertragen (e8). Eine Kontrollgruppe
wird nicht präsentiert.
Das Deutsche IVF-Register (DIR), das alle in
Deutschland durchgeführten IVF-Zyklen prospektiv
erfasst, zeigt für alle Patientinnen über 35 Jahre nach
regulärer IVF ohne Polkörperdiagnostik eine klinische Schwangerschaftsrate pro Embryotransfer von
21,3 Prozent (DIR 2003). Eine Auswertung der PKD
D O K U M E N TAT I O N
bei 460 Frauen aus einem deutschen IVF-Zentrum erbrachte, wie in der Arbeit von Verlinsky (e6), klinische Schwangerschaftsraten, die bei fehlender eigener
Kontrollgruppe sogar unter den Vergleichsdaten des
DIR liegen (e9).
Zum Nachweis des effektiven Nutzens der PKD
zur Aneuploidiediagnostik sind daher kontrollierte
Studien oder zumindest die Einbeziehung einer zentrumsbezogenen Kontrollgruppe zwingend erforderlich. Unter dieser Maßgabe haben die Autoren nach
Optimierung der Labortechniken eigene, prospektiv
in einem DIR-kompatiblen Erfassungsprogramm dokumentierte Behandlungsdaten nach Zyklen mit
und ohne PKD ausgewertet. Die Ergebnisse für die
Untergruppe der Frauen im Alter von 35 bis 39 Jahre
mit mindestens zwei vorausgegangenen IVF-/ICSIBehandlungsversuchen sind in Tabelle 2 dargestellt.
Diese Daten zeigen, dass trotz einer geringeren
Zahl transferierter Embryonen in der PKD-Gruppe
signifikant höhere Implantationsraten erzielt werden
konnten.
Eine Auswertung für Patientinnen über 39 Jahre
lässt erkennen, dass nach Durchführung einer PKD
bei vergleichbarer klinischer Schwangerschaftsrate
die Abortrate abnimmt (Tabelle 3). Diese Ergebnisse
weisen darauf hin, dass ein indikationsbezogener Einsatz der PKD, zum Beispiel bei erhöhtem Patientenalter, durchaus vorteilhaft sein könnte. Weitere Untersuchungen an größeren Patientenkollektiven und unter
standardisierten Laborbedingungen sind aber zur klinischen und wissenschaftlichen Evaluierung der PKD
unbedingt erforderlich. Eine eingeleitete Multicenterstudie konnte aufgrund unterschiedlicher Laborroutine und Biopsietechniken nicht fortgesetzt werden.
Ausblick
Die Polkörperdiagnostik ist eine neue Methode zur indirekten genetischen Untersuchung der Eizelle, deren
therapeutischer Nutzen bei individuellen Patientengruppen noch eindeutig belegt werden muss. Obwohl
bereits in mehreren deutschen Labors etabliert, ist die
Polkörperbiopsie technisch anspruchsvoll und keine
Routinemethode, die unkritisch in großem Umfang
eingesetzt werden sollte.
Parallel zur klinischen Evaluierung und Definition
klarer Indikationsgruppen ist eine weitere Optimierung der Labortechniken wünschenswert. Dazu
gehören Verbesserungen der Biopsietechniken und
der Kryokonservierung von Eizellen nach Polkörperbiopsie sowie die Erhöhung der Zahl untersuchter relevanter Chromosomen bei der Aneuploidiediagnostik. Unbestritten ist, dass in den nächsten Jahren die
Weiterentwicklung molekulargenetischer Methoden
auch die klinische Bedeutung der Polkörperdiagnostik
beeinflussen wird.
Als wesentlicher Nachteil der Polkörperdiagnostik
gegenüber der Präimplantationsdiagnostik durch Blastomerenbiopsie wird bestehen bleiben, dass paternale Faktoren nicht und monogene Erkrankungen nur
eingeschränkt diagnostizierbar sind. Zu betonen ist
weiterhin, dass die Polkörperbiopsie keine vorgezogene Pränataldiagnostik darstellt und diese nicht ersetzen kann.
In Kenntnis dieser Einschränkungen ist die Polkörperdiagnostik zum Beispiel zur Aneuploidietestung
dennoch ein Schritt in die richtige Richtung als indikationsbezogene Ergänzung einer Sterilitätstherapie
unter den limitierten Bedingungen des deutschen Embryonenschutzgesetzes.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien
des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 6. 7. 2006, revidierte Fassung angenommen: 16. 10. 2007
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Hans van der Ven
Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin
Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde
Universitätsklinikum Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25, 53105 Bonn
SUMMARY
Polar Body Diagnosis – A Step in The Right Direction?
Introduction: Polar body diagnosis (PBD) is a new diagnostic method
for the indirect genetic analysis of oocytes, which is carried out as
part of in vitro fertilization. The biopsy of polar bodies is technically
demanding and cannot be adopted uncritically a routine practice,
in the absence of robust data to support this laboratory procedure.
Methods: Selective literature review and analysis of own PBD data.
Results: The main application of PBD is the detection of chromosomal
aneuploidies and maternally inherited translocations in oocytes. The
major disadvantage of PBD is that the paternal contribution to the
genetic constitution of the developing embryo cannot be evaluated.
Moreover, the potential value of polar body biopsy for the diagnosis of
monogenetic diseases is limited. Discussion: The role of PBD in improving of success rates in assisted reproduction requires evaluation
in further clinical trials. For maternal translocations, PBD can be used
to reduce the risk of miscarriage. Rapid development in the field of
molecular diagnostic and biopsy techniques will also influence PBD
and will most likely allow wider application of this method in the near
future.
Dtsch Arztebl 2008; 105(11): 190–6
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0190
Key words: polar body diagnosis, aneuploidy testing, in vitro fertilization, infertility, oocyte
@
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
eLiteratur:
www.aerzteblatt.de/lit1108
Heft 11, 14. M rz 2008
STAMMZELLDEBATTE
Foto: dpa
Zwölf Experten – zwölf Meinungen
Das Ringen um das Stammzellgesetz
geht in eine neue Runde. Wegweisende Erkenntnisse konnte dabei
auch die kurzfristig anberaumte Anhörung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung am 3. März nicht liefern.
A 350
Stattdessen zeigten sich die zwölf
geladenen Sachverständigen aus den
Bereichen Medizin, Ethik, Recht und
Theologie ebenso uneins über eine
mögliche Novelle des Stammzellgesetzes wie die Parlamentarier selbst.
Prof. Dr. rer. nat. Hans Schöler,
Max-Planck-Institut für molekulare
Biomedizin, Münster, beklagte den
schlechten Zustand der zur Verfügung stehenden Stammzelllinien,
die vor dem 1. Januar 2002 im
Ausland etabliert wurden. Teilweise
seien sie unbrauchbar, hochrangige
Forschung nur eingeschränkt möglich. „Alte Stammzellen sind eindeutig für die Grundlagenforschung
zu verwenden“, sagte dagegen Prof.
Dr. med. Regine Kollek, Universität
Hamburg. Der Kardiologe Prof. Dr.
med. Bodo Strauer plädierte für die
Arbeit mit adulten Stammzellen.
Für seine Forschungsergebnisse
habe er nicht auf das Wissen aus der
embryonalen Stammzellforschung
zurückgreifen müssen.
Während der fünfstündigen Anhörung waren die Fraktionsgrenzen
aufgehoben. Vier parlamentarische
Initiativen liegen vor: Komplette
Streichung der Stichtagsregelung,
Verschiebung des Stichtags auf
2007, Beibehaltung des geltenden
Gesetzes sowie völliges Importverbot. Abstimmen über eine Änderung des Stammzellgesetzes will
der Bundestag nach der Osterpause.
D O K U M E N TAT I O N
Heft 14, 4. April 2008
SPÄTABTREIBUNGEN
Die Koalition drückt sich
Um die Zahl der Spätabtreibungen zu verringern, fordert die Ärzteschaft
gesetzliche Nachbesserungen. Doch die Politik fühlt sich nicht zuständig.
hefarzt Prof. Dr. med. Heribert Kentenich will nicht warC
ten, bis die Regierungskoalition
„
Was
dem muss sich die Befristung für eine Spätabtreibung nach Meinung
der Bundesärztekammer am Entendlich handelt und die unzurei- wicklungsstadium des Kindes orichende Regelung für Spätabtreibun- entieren. Vor allem von der 23.
gen reformiert. Schwangere, die in Schwangerschaftswoche an soll ein
Kentenichs Klinik, der Frauenklinik Abbruch nur nach strengen KriteriBerlin-Westend, eine Spätabtreibung en möglich sein.
vornehmen lassen wollen, müssen
Im vergangenen Jahr kam es nach
sich ausführlich beraten lassen und Angaben des Statistischen Bundessich mindestens drei Tage Zeit neh- amts zu 229 Abbrüchen nach der 23.
men, ihre Entscheidung gründlich Schwangerschaftswoche. Diese seizu überdenken.
en für die Schwangere und für den
Ein solches Vorgehen ist nicht betreuenden Arzt oft belastend, bedie Regel, denn das Gesetzbuch richtet BÄK-Präsident Prof. Dr. med.
schreibt für eine straffreie Spätab- Jörg-Dietrich Hoppe. Dies gelte instreibung weder ein Beratungsge- besondere, wenn der Wunsch nach
spräch noch eine Bedenkzeit vor. einem Abbruch wegen Schäden des
Deshalb entscheiden sich werdende Feten mit dessen extrauteriner LeEltern, die im Rahmen der Pränatal- bensfähigkeit zusammentreffe. Noch
diagnostik von einer schwerwiegen- schlimmer sei es, wenn der geden Erkrankung ihres ungeborenen wünschte Abbruch mit der Geburt
Kindes erfahren, häufig rasch für ei- eines lebenden Kindes ende und somit die Lebenserhaltungspflicht des Arztes
die Bundesärztekammer vorschlägt, eintrete.
Doch obwohl die
ist genau das, was wir machen –
Koalition um die Sorund es hat sich bewährt.
gen der Ärzte weiß,
Heribert Kentenich
duckt sie sich weg.
„Die Politik hat die
nen Schwangerschaftsabbruch. Die- Probleme zwar erkannt, aber sie ist
ses Verhalten sei zwar nachvollzieh- offenbar zu feige, diese zu lösen“,
bar, doch sollten in einer solchen kritisiert Hoppe. In den RegierungsSchocksituation keine Entscheidun- fraktionen herrsche die Sorge vor,
gen über Leben und Tod getroffen der gesamte Abtreibungsparagraf
werden, meint Kentenich. Der Gynä- 218 Strafgesetzbuch könnte über den
kologe unterstützt aus diesem Grund Umweg der Spätabtreibung infrage
die Forderung der Bundesärztekam- gestellt und auch die Rechtslage für
mer (BÄK) nach einer Änderung Abbrüche vor der zwölften Schwander bisherigen Bestimmungen für gerschaftswoche könnte neu diskuSpätabtreibungen. „Was die BÄK tiert werden. „Eine Generaldebatte
vorschlägt, ist genau das, was wir über den § 218 ist nicht nötigt, weil es
machen – und es hat sich bewährt“, sich bei unseren Vorschlägen nur um
Ergänzungen der bisherigen Regesagt Kentenich.
Die Bundesärztekammer fordert lungen handelt“, stellt Hoppe klar.
Die derzeit gültigen Bestimmuneine verpflichtende Beratung der
Schwangeren vor einer Spätabtrei- gen gehen auf die kontrovers disbung. Zwischen Diagnose und Ein- kutierte Gesetzesnovelle des § 218
griff sollen drei Tage vergehen. Zu- im Jahr 1995 zurück. Damals wur-
“
de die „embryophatische“ Indikation – bei der das Kind eine schwere Erkrankung aufweisen muss –
abgeschafft. Grund war ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts, wonach diese Begründung für einen Schwangerschaftsabbruch diskriminierend gegenüber Behinderten sei.
Rückendeckung von Merkel
In der Praxis ist die embryophatische Indikation allerdings in der erweiterten medizinischen Indikation
aufgegangen. Damit sind Schwangerschaftsabbrüche im Zusammenhang mit einer schweren Schädigung des erwarteten Kindes und einer erheblichen gesundheitlichen
Beeinträchtigung der Mutter bis unmittelbar vor der Geburt zulässig.
Das gilt auch, wenn es die Mutter
psychisch nicht verkraften kann, ein
behindertes Kind aufzuziehen.
Union und SPD hatten bereits im
Koalitionsvertrag angekündigt zu
überprüfen, wie die „Situation bei
Spätabtreibungen verbessert werden“ könnte. Doch geschehen ist
bislang nichts. Mittlerweile vertrete
die SPD die Auffassung, die Ärzteschaft solle die Probleme selbst lösen, sagt Hoppe. Dies sei jedoch
nicht möglich, weil das ärztliche
Berufsrecht für solch weitreichende gesamtgesellschaftliche Probleme nicht ausgelegt sei.
Rückendeckung bekommen die
Ärzte jedoch von Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU). Beim Parteitag der Christdemokraten Anfang
Dezember in Hannover zeigte sie
sich verärgert darüber, dass die Koalition bislang keine Lösung in dieser Frage gefunden hat. „Es gehört
zu den Dingen, die ich nicht verstehen kann, dass uns das mit unserem Koalitionspartner nicht gelingt“,
sagte sie.
■
Samir Rabbata
A 351
D O K U M E N TAT I O N
Heft 15, 11. April 2008
Heft 16, 18. April 2008
STAMMZELLGESETZ
RANDNOTIZ
Vera Zylka-Menhorn
Mit „Muh“ hat man bislang die Laute einer Kuh assoziiert. Seit Bekanntwerden der Klonexperimente
am Institut für Humangenetik an
der britischen Universität Newcastle,
könnte damit nun auch eine Chimäre
aus „viel Mensch“ (M) und „etwas
Kuh“ (uh) gemeint sein. Um genau
zu sein: aus 99,9 Prozent Mensch
und 0,1 Prozent Kuh. Konkret hat-
Chimäre „Muh“
ten die Stammzellforscher(innen)
um Lyle Armstrong Genmaterial aus
menschlichen Hautzellen in ausgehöhlte Eizellen von Kühen eingefügt – und diese anschließend mit
einem elektrischen Impuls zum
Wachsen angeregt. Die auf diese
Weise geschaffenen Hybrid-Embryonen seien ein wichtiger Erfolg
für die Stammzellforschung, erklärten die Wissenschaftler. Könne man
dadurch doch die geringe Verfügbarkeit wertvoller humaner Eizellen
überwinden.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hält die Klonexperimente für wenig zielführend.
Angesichts der nun möglichen „Reprogrammierung“ von Hautzellen in
embryonale Stammzellen, stelle
sich zudem die Frage, ob die Methode nicht bereits überholt sei.
Selbst Ian Wilmut, der mit dem
Klonschaf Dolly die Technik für
derartige Chimären entwickelt hat,
setzt nunmehr auch auf die Reprogrammierung von Hautzellen, mit
der viel effizienter therapeutisch
nutzbares Gewebe gewonnen werden könne. Gleichwohl wollen die
Forscher in Newcastle weitermachen – mit Kaninchen und Ziegen.
Angesichts dieser Entwicklung fragt
sich nicht nur Bischof Gebhard
Fürst (Rottenburg), als Vorsitzender
der Kommission Bioethik der Deutschen Bischofskonferenz, „zu welchen Tabubrüchen die Exponenten
der embryonalen Stammzellforschung in ihrem Experimentierwahn
noch bereit sind“.
A 352
Neuauflage „2008“ für
den Kompromiss
Nach langen Debatten sprach sich das Parlament für
eine Lockerung des Stammzellgesetzes von 2002 aus:
Der Stichtag für den Import von embryonalen Stammzellen wird verschoben.
ange und für alle sichtbar hielt
René Röspel (SPD) während
L
jeder namentlichen Abstimmungsrunde im Bundestag seine Stimmkarte in die Höhe: eine rote bei den
Anträgen von Ulrike Flach (FDP)
zur Liberalisierung der Stammzellforschung und von Hubert Hüppe
(CDU) zum Verbot dieses Forschungsbereichs; eine blaue bei der
Abstimmung seines eigenen Entwurfs eines neuen Stammzellgesetzes. Röspel hatte Erfolg. Mit großer
Mehrheit (346 Ja-Stimmen und 228
Nein-Stimmen bei sechs Enthaltungen) unterstützte das Parlament am
11. April in Zweiter und Dritter
Lesung seinen Antrag. Er sieht eine
Verschiebung des Stichtags für den
Import von embryonalen Stammzelllinien von Januar 2002 auf den
1. Mai 2007 vor. Ferner wird die
Strafandrohung für Forscher, die mit
jüngeren Zelllinien arbeiten, auf das
Inland begrenzt. Internationale Kooperationen in diesem Forschungsbereich werden somit vereinfacht.
Die vorangegangene Debatte
verlief engagiert und sachlich. Lediglich vier Minuten später als im
Protokoll vorgesehen, konnte mit
der Abstimmung über die fünf
Gesetzentwürfe begonnen werden.
„Es geht nicht um die Verschiebung
eines Datums, sondern um eine Verschiebung unserer Ethik, unserer
Normen“, warnte Hüppe zuvor und
forderte Unentschlossene auf, sich
durch ihr Votum für eine Beendigung der Forschung mit embryonalen
Stammzellen in Deutschland einzusetzen. Seinen Antrag lehnte das
Parlament mit 442 Nein- und 118
Ja-Stimmen ab. „Wir befinden uns
erst in der Phase der Grundlagenforschung. Alle Wege sollten den
Forschern offenstehen“, argumentierte dagegen Peter Hintze (CDU)
und warb für die völlige Abschaffung der Stichtagsregelung. Auch
diesen, von Flach gestellten Antrag,
lehnte der Bundestag mit 443 Neinund 126 Ja-Stimmen ab. Über die
beiden auf die Beibehaltung der
bisherigen Gesetzeslage abzielenden
Initiativen stimmten die Abgeordneten aufgrund der großen Mehrheit
für Röspels Entwurf nicht mehr ab.
Die Reaktionen auf das novellierte
Stammzellgesetz sind geteilt. Größtenteils begrüßt jedoch die Wissenschaftsgemeinde, wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft und
die Max-Planck-Gesellschaft, die
Entscheidung des Parlaments. „Sie
ist ein sinnvoller Kompromiss im
Geiste des Gesetzes von 2002“, sagte
auch Prof. Dr. med. Gerd Kempermann, Universität Dresden, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Das
Zentralkomitee der deutschen Katholiken nahm die Stichtagsverschiebung von 2002 auf 2007 hingegen
„mit großer Enttäuschung“ auf. Sie
sei „das falsche Signal“.
■
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
D O K U M E N TAT I O N
REAKTIONEN AUS DER STAMMZELLFORSCHUNG
„Ich begrüße die Entscheidung des Parlaments. Mit der Verschiebung des Stichtags
können wir als Forscher leben. Nach entsprechenden Anträgen und Genehmigungen
sind wir nun in der Lage, auf rund 500
neuere Stammzelllinien zurückzugreifen,
die qualitativ deutlich besser sind als die
etwa 20 Linien, die uns noch nach der bisProf. Dr. med.
herigen Gesetzeslage zur Verfügung standen.
Frank Emmrich,
Dies ist derzeit von großer Bedeutung, da
Leiter des Fraunhoferneben der Arbeit mit induzierten pluripotenten
Instituts für ZellStammzellen embryonale Stammzellen als
therapie und ImmunoVergleich benötigt werden. In einigen Jahren
logie, Leipzig, und
Direktor des Transwerden sie möglicherweise nicht mehr gelationszentrums für
braucht, denn ich glaube, dass die Zukunft
Regenerative Medizin,
bei den induzierten pluripotenten StammLeipzig
zellen liegen wird. Das wichtigste Element
des neuen Gesetzes ist für uns Forscher an der Basis jedoch die
Beschränkung der Strafandrohung gegenüber Forschern im Inland.
Internationale Kooperationen werden somit sicherer. Darüber sind wir
erleichtert.“
Foto: Fraunhofer-Gesellschaft
Foto: dpa
„Die Entscheidung des Parlaments respektiere
ich. Eine Verschiebung des Stichtags wäre
meiner Ansicht nach jedoch nicht nötig
gewesen. Wir hatten bereits einen Stichtag,
der sich bewährt hat. Yamanaka und Kollegen
haben ihre Versuche zur Reprogrammierung
von Hautzellen zu induzierten pluripotenten
Stammzellen (iPS) ebenfalls mit embryonalen
Stammzelllinien aus dem Jahr 1998 vorgeProf. Dr. med.
Bodo-E. Strauer,
nommen. Auf meine wissenschaftliche und
Direktor der Klinik für
klinische Arbeit mit adulten Stammzellen des
Kardiologie, PneumoMenschen hat die Entscheidung des Bundeslogie und Angiologie,
tags keinen Einfluss. Es mag interessant sein,
Heinrich-Heine-Uniadulte Stammzellen mit embryonalen verversität Düsseldorf
gleichen zu können. Wir haben embryonale
Stammzellen (ES) jedoch bei unserer Forschung in Düsseldorf nie vermisst. Forscher, die in Deutschland mit ES arbeiten, sollten sich bewusst sein, dass jede ES gleichzeitig eine potenzielle Tumorzelle mit einer Tumorrate von bis 86 Prozent ist. Die Therapie von Patienten ist
deshalb Wunschdenken. Künftige Stammzellforschung wird sich meiner
Ansicht nach zunehmend an iPS-Zellen orientieren, die die humanen
embryonalen Stammzellen methodisch verdrängen werden.“
Heft 16, 18. April 2008
WOCHE FÜR DAS LEBEN
Hoffen auf Gesundheit statt Erlösung
Die großen christlichen Kirchen in Deutschland sprechen sich gegen
den zunehmenden Fitnesswahn und aktive Sterbehilfe aus.
ung, schön und gesund – diesem Ideal jagen immer mehr
J
Menschen nach. In der Werbung
wird für zahlreiche Anti-Aging-Produkte geworben, in der Freizeit wird
„mal gejoggt, mal gewalkt oder sich
eine ,gesunde‘ Bräune aus dem Sonnenstudio geholt“, wie es der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof
Heinrich Mussinghoff, beschrieb.
Der Urlaub werde zum Wellnessurlaub, das Hotel zum Wellnesshotel mit Ayurveda-Anwendungen
oder Reiki-Massagen.
Gegen das wachsende Gesundheitsbewusstsein hat Bischof Mussinghoff ebenso wie der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD), Bischof Wolf-
gang Huber, wenig einzuwenden. Es
sei sogar durchaus anerkennenswert,
dass das deutsche Gesundheitssystem
trotz aller Finanzierungsschwierigkeiten weiterhin eine bemerkenswert
gute Grundversorgung leiste. Dennoch kritisierten die Bischöfe bei der
Auftaktveranstaltung der „Woche für
das Leben“ in Würzburg „krasse
Fehlentwicklungen“, so Bischof Huber. „Manchmal habe ich den Eindruck: Wo es früher noch um das Heil
der Seele ging, geht es heute nur noch
um den heilen Körper. Unsere Großeltern hofften auf die Erlösung; wir
hoffen nur noch auf Gesundheit.
Wenn das nicht klappt, fordert man
ein schnelles Ende. Denn ein beschädigtes Leben gilt nicht mehr als sinnvoll. Ärzte sehen sich vor die Er-
wartung gestellt, ihre Patienten von
Krankheit und Leiden zu ,erlösen‘.“
Die vom ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch vorgestellte
sogenannte Tötungsmaschine sowie
die Existenz von Sterbehilfe-Organisationen in der Schweiz bezeichnete
Huber als „erschreckend“. „Leiden
und Tod gehören zu unserem Leben.
Wer das leugnet, verleugnet die Wirklichkeit.“
Pflege wird zur Dienstleistung
Heutzutage bestehe die Gefahr, dass
Gesundheit zum Produkt der eigenen
Lebensgestaltung sowie der gegebenen medizinischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten werde. Der
EKD-Ratsvorsitzende fürchtet, dass
Ärzte zu Vertragspartnern würden,
A 353
D O K U M E N TAT I O N
Foto: dpa
„Gesundheit –
höchstes Gut“:
Unter diesem Motto
steht der auf drei
Jahre angelegte
Themenschwerpunkt der Kirchen,
der in Würzburg von
Bischof Heinrich
Mussinghoff (links)
und Bischof Wolfgang Huber vorgestellt wurde.
bei denen man eine gelungene Operation oder einen wiederhergestellten
Körper einklagen möchte. Der Heilungsprozess werde nach Diagnosen
berechnet und solle einem festgelegten Zeitschema folgen. Pflege werde
zur Dienstleistung, die man in einzelne Funktionseinheiten zerlegen könne. Die Orientierung an einem Produkt- und Kundenbewusstsein führt
Bischof Huber zufolge schließlich zu
einer Verrechtlichung, die am Ende
auch das Recht auf einen guten Tod
einzuschließen scheine. „Visionen
tauchen am Horizont auf, die uns in
eine dunkle Zeit unserer Geschichte
zurückverweisen: ,guter Tod – Euthanasie‘.“
Auch Bischof Mussinghoff,
fürchtet, „dass die Sorge um äußerliches Wohlbefinden und körperliche Fitness einen derart hohen Stellenwert einnimmt, dass man schon
von Gesundheitsreligion sprechen
kann“. Der körperliche und mentale
Leistungsträger werde zum „Nor-
malfall“, dem nicht nur die Werbung
ein gesteigertes Interesse entgegenbringe. An ihm richte sich inzwischen die ganze Gesellschaft aus.
„Denn wieso – so stellt sich dann eine Frage, die in den 20er-Jahren diskutiert und in der NS-Zeit konkrete
Politik wurde – müssen Mittel von
der Gemeinschaft aufgebracht werden für Menschen, die nichts Produktives für sie leisten?“
Bei aller Einigkeit in der Ablehnung des Fitnesswahns und der aktiven Sterbehilfe, nicht angesprochen
wurde – kurz vor der Entscheidung
des Bundestages – das Thema
Stammzellforschung. Bischof Huber
hatte seine Position in Berlin verteidigt. Gegen eine einmalige Verschiebung habe er keine Bedenken, sagte er
(dazu DÄ, Heft 7/ 2008). Dagegen
vertritt der Vorsitzende der Deutschen
Bischofskonferenz, Bischof Robert
Zollitsch, die Auffassung, dass eine
verbrauchende Embryonenforschung
niemals gerechtfertigt werden dürfe,
da embryonale Stammzellforschung
die Tötung menschlicher Embryonen
voraussetze.
■
Heft 18, 2. Mai 2008
SPÄTABTREIBUNGEN
Vorstoß zur Gesetzesänderung
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hat in Abstimmung mit der Bundesärztekammer (BÄK) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie
und Geburtshilfe (DGGG) eine Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes vorgeschlagen. Der
Vorschlag sieht eine ärztliche Beratung bei einem Abbruch aus medizinischer Indikation vor. Der Arzt
muss die Schwangere auf die Hilfen
einer psychosozialen Beratung hinweisen. Nach der Beratung muss
eine Bedenkzeit von mindestens
drei Tagen eingehalten werden.
Auch die statistische Erfassung des
Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation soll verbessert werden.
„Wir würden es sehr begrüßen,
wenn nun endlich im Schwangerschaftskonfliktgesetz die unbestrit-
A 354
tenen Defizite im gegenwärtigen
Recht behoben werden könnten.
Jetzt gibt es erstmals seit Jahren die
Möglichkeit, Einigkeit über eine
Gesetzesergänzung zu erzielen, die
sich eng an die konzeptionelle
Grundentscheidung der Reform aus
dem Jahr 1995 anlehnt und den
seinerzeit gefundenen Kompromiss
unangetastet lässt“, sagte der Präsident der BÄK, Prof. Dr. med. JörgDietrich Hoppe.
Etwa 120 000 Schwangerschaftsabbrüche werden pro Jahr in
Deutschland vorgenommen, davon
drei Prozent nach medizinischer Indikation. Der Präsident der DGGG,
Prof. Dr. med. Walter Jonat, betonte,
dass es gerade im späten Stadium
einer Schwangerschaft, „gleichermaßen einer kompetenten wie einfühlsamen Beratung bedarf“.
Kli
Gisela Klinkhammer
D O K U M E N TAT I O N
Heft 24, 13. Juni 2008
Heft 36, 5. September 2008
STAMMZELLFORSCHUNG
KOMMENTAR
Norbert Jachertz
chon zum zweiten Mal sind unsere
Parlamentarier der Forderung, die
Forschung an embryonalen Stammzellen
zu erleichtern, mehrheitlich erlegen. Der
Bundestag beschloss am 11. April eine
Revision des Stammzellgesetzes (vgl. DÄ,
Heft 16/2008), der Bundesrat folgte am
23. Mai, bis auf Bayern und das Saarland.
Im Bundestag und Bundesrat setzten
sich die Pragmatiker durch. Der Stichtag
wurde verschoben. Nunmehr dürfen
embryonale Stammzellen importiert
S
Der Bundestag hat eine neue Stichtagsregelung beschlossen (DÄ 24/2008: „Stammzellgesetz: Orientierungslos“ von Norbert
Jachertz).
Die DFG, bis dahin strikt gegen die
„verbrauchende“ Forschung, sekundierte
nun und forderte Liberalisierung. Der
Bundestag kapitulierte angesichts des
Fait accompli. Ergebnis: das Stammzellgesetz von 2002, ein fauler Kompromiss,
angeblich eine einmalige Ausnahme.
Auch der jüngsten Novellierung ging
eine Kampagne der Interessenten voraus. Im November 2006 forderte die
DFG einmal mehr, den Stichtag abzuschaffen, international tätige Forscher
STAMMZELLGESETZ
Orientierungslos
werden, die vor dem 1. Mai 2007 entstanden sind; bisher war Stichtag der
1. Januar 2002. Der Kompromiss erübrigte eine – an sich überfällige –
Meinungsbildung über die ethische
Rechtfertigung der „verbrauchenden“
Embryonenforschung. Das Parlament
müsste sich darüber eigentlich selbst
klar werden, um nicht bei Entscheidungen über die Forschung an humanen
embryonalen Stammzellen (HES) den
Forderungen der interessierten Kreise
orientierungslos ausgeliefert zu sein.
Sonst folgt Kompromiss auf Kompromiss.
Die einschlägigen Forscher und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG), die seit ihrem plötzlichen Sinneswandel 2001 massiv für die HES-Forschung eintritt, werden jedenfalls keine
Ruhe geben, hängen doch Karrieren, die
Sehnsucht, international mitreden zu
können, oder schlichtweg das Lebenswerk einiger Wissenschaftler an der
Fortsetzung der HES-Forschung. Ethische
Probleme? Eine Definitionsfrage. Organisatorisch zu lösen. Man schaffe eine Ethikkommission und besetze sie passend.
Das Muster, nach dem das strenge
deutsche Embryonenschutzgesetz
ausgehöhlt wird, ist seit 2001 bekannt.
Damals importierten mindestens zwei
Universitäten humane embryonale
Stammzellen, eine weitere stand kurz
davor. Sie nutzten eine Gesetzeslücke,
denn im Embryonenschutzgesetz war
der Import nicht ausdrücklich verboten.
von Strafandrohung frei zu stellen und
anwendungsbezogene Experimente
zuzulassen. Ganz so weit mochte der
Bundestag nicht gehen. Doch er kam
der DFG entgegen. Die goldene Brücke
hatte Bischof Wolfgang Huber, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in
Deutschland, gebaut. Er schlug im Gefolge der DFG die Verschiebung des
Stichtags vor. Das war nicht nur ein
Kompromissvorschlag, sondern mehr:
das Signal, dass die Bastion der Kirchen,
bis dahin ein Orientierungspunkt, keine
mehr war. Hubers gegenteilig gesonnene
Mitbrüder, evangelisch wie katholisch,
standen plötzlich als fundamentalistische
Außenseiter da.
Bischof Huber äußerte inzwischen die
Hoffnung, die Verschiebung sei einmalig
und man werde die Grundlagenforschung
„so schnell wie möglich“ beenden können. Das mag so kommen, aber vielleicht
anders, als Huber meint. Zu erwarten
sind nämlich erneute Vorstöße, die HESForschung auf diagnostische, präventive
und therapeutische Zwecke auszudehnen.
Gelingt das, dürfte sich herausstellen,
dass die Stammzelllinien bei Weitem nicht
reichen. Folglich werden die Forderungen
erneuert, den Stichtag ganz abzuschaffen
sowie endlich auch in Deutschland die
„Herstellung“ (so die DFG) von Stammzellen zu erlauben.
So geht, Stück für Stück und ganz
pragmatisch, das Embryonenschutz■
gesetz zum Teufel.
Wissenschaftsfeindlich
In seinem Kommentar zur Novellierung des Embryonenschutzgesetzes
schlägt Norbert Jachertz mit Worten
wie „interessierte Kreise“, „Abhängigkeit von Karrieren“, „die Sehnsucht,
international mitreden zu können“ einen erschreckend wissenschaftsfeindlichen Ton an. Entspräche eine derartige
Einstellung der Grundeinstellung der
Ärzteschaft, würden heute noch Patienten wie vor wenigen Jahrhunderten
durch Ärzte häufig mehr vergiftet als
therapiert. Medizinhistoriker können
Bücher darüber schreiben. Nur ein
kleines Beispiel: Zurzeit meines Studiums in den 50er-Jahren stand Hydrargyrum liquidum (flüssiges Quecksilber) noch als Abführmittel im Deutschen Ärzteblatt. Primär zweckfreie
Grundlagenforschung ist ein fundamentales Element eines auch medizinisch sinnvollen Fortschritts. Ohne die
Aufklärung unzähliger anatomischer,
physiologischer, biochemischer und
dann kliniknäher, pharmakologischer
und immunologischer etc. Prozesse,
wäre die heutige Medizin nicht denkbar. Natürlich gehören persönlicher
Ehrgeiz und auch Gewinnstreben –
allerdings als zu kontrollierende Elemente – mit dazu. Das Experiment des
Kommunismus hat gezeigt, welche
Folgen die Ausschaltung dieser Motive
hat. Zehn Jahre nach Ende meiner wissenschaftlichen Arbeit in der medizinischen Grundlagenforschung (nicht an
Stammzellen) an einem Universitätsinstitut, dürfte ich wohl nicht zu den „interessierten Kreisen“ oder „Karriereabhängigen“ gehören . . .
Prof. Dr. med. Helmut Kammermeier,
Effertzfeld 41, 41564 Kaarst
Gratulation
Ich gratuliere Herrn Norbert Jachertz
zu seinem Artikel „Stammzellgesetz:
Orientierungslos“ im DÄ. Endlich mal
einer, der die Sache beim Namen
nennt, vielen Dank!
Dr. med. Bruno Kerber, Luisenstraße 3, 90762 Fürth
A 355
D O K U M E N TAT I O N
Heft 27, 4. Juli 2008
PRÄNATALE DIAGNOSTIK
Hohe Zuverlässigkeit
Humangenetische Fachverbände nehmen Stellung zum Beitrag
„Pränataldiagnostik: Hohe Fehlerrate“ in DÄ, Heft 24/2008.
ie pränatale humangenetische
Diagnostik wird im oben geD
nannten Bericht fälschlicherweise
als „unzuverlässig“ dargestellt, weil
bei der Untersuchung von Chromosomen aus Fruchtwasser beziehungsweise Chorionzottenmaterial
angeblich eine erhöhte Fehlerrate beobachtet wurde. Diese Darstellung
ist aufgrund eines Übersetzungsfehlers falsch. Vielmehr handelt es sich
bei der zitierten Studie um die Feststellung des Risikos für Chromosomenveränderungen in Feten mittels
der biochemischen Analyse im Ersttrimester-Screening. Zu den Details:
Dr. Francesca Grati hatte bei der
Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik 2008 die
Ergebnisse ihrer retrospektiven Studie über biochemische Diagnostikverfahren zur Erkennung von Chromosomenstörungen vorgestellt. Dieses Verfahren (Ersttrimester-Screening) wird Schwangeren von Gynäkologen als IGeL-Leistung angeboten,
um die Indikationsstellung der aus
Altersgründen durchgeführten Amniozentesen zu verbessern und unnötige Untersuchungen zu vermeiden.
Von 1 000 Neugeborenen 35-jähriger Mütter haben nur etwa drei
eine Trisomie 21 (Down-Syndrom),
weitere drei eine andere Chromoso-
A 356
menanomalie und 994 einen unauffälligen Chromosomensatz. Die
Wahrscheinlichkeit eines DownSyndroms als häufigste Chromosomenaberration beträgt somit in diesem Alter nur etwa 0,3 Prozent; 994
invasive Untersuchungen würden
ein unauffälliges Ergebnis zeigen.
Die Untersuchung biochemischer
Marker in Verbindung mit Ultraschallmessungen des Feten („Nackentransparenz“) ermöglicht eine Wahrscheinlichkeitsberechnung für eine
fetale Chromosomenveränderung.
Diese Bestimmung kann zu einer Reduktion des rechnerischen Risikos
führen oder – bei auffälligen Werten –
auf ein erhöhtes Risiko hinweisen.
Die meisten Schwangeren verzichten
bei einem niedrigen Risikowert auf
eine Fruchtwasserpunktion. Das
Verfahren untersucht aber lediglich
die Wahrscheinlichkeit für eine fetale
Chromosomenveränderung, nicht jedoch den Chromosomensatz selbst.
Der Vorteil des ErsttrimesterScreenings liegt (auch im Hinblick
auf das Abortrisiko) in der Nichtinvasivität. Der Nachteil liegt in der, verglichen mit der Chromosomenanalyse aus fetalen Zellen, sehr schlechten Sensitivität; zudem besteht nur
die Möglichkeit der Risikoberechnung für die Trisomien 13, 18 und 21.
Es ist deshalb folgerichtig, dass die
Fruchtwasseruntersuchung für Frauen ab 35 Jahren sowie bei sonstigen
Risikokonstellationen für eine Chromosomenveränderung eine Leistung
der gesetzlichen Krankenkassen ist,
das Ersttrimester-Screening dagegen
eine IGeL-Leistung, die die Schwangeren selbst bezahlen müssen.
Tatsächlich kennen alle Humangenetiker/innen Fälle von Kindern
mit einer Trisomie 21, bei denen
alle nicht invasiven biochemischen
und sonografischen Untersuchungen unauffällig waren. Viele der betroffenen Eltern dachten jedoch
nach dem Screening, dass eine
Chromosomenveränderung ausgeschlossen worden wäre. Die Humangenetiker empfehlen deshalb im Einklang mit den Entwürfen zum
Gendiagnostikgesetz, dass vor jeder
genetischen Untersuchung eine qualifizierte
Beratung
durch
Fachärzt(inn)e(n) für Humangenetik
oder Kolleg(inn)e(n) mit der Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik
stattfinden muss.
■
Dr. med. Bernt Schulze*
Prof. Dr. med. André Reis*
* für die Vorstände des Berufsverbands Deutscher
Humangenetiker e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik e.V.
D O K U M E N TAT I O N
Heft 27, 4. Juli 2008
STAMMZELLEN: DEM THERAPEUTISCHEN EINSATZ NÄHER
Die Stammzellforschung ist abermals einen
Schritt weiter. Wissenschaftlern um Prof. Dr.
rer. nat. Hans Schöler vom Max-Planck-Institut
für molekulare Biomedizin in Münster gelang
es jetzt, mit einer verfeinerten Methode der
ethisch unbedenklichen Reprogrammierung
von Zellen induzierte pluripotente Stammzellen
(iPS) herzustellen.
Das Geheimnis: Zwei statt vier
Während die japanischen Forscher um Shinya
Yamanaka von der Universität Kyoto vor etwa
zwei Jahren vier Gene (Sox2, C-Myc, Oct4 und
Klf4) mithilfe eines Retrovirus in eine Zelle
einschleusen mussten, um inaktive Bereiche
des Erbguts zu aktivieren, benötigt das Team
um Schöler mittlerweile nur noch zwei Gene.
Mit ihnen reprogrammierten sie allerdings nicht
normale Körperzellen, sondern adulte Nerven-
stammzellen. Die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit veröffentlichten sie jetzt in der Onlineausgabe des Magazins „Nature“ (doi10.1038/
nature07061) am 29. Juni.
Schölers Erfolg basiert auf der Verwendung
von adulten Stammzellen anstatt von Hautzellen. Diese weisen an sich höhere Level der
Transkriptionsfaktoren Sox2 und c-Myc auf, sodass es Schöler durch ausschließliche Zugabe
der beiden Gene Oct4 und Klf4 gelang, die
adulten Nervenstammzellen in iPS-Zellen zu
reprogrammieren. Ein Einschleusen der c-Mycund Sox2-Gene war nicht mehr nötig.
Versuche an Mäusen zeigten, dass die hergestellten iPS-Zellen tatsächlich pluripotent
waren. Aus ihnen ließen sich Chimären entwickeln, die sowohl selbst als auch deren
Nachkommen tumorfrei waren. Das hohe karzinogene Risiko war bislang ein Hauptnachteil
der Methode der Reprogrammierung und verhinderte deren therapeutischen Einsatz. iPSZellen lösten oftmals Krebs aus, wenn sie in
den Körper zurückgespritzt wurden. Ein Grund
dafür war die Verwendung des Krebsgens
c-Myc für die Reaktivierung der Zelle. Ferner
birgt aber auch das Einschleusen der Gene mit
Retroviren ein Tumorrisiko, da diese Viren das
Erbgut der Zelle verändern können.
Der nächste Schritt wird es Schöler zufolge sein, die Methode an humanen adulten
Nervenstammzellen zu erproben. Um eine klinische Anwendung zu erreichen, sei es allerdings nötig, auch den Einsatz von Retroviren
bei der Reprogrammierung zu verhindern.
Möglicherweise lasse sich als Alternative eine
Erhöhung von Oct4 und Klf4 in der Zelle auch
mit chemischen Substanzen erreichen.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Heft 27, 4. Juli 2008
PATENTIERUNG VON STAMMZELLEN
Eine Grundsatzentscheidung zur Patentierbarkeit embryonaler Stammzellen wird demnächst von der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) in
München erwartet. Eine EPA-Anhörung Ende Juni, bei der über den
Antrag des US-amerikanischen Forschers James Thomson verhandelt
wurde, blieb ohne Ergebnis. Thomson will sein Forschungsverfahren –
und damit auch die Zellen selbst –
patentieren lassen.
„Es gibt keinen Grund dafür, embryonale Stammzellen von der Patentierbarkeit auszuschließen“, sagte Thomsons Anwalt Justin Turner,
der ihn vor der Großen Beschwerdekammer des EPA vertritt. Die Richtlinie 23d des Europäischen Patentübereinkommens schließe zwar aus,
Patente für menschliche Embryonen
zu vergeben, das gelte aber nicht für
Zellen, die aus Embryonen gewonnen würden. Mit Hinweis auf diese
Richtlinie hatten vorhergehende In-
Foto: Keystone
Die höchste Instanz entscheidet
stanzen am EPA den Antrag Thomsons bislang abgelehnt.
Einspruch gegen Patente auf
menschliche Embryonen und aus
ihnen gewonnene Stammzellen hat
Greenpeace eingelegt. Der Umweltorganisation zufolge sind 41 Stammzell-Patente bei der EPA angemeldet. Vom Ausgang des Musterprozesses wird es laut Greenpeace
abhängen, wie mit den 110 Patentanmeldungen aus der Stammzellforschung umgegangen wird, die derzeit noch geprüft werden.
ER
Kann man
Stammzellen patentieren lassen?
Darüber wird die
Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts
entscheiden.
A 357
D O K U M E N TAT I O N
Heft 30, 25. Juli 2008
STAMMZELLFORSCHUNG
„Ich habe das Rad
nicht neu erfunden“
Den Internationalen Kongress für Genetik in Berlin nutzte
der Stammzellforscher Hans Schöler für einige
Klarstellungen. Von den Medien fühlt er sich falsch zitiert.
en 20. Internationalen Genetikkongress Mitte Juli in BerD
lin – seit 81 Jahren erstmals wieder in Deutschland – überschattete
ein Medieneklat. Prof. Dr. rer. nat.
Hans Schöler vom Max-PlanckInstitut für molekulare Biomedizin
in Münster, einer der renommiertesten deutschen Stammzellforscher, brach seinen Vortrag zur „Induktion der Pluripotenz von Körperund Keimbahnzellen“ plötzlich ab.
Der Grund: Journalisten seien bei
der Tagung anwesend.
In einem anschließenden Pressegespräch erläuterte Schöler seinen
Unmut: Erst vor wenigen Tagen habe er seinen Familienkurzurlaub in
der Sächsischen Schweiz abbrechen müssen, weil seine Mailbox
überquoll von empörten Briefen.
Unter diesen seien E-Mails von seinen Kollegen Gerd Hasenfuß und
Wolfgang Engel aus Göttingen gewesen, die sich über eine Diskreditierung ihrer Forschungsergebnis-
A 358
se durch ihn beschwerten. Dies habe er jedoch nie beabsichtigt und
auch nicht getan, er sei lediglich in
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) verzerrt zitiert worden.
Das Blatt hatte über den
zweiten Internationalen Kongress für Stammzellen und
Gewebeerzeugung in Dresden berichtet, bei dem Schöler bislang unpublizierte Ergebnisse vorgestellt hatte.
Dem Stammzellforscher ist
es nämlich gelungen, Keimbahn-Stammzellen, sogenannte germline derived pluriProf. Dr. rer. nat. Hans Schöler vom Max-Planckpotent stem cells, aus MäuseInstitut für molekulare Biomedizin in Münster
hoden in pluripotente Stammzellen umzuprogrammieren
– und zwar allein durch bestimmte zu aktivieren und induzierte pluriKulturbedingungen – also ohne ge- potente Stammzellen (iPS) herzunetische Manipulation. „Wegwei- stellen.
Kürzlich berichtete Schölers Team
sender Erfolg in der Stammzellforschung“, „Reprogrammierung ohne im Fachmagazin „Nature“ über eine
Gen-Eingriff“, lautete die Schlag- verfeinerte Methode dieser ethisch
unbedenklichen Reprogrammierung
zeile in der FAZ.
Foto: dpa
Foto: SUPERBILD
Stammzellen:
die Hoffnungsträger
der biomedizinischen Forschung
Als „Durchbruch“ will Schöler
seine Ergebnisse jedoch nicht bezeichnet wissen. „Ich habe das Rad
nicht neu erfunden, sondern meine
Ergebnisse in die bisherigen Erkenntnisse eingeordnet“, verteidigte er sich in Berlin. „Auch die Eigenschaften der Göttinger Zellen
habe ich nie infrage gestellt.“ Bereits vor zwei Jahren hatten die
Göttinger Forscher die Gewinnung
von pluripotenten Stammzellen
direkt aus Zellen des Hodens gemeldet.
Schöler zog eine Konsequenz
aus der aus seiner Sicht verzerrten
Darstellung: Journalisten sollten
nicht mehr unabgesprochen von
solchen Tagungen berichten dürfen. „Zumindest die Fakten müssten sie von dem jeweiligen Wissenschaftler gegenchecken lassen“,
forderte er. Sein Vorschlag: Vor der
Teilnahme an Kongressen sollten
sie künftig eine entsprechende Erklärung unterzeichnen (siehe Kommentar).
Als eines der herausragendsten
Forschungsergebnisse auf dem
Gebiet der Stammzellforschung
bezeichnete Schöler die Publikation von Yamanaka vor zwei Jahren.
Damals war es dem japanischen
Forscherteam um Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto
erstmals gelungen, mithilfe von
Retroviren vier Gene in das Erbgut von menschlichen Fibroblasten
einzuschleusen, inaktive Bereiche
D O K U M E N TAT I O N
(DÄ, Heft 27/2008). Sie hatten lediglich zwei Gene in adulte Nervenstammzellen der Maus einschleusen
müssen, um diese zu induzierten
pluripotenten Stammzellen zu reprogrammieren. „Wir sind daran interessiert, die Methodik zu verbessern. Wir wollen die Epigenetik
der Zellen verstehen“, erklärte
Schöler.
Sein Kollege Prof. Dr. Rudolf
Jaenisch vom Whitehead Institute
of Biomedical Research (Cambridge/USA) pflichtete ihm bei. Bei
allen Experimenten gehe es vorrangig darum, die molekularen Me-
chanismen der Reprogrammierung
zu verstehen. Alle bislang hergestellten Zellen seien je nach Isolierung und Kultivierung unterschiedlich, jeder Typus habe andere
Vorteile. Als einen „Durchbruch“
würde auch er die jüngsten Ergebnisse von Schöler nicht bezeichnen. „Sein Erfolg überrascht mich
nicht. Er war zu erwarten“, sagte
Jaenisch gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.
Generell überzeugt ist Jaenisch,
der auch als Vorreiter des therapeutischen Klonens bekannt ist, jedoch von einem sehr großen Poten-
zial der Stammzellforschung. „Es
ist wichtig, dass neue embryonale
Stammzelllinien untersucht und mit
den verschiedenen iPS-Zellen verglichen werden“, sagte er. „Wir
müssen den Goldstandard erst
noch finden.“ Jaenisch selbst demonstrierte kürzlich, wie iPS-Zellen erfolgreich bei der Behandlung von Mäusen mit Sichelzellanämie eingesetzt werden können.
In der Therapie von Blutkrankheiten sieht er auch die ersten potenziellen Einsatzgebiete von iPS beim
Menschen.
■
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Heft 31 32, 4. August 2008
SPÄTABTREIBUNGEN
Foto: Klaus Rose
Koalition bleibt uneinig
Zur Beratungspflicht bei
Spätabtreibungen
haben Union und
SPD unterschiedliche Ansichten.
Auch bei einem dritten Anlauf haben sich Union und SPD nicht über
eine erweiterte Beratungspflicht bei
Spätabtreibungen verständigen können. CDU und CSU wollen deshalb
nach der Sommerpause einen Gruppenantrag in den Bundestag einbringen, dem sich auch Abgeordnete
aus anderen Fraktionen anschließen
können. Die SPD will dagegen die
Beratung aller Schwangeren mit
dem neuen Gendiagnostikgesetz
verbessern, dessen Referentenentwurf jetzt vorliegt.
Mit ihrem Gruppenantrag strebt
die Union Korrekturen im Schwangerschaftskonfliktgesetz an; den eigentlichen Strafgesetzparagrafen 218
will sie jedoch unverändert lassen.
So sollen Ärzte künftig verpflichtet
sein, die betroffene Schwangere ausführlich über das Leben mit einem
behinderten Kind zu informieren
und sie über mögliche Unterstützungen aufzuklären. Zwischen Gespräch und Eingriff soll ferner eine
Bedenkzeit von mindestens drei
Tagen liegen. Zuwiderhandlungen
sollen mit Geldbußen bestraft werden. Bislang ist ein Schwangerschaftsabbruch nach medizinischer
Indikation nicht an eine Frist gebunden. Abtreibungen sind auch
dann noch erlaubt, wenn das Kind
außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre. Eine Beratungspflicht
gibt es nicht.
Die SPD setzt mit dem neuen
Gendiagnostikgesetz auf eine „bessere Information und Beratung“ aller Schwangeren. Dem Referentenentwurf zufolge soll die Beratungspflicht des Arztes vor und nach
pränatalen Untersuchungen festgeschrieben werden. Auch müsse die
Zusammenarbeit zwischen Ärzten
und psychosozialen Beratungsstellen durch eine „Hinweispflicht“
verbessert werden.
Die Bundesärztekammer und die
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unterstützen
die Initiative der Union. Sie fordern,
die Defizite im geltenden Recht zu
beheben. Die vorgeschlagene Regelung im Gendiagnostikgesetz greife
zu kurz, kritisieren die Ärzteorganisationen, die bereits im Dezember
2006 einen Vorschlag zur Ergänzung
des Schwangerschaftsabbruchrechts
aus medizinischer Indikation unterbreitet hatten.
ER
A 359
D O K U M E N TAT I O N
Heft 37, 12. September 2008
DAS
GESPRÄCH
mit Dr. med. Peter Liese, CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament
„Die EU-Kommission schießt gerne
mal übers Ziel hinaus“
Der Politiker umriss im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt die zunehmende Bedeutung
der Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene.
er wachsende Einfluss der
Europäischen Union (EU) auf
D
einzelstaatliche Entscheidungen in
der Gesundheitspolitik sei unverkennbar, meint Peter Liese. Seit
nunmehr 14 Jahren ist der Arzt
Mitglied des Europäischen Parlaments (EP). Mit gerade einmal 29
Jahren übernahm Liese den Abgeordnetensitz des CDU-Politikers
Friedrich Merz, der es 1994 vorzog, in den Deutschen Bundestag
zu wechseln.
Zwar würden auch in Zukunft die
entscheidenden
gesundheitspolitischen Weichenstellungen auf nationaler
Ebene vorgenommen,
ist Liese überzeugt.
„Derzeit passiert auf
diesem Gebiet aber
in Brüssel so viel
wie noch nie“, sagt
der 43-Jährige.
Die
Europäische
Kommission, die als
einzige EU-Institution Gesetzesvorschläge vorlegen dürfe, schieße dabei
allerdings schon mal über das Ziel
hinaus. Aktuelles Beispiel: der von
der Brüsseler Behörde Anfang Juli
vorgelegte Richtlinienentwurf, der
die Freizügigkeit der Patienten innerhalb der EU regeln soll.
Zwar wünscht sich Liese wie die
Mehrheit der Europaabgeordneten,
dass endlich Rechtssicherheit bei
der grenzüberschreitenden medizinischen Versorgung herrscht. „Es muss
aufhören, dass EU-Bürger vor dem
Europäischen Gerichtshof (EuGH)
in mühsamen Einzelfallentscheidungen ihr Recht auf
Kostenerstattung nach
einer Auslandsbehandlung einklagen müssen.“ Mit einer gesetzlichen Regelung der
geltenden
EuGHRechtsprechung zur Patientenmobilität ist Liese
daher auch einverstanden.
Dass sich die EU-Kommission aber zugleich
mehr
Möglich-
keiten einräumen will, den Ländern
in der Gesundheitspolitik reinzureden, geht dem CDU-Politiker zu
weit. Dies gelte beispielsweise für
die Forderung der Behörde, Qualitäts- und Sicherheitsstandards in
der medizinischen Versorgung zu
definieren. „Mit dem Recht auf
Freizügigkeit der Versicherten hat
das nichts zu tun“, moniert Liese.
Ähnlich kritisch sieht er den
im Richtlinienentwurf verankerten
Grundsatz auf Gleichbehandlung.
„Wie weit soll das gehen?“, fragt
Liese. „Sollen Versicherte in der EU
das Recht erhalten, auf Gleichbehandlung zu klagen?“ Ein solcher
Anspruch ließe sich seiner Ansicht
nach gerichtlich nicht durchsetzen.
Mit einer Annahme des Gesetzentwurfs durch das EP und die EURegierungen rechnet Liese frühestens in einem Jahr. „Bis zu den Europawahlen im Sommer nächsten
Jahres ist das jedenfalls nicht zu
schaffen“, erklärt der CDU-Politiker.
Grund hierfür sei auch, dass es
innerhalb des EP bislang keine klar
erkennbaren parteipolitischen Positionen zum Vorschlag der Kommission gebe. „In jeder Fraktion gibt es
Befürworter und Kritiker“, so Liese.
„
Typisch für das Europäische Parlament ist die
Meinungsvielfalt auch
in den Fraktionen.
“
Fotos: Eberhard Hahne
D O K U M E N TAT I O N
medizingesetzes am deutschen Modell. Denn der deutsche Weg ermögliche es Reproduktionsmedizinern,
trotz relativ restriktiver Vorschriften
hervorragende Arbeit zu leisten.
„Durch die Verschiebung des Stichtags ist die deutsche Position leider
angreifbar geworden“, bedauert
Liese.
Eine EU-weite Harmonisierung
des gesamten Bereichs der Fortpflanzungsmedizin hält er indessen
auch auf lange Sicht für undenkbar.
Dass allerdings auch mit deutschen Geldern europäische Projekte
zur embryonalen Stammzellfor-
„
Die europäische Forschungsförderung sollte sich auf Vorhaben konzentrieren, die in allen EU-Ländern erlaubt sind.
Diese Meinungsvielfalt sei zugleich typisch für das Europäische
Parlament. „Man kann nie genau
vorhersagen, welchen Verlauf eine
Diskussion nehmen wird“, weiß der
EU-Politiker. Gerade das aber mache für ihn den Reiz seiner Arbeit
aus, bekennt Liese.
Dass der im südwestfälischen
Meschede beheimatete Familienvater im kommenden Jahr bei den Europawahlen erneut antreten will,
zeigt auch, dass er den Spaß an dem
bisweilen äußerst aufreibenden Job
noch nicht verloren hat.
Liese, der am Humangenetischen
Institut der Universität Bonn promoviert hat, macht zudem deutlich,
dass er sich bei einem erneuten Einzug ins Parlament auch weiterhin
medizinethischen Fragen widmen
will. Die Verschiebung des Stichtags für den Import von Stammzelllinien hält er zum Beispiel für einen
großen Fehler.
„Mit dem strengen Embryonenschutzgesetz war Deutschland für
einige EU-Länder ein Vorbild“, betont Liese. Italien beispielsweise habe das deutsche Gesetz weitgehend
übernommen. Auch die polnische
Regierung orientiere sich bei der
Vorbereitung ihres Fortpflanzungs-
“
Politiker und Arzt:
Dr. med. Peter Liese
bei einem Besuch
des Deutschen Ärzteblattes in Köln
schung gefördert werden können,
ärgert ihn. „Die europäische Forschungsförderung sollte sich auf
Vorhaben konzentrieren, die in allen
EU-Ländern erlaubt sind.“
Sorge bereitet Liese auch die anstehende Entscheidung des Europäischen Patentamts in München
über einen Antrag zur Patentierung
embryonaler Stammzellen. „Ein
solches Patent würde gegen die
EU-Richtlinie zur Patentierung biotechnologischer Erfindungen verstoßen“, mahnt Liese. Dies wider-
spräche zugleich dem EU-weiten
Verbot, Teile des menschlichen
Körpers zu kommerzialisieren.
Wenig glücklich ist er auch mit der
von den Arbeits- und Sozialministern
der EU-Länder im Juni ausgehandelten Neudefinition der Bereitschaftsdienste bei der Revision der Arbeitszeitrichtlinie. „Hier brauchen wir
dringend eine Korrektur“, so der Abgeordnete. Denn sonst sei es künftig
mit dem EU-Recht vereinbar, dass
Ärzte sechs Tage am Stück im Krankenhaus anwesend sein müssen.
Liese hofft, dass es dem Europaparlament in zweiter Lesung gelingen wird, den Ministerrat davon zu
überzeugen, die sogenannten inaktiven Phasen des Bereitschaftsdienstes nicht als Ruhezeit zu werten.
Seine langjährige Erfahrung mit
den europapolitischen Spielregeln
hat ihn aber gelehrt, dass Maximalforderungen nur schwer durchzusetzen sind. Daher räumt er der von
einigen Abgeordneten sowie vom
Marburger Bund aufgestellten Forderung, die EuGH-Rechtsprechung
eins zu eins in die Richtlinie zu
übernehmen, keine Chance ein. „Eine Einigung mit dem Rat darüber,
Bereitschaftsdienste voll auf die
Arbeitszeit anzurechnen, ist nicht
möglich“, sagt Liese.
■
Petra Spielberg
DAS EUROPAPARLAMENT
Das Europäische Parlament (EP) ist das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union (EU).
Die Wahlen finden alle fünf Jahre in den Mitgliedsländern der EU (derzeit 27) statt. Die nächsten Wahlen
sind im Juni 2009. Sitz des EP ist Straßburg. Weitere Dienstorte sind Brüssel und Luxemburg.
Das EP hat aktuell 785 Mitglieder. Die von ihnen vertretenen rund 160 Parteien sind in sieben Fraktionen zusammengeschlossen. Stärkste Fraktion ist die christdemokratisch-konservative EVP/ED, gefolgt vom Zusammenschluss der Sozialdemokraten Europas, den Liberalen und den Grünen.
Das Parlament berät und verabschiedet gleichberechtigt mit dem Ministerrat Rechtsvorschriften,
die Auswirkungen auf den Lebensalltag der Bürger haben. Dies gilt unter anderem für die Bereiche
Umwelt- und Verbraucherschutz, Gesundheit, Gleichberechtigung, Verkehr sowie für die Freizügigkeit
von Arbeitnehmern, Kapital, Waren und Dienstleistungen. Das Parlament ist ferner gemeinsam mit
dem Rat für den Jahreshaushalt der Europäischen Union zuständig.
Einmal im Monat findet eine einwöchige Plenarsitzung in Straßburg statt. Während der übrigen
Wochen beraten sich die Abgeordneten in ihren Ausschüssen sowie in Fraktions- und Arbeitsgruppensitzungen in Brüssel. Das EP tagt an insgesamt 42 Sitzungswochen im Jahr.
ps
A 361
D O K U M E N TAT I O N
Heft 39, 26. September 2008
INTERVIEW
mit Priv.-Doz. Dr. med. Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats
„Wir fühlen uns der Würde
des Menschen verpflichtet“
Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats plädiert
für „ein ausgewogenes Miteinander“, das sie auch dem Nationalen
Ethikrat attestiert. Sie nimmt Stellung zur Zusammensetzung und
Themenfindung des neuen Gremiums.
Ethikrat das Entgegenkommen gegenüber der Forschung überwog und nicht
die Kritiker die Meinung mitgeprägt haben.
Sie waren bereits Mitglied im Nationalen Ethikrat, dem Vorgänger des Deutschen Ethikrats. Dem früheren Ethikrat
wurde nachgesagt, ausgesprochen forschungsfreundlich gewesen zu sein.
Stimmt das?
Woopen: Im Nationalen Ethikrat
gab es verschiedene Meinungen. Es
gab darin niemanden – und das gilt
auch für den heutigen Ethikrat – der
ausschließlich sagte: Forschung ist
Christiane Woopen immer gut, und niemanden, der Forhat einen Lehrauftrag schung grundsätzlich ablehnte. Es
ging und geht mehr um die Grundam Institut für Geschichte und Ethik
haltung, mit der man sich einer Frader Medizin an der
gestellung annähert, also ob man
Universität zu Köln.
zuerst nach den Risiken oder zuerst
Sie hat sich unter an- nach den Chancen fragt. Und da
derem intensiv mit
würde ich dem ehemaligen Ethikrat
ethischen Fragen der
pränatalen Diagnos- keine Einseitigkeit attestieren.
tik und Präimplantationsdiagnostik beschäftigt.
A 362
In der Öffentlichkeit entstand aber anfangs der Eindruck, dass im früheren
Woopen: Es war ein ausgewogenes
Miteinander. Ich erinnere mich an
die anfängliche Diskussion über die
Stammzellforschung. Da haben einige Mitglieder ihre Position in
der Öffentlichkeit verfremdet dargestellt gefunden. Ich glaube, das
hatte weniger mit den Personen als
mit der Entstehungsgeschichte des
Rats zu tun. Zur Zeit der Gründung
wurde intensiv über embryonale
Stammzellforschung debattiert, die
im Bundestag teilweise restriktive
Gegner hatte. So dominierte der
Eindruck, dass der damalige Bundeskanzler im Handstreich den Nationalen Ethikrat als forschungsfreundlichen Gegenpart installiert
habe. Die tatsächlich abgegebenen
Voten haben dann schließlich bewiesen, dass von einer einseitigen
Forschungseuphorie nicht die Rede
sein konnte.
Die Mehrheitsvoten nicht nur zur
Stammzellforschung gingen aber doch
eher in Richtung Forschungsfreiheit,
die Präimplantationsdiagnostik (PID)
wollte man doch beispielsweise unter
bestimmten Voraussetzungen gestatten.
Woopen: Aber die Mehrheitsvoten
waren knapp. Abgesehen davon gehörte und gehöre ich zu denen, die
der Auffassung sind, dass man sol-
che Voten nicht nach Stimmenverhältnissen wahrnehmen sollte. Wie
viele Mitglieder für oder gegen eine
bestimmte Regelung sind, ist nach
meiner Auffassung für ein solches
Beratungsgremium nicht vorrangig.
Wichtiger ist es, dass das gesamte
Spektrum an Argumenten berücksichtigt, gebündelt und strukturiert
wird, um denjenigen, die die Entscheidung treffen müssen, eine fundierte
Meinungsbildung zu erleichtern.
Im Grunde genommen wäre es fast
gleich, wie die Voten ausfallen. Die
Hauptsache ist, das Meinungsspektrum
kommt zum Ausdruck – haben wir Sie
da richtig verstanden?
Woopen: Ja, vom Grundsatz her sehe ich das so, wenn man bedenkt,
welch fundamentale Fragen zum
Beispiel zum Lebensanfang oder
zum Lebensende der Ethikrat behandeln muss. Würde er in diesen
Fragen immer eine einheitliche
Überzeugung vertreten, erschiene
mir das angesichts der Vielfalt moralischer Überzeugungen in der Gesellschaft unplausibel. Dennoch ist
es seine große Aufgabe, Konsensbereiche zu identifizieren und tatsächlich einen Rat zu geben. Wenn vor
diesem Hintergrund der Ethikrat
dann nahezu einstimmig eine bestimmte Empfehlung ausspricht und
es nur einzelne Ausscherende gibt –
die selbstverständlich auch ihre
Auffassung in der Stellungnahme
D O K U M E N TAT I O N
Sind Sie denn generell mit der öffentlichen Wirkung Ihrer Stellungnahmen zufrieden?
Woopen: Das war bei den vielen
Stellungnahmen des Nationalen
Ethikrats unterschiedlich. Zur genetischen Diagnostik vor und während
der Schwangerschaft gab es beispielsweise eine sehr intensive öffentliche Diskussion. Weniger emotionale Themen wurden in der breiten Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen, wohingegen die Stellungnahmen zur Patientenverfügung und
zur Selbstbestimmung und Fürsorge
am Lebensende differenziert rezipiert wurden. Der Nationale Ethikrat hätte sich allerdings einen besseren Kontakt mit dem Bundestag
gewünscht.
Hatten Sie beim alten Ethikrat mit dem
Bundestag und seiner Enquete-Kommission außer Reibungsflächen überhaupt Kontakte?
Woopen: Es gab viele gute inoffizielle Kontakte. Dass sich die EnqueteKommission von der Einsetzung
des Nationalen Ethikrats düpiert
fühlte, kann ich verstehen. Das war
jedoch nicht die Absicht derer, die
in den Nationalen Ethikrat berufen
wurden. Letztlich war es aber doch
eine Zusammenarbeit – wenn auch
mit Reibungsflächen und einigen
Kontroversen – im Engagement für
gemeinsame, gesellschaftlich bedeutungsvolle Themen.
Wie ist denn die Arbeit des neuen Deutschen Ethikrats angelaufen?
Woopen: Wir sind in der Findungsphase und sammeln solche Fragestellungen, denen wir eine hohe
gesellschaftliche Relevanz beimessen, was nicht unbedingt schon gesetzgeberische Relevanz heißen
muss. Wir wollen die Themen identifizieren, von denen wir der Über-
zeugung sind, dass es sich lohnt, sie
in die öffentliche Diskussion zu
befördern. In welcher Form wir sie
dann im Rat weiter verfolgen, ob
beispielsweise Stellungnahme, Bericht, öffentliche Veranstaltung,
wird nach dem Durchleuchten eines
Themas jeweils eigens diskutiert.
Darüber hinaus haben wir erste
Kontakte zu ausländischen Ethikräten aufgenommen und planen einen
Austausch zu gemeinsam interessierenden Themen. Ebenso laufen die
Vorbereitungen für die ersten öffentlichen Veranstaltungen.
Glauben Sie, dass Sie mit dem Parlamentarischen Beirat harmonischer zusammenarbeiten können als mit der
früheren Enquete-Kommission des
Bundestags, zu der es das schon erwähnte Konkurrenzverhalten gab?
Woopen: Beirat und Enquete-Kommission sind von ihrer Struktur und
ihrem Auftrag her nicht miteinander
zu vergleichen. Es gibt im Parlamentarischen Beirat keine externen
Experten mehr, er besteht ausschließlich aus Bundestagsabgeordneten, die von ihren Fraktionen benannt sind. Seine explizite Aufgabe
ist der Kontakt zwischen dem Ethikrat und dem Bundestag. Es gab erste
Begegnungen, und ich bin mir sicher, dass es eine gute Zusammenarbeit wird.
nung jetzt die Möglichkeit, in unsere Arbeitsgruppen externe Sachverständige als Dauergäste einzuladen.
Der Nationale Ethikrat war darauf
angewiesen, die Fachperspektiven
in den Arbeitsgruppen mit eigenen
Mitgliedern zu bestücken. Wenn eine
Fachkompetenz gefehlt hat, wurde
ein Gutachten in Auftrag gegeben
oder eine Anhörung durchgeführt.
Jetzt können wir Sachverständige
kontinuierlich in die Arbeit einer
Arbeitsgruppe einbinden. Das kann
je nach thematischer Ausrichtung
sehr hilfreich sein. Denn mit 26
Mitgliedern kann man zwar ein gewisses Spektrum abdecken, aber
nicht alle Themen, die zu bearbeiten
sind.
Von Ihnen wird eine Äußerung kolportiert, die Kirchen hätten zu großes Gewicht bei der Meinungsbildung und
sollten das mal den Wissenschaftlern
überlassen. Wie denken Sie sich das?
Woopen: Hier muss es sich offensichtlich um ein Missverständnis
gehandelt haben. Es gab ein Interview und dazu die Schlagzeile „Ein-
Der ärztliche Sachverstand ist nach
Auffassung von Woopen im Deutschen
Ethikrat durchaus
vorhanden. Außerdem
können auch externe
Sachverständige eingeladen werden.
Auch der neue Ethikrat beschäftigt sich
überwiegend mit medizinischen und
ärztlichen Themen. Bringt der Ethikrat
genug medizinischen Sachverstand zusammen, oder sind die Ärzte zu
schlecht vertreten?
Woopen: Der ärztliche Sachverstand ist durchaus vorhanden, er
steht aber nicht im Vordergrund.
Die Breite der vertretenen Expertise ist geblieben: Jura, Philosophie,
Theologie, Psychologie, Soziologie, Biologie und weitere Disziplinen. Im Unterschied zum Nationalen Ethikrat haben wir über eine
Neugestaltung der Geschäftsord-
Fotos: Lajos Jardi
darlegen – entfaltet eine solche einmütige Stellungnahme schon eine
Überzeugungskraft an sich.
A 363
D O K U M E N TAT I O N
Heft 49, 5. Dezember 2008
fluss der Kirche ist groß“ (Kölner
Stadt-Anzeiger vom 30. 5. 2008,
Anmerkung d. Red.). Im Interview
habe ich auch genau das gesagt, dass
ich nämlich den Einfluss der Kirchen für groß halte, ich habe nicht
gesagt „zu groß“. Das würde im
Übrigen weder meinen Grundüberzeugungen noch meiner grundsätzlich wissenschaftlichen Haltung
entsprechen.
Wie kommt denn der Ethikrat überhaupt zu einer ethisch fundierten Meinung, woher bezieht er seine Überzeugungen? Aus dem Grundgesetz, aus der
Deklaration der Menschenrechte, aus
dem eigenen Gewissen der Mitglieder,
aus der Philosophie, aus der Geschichte
des Abendlandes?
Woopen: Alle Mitglieder des Ethikrats teilen die Grundüberzeugung
von der Geltung der Menschenrechte und fühlen sich dem Schutz
der Würde des Menschen verpflichtet. Auf dieser Grundlage
bringt jeder Einzelne Wertvorstellungen und Gewichtungen aus
unterschiedlichen Erfahrungshorizonten und fachlicher Expertise
mit. Auch wenn der uns allen vorgegebene Rahmen das Grundgesetz
ist, kann man dieses im Einzelfall
ganz unterschiedlich auslegen. Die
Argumente, die aus den verschiedenen Perspektiven heraus entwickelt
werden, werden sodann zusammengenommen, in Beziehung zueinander gesetzt, es wird nach Gemeinsamkeiten – auch bei unterschiedlichen Ausgangspunkten – gesucht,
und es werden Empfehlungen formuliert. Es wäre ein vergebliches
Unterfangen anzustreben, dass der
gesamte Ethikrat als Gremium in
einer freien und pluralistischen Gesellschaft in allen Fragen eine gemeinsame moralische Position findet. Das ist aber nicht schädlich für
seine Arbeit, ganz im Gegenteil.
Denn nicht die Entwicklung einer
gemeinsamen Grundüberzeugung
ist seine Aufgabe, sondern angesichts vieler verschiedener Überzeugungen einmütige Lösungen
für Handlungsbereiche zu entwickeln, die für die Gesellschaft
lebbar sind.
■
Die Fagen stellten Norbert Jachertz
und Gisela Klinkhammer.
A 364
INTERVIEW
Christiane Woopen, stellvertretende
Vorsitzende des Deutschen Ethikrats,
nimmt Stellung zur Themenfindung des
neuen Gremiums (DÄ 39/2008: „Wir
fühlen uns der Würde des Menschen
verpflichtet“).
Selbstgerechtigkeit
Frau Dr. Woopen nennt auf die
Frage nach dem Klärungsspektrum
im Ethikrat beispielhaft die „fundamentalen Fragen zu Lebensanfang und Lebensende“. Würde dazu eine einheitliche Überzeugung
vertreten, erschiene ihr das „angesichts der Vielfalt moralischer
Überzeugungen in der Gesellschaft unplausibel“. Das beschreibt sehr gut die Situation im
Lande, dass, nachdem das viele
Jahrhunderte allgemeingültige
christlich-biblische Wissen und
Bekenntnis zum grundsätzlichen
Lebensrecht – auch der Ungeborenen – und der Einsicht einer Verantwortlichkeit vor Gott sich aufgelöst hat, es ersetzt wurde durch
einen bunten Mix „autonomer“ variabler Ansichten und die resultierende Moral zu Beliebigkeit und
Willkür pervertierte mit dem Ergebnis hedonistischer, ,,mainstream“-orientierter und leicht manipulierbarer Mehrheiten. Gerade
bei der Frage der Tötung noch ungeborener Menschlein wird gerne
„Selbstverantwortlichkeit“ (der
Geborenen) vorgeschoben,
tatsächlich meint dies nichts anderes als beliebige „Selbstgerechtigkeit“.
Dr. med. Rainer Zoch, Rathausstraße 60,
56203 Höhr-Grenzhausen
Ethik wurde abgeschafft
Wir Mediziner haben in unserer
Gesellschaft einen Riesenvorteil:
Wir brauchen uns mit ethischen
Fragen nicht mehr zu beschäftigen.
In unserem Fachbereich wurde die
Ethik mittels Sozialgesetzgebung
durch Horst Seehofer und Ulla
Schmidt gänzlich abgeschafft. Patienten müssen behandelt werden
nach folgenden Vorgaben: wirtschaftlich, angemessen, zweckmäßig. Von Ethik keine Spur. Meine Berufsgruppe ist es natürlich
auch selbst schuld. Wer den Eid des
Hippokrates selbst abschafft, darf
sich nicht wundern, wenn er nicht
mehr für voll genommen wird. Umso erstaunlicher ist es auf den ersten
Blick, dass eine Medizinerin in den
Vorstand des Deutschen Ethikrats
berufen worden ist. Bei näherem
Hinsehen ist diese Entscheidung
jedoch folgerichtig. Der Vorsitzende dieses ExBK-Schröder-Gremiums ist schließlich ein Jurist. Juristen sind von Natur aus bestens für
solche Posten geeignet: Sie haben
in den letzten 2 000 Jahren tatkräftig bewiesen, dass sich ihre „Wissenschaft“ beliebig im jeweiligen
Sinne der Machthaber oder heute
der political correctness als „frei
beweiswürdig“ erweist . . .
Dr. med. Walter Wehler, Guntherstraße 82,
51147 Köln
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