DOKUMENTATION PID, PND, Forschung an Embryonen Aufsätze Berichte Diskussionsbeiträge Kommentare im Deutschen Ärzteblatt Beiträge aus 2008 www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung VORWORT DOSSIER ZUR EMBRYONENFORSCHUNG PID, PND, Forschung an Embryonen Das Deutsche Ärzteblatt gibt eine erweiterte Dokumentation heraus, die im Internet abgerufen werden kann. ls das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2002 seine erweiterte Dokumentation zu embryonaler Stammzellforschung, pränataler Diagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID) vorlegte, war die Diskussion über diese Themen in vollem Gange. Ein Ende ist nach wie vor nicht in Sicht. Ausgelöst wurde der öffentliche Diskurs durch den vom Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) vorgelegten „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ im März 2000. Von Anfang an hat sich das Deutsche Ärzteblatt an der Debatte beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen lassen. In einem Sonderdruck aus dem Jahr 2001 wurden diese Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf, zusammengefasst. Unmerklich verlagerte sich der Schwerpunkt dann von der Diskussion über die Präimplantationsdiagnostik zur Forschung an und mitEmbryonen und zur Gewinnung von Stammzellen. Die Meinungsbildung in der Ärzteschaft spiegelt sich in der Berichterstattung und Kommentierung des Deutschen Ärzteblattes wider, wie das jährlich aktualisierte Dossier verdeutlicht. Auch im Jahr 2008 sind im Deutschen Ärzteblatt zahlreiche Beiträge zu der Thematik erschienen. Darin wird deutlich, dass nach wie vor großer Diskussionsbedarf besteht. Nach langen Debatten sprach sich das Parlament im vergangenen Jahr für eine Lockerung des Stammzellgesetzes von 2002 aus. Mit großer Mehrheit unterstützte das Parlament am 11. April in zweiter und dritter Lesung den Antrag von René Röspel (SPD). Er sieht eine Verschiebung des Stichtags für den Import von embryonalen Stammzelllinien von Januar 2002 auf den 1. Mai 2007 vor. Ferner wird die Strafandrohung für Forscher, die mit jüngeren Zelllinien arbeiten, auf das Inland begrenzt. Internationale Kooperationen in diesem Forschungsbereich werden somit vereinfacht. A sche Indikation wurde jedoch insofern erweitert, als die Schwangere ohne zeitliche Befristung und ohne Beratung abtreiben kann, wenn sie eine schwere psychische Beeinträchtigung wegen der zu erwartenden Behinderung des Kindes geltend machen kann. Die Bundesärztekammer hat immer wieder auf diesen Missstand aufmerksam gemacht und forderte unter anderem, dass sich die Frauen, soweit keine unmittelbare Gefahr für ihr Leben besteht, mindestens drei Tage vor dem geplanten Schwangerschaftsabbruch beraten lassen. Die fünf Initiativen, über die im Dezember im Bundestag beraten wurde, haben einen Großteil der Forderungen der BÄK aufgenommen. Die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und -Redakteure zu diesen Themen sowie Aufsätze und Kommentare von Ärzten, Wissenschaftlern und Theologen mit teilweise konträren Ansichten findet man in dieser erweiterten Dokumentation wieder. Zusätzlich können unter anderem auch der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik, wichtige Gesetze, wie das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz, Positionspapiere und Stellungnahmen sowie die Entschließungen der Deutschen Ärztetage abgerufen werden. I Gisela Klinkhammer Klärungsbedarf im Bereich der pränatalen Diagnostik Im Bereich der pränatalen Diagnostik besteht ebenfalls weiterhin Klärungsbedarf. So steht in diesem Jahr eine Regelung von Spätabtreibungen an. Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs im Jahr 1995 sollte unter anderem verhindern, dass Kinder aufgrund einer Behinderung oder Krankheit abgetrieben werden. So fiel dann zwar die embryopathische Indikation weg, die medizini- A 327 D O K U M E N TAT I O N Vorwort zur 1. Auflage Beiträge zum Diskurs Als der Vorstand der Bundesärztekammer den „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorlegte, rief er zugleich zu einem öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit nunmehr rund eineinhalb Jahren und hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag in der Presse gefunden. Inzwischen bringen auch Funk und Fernsehen fast täglich Diskussionen nicht mehr nur zur Präimplantationsdiagnostik (PID), sondern auch zur Embryonenforschung. Das Deutsche Ärzteblatt hat sich von Anfang an an dem Diskurs beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen lassen. In diesem Sonderdruck sind diese Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf, zusammengefasst. Die Redaktion hat sich sehr um Vollständigkeit bemüht, gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass vielleicht ein Leserbrief oder eine kleinere Notiz fehlen. Die Diskussion ist im Übrigen keineswegs abgeschlossen. Weitere Beiträge für spätere Hefte des Deutschen Ärzteblattes sind in Satz – Stoff genug für eine allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks. Der Dokumentation der im Deutschen Ärzteblatt erschienenen Beiträge vorangestellt sind ein Interview mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, geführt im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden 104. Deutschen Ärztetages, sowie der Bericht über die einschlägige Diskussion beim vorangegangenen 103. Deutschen Ärztetag. Impressum Dokumentation „PID, PND, Forschung an Embryonen“ Chefredakteur: Heinz Stüwe, Köln (verantwortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen) Gisela Klinkhammer, Herbert Moll Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet) Michael Peters Inge Rizk Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln Chefs vom Dienst: Redaktion: Technische Redaktion: Schlussredaktion: Verlag: A 328 Im Grunde genommen müsste eine vollständige Dokumentation über die Auffassungen der Ärzteschaft zu der mit Präimplantationsdiagnostik zusammenhängenden Thematik weitaus früher beginnen, zumindest mit dem 88. Deutschen Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde seine Haltung zur Invitro-Fertilisation (IVF) formulierte. Bereits damals wurden die daraus entstehenden Probleme der Embryonenforschung klar erkannt, der Umgang mit den sogenannten überzähligen Embryonen diskutiert. Der Ärztetag sprach sich schließlich mit großer Mehrheit zugunsten von IVF aus. Zur Embryonenforschung stellte er fest: „Experimente mit Embryonen sind grundsätzlich abzulehnen, soweit sie nicht der Verbesserung der Methode oder dem Wohle des Kindes dienen.“ Diese Formulierung war ein wenig strenger als die Vorstandsvorlage, entsprach aber noch einer zugleich vorgelegten Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht in Heft 22/1985), die der Ärztetag pauschal „begrüßte“. In einer weiteren Richtlinie äußerte sich der Wissenschaftliche Beirat später, ohne Zutun des Ärztetages, zur Forschung an frühen menschlichen Embryonen (veröffentlicht in Heft 50/1985). Danach dürfen menschliche Embryonen „grundsätzlich“ nicht mit dem Ziel der Verwendung zu Forschungszwecken erzeugt werden. Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden erhebliche Spannun- gen innerhalb des Beirates zu dieser Frage überdeckt. Die Richtlinien sprechen sich hingegen eindeutig für Untersuchungen, die der Verbesserung der Lebensbedingungen des jeweiligen Embryos und gleichzeitig dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn dienen, aus, sofern Nutzen und Risiken miteinander sorgfältig abgewogen werden. Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss 1988 in Frankfurt eine Änderung der (Muster-)Berufsordnung. Die Delegierten entschieden sich für einen Mittelweg: Die Erzeugung von Embryonen für Forschungszwecke wurde untersagt und dem ein weiterer Satz hinzugefügt: „Grundsätzlich verboten ist auch die Forschung an menschlichen Embryonen.“ Bei Einhaltung strikter Kriterien wurden allerdings Forschungen für zulässig gehalten, sofern sie der Deklaration von Helsinki entsprechen. Machen wir einen Sprung zum 100. Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach. Die damals neu strukturierte, bis heute geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet gleichfalls die Erzeugung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken. Verboten sind ferner diagnostische Maßnahmen an Embryonen, „es sei denn, es handelt sich um Maßnahmen zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener Erkrankungen im Sinne § 3 Embryonenschutzgesetz“. Und das gehört der Vollständigkeit halber dazu: Seit 1991 gilt das Embryonenschutzgesetz mit seinen strengen Regeln – strengeren als sie 1985 von der ärztlichen Selbstverwaltung und ihren wissenschaftlichen Beratern formuliert worden waren. I Norbert Jachertz I N H A LT Dokumentation in chronologischer Reihenfolge Vorwort zur 7. Auflage: PID, PND, Forschung an Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Vorwort zur 1. Auflage: Beiträge zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Spätabtreibungen Die Koalition drückt sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Samir Rabbata Stammzellgesetz Neuauflage „2008“ für den Kompromiss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Eva Richter-Kuhlmann Beiträge aus dem Jahr 2008 Editorial Extrakorporale Befruchtung Woche für das Leben Hoffen auf Gesundheit statt Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Gisela Klinkhammer Peter Propping Embryonale Stammzellforschung Ein ethisches Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Stammzellgesetz Orientierungslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Kommentar von Norbert Jachertz Gisela Klinkhammer, Eva Richter-Kuhlmann Stammzelldebatte Ringen um den Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Pränatale Diagnostik Hohe Zuverlässigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Dr. med. Bernt Schulze, Prof. Dr. med. André Reis Eva Richter-Kuhlmann Hohe ethische Standards gefordert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Stammzellforschung „Ich habe das Rad nicht neu erfunden“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Interview mit Bischof Wolfgang Huber Eva Richter-Kuhlmann Regenerative Medizin im Aufbruch Wann das Leben beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 „Die EU-Kommission schießt gerne mal übers Ziel hinaus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Gisela Klinkhammer Interview mit Peter Liese Editorial Die Perfektionierung der Polkörperdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 „Wir fühlen uns der Würde des Menschen verpflichtet“ Peter Propping Übersichtsarbeit Polkörperdiagnostik – ein Schritt in die richtige Richtung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Katrin van der Ven, Markus Montag, Hans van der Ven A 308 Interview mit Christiane Woopen 362 D O K U M E N TAT I O N Heft 1 2, 7. Januar 2008 EDITORIAL Extrakorporale Befruchtung Eine wichtige Literaturanalyse zur Höhe des Fehlbildungsrisikos bei In-vitro-Fertilisation und intrazytoplasmatischer Spermieninjektion Peter Propping eit der Geburt von Louise Brown 1978, dem ersten durch In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugten S Kind, ist diese Methode der assistierten Reproduktion sehr schnell zu einem Routineverfahren geworden. Mit der IVF kann die Unfruchtbarkeit bei der Frau infolge eines Tubenverschlusses überwunden werden. Als Anfang der 1990er-Jahre die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) zur Behandlung der Unfruchtbarkeit des Mannes eingeführt wurde, waren viele beunruhigt. Die Sorgen galten gesundheitlichen Risiken für die durch ICSI gezeugten Kinder, auch wenn das Verfahren die Erfolgsrate der extrakorporalen Befruchtung deutlich erhöhen konnte und auf diese Weise vielen Eltern die Erfüllung ihres Kinderwunsches ermöglichte. Imprinting-Defekte – Grund zur Sorge? Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn: Prof. Dr. med. Propping A 330 Die Injektion eines Spermiums in eine Eizelle stellt immerhin ein ziemlich „gewaltsames“ Verfahren dar: Mit dem Spermium wird eine unphysiologische Lösung in die Eizelle injiziert. Die Zusammensetzung und der pH-Wert der Lösung können das interne Milieu der Zellorganellen sowie den Prozess der elternspezifischen Reprogrammierung des väterlichen und mütterlichen Erbguts nach der Befruchtung (1) beeinträchtigen. Auch der Gemeinsame Bundesausschuss hatte die Sorge, dass die ICSI mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko verbunden sein könnte. Bei Aufnahme der Methode in den Leistungskatalog der GKV im Jahr 2002 verlangte er daher, dass die Sicherheit des Verfahrens nach 3-jähriger Anwendung überprüft wird. Bertelsmann und Koautoren (2) untersuchten das Fehlbildungsrisiko der beiden wichtigsten Verfahren der extrakorporalen Befruchtung – IVF und ICSI – anhand einer systematischen Literaturanalyse und stellen ihre Ergebnisse in dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes vor. Diese Arbeit ist wichtig. Immerhin wird in unserem Land gegenwärtig etwa jedes 80. Neugeborene durch IVF oder ICSI gezeugt. Seitdem Palermo et al. (3) ICSI einführten, wurde die Methode sehr rasch zu einem Standardverfahren der Reproduktionsmedizin zur Behandlung der Unfruchtbarkeit sowohl bei der Frau als auch beim Mann. Warum kamen die Sorgen vor einem erhöhten Gesundheitsrisiko nach ICSI auf? Das Verfahren war ohne systematisch angelegte prospektive Begleitstudien in die klinische Praxis eingeführt worden. Die Sorgen vor Risiken nahmen zu, als Beobachtungen über Imprinting-Defekte bei Kindern bekannt wurden, die durch ICSI gezeugt worden waren (4, 5). Es wäre bedenklich, wenn die extrakorporale Befruchtung mit einem deutlich erhöhten Gesundheitsrisiko für die so gezeugten Kinder verbunden wäre. Die extrakorporale Befruchtung, meist durch ICSI, ist auch Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik (PID). Dieses Verfahren ist in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Es wird aber in vielen Ländern bei Risikopaaren praktiziert, um die Geburt eines Kindes mit einer schweren genetischen Krankheit zu verhindern. Auch deswegen ist es wichtig, eventuelle Gesundheitsrisiken für die durch ICSI gezeugten Kinder zu kennen. Wie Bertelsmann und Koautoren (2) hervorheben, fällt die große Varianz der Fehlbildungsraten nach extrakorporaler Befruchtung auf, die in den Publikationen berichtet werden. Aufgrund der veröffentlichten Daten ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Zeugung durch ICSI das Fehlbildungsrisiko der Kinder im Vergleich zur IVF deutlich erhöht. Dies ist beruhigend. Die Manipulation an der Eizelle scheint also kein Risikofaktor für Fehlbildungen zu sein. Die meisten publizierten Angaben beziehen sich allerdings auf lebend geborene Kinder. Eine spontane frühe Selektion geschädigter Embryonen oder die Induktion von Aborten wegen fetaler Fehlbildungen kann nicht ausgeschlossen werden. Vergleichbares Risiko bei IVF und ICSI Eine vergleichbare Erhöhung des Fehlbildungsrisikos sowohl durch IVF als auch durch ICSI – etwa aufgrund einer hormonellen Stimulation der Frau – kann momentan nicht ausgeschlossen werden. In der größten prospektiven Kohortenstudie von Katalinic et al. (6) beliefen sich die unkorrigierten Raten für größere angeborene Fehlbildungen bei Zeugung durch ICSI auf 8,7 % im Vergleich zu 6,1 % in einer retrospektiven Kontrollgruppe (Differenz 2,66 %). Nach Berücksichtigung verschiedener Einflussfaktoren reduzierte sich die Differenz in dieser deutschen Studie (Lübeck) auf 1,36 %. Wie Bertelsmann und Koautoren zeigen, haben darüber hinaus 5 von 8 Studien keinen signifikanten Unterschied ergeben. Prospektive Studien notwendig Die prospektive Erhebung langfristiger Gesundheitsdaten bei Kindern, die durch Verfahren der assistierten Reproduktion gezeugt wurden, ist schwierig, insbesondere wenn gleichzeitig für mögliche Einflussfaktoren kontrol- D O K U M E N TAT I O N liert werden soll. Trotzdem ist der Forderung von Bertelsmann und Koautoren (2) nach großen prospektiven Kohortenstudien zuzustimmen. Die durch ICSI oder IVF gezeugten Kinder sollten idealerweise sogar bis in das Erwachsenenalter beobachtet werden. Immerhin kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass bespielsweise Imprinting-Fehler im weiteren Leben zu Stoffwechselstörungen führen oder etwa das Tumorrisiko erhöhen. Erfreulicherweise zeigten sich in einer Kohorte von 109 prospektiv untersuchten Kindern, die durch ICSI gezeugt worden waren, im Alter von 10 Jahren keine Unterschiede in der psychomotorischen Entwicklung und im IQ im Vergleich zu normal gezeugten Kindern (7). Reproduktionsmedizinische Methoden dürfen sich nicht nur an der Rate der geborenen Kinder orientieren. Die Sicherheit des Verfahrens und die möglichen Risiken für das Kind müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Wenn die Gesundheitsrisiken nach fast 30 Jahren der Anwendung von IVF und ICSI, falls überhaupt, nur wenig erhöht zu sein scheinen, dann ist dies erfreulich, jedoch kein Grund, weniger wachsam zu sein. Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht: 19. 11. 2007; revidierte Fassung angenommen: 26. 11. 2007 LITERATUR 1. Haaf T: Geschlechterkonflikt im frühen Embryo: Elternspezifische Reprogrammierung des väterlichen und mütterlichen Erbguts nach der Befruchtung. Dtsch Arztebl 2003; 100(36): A 2300–8. 2. Bertelsmann H, de Carvalho Gomes H, Mund M, Bauer S, Matthias K: Das Fehlbildungsrisiko bei extrakorporaler Befruchtung. Dtsch Arztebl 2008; 105(1–2): 11–7. 3. Palermo G, Joris H, Devroey P, van Sterteghem AC: Pregnancies after intracytoplasmic injection of single spermatozoon into an oocyte. Lancet 1992; 340: 17–8. 4. Cox GF, Bürger J, Lip V, Mau UA, Sperling K, Wu BL, Horsthemke B: Intracytoplasmatic sperm injection may increase the risk of imprinting defects. Am J Hum Genet 2002; 71: 162–4. 5. DeBaun MR, Niemitz EL, Feinberg AP: Association of in vitro fertilization with Beckwith-Wiedemann syndrome and epigenetic alterations of LIT1 and H19. Am J Hum Genet 2003; 72: 156–60. 6. Katalinic A, Rösch C, Ludwig M, German ICSI Follow-up Study Group: Pregnancy course and outcome after intracytoplasmic sperm injection: a controlled, prospective cohort study. Fertil Steril 2004; 81: 1604–16. 7. Leunens L, Celestin-Westreich S, Bonduelle M, Liebaers I, PonjaertKristoffersen I: Follow-up of cognitive and motor development of 10-year-old singleton children born after ICSI compared with spontaneously conceived children. Hum Reprod 2007, vorab elektronisch publiziert. Prof. Dr. med. Peter Propping Institut für Humangenetik der Universität Bonn Wilhelmstraße 31, 53111 Bonn Extracorporeal Fertilization – Important Review of The Literature on Congenital Anomaly Associated with In Vitro Fertilisation and Intracytoplasmic Sperm Injection Dtsch Arztebl 2008; 105(1–2): A 9–10 DOI: 10.3238/arztebl.2008.0009 @ The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de A 331 Heft Heft1 4, 2,25. 7. Januar Januar2008 2008 Ein ethisches Dilemma Zurzeit wird über mehrere Entwürfe eines Stammzellgesetzes diskutiert. Dabei gilt es, Forschungsfreiheit und die Hoffnung auf Heilung gegenüber dem Embryonenschutz abzuwägen. ie Debatte im Deutschen Bundestag wird mit Spannung erD wartet: Noch vor der Osterpause will das Parlament festlegen, ob und möglicherweise wie das geltende Stammzellgesetz geändert werden soll. Zur Disposition stehen zurzeit Oben: Yamanaka zwei Gesetzentwürfe und ein selbstveröffentlichte dieses ständiger Antrag. Ein vierter und Bild mit Nervenzellen, fünfter Gesetzentwurf werden in den die sich aus den neu nächsten Tagen und Wochen erwarprogrammierten Hautzellen entwickelt tet. Wie die Entscheidung ausfällt, ist und bleibt ungewiss, allein aufgrund haben. des komplizierten parlamentarischen Abstimmungsprozesses. Fest steht: Mittlerweile ist aus der Diskussion um die Stammzellforschung ein handfester Konflikt geworden, eine engagierte Debatte in der Bevölkerung, ein politischer Poker um Mehrheiten über Fraktionsgrenzen hinweg und sogar eine Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen. „Die aktuelle Stichtagsregelung ist mit Blick auf den vom Stammzellgesetz intendierten Embryonenschutz nicht erforderlich.“ Prof. Dr. Jochen Taupitz, Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik, Universität Mannheim „Eine Änderung des Stammzellgesetzes ist aus rechtlicher Sicht nicht notwendig . . . Eine Abschaffung des Stichtags käme einer Aushöhlung des Gesetzes gleich.“ Rainer Beckmann, Richter am Amtsgericht Kitzingen A 332 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und viele Wissenschaftler halten es für notwendig, die deutsche Stichtagsregelung zum Import von humanen embryonalen Stammzelllinien zumindest zu ändern oder ganz zu streichen und die Strafandrohung für Wissenschaftler aufzuheben. Für die deutschen Stammzellforscher steht in diesem Frühjahr viel auf dem Spiel: Eine Gesetzesänderung könnte neue wissenschaftliche Perspektiven eröffnen. Ein Stopp des Imports von embryonalen Stammzellen könnte aber auch das Ende ihrer bisherigen wissenschaftlichen Arbeit bedeuten. Nach dem geltenden Stammzellgesetz dürfen deutsche Wissenschaftler unter Androhung von Strafe nur an embryonalen Stammzelllinien arbeiten, die vor dem 1. Januar 2002 im Ausland hergestellt wurden. Diese Regelung war 2002 nach heftigen Debatten vom Parlament als Kompromiss beschlossen worden. Doch viele Forscher beklagen, dass er sich mittlerweile als Sackgasse erweise. Die alten Zelllinien seien mit tierischen Zellen kontaminiert und damit unbrauchbar. Zudem brächte die Tatsache, dass die Arbeit mit jüngeren Zelllinien im Ausland für deutsche Forscher strafbar ist, enorme Einschränkungen in der internationalen Kooperation mit sich. Es bestünde die Gefahr, dass sich Deutschland wissenschaftlich isoliere, wenn es sich ausschließlich auf die Forschung mit adulten Stammzellen beschränke. Mit ihren wiederholten Forderungen steht die Wissenschaft nicht allein da. Rückendeckung erhält sie von höchster Stelle: von Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie auch von Bundesforschungsministerin Annette Schavan. Aber auch Gegenwind gibt es reichlich. Erst vor wenigen Tagen sprachen sich in einem Gruppenantrag 115 Abgeordnete für die Beibehaltung der geltenden Gesetzeslage aus. Damit steht Deutschland 2008 wieder vor der gleichen Gewissensfrage wie vor sechs Jahren. Forschungsfreiheit und die Hoffnung auf Heilung gilt es, gegenüber dem Embryonenschutz abzuwägen – ein schier unlösbares ethisches Dilemma, bei dem einzig der persönliche Standpunkt zählt. Wieder werden die Abgeordneten diese Frage ohne Fraktionszwang entscheiden können. Auf den Weg gebracht sind zwei verschiedene Entwürfe eines Stammzellgesetzes sowie ein selbstständiger Antrag, ergänzt werden sie demnächst vermutlich durch zwei weitere Gesetzentwürfe: Die Zitate sind den Stellungnahmen der Experten anlässlich der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 9. Mai 2007 entnommen. Foto: AP/Yamanaka EMBRYONALE STAMMZELLFORSCHUNG D O K U M E N TAT I O N Antrag auf den Weg gebracht, der sich für die Beibehaltung der geltenden Stichtagsregelung einsetzt. Unterstützt wird dieser Antrag von der Mehrheit der Grünen, von Herta Däubler-Gmelin (SPD), Hans-Michael Goldmann (FDP) und von einer Reihe von CDU-Abgeordneten, innerhalb der Partei „Lebensschützer“ genannt. Sie hatten sich auch auf dem CDU-Parteitag Anfang Dezember letzten Jahres entschieden gegen die Ausweitung des Imports menschlicher embryonaler Stammzellen ausgesprochen. Julia Klöckner (CDU) warnte vor einer „ethischen Wanderdüne“. Wenn man einmal den Stichtag verschiebe, werde das immer wieder passieren. Dennoch konnten sich die Gegner einer Gesetzesnovellierung innerhalb der CDU nicht durchsetzen. Mit knapper Mehrheit fasste der Parteitag letztlich den Beschluss, den geltenden Stichtag nicht festzuschreiben und zeigte sich damit offen für eine Lockerung des Stammzellgesetzes. 4. Beschränkung der Strafandrohung auf das Inland: Einen weiteren Gesetzentwurf kündigte Priska Hinz (Die Grünen) an. Er soll die Strafandrohung für Wissenschaftler nur auf die embryonale Stammzellforschung im Inland beschränken. 5. Importverbot von embryonalen Stammzellen nach Deutschland: Nicht ausgeschlossen ist aber auch die Rückkehr zu einem völligen Importverbot von embryonalen Stammzellen. Als sehr wahrscheinlich gilt zumindest die Vorlage eines fünften Antrags. „Es gibt Überlegungen, in einem weiteren Gesetzentwurf die Einschränkung der embryonalen Stammzellforschung zu fordern“, sagte Hubert Hüppe (CDU) dem Deutschen Ärzteblatt. Mit diesem Entwurf wolle man die Meinung der Bevölkerung widerspiegeln. Anlass für die Ankündigung war die Umfrage von TNS-Infratest im Auftrag des Bundesverbands Lebensrecht zum Thema Stammzellforschung, die am 17. Januar in Berlin vorgestellt wurde. Ihr zufolge lehnen 61 Prozent der Deutschen die Forschung mit embryonalen Zellen ab „Humane embryonale Stammzellen werden in den kommenden Jahren enorme Bedeutung für die Krankheitsforschung und die Medikamentenentwicklung erlangen.“ Prof. Dr. med. Oliver Brüstle, Institut für Rekonstruktive Neurobiologie, Universität Bonn „In den nächsten Jahren sind keinerlei therapeutische Anwendungen unter Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen zu erwarten ... Die deutsche Stichtagsregelung ist ein ethisches Minimum.“ Prof. Dr. med. Lukas Kenner, Molekularpathologe an der Medizinischen Universität Wien Eine Verschiebung des Stichtags hält Bundesforschungsministerin Annette Schavan für „ethisch verantwortbar“. Foto: dpa 1. Komplette Streichung des Stichtags: In einem interfraktionellen Gesetzentwurf fordern die FDPForschungspolitikerin Ulrike Flach und Rolf Stöckel (SPD), die bislang geltende Stichtagsregelung komplett zu streichen und durch eine Einzelfallprüfung zu ersetzen. Auch soll die Strafandrohung gegen deutsche Wissenschafter entfallen, die sich an Forschungsprojekten mit embryonalen Stammzellen im Ausland beteiligen. Unterzeichnet haben diesen „Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin“ auch die CDU-Abgeordneten Katharina Reiche und Peter Hintze. Vermutlich werden die meisten FDP-Abgeordneten diesen Antrag unterstützen. 2. Verschiebung des Stichtags: Ein weiterer parteiübergreifender Gesetzentwurf kommt aus der SPD. Deren Bioethik-Experte, René Röspel, plädiert darin für eine einmalige Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007. Unterstützt wird er von weiten Teilen der SPD, aber im Kern auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU). Die Ministerin betonte, dass ein Durchbruch bei adulten Stammzellen nur möglich sei, wenn zuvor an embryonalen Stammzellen geforscht werden könne. Eine Verschiebung des Stichtags sei deshalb „ethisch verantwortbar“. 3. Beibehaltung der bisherigen Rechtslage: Abgeordnete aller Fraktionen, vor allem aber von der Union und Bündnis 90/Die Grünen, haben jüngst einen selbstständigen und fordern die ausschließliche Verwendung von adulten Stammzellen. Hintergrund für die erneute heftige Debatte sind die Fortschritte auf dem Gebiet der Stammzellforschung seit der Verabschiedung des deutschen Stammzellgesetzes im Jahr 2002. Für besondere Aufmerksamkeit sorgten die Ergebnisse von Woo Suk Hwang. Der südkoreanische Stammzellforscher präsentierte 2004 der Weltöffentlichkeit die ersten geklonten menschlichen Embryonen. So schnell, wie die Hoffnung auf die Heilung von Krankheiten durch individuell hergestellte Ersatzzellen aufkeimte, zerplatzte sie aber auch. Anfang 2006 stellten sich nämlich sämtliche Ergebnisse als Fälschungen heraus. Seitdem werden die Erfolge im Bereich der Stammzellforschung mit besonderer Vorsicht betrachtet. Skepsis erzeugt auch die jüngste Erfolgsmeldung der Forscher um Robert Lanza von Advanced Cell Technology, USA. Sie geben an, menschliche embryonale Stammzellen gewonnen zu haben, ohne den Embryo zu zerstören. Aus 43 Em- A 333 Foto: dpa D O K U M E N TAT I O N bryonen stellten sie fünf Stammzelllinien her. Dazu verwendeten sie eine Technik, die auch bei der Präimplantationsdiagnostik genutzt wird, in Deutschland jedoch durch das Embryonenschutzgesetz verboten ist. Deutsche Stammzellforscher messen der Methode deshalb keinen großen praktischen Wert bei. Im Herbst vergangenen Jahres war sich die Wissenschaftswelt allerdings einig: Bei den Forschungsergebnissen von Shinya Yamanaka (Japan) sowie James Thomson und Junying Yu (USA) handele es sich um einen entscheidenden Durchbruch in der Stammzellforschung, um einen „Wendepunkt in der Erforschung der Reprogrammierung“. Den beiden Wissenschaftlerteams gelang es, ausdifferenzierte Fibroblasten der menschlichen Haut zu sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) zu reprogrammieren. Dazu benutzten sie Gene, die sie mithilfe von Retroviren in die Zellen einschleusten. Dass die Umwandlung von ausdifferenzierten Körperzellen in den Urzustand nun auch bei humanen Zellen gelang, lässt viele Menschen hoffen, dass die Stammzellmedizin eines Tages ohne Embryonen auskommen wird. Doch bis klinisch anwendbare Ergebnisse vorliegen, werden vermutlich noch einige Jahre vergehen. Ein eindeutiger Wegweiser für die Gestaltung eines neuen deutschen Stammzellgesetzes A 334 Scharfe Kritik am Stammzellbeschluss der CDU übte der Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner. kann der Durchbruch von Japan und den USA somit nicht sein. Um die Reprogrammierungsforschung voranzubringen, würden von den bereits etablierten humanen embryonalen Stammzelllinien die besten neuen Zelllinien als „Goldstandard“ benötigt, mahnte die Deutsche Forschungsgemeinschaft und bekräftigte ihre Forderung nach einer Gesetzesnovellierung. Scharfe Kritik an der Unterstützung der Forscher durch die Politik kam erwartungsgemäß von kirchlicher Seite. Zunächst meldete sich der Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner, zu Wort. Er kritisierte vor allem Bundesforschungsministerin Annette Schavan, die sich eindeutig gegen die Position der katholischen Kirche gestellt habe. „Dass sie dennoch ihre Eigenschaft als ,katholische Theologin‘ in die Waagschale wirft, ist ein Missbrauch des Wortes ,katholisch‘ für eine von durchsichtigen Forschungsinteressen motivierte Kampagne“, sagte Meisner. Rückendeckung erhielt der Kölner Erzbischof von Gebhard Fürst, dem Bischof von RottenburgStuttgart. Er bedauerte gegenüber dem „Tagesspiegel“ den Beschluss des Parteitags. Die Kluft zwischen Kirchen und Union sei in Fragen der Bioethik „ganz klar größer geworden“, betonte Fürst. „Um es klar zu sagen: Wenn bei der CDU ,C‘ draufsteht, muss auch ,C‘ drin sein.“ Bei der Bioethik sind ihm inzwischen die Grünen näher als die Union. „Wir sehen, dass die Ehrfurcht vor dem Leben und der Schöpfung bei dieser Partei sehr stark ausgeprägt ist.“ Der Mainzer Bischof und Vorsitzende der Deutschen Bischofskon- „Nach fünf Jahren intensiver internationaler Forschung hat sich das Forschungsfeld gewandelt, und eine Überprüfung der Regelungen von 2002 erscheint angesichts der geänderten Sachlage auch ethisch angemessen.“ Prof. Dr. Klaus Tanner, Theologe an der Universität Halle-Wittenberg „Es gibt in der Stammzelldiskussion keine grundsätzlich neuen ethischen Argumente oder Aspekte, die eine Reformierung des Gesetzes erforderlich machen würden.“ Prof. Dr. Hille Haker, Moraltheologe, Katholische Theologie, Universität Frankfurt am Main ferenz, Karl Kardinal Lehmann, sprach sich dafür aus, im Bundestag den Fraktionszwang in dieser Frage aufzuheben. Es gehe schließlich nicht um die bloße Frage des Termins, sondern um die Grundsatzentscheidung, ob man menschliches Leben zu Forschungszwecken töten dürfe. „Unsere Antwort ist ein entschiedenes und klares Nein. Das kann ich so im Parteitagsbeschluss der CDU nicht mehr erkennen.“ Doch der Stammzellbeschluss der CDU hat nicht nur zu einer Auseinandersetzung der Partei mit der katholischen Kirche geführt, die christlichen Kirchen ziehen in dieser Frage ebenfalls nicht an einem Strang. In einem Beitrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) vom 27. Dezember 2007 erkennt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, in der Debatte „Züge eines Kulturkampfs“. Er kritisiert indirekt Kardinal Meisner, wenn er meint: „Manche katholische Stimme beansprucht, die allein vertretbare christliche Position zu artikulieren. Gemeint ist damit ein generelles Nein gegenüber aller Forschung mit embryonalen Stammzellen.“ Es sei nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, dass kontroverse Standpunkte innerhalb der evangelischen Kirche ausgesprochen würden. Bei der Stichtagsregelung müsse man ebenfalls das Für und Wider sorgfältig gegeneinander abwägen. Embryonen seien auch für ihn keine „Sachen“, mit denen man nach Belieben verfahren könne, schrieb Huber. Doch um der Forschung mit adulten Stammzellen und der von ihr erhofften therapeutischen Fortschritte willen sei gegenwärtig noch eine Forschung mit embryonalen Stammzellen notwendig. Die EKD selbst bekräftigte bei ihrer Synode im November 2007, dass sie „die Zerstörung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzelllinien ablehnt“. Auch sie hält, wie Huber, eine Verschiebung des Stichtags nur dann für zulässig, wenn die derzeitige Grundlagenforschung aufgrund der Verunreinigung der Stammzelllinien nicht fortgesetzt werden kann und wenn es sich um eine einmalige D O K U M E N TAT I O N Stichtagsverschiebung auf einen bereits zurückliegenden Stichtag handelt.“ Der Osnabrücker katholische Theologe Prof. Dr. theol. Manfred Spieker warf Huber in seiner Antwort vom 2. Januar in der FAZ vor, er mache sich „zum kirchlichen Anwalt der Forschungslobby in der Deutschen Forschungsgemeinschaft“. Er ignoriere die Aussagen von Forschern, die mit adulten Stammzellen arbeiteten, dass sie der ethisch so umstrittenen embryonalen Stammzellforschung nicht bedürften. Auch die Erfolge bei der Reprogrammierung von Hautzellen zu pluripotenten Stammzellen berücksichtige der Ratsvorsitzende nicht. Ethische Urteile, die den Schutz der Menschenwürde und das Tötungsverbot Unschuldiger betreffen, beanspruchen eine Evidenz, die nach Ansicht Spiekers jedes Abwägen verbietet. Er betrachtet Hubers Eintreten für eine Verschiebung des Stichtags nicht nur als Kurswechsel, sondern auch als das „Ende der ökumenischen Gemeinsamkeit in den Fragen der modernen Biomedizin“. Innerhalb der evangelischen Kirche blieb Hubers Auffassung ebenfalls nicht unwidersprochen. So forderte Bayerns Landesbischof Johan- nes Friedrich, der Embryonenschutz müsse ohne jede Einschränkung aufrechterhalten bleiben. Eine wissenschaftliche Forschung mit Embryonen sei „Tötung menschlichen Lebens“ und ethisch nicht zu verantworten. Der Mainzer katholische Moraltheologe Prof. Dr. theol. Johannes Reiter warnte davor, in dieser Frage einen Keil zwischen Katholiken und Protestanten zu treiben. ■ Gisela Klinkhammer Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann @ Ein Forum zum Thema im Internet: www.aerzteblatt.de/foren/stammzellen PRO UND KONTRA AUS DER DÄ-REDAKTION Pro Stichtagsverschiebung Das Stammzellgesetz aus dem Jahr 2002 sollte novelliert werden. Eine Verschiebung des Stichtags vom 1. Januar 2002 auf beispielsweise den 1. Mai 2007 würde das geltende Recht keineswegs aushebeln, sondern lediglich der ursprünglichen Intention des Gesetzes gerecht werden. Damals wie heute geht es um die fundamentale Frage, ob in der Forschung Stammzelllinien aus menschlichen Embryonen verwendet werden dürfen. Unter strengen Auflagen ja, lautete der Kompromiss des Parlaments vor sechs Jahren. Dieser Kompromiss sollte in seinen Grundzügen auch weiterhin Bestand haben. Fest steht: Der Verbrauch von Embryonen bleibt ethischmoralisch nicht verantwortbar. Darauf würde eine solche Gesetzesänderung jedoch auch nicht abzielen. Signale, Embryonen in großem Stil für die Forschung zu nutzen, würden durch die Ver- Kontra Stichtagsverschiebung Es ist gibt gute und nachvollziehbare Gründe, die für eine Verschiebung des Stichtags sprechen. Doch wenn man davon ausgeht, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt (und bisher gibt es noch keine überzeugenden Argumente, die dagegensprechen), dann darf der Zweck die Mittel nicht heiligen. Das heißt, dass menschliches Leben, auch sich heranbildendes menschliches Leben, nicht zum Zweck medizinischer Forschung getötet werden darf. Die schiebung des Stichtags von Deutschland nicht ausgehen. Deutsche Wissenschaftler hätten allerdings die Möglichkeit, sich straffrei an internationalen Forschungsprojekten, bei denen Stammzelllinien jüngeren Datums verwendet werden, zu beteiligen und diese vor dem Stichtag im Ausland etablierten Zellen für die eigene Forschung zu nutzen. Auf diese Weise ließe sich auch in Zukunft eine qualitativ hochrangige Forschung in Deutschland gewährleisten. Denn von den „alten“ Stammzelllinien sind momentan wegen genetischer Instabilität und Kontaminierung mit tierischen Produkten nur noch wenige einsetzbar. Zudem ist noch unklar, ob alle Zelllinien das gleiche Differenzierungspotenzial besitzen. Ein vergrößerter Pool von einsatzfähigen Linien wäre unter diesem Gesichtspunkt hilfreich. Nicht allen Forderungen der Wissenschaft muss man nachgeben. Doch die meisten scheinen im Hinblick auf das große Potenzial der Stammzellforschung gerechtfertigt. Dabei lässt sich die Forschung an adulten und embryonalen Stammzellen nicht isoliert betrachten. Beide Bereiche haben viele Berührungspunkte und bedingen einander. Die Stammzellmedizin insgesamt ist es, die es ermöglicht, Mechanismen der Zelldifferenzierung, der Reprogrammierung sowie der Entstehung und Heilung von Krankheiten zu erkennen. Nicht ohne Grund arbeiten viele international renommierte Labors mit beiden Zellpopulationen. Auch bei der jüngst erfolgreichen Reprogrammierung von menschlichen Hautzellen zu künstlichen Stammzellen verwendeten Yamanaka und Thomson embryonale Stammzellen zum Vergleich. Dass pluripotente Stammzellen durch alternative Methoden gewonnen werden können, ist denkbar. Langfristig könnte der Einsatz von embryonalen Stammzellen überflüssig werden. Bis dahin sollte man die Forschung jedoch nicht unnötig erschweren. ■ Stichtagsregelung versucht diese Instrumentalisierung menschlicher Embryonen zu verhindern. Durch sie wird die zweckgerichtete Herstellung und Tötung von Embryonen umgangen, und Forscher werden auf sogenannte überzählige Embryonen verwiesen. Fraglich ist, ob es überhaupt ethisch zu rechtfertigen ist, diese überzähligen Embryonen für Forschungszwecke zu instrumentalisieren. Doch konnte eine zeitliche Befristung immerhin sicherstellen, dass eine spätere „verbrauchende“ Nutzung von Embryonen bei deren Tötung keine Rolle spielen dürfe. Jetzt scheint allerdings einzutreten, was Kritiker der Einführung der Stichtags- regelung schon immer befürchteten: Einer Verschiebung wird voraussichtlich als Nächstes die völlige Aufhebung folgen. Die Frage, ob mit einem Verbot der embryonalen Stammzellforschung die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Forschung gefährdet ist, darf übrigens in einer solch fundamentalen ethischen Frage kein Argument sein. Abgesehen davon gibt es bisher auch noch keine Beweise für medizinische Erfolge der Forschung mit embryonalen Stammzellen. Dies alles spricht für eine Förderung der ethisch unbedenklichen Forschung mit adulten ■ Stammzellen. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann Gisela Klinkhammer A 335 D O K U M E N TAT I O N Heft 11, 14. M rz 2008 STAMMZELLFORSCHUNG Das Parlament hat die Forschungsfreiheit und die Hoffnung auf Heilung gegenüber dem Embryonenschutz abzuwägen (DÄ 4/ 2008: „Ein ethisches Dilemma“ von Gisela Klinkhammer und Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann, und DÄ 48/2007: „Reprogrammierungserfolge entzünden erneut Debatte“ von Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann). Noch viele Fragen offen In dem Artikel wird die anstehende Entscheidung als Dilemma zwischen Forschungsfreiheit und Hoffnung auf Heilung beziehungsweise Embryonenschutz erwähnt. Ist es denn wirklich so? Wird da nicht ein Dilemma konstruiert? Nehmen Gegner der embryonalen Stammzellforschung die Hoffnung auf Heilung? Verhindern sie Heilungschancen für Leidende? Stellt die Möglichkeit der adulten Stammzellforschung nicht ebenso eine Hoffnung auf Heilung dar? Und das ohne das Dilemma mit dem Embryonenschutz? Der Aussage von Bundesforschungsministerin Annette Schavan, dass ein Durchbruch bei adulten Stammzellen nur möglich sei, wenn zuvor an embryonalen Stammzellen geforscht werden könne, dürften Forscher adulter Stammzellen widersprechen (wie auch Prof. M. Spieker) und die Ergebnisse von Shinya Yamanaka und Jungying Yu aus dem vergangenen Jahr ein gegenteiliger Beweis sein. Die Wegeslänge zur klinischen Anwendung ist zweifellos in beiden Forschungssparten noch nicht absehbar. Im Kasten „Embryonen aus Hautzell-DNA geklont“ wird dann auch von „diesem Zellhaufen“ gesprochen, bei dem es sich nun doch um einen Embryo handelt! Warum diskutiert man eigentlich eine Verschiebung des Datums? Warum dann 1. Januar 2007 und nicht wenigstens 2008? Dann sollte man doch ehrlich sein und eine weitere Verschiebung in x-Jahren gleich offenlassen. Ein Argument gegen weitere Verschiebungen wird nur schwer zu finden sein. Entscheidend sollte bleiben, dass menschli- A 336 ches Leben nicht zur Disposition steht. Wie Frau Klinkhammer darstellt, gibt es keine überzeugenden Argumente, die zeigen, dass nach Verschmelzung von Ei- und Samenzelle noch nicht menschliches Leben besteht. Aus dieser Zelle kann sich der Mensch entwickeln . . . Dieses Leben kann nicht zur Disposition gestellt werden, wenn es um möglicherweise irgendwann realisierbare Heilung geht, die noch keineswegs gewiss ist. Dr. med. Birgitta Stuebben, Lech-Mangfall-Kliniken gGmbH am Klinikum Landsberg, Bürgermeister-Dr.-Hartmann-Straße 50, 86899 Landsberg am Lech Ein anderes ethisches Problem . . . In der öffentlichen Debatte über die ethischen Probleme der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen (hESZ) ist seit Jahren zwar dem Problem des Embryonenverbrauchs eine zentrale Bedeutung beigemessen worden, aber dies ist nicht das einzige Problem, das es hier gibt. Wie sich jetzt zeigt, ist es noch nicht einmal das ernsteste und schwierigste der Probleme, die diese Forschung aufwirft. Ich habe seit Jahren, seit Beginn der Stammzelldebatte, darauf hingewiesen, dass die Potenzialität, die die Stammzellen gegenüber anderen Zellen auszeichnet, Probleme eigener Art aufwirft, und habe darüber auch des Öfteren (u. a. im DÄ und kürzlich im Journal of Medical Ethics) veröffentlicht . . . Mein Hauptargument und die zentrale Besorgnis, die sich daran knüpft, ist, dass hESZ aufgrund ihrer besonderen Differenzierungspotenz („Pluripotenz“ oder, wie ich als Alternativterminus vorgeschlagen habe, Omnipotenz) totipotenten Zellen früher Embryonen so nahe stehen, dass man aus ihnen relativ leicht und mit guter Erfolgsquote lebensfähige Individuen klonen kann, und zwar mit dem Verfahren der tetraploiden Komplementierung. Das ist nach heutigem Kenntnisstand nur mit frühembryonalen Zellen (Blastomeren) und eben ESZ möglich. Dies wird in vielen Labors weltweit bei der Maus exer- ziert, und kein einschlägig tätiger Forscher zweifelt daran, dass es auch mit menschlichen ESZ erfolgreich durchführbar wäre. Dass dies Implikationen für einen Informed Consent (bei der Embryonenspende und dem anschließenden Einsatz der hESZ) und für Patentierungsfragen hat, haben wir in unseren Veröffentlichungen schon hervorgehoben. Und nun kommt im Hinblick auf Ihren Artikel der Clou: Diese Überlegungen und diese Bedenken greifen natürlich in vollem Umfang auch für die durch Reprogrammierung aus somatischen Zellen (Fibroblasten) erzeugten pluripotenten/omnipotenten Zellen! Dass auch diese „biologischen Artefakte“ (um einen Terminus des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics zu benutzen) ein direktes Klonen von lebensfähigen Individuen per tetraploider Komplementierung möglich machen, ist bereits von der JaenischGruppe an der Maus gezeigt worden (Wernig, M. et al.: Nature 448, 318–24, 2007). Dieses ethische Problem ist also durch Beschreiten des Alternativwegs zur Erzeugung von ESZ-ähnlichen Zellen nicht beseitigt worden; vielmehr wird es eine viel größere Dimension einnehmen, sobald die angestrebten verbesserten Verfahren der Reprogrammierung (die u. a. das Tumorrisiko eliminieren sollen) entwickelt worden sind und zu einer breiten Anwendung dieser Technologie geführt haben werden. Man bedenke nur, dass es ja doch schon etwas Tiefgreifendes für den Zellspender bedeuten muss, dass aus seinen Zellen nach der Reprogrammierung zumindest theoretisch (nach Kryokonservierung auch noch nach seinem Tod) ihm genetisch in wesentlichen Merkmalen gleiche Individuen geklont werden könnten, sollte das zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwer intendieren. Ich bin überzeugt, dass es an der Zeit ist, die mit der Potenzialität der embryonalen Stammzellen zusammenhängenden ethischen Bedenken nun endlich ernsthaft in die Erörterungen einzubeziehen. Hier liegt die wahre Dimension der ethischen Herausforderungen, vor die uns die D O K U M E N TAT I O N Forschung an pluripotenten/omnipotenten Stammzellen stellt! Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Werner Denker, Lürsweg 20, 45239 Essen Ethisches Dilemma? Die embryonale Stammzellforschung wird als ethisches Dilemma, als „Zwangslage“ bezeichnet. Aber trifft dies überhaupt zu? Muss denn die Forschungsfreiheit hier zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen Dingen wählen? Ich denke nicht! Vor der berufsethischen Verpflichtung zum „salus aegroti“ steht doch hippokratisch das „primum nil nocere“! Die Herstellung embryonaler Stammzellen setzt das Töten des unschuldigsten aller Menschen, des Embryos, voraus, den der Philosoph der Aufklärung I. Kant bereits als „Weltbürger“ anerkannte und für dessen Lebensrecht er sich einsetzte – übrigens ohne unser detailliertes Wissen über dessen eigene Organisationskraft ab der Karyogamie. Um den Erkenntnisstand der Aufklärung und die aus ihr erwachsene Lebenskultur nicht erneut zu konterkarieren, sollte sich die moderne Medizin auf die klinisch erfolgreiche adulte Stammzelltherapie konzentrieren und für die begleitende Grundlagenforschung in verantwortlicher Weise tierische embryonale Stammzellen verwenden, raten u. a. Prof. L. Kenner, Wien, und Prof. A. Bauer, Heidelberg. Kurz: Man löse sich von der (zwanghaften?) Fixierung auf bisherige Verfahren und setze seine wissenschaftliche Kreativität ungeteilt für ethisch und rechtlich unbedenkliche Methoden ein. So beweglich und frei ist der Forscher doch! Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Markusberg 24 e, 54293 Trier Ethische Verwirrung Das von Ihnen angeführte ethische Dilemma der Stammzellforschung stellt sich als ethische Verwirrung dar, insbesondere auch, was die erwähnte Kritik aus Reihen der katholischen Kirche betrifft. Bis 1869 vertrat die katholische Kirche bei der Abtreibung in Anlehnung an die antike biblisch-talmudische Stufenlehre der Sukzessivbeseelung, später auch Epigenese genannt, eine Fristenlösung. Ein Embryo galt erst ab dem 40. Tag nach Empfängnis als „beseelt“, erst danach galt eine Abtreibung als Tötung, so auch bei Thomas von Aquin. Als Papst Sixtus V. 1588 diese Unterscheidung von unbeseeltem und beseeltem Status eines Embryos abschaffen wollte, gab es einen solchen Sturm der Entrüstung im Kirchenvolk, dass diese Fristenlösung nur drei Jahre später von seinem Nachfolger wieder eingeführt wurde und bis 1869 (Papst Pius IX.) Bestand hatte. Die ebenso willkürliche Lehre der Simultanbeseelung vom Zeitpunkt der Empfängnis ab, auf welche die Kirchenvertreter sich jetzt berufen, fand erst 1917 Eingang in das katholische Kirchenrecht . . . Erst 1875 wurde erstmals die Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle beobachtet und später die Idee der Simultanbeseelung geboren . . . Zunächst fiel auf, dass die Befruchtung der Eizelle zwar das erste Ereignis bei der Entstehung eines menschlichen Individuums ist, aber nicht das absolut entscheidende. Aus einer befruchteten Eizelle können nach Implantation mehrere Individuen entstehen, eineiige Zwillinge. Erst die Einnistung in den Uterus führt also zur Individualität. In Anlehnung an die antike Stufenlehre unterscheiden auch namhafte katholische Theologen zwischen artspezifischen, individualspezifischen und personenspezifischen Stadien der Embryonalentwicklung . . . Sie finden ihre Entsprechungen in der modernen Fortpflanzungsbiologie, insbesondere in den Erkenntnissen aus der Genom- und Epigenomforschung, die nahelegen, dass es sich bei den präembryonalen Stadien von der Zygote bis zur Blastozyste nicht um Individuen handelt. Auffällig ist zunächst die hohe Verlustrate von über 70 Prozent vor der Implantation. Bezogen auf die Geburtenrate gehen in Deutschland jährlich mehr als 1,5 Millionen befruchtete Eizellen unbemerkt verloren und weltweit mehr als 250 Millionen. Das allein sollte schon die Diskussion um die Forschung an einigen wenigen Stammzellreihen relativieren . . . Absurd ist es, Stammzellen in der Petrischale besser zu schützen als den Embryo im Mutterleib . . . Mit diesem Widerspruch lebt das Stammzellgesetz. Zygoten, welche bei natürlicher Befruchtung millionenfach der Vernichtung anheimfallen, werden in vitro streng geschützt, während das beginnende menschliche Leben, welches im Uterus einen hohen Schutz genießt, 100 000-fach dem Eigennutz einer hedonistischen Gesellschaft geopfert wird. Ein Programm, welches in Billionen unserer Zellen vorhanden ist, ist noch kein Mensch, auch nicht, wenn es zu einer totipotenten Stammzelle reprogrammiert wird. Die Gleichstellung von Stammzellen mit Embryonen und den Forschern ein Tötungsgeschäft zu unterstellen, welches in Wirklichkeit die Gesellschaft an den Embryonen begeht, sind absurd. Aufgabe der Medizin ist seit Tausenden an Jahren nicht nur die Anwendung, sondern auch die Schaffung bestmöglichen Wissens. An der Mauer der Stammzellforschung soll damit Schluss sein . . . Dr. med. Rolf Klimm, Bach 2, 83093 Bad Endorf A 337 D O K U M E N TAT I O N Heft 8, 22. Februar 2008 STAMMZELLDEBATTE Ringen um den Kompromiss Eva Richter-Kuhlmann elig sind die, die Frieden stiften“, zitierte Margot von Renesse (SPD) 2002 kurz vor der entscheiS denden Abstimmung zum Stammzellgesetz aus der Bergpredigt. In diesem Jahr wohnte von Renesse der Debatte im Deutschen Bundestag am 14. Februar lediglich auf der Besuchertribüne bei. Doch auch ohne ihre mahnenden Worte scheint der aktuelle Stammzellstreit erneut auf einen Kompromiss hinauszulaufen. Die fast vierstündige Debatte zeigte: Viele Parlamentarier bemühen sich um einen ethisch vertretbaren Weg in der Gewissensentscheidung zwischen Forschungsfreiheit und dem Verbrauch von menschlichen embryonalen Stammzellen. Notwendig wird ein Überdenken des Stammzellkompromisses von 2002 aufgrund der geänderten wissenschaftlichen Rahmenbedingungen. Mittlerweile ist es durchaus realistisch, pluripotente Stammzellen durch alternative Methoden, wie die Reprogrammierung, zu gewinnen und den Einsatz von embryonalen Zellen auf lange Sicht überflüssig zu machen. Vorerst bleibt jedoch die Forschung an embryonalen Stammzelllinien neueren Datums unverzichtbar. Ein erneuter Kompromiss beziehungsweise die „Weiterentwicklung des Stammzellgesetzes von 2002“ – wie Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) eine Verschiebung des Stichtags nennt – wäre somit keine „faule Ausrede“. Sondern er wäre ein Zeichen für eine vernünftige und überlegte Entscheidung im Sinne des geltenden Gesetzes. Zur Diskussion stehen derzeit fünf Initiativen, darunter vier Gesetzentwürfe und ein Antrag auf Beibehaltung der geltenden Gesetzeslage. Als „Radikalpositionen“ gelten sowohl der interfraktionelle Gesetzentwurf von Ulrike Flach (FDP) und Rolf Stöckel (SPD), die die Stichtagsregelung komplett streichen wollen, als auch der Gesetzentwurf von Hubert Hüppe (CDU), der zu einem völligen Importverbot von embryonalen Stammzellen zurückkehren möchte. Dass einer von ihnen bei der Abstimmung im Bundestag eine Mehrheit erhält, ist unwahrscheinlich. Bereits 184 Abgeordnete haben hingegen den Vorschlag des früheren Importgegners von embryonalen Stammzellen, René Röspel (SPD), unterzeichnet. Er plädiert für einen „einmaligen Nachschlag“ und setzt A 338 sich mit seinem Gesetzentwurf für eine Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007 ein. Wichtigste „Konkurrenz“ für diesen Vorschlag ist der Kompromiss von 2002 selbst. Er hat ebenfalls viele Unterstützer, nämlich 128. Priska Hinz und Fritz Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen), Julia Klöckner (CDU) und Dr. Herta DäublerGmelin (SPD) wollen den Stichtag 1. Januar 2002 unangetastet lassen. Gleichzeitig zu diesem Antrag brachten sie einen Gesetzentwurf ein, der als einzige Modifikation die Strafbarkeitsbestimmungen für Forscher nur auf unerlaubte embryonale Stammzellforschung im Inland beschränkt. Bislang ist den Wissenschaftlern auch die Mitarbeit an Projekten im Ausland verboten, bei denen Stammzellen jüngeren Datums verwendet werden. Trotz weitreichender Spannungen und Anfeindungen im Vorfeld blieben persönliche Angriffe während der Bundestagsdebatte aus. Dennoch sehr emotional und ohne Beachtung der üblichen Fraktionsgrenzen warben etwa 40 Redner bei den noch unentschlossenen Abgeordneten um die Unterzeichnung der Anträge. Allein ihrem Gewissen folgend müssen diese sich nun entscheiden. Die Zeichen stehen 2008 erneut auf Kompromiss. Welcher Vorschlag die Mehrheit finden wird, ist noch offen – vermutlich bis zur Osterpause. Dann soll die Entscheidung fallen. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann Redakteurin für Gesundheits- und Sozialpolitik D O K U M E N TAT I O N Heft 7, 15. Februar 2008 INTERVIEW zu den Themen embryonale Stammzellforschung, Patientenverfügungen, christliches Profil von Krankenhäusern mit Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Hohe ethische Standards gefordert Der EKD-Ratsvorsitzende erläutert, warum er unter ganz bestimmten Voraussetzungen einer Verschiebung des Stichtags beim Import embryonaler Stammzellen zustimmt und warum er bestimmten Entwicklungen bei einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen skeptisch gegenübersteht. Die Entscheidung des CDU-Parteitags, eine begrenzte Forschung an embryonalen Stammzellen (ES) zu ermöglichen – beispielsweise durch eine Verschiebung des Stichtages –, hat zu Auseinandersetzungen zwischen der Union und den Kirchen geführt. Kann man es Ihrer Ansicht nach als christlich bezeichnen, Forschung zu verbieten, die Leben retten kann? Huber: Es muss zunächst einmal klar sein, dass dem menschlichen Embryo von Anfang an menschliche Würde zuzusprechen ist. Daraus folgt, dass auch hochrangige Forschungsziele keine Rechtfertigung für die Herstellung von Embryonen abgeben können. Man muss sich jedoch der Tatsache stellen, dass bei der Herstellung menschlicher Embryonen zum Zweck der menschlichen Fortpflanzung überzählige Embryonen entstehen. Und die einzige Frage, die man auch aus christlicher Perspektive legitimerweise stellen kann, ist, ob aus solchen überzähligen Embryonen embryonale Stammzellen für hochrangige Forschungszwecke entwickelt werden dürfen. Ich respektiere die Meinung derjenigen, die auch das für ethisch ausgeschlossen halten. Aber sie müssen dann zugeben, dass sie das Absterben der über lange Zeit kryokonservierten Embryonen für die ethisch einzig angemessene Antwort auf diese Situation halten. Diejenigen, die die embryonale Stammzellforschung grundsätzlich ablehnen und sich stattdessen für eine Forschung ausschließlich mit adulten Stammzellen einsetzen, müssen sich zudem mit der Frage auseinanderset- zen, ob die Forschung mit adulten Stammzellen ohne begleitende Forschung mit embryonalen Stammzellen möglich ist. Obwohl es das vorrangige Ziel bleibt, auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen zu verzichten, habe ich nach langem Zögern dem Kompromiss von 2002 Respekt gezollt. viel Kritik einstecken müssen, sowohl von der katholischen Kirche als auch aus den eigenen Reihen. Haben Sie damit angesichts dieses Synodenbeschlusses gerechnet? Huber: Auch der Beschluss der EKD-Synode schließt nicht aus, dass es andere Positionen in der evangelischen Kirche gibt, die eben- In diese Richtung ging auch der Beschluss der EKD-Synode vom 4. November 2007. Sie hat sich zudem dafür ausgesprochen, auch ES-Zellen jüngeren Datums für die Grundlagenforschung zu verwenden, wenn keine anderen geeigneten Zelllinien mehr zur Verfügung stehen. Dennoch haben Sie aufgrund Ihrer Zustimmung zu einer einmaligen Verschiebung des Stichtags „ Dem Embryo ist von Anfang an die menschliche Würde zuzusprechen. “ A 339 D O K U M E N TAT I O N Befürchten Sie das auch? Huber: Die Gefahr kann ich nicht von der Hand weisen. Aber von einem Automatismus zu reden, ist in meinen Augen vollkommen abwegig. Denn im einen wie im anderen Fall liegt es weiterhin in der Hand des Gesetzgebers, was geschieht; auch wenn er jetzt eine einmalige Verschiebung ablehnen würde, behielte er die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Regelung zu treffen. Ich bin davon überzeugt, dass der Kompromiss von 2002 dazu beigetragen hat, dass in Deutschland an den strengen Regeln des Embryonenschutzgesetzes festgehalten wurde. Dabei soll es auch weiterhin bleiben. Die Grenze wird eindeutig dort überschritten, wo menschliche Embryonen zu Forschungszwecken hergestellt werden. Das soll die Stichtagsregelung verhindern; dabei bleibt es auch dann, wenn es zu einer einmaligen Verschiebung des Stichtags kommt. Ist es ethisch zu rechtfertigen, viel Geld in eine Forschung zu investieren, deren Erfolgsaussichten derzeit nur vage sind und von der, wenn sie Erfolg hat, wahrscheinlich hauptsächlich die Menschen in den reichen Industrienationen profitieren werden? Huber: Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland in diese Forschung so viel Geld investieren, wie es vielleicht sogar nötig wäre. Wenn ich für eine Verstärkung plädiere, denke ich freilich in erster Linie an die Forschung mit adulten Stammzellen, die in diesem Feld so schnell wie möglich die allein bestimmende Forschungsrichtung werden soll. Solche Forschung kann am ehesten in reichen Industriestaaten durchgeführt werden. Ob dabei Ergebnisse erzielt werden, die auch weltweit den Umgang mit Krankheiten verändern, bleibt tatsächlich fraglich, aber zu hoffen. Unbegründet sind diese Hoffnungen nicht. Ich gehe allerdings auch nicht davon aus, dass Forschungen mit embryonalen Stammzellen Träger von A 340 konkreten Heilungschancen sein würden. Die Heilungshoffnungen müssen sich in erster Linie auf adulte Stammzellen richten. Ethische Grundsatzdiskussionen gibt es nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende des Lebens. Zurzeit wird intensiv über Patientenverfügungen diskutiert. Wie verbindlich sollten Ihrer Ansicht nach Patientenverfügungen sein? Huber: Wenn die Äußerung, die ich gegenüber einem behandelnden Arzt ausspreche, welche Behandlung ich wünsche oder ablehne, als verbindlich anerkannt ist, dann hat auch die Patientenverfügung an dieser Verbindlichkeit Anteil. Der Unterschied ist nur, dass der Zeitpunkt, zu dem chen Ethos zu folgen. Sollten aufgrund der Unkenntnis der späteren konkreten Situation bestimmte Bereiche besser gar nicht geregelt werden? Huber: Es gibt gute Gründe dafür, den Bereich dessen, was durch Patientenverfügungen geregelt werden kann, eng zu definieren. Man muss aber auch dem Einzelnen einen gewissen Spielraum lassen. Die Christliche Patientenverfügung, die von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam herausgegeben wird, ist generell auf die Frage bezogen, ob im Fall einer zum Tod führenden Krankheit bei einem nicht mehr äußerungsfähigen Pa- Fotos: Jürgen Gebhardt falls gut begründet sind. Auf der Schutzwürdigkeit des Embryos basieren beide, die ablehnende Haltung zudem auf der Befürchtung, dass es nicht bei einer einmaligen Verschiebung bleiben wird. ich eine Patientenverfügung unterschrieben habe, und der Zeitpunkt, an dem sie gegebenenfalls in Anspruch genommen wird, auseinander liegen. Es gehört also zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung dazu, dass sie in der konkreten Situation auslegungsbedürftig ist. Die Folgerung, die ich daraus ziehe, ist, dass eine vorsorgende Vollmacht wichtiger ist als die Beschreibung von vermeintlich konkreten Situationen. Für die Auslegung gilt, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen und die Pflicht zur Fürsorge für sein Leben gleichgewichtig berücksichtigt werden. Eine Patientenverfügung entbindet Ärztinnen und Ärzte nicht davon, den Grundregeln des ärztli- tienten Behandlungen fortgeführt werden sollen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der zum Tod führenden Krankheit stehen. Es besteht aber ausdrücklich auch die Möglichkeit, weitere Verfügungen selbst zu formulieren. Ich würde es für schwierig halten, generell auszuschließen, dass jemand für ein lang anhaltendes Koma, das unwiderruflich nach allen ärztlichen Einschätzungen zum Tod führen wird, eine Bestimmung trifft. Befürworten Sie eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen? Huber: Die Rechtsprechung hat dazu geführt, dass eine gesetzliche Regelung nahezu unvermeidlich ist. D O K U M E N TAT I O N Ich bejahe das im Grundsatz, verbinde damit aber manche Sorgen. Zu ihnen gehört die Vorstellung, dass eine gesetzliche Regelung die Patientenverfügung in bestimmten Bereichen zu einer generellen Pflicht werden lässt. Das hängt mit der in Deutschland verbreiteten Neigung zu einer Fixierung auf das gesetzlich Geregelte zusammen. Bereits jetzt wird oftmals in Pflegeheimen bei der Aufnahme regelmäßig nach einer Patientenverfügung gefragt. Es darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, das Vorliegen einer Patientenverfügung sei die Voraussetzung für die Aufnahme. Denn zur Freiheit eines Menschen gehört es auch, keine Patientenverfügung haben zu müssen. Meine Sorge ist zum einen, dass eine gesetzliche Regelung dieses Missverständnis auslösen könnte, und zum anderen, dass eine gesetzliche Regelung das Gleichgewicht von Selbstbestimmung und Fürsorge für das Leben ins Rutschen bringen könnte. Das kann ich unter gar keinen Umständen gutheißen. die kompliziertesten Fälle landen, weil diese sich dazu verpflichtet fühlen, jeden aufzunehmen, der Hilfe braucht. Man darf auch keine Zeittakte vorgeben, die jede Hinwendung zum Patienten ausschließen. Es gibt jedoch noch viele Krankenhäuser – auch über den konfessionell geprägten Bereich hinaus – die durchaus wissen, welche Bedeutung gute Seelsorge für den Heilungsprozess hat. An dieser Stelle vertraue ich darauf, dass christliche Krankenhäuser auch hinsichtlich der Qualität Vorbild sind und dies künftig weiterhin sein werden. Sie sind dabei natürlich in die Vorgaben der Ökonomisierung eingebunden. So sehr man das beklagt, muss man freilich auch berücksichtigen: Damit wir auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige Gesundheitsvorsorge und -fürsorge haben, muss das Gesundheitswesen finanzierbar bleiben. Deshalb muss man Gesichtspunkte des humanen Umgangs mit Kranken verstärkt in die Bemühungen um eine wirtschaftliche Führung von Krankenhäusern einbeziehen; man darf sie nicht nur der Ökonomi- sierung des Gesundheitswesens plakativ entgegenstellen. Das Diakonische Werk fordert derzeit, die Pflege von Angehörigen in Form von Freistellungstagen zu unterstützen – ähnlich wie die Pflege von kranken Kindern. Begrüßen Sie diesen Vorschlag? Huber: Jeder kann in die Situation kommen, in der die Fürsorge für die eigenen Eltern ebenso aufwendig und anspruchsvoll ist, wie es die Fürsorge für die Kinder in einer früheren Lebensphase gewesen ist. Für Christen ist die Pflege der Eltern nahe liegend, denn das vierte Gebot, das Gebot, die Eltern zu achten, bezieht sich genau auf diese Situation. Das bedeutet, dass Regelungen, die man in der Fürsorge für Kinder als notwendig erachtet, im Prinzip auch auf diese anderen Lebenssituationen übertragen werden sollen. Man muss Lösungen finden, die sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Solidargemeinschaft finanzierbar sind. ■ Die Fragen stellten Gisela Klinkhammer und Eva Richter-Kuhlmann. Wie kann man den Menschen die Angst vor einem Sterben ohne Würde nehmen? Der ökonomische Druck auf die Krankenhäuser wächst. Auch die evangelischen Häuser sind ökonomischen Zwängen unterworfen, beispielsweise den DRGs. Sehen Sie in dieser Entwicklung eine Gefahr für die Menschlichkeit und Christlichkeit in der Medizin? Huber: Ja, ich habe mich deshalb dafür ausgesprochen, dass die DRGs nicht auf alles und nicht auf jeden angewendet werden dürfen. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass man aufpassen muss, dass in den christlichen Krankenhäusern nicht allein Heft 9, 29. Februar 2008 SUCHMASCHINE Forschung besser finden Wie viele Graduiertenkollegs fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) an einer Hochschule? Wer forscht auf dem Gebiet der Materialforschung in Schleswig-Holstein? Welche Themenschwerpunkte gibt es derzeit im Bereich der Stammzellforschung? Die DFG-Suchmaschine „Gepris – Geförderte Projekte der DFG“ (Internet: www.dfg.de/gepris) hilft bei der Beantwortung dieser und Foto: Fotolia/V2 Huber: Dadurch, dass andere Elemente neben der Patientenverfügung gefördert werden. Dazu gehört in erster Linie die Stärkung der Palliativmedizin und die breitere Einführung von ambulanten und stationären Hospizdiensten. Aber alles, was unter dem Stichwort „aktive Sterbehilfe“ steht und was ja genauer als „Tötung auf Verlangen“ oder als „Hilfe zur Selbsttötung“ bezeichnet werden muss, ist aus christlicher Sicht grundsätzlich abzulehnen. anderer Fragen. Der recherchierbare Datenbestand von Gepris umfasst mehr als 50 000 Projekte, 35 000 Personen und 16 500 Institutionen. Koordinierte Förderverfahren, zum Beispiel Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs und Schwerpunktprogramme, sind integriert. Eine erweiterte Suche macht unter anderem die Recherche nach Bundesländern möglich, ein alphabetischer Katalog lädt zum Stöbern ein. Erstmals kann die individuelle Suchhistorie unter dem Reiter „Mein Gepris“ abgespeichert werden. So gehen Recherchen, die zudem bequem als PDF-Dokument heruntergeladen werden können, nicht verloren. Die Suchmaschine steht seit 1999 im Netz. Seit dem letzten Relaunch ist sie auch barrierefrei. Künftig sollen zusätzlich die Daten der Exzellenzinitiative sowie Abschlussberichte DFG-geförderter Projekte mit aufgenommen werden. EB A 341 D O K U M E N TAT I O N Heft 10, 7. M rz 2008 REGENERATIVE MEDIZIN IM AUFBRUCH Wann das Leben beginnt Noch vor der endgültigen Entscheidung über eine Novellierung des Stammzellgesetzes plädierten Wissenschaftler in Berlin für eine Verschiebung oder Streichung der Stichtagsregelung. er Termin für eine Fachkonferenz mit dem Titel „RegeneD rative Medizin im Aufbruch“ war geschickt gewählt. Kurz nach der ersten Lesung im Bundestag über eine Novellierung des Stammzellgesetzes, aber noch vor der endgültigen Entscheidung des Parlaments erläuterten Wissenschaftler auf der gemeinsamen Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), warum sie die embryonale Stammzellforschung für notwendig halten. Mehrere Vorträge dienten dem Zweck, die Verdienste der regenerativen Medizin herauszustellen. So berichtete der Geschäftsführer der Firma Cytonet, Dr. med. Dr. Wolfgang Rüdinger, dass schon heute Ärzte Verbrennungsopfern mit vitalem Hautgewebe aus dem Labor helfen könnten. Die Firma Cytonet züchtete, so Rüdinger, Leberzellen, um damit Patienten mit Vergiftungen oder angeborenen Stoffwechseldefekten zu helfen. Prof. Dr. med. Andreas Zeiher, Frankfurt am Main, berichtete, dass es Stammzellen gebe, mit deren Hilfe das menschliche Herz unter Umständen regeneriert werden könne. Deutschland sollte sich nicht vom Rest der Welt abkoppeln „Schon heute ist es möglich, mittels embryonaler Stammzellen praktisch jedes beliebige Körpergewebe zu züchten. Diese gezüchteten Zellen lassen sich wieder in ein geschädigtes Körperorgan transplantieren, wodurch dessen Regeneration erreicht wird. Der proof of principle ist im Tierexperiment erbracht, jetzt gilt es, diese Verfahren auch auf den Menschen zu übertragen und so zur Therapie von Patienten zum Beispiel mit Herzinfarkt, Diabetes oder A 342 Morbus Parkinson zu nutzen“, sagte Prof. Dr. med. Jürgen Hescheler, Köln. Doch dazu eignen sich nach Ansicht der Forscher die in Deutschland zugelassenen Zelllinien nur bedingt. Außerdem könne sich Deutschland nicht vom Rest der Welt abkoppeln. „Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, damit wir auch noch künftig an internationalen Forschungsverbünden teilnehmen und insbesondere mit unseren europäischen Stammzellkollegen zusammenarbeiten können.“ Hescheler plädierte deshalb für die Zulassung neuer embryonaler Stammzellen. Diese Ansicht wurde auf der Tagung durchweg geteilt. Der VFA fordert, so Prof. Dr. Klaus Burger, Novartis, die Stichtagsregelung für embryonale Stammzelllinien zu streichen oder zumindest eine nachlaufende Stichtagsregelung einzuführen und deutschen Wissenschaftlern nicht länger Strafen anzudrohen, wenn sie im Ausland oder im Rahmen internationaler Kooperationen an in Deutschland verbotenen Stammzellen arbeiten. Außerdem sollte die Einfuhr von Stammzelllinien nicht nur für Forschungszwecke, sondern auch für diagnostische, präventive und therapeutische Zwecke gestattet werden. Doch was ist mit dem Embryonenschutz? Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, wann man den Beginn des Lebens ansetzt. Nach Ansicht Burgers beginnt menschliches Leben nicht bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, sondern erst mit der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter der Frau. Sonst müsse man letztlich jede Zelle als „menschliches Leben und damit als schutzwürdig“ bezeichnen, meint er. Selbst die katholische Kirche sei bis ins 19. Jahrhundert von einer stufenweisen Beseelung des Embryos (Sukzessivbeseelung) ausgegangen. Burger sprach sich deshalb dafür aus, bis zur Nidation vom „Präembryo“ zu sprechen. Hescheler verglich dieses frühe Stadium des „Präembryos“ mit dem des Menschen am Lebensende. So höre das Leben bereits auf, bevor alle menschlichen Gene zerstört seien, weswegen man sich auf das geltende Hirntod-Kriterium geeinigt habe. „Stellvertretender Kulturkampf“ Unterstützung erhielten die Forscher von Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing, Tübingen. Er kritisierte vor allem die sogenannten Lebensschützer, die sich gegen jegliche Embryonenforschung aussprechen. Ihnen war bereits der Kompromiss aus dem Jahr 2002 nicht restriktiv genug. Nach Ansicht Wiesings führen die Lebensschützer einen „stellvertretenden Kulturkampf“, in dem es ihnen um eine interpretative Vormachtstellung gehe und darum, „der Pluralität Grenzen zu setzen“. Wiesing wies auf den Wertungswiderspruch hin, dass bereits jetzt Embryonen durch die Spirale und die „Pille danach“ millionenfach daran gehindert würden, sich weiterzuentwickeln, obwohl es durchaus andere Verhütungsmöglichkeiten gebe. Eine Anerkennung der Ansichten der Lebensschützer bedeute auch die Missachtung anderer Staaten, in denen Embryonenforschung erlaubt sei. Für Wiesing sprechen tragfähige Argumente dafür, dass eine Verschiebung des Stichtags oder eine Aufhebung mit Einzelfallprüfung nicht den „unverzichtbaren moralischen Grundsätzen des Zusammenlebens widersprechen“. ■ Gisela Klinkhammer D O K U M E N TAT I O N Heft 11, 14. M rz 2008 EDITORIAL Die Perfektionierung der Polkörperdiagnostik Eine Konsequenz des Embryonenschutzgesetzes Peter Propping aare, die Nachwuchs haben möchten, wollen ein erhöhtes gesundheitliches Risiko für ihre Kinder P vermeiden. Die meisten tun auch alles, um eine eventuelle Risikoerhöhung rechtzeitig zu erkennen. Dies ist ein natürliches, jedenfalls berechtigtes Interesse, und die Medizin muss den Paaren dabei helfen. Es sind zum guten Teil soziologische Gründe dafür verantwortlich, dass das reproduktive Zeitfenster der Frau in den letzten Jahrzehnten immer kleiner geworden ist und das Gebäralter zugenommen hat. Wurden 1975 in der alten Bundesrepublik noch 8,4 Prozent der Kinder von Müttern oberhalb des 35. Lebensjahres geboren, so waren dies 2002 in Deutschland 15,4 Prozent und 2006 bereits 17 Prozent (1). Jenseits des 35. Lebensjahres der Frau nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Konzeption rapide ab. Die Hoffnung vieler Paare mit Kinderwunsch ruht dann häufig ganz auf der Reproduktionsmedizin, insbesondere auf den Verfahren der In-vitroFertilisation (IVF) und intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI). Das höhere Alter der Frau wiederum hat eine erhöhte Rate numerischer Chromosomenaberrationen in den Oozyten zur Folge. Bei einer 40-Jährigen sind 50 bis 70 Prozent der reifen Eizellen von einer Aneuploidie betroffen (2, 3). Die meisten numerischen Aberrationen sind mit so schweren Entwicklungsstörungen verbunden, dass es zu einem frühen Absterben des Embryos kommt. Reduktion von Aneuploidien Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn: Prof. Dr. med. Propping Eine Möglichkeit Aneuploidien in den Eizellen, die für IVF/ICSI verwendet werden, zu reduzieren, ist die Chromosomenuntersuchung des Polkörpers. Die Polkörperdiagnostik (PKD) kann die IVF/ICSI ergänzen. In dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes stellt die Gruppe um van der Ven und Montag die Ergebnisse der Methode vor. Polkörper stellen gewissermaßen Abfallprodukte der Oogenese dar. Durch die erste Reifeteilung gelangt je ein Chromosomensatz in die Eizelle und den ersten Polkörper. Wenn im Polkörper ein bestimmtes Chromosom fehlt, muss es zusätzlich in der Eizelle vorhanden sein. Man kann daher durch Untersuchung des Polkörpers im Differenzverfahren auf eine Fehlverteilung von Chromosomen in der Eizelle schließen. Da die Kryokonservierung der Oozyte noch schwierig ist, steht die PKD unter großem Zeitdruck. Es können maximal 12 der 23 Chromosomen in die Untersuchung einbezogen werden. Die Darstellung von Chromosomen ist auch technisch schwierig, weil der erste Polkörper nur zwei DNA-Kopien, der zweite Polkörper sogar nur eine Kopie enthält. In zwei bis drei Prozent gelingt der Nachweis einzelner Chromosomen nicht. Die Ergebnisse von van der Ven et al. zeigen, dass bei Frauen, die aufgrund ihres vorgerückten Alters ein erhöhtes Aneuploidie-Risiko haben, die Abortrate nach PKD niedriger und die Implantationsrate etwas höher ist. Auch fand man eine Tendenz zu einer verbesserten Geburtenrate. Zwar sind diese Ergebnisse ermutigend, doch weisen die Autoren auf die Begrenzungen der Aussagen hin. Diesen Befunden stehen Resultate gegenüber, die durch Aneuploidie-Ausschluss mithilfe der Präimplantationsdiagnostik (PID) erhoben wurden (4). Die untersuchten Frauen waren im Durchschnitt jünger als bei van der Ven et al. Die Schwangerschaftsraten erwiesen sich im Vergleich zu IVF ohne PID als niedriger. Zur Aufklärung dieser Diskrepanzen sind weitere Studien erforderlich. Die PKD ist in Deutschland besonders vorangetrieben worden, weil das Embryonenschutzgesetz die genetische Untersuchung früher Embryonalstadien verbietet. Es stellt sich die Frage, ob es redlich ist, dass wir in Deutschland weiterhin darauf angewiesen sind, im Ausland erzielte Ergebnisse der PID zum Vergleich heranziehen zu müssen. Dabei sind die dortigen Ergebnisse zum Teil an deutschen Paaren erhoben worden, die als „PID-Touristen“ ausländische Zentren aufgesucht haben. Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht: 31. 1. 2008; revidierte Fassung angenommen: 5. 2. 2008 LITERATUR 1. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2006. www.ec.destatis.de. 2. Hassold T, Jacobs PA, Leppert M, Sheldon M: Cytogenetic and molecular studies of trisomy 13. J Med Genet 1987; 24: 725–32. 3. Kuliev A et al.: Frequency and distribution of chromosome abnormalities in human oocytes. Cytogenet Genome Res 2005; 111: 193–8. 4. Mastenbroek S, Twisk M, van Echten-Arends J et al.: In vitro fertilization with preimplantation genetic screening. N Engl J Med 2007; 357: 9–17. Anschrift für den Verfasser Prof. Dr. med. Peter Propping Institut für Humangenetik der Universität Bonn Wilhelmstraße 31, 53111 Bonn E-Mail: [email protected] The Optimization of Polar Body Diagnosis – A Consequence of the Embryo Protection Law Dtsch Arztebl 2008; 105(11): 189 DOI: 10.3238/arztebl.2008.0189 @ The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de A 343 D O K U M E N TAT I O N Heft 11, 14. M rz 2008 ÜBERSICHTSARBEIT Polkörperdiagnostik – ein Schritt in die richtige Richtung? Katrin van der Ven, Markus Montag, Hans van der Ven ZUSAMMENFASSUNG Einleitung: Die Polkörperdiagnostik (PKD) ist eine neue Methode zur indirekten genetischen Untersuchung von Eizellen. Sie wird im Rahmen einer In-vitro-Fertilisationsbehandlung durchgeführt. Die Polkörperdiagnostik ist labortechnisch anspruchsvoll und kein Routineverfahren, das unkritisch in großem Umfang eingesetzt werden sollte, denn ausreichende klinische Daten liegen nicht vor. Methoden: Selektive Aufarbeitung der Literatur und Auswertung eigener Daten zur Polkörperbiopsie. Ergebnisse: Das Haupteinsatzgebiet der PKD ist der Nachweis von Chromosomen-Fehlverteilungen (Aneuploidiediagnostik) und mütterlicher Translokationen in Eizellen. Paternale genetische Faktoren sind nicht und monogene Erkrankungen nur eingeschränkt diagnostizierbar. Diskussion: Die Wertigkeit der PKD als Ergänzung zur Steigerung der Erfolgsraten der In-vitro-Fertilisation muss in klinischen Studien noch belegt werden. Im Fall mütterlicher Translokationen erscheint die PKD zur Senkung der Abortraten schon heute anwendbar. Durch Fortentwicklung der Biopsietechniken und molekulargenetischen Diagnostik werden künftig mit der PKD umfassendere Untersuchungen möglich sein. Dtsch Arztebl 2008; 105(11): 190–6 DOI: 10.3238/arztebl.2008.0190 Schlüsselwörter: Polkörperdiagnostik, Aneuploidie-Testung, In-vitro-Fertilisation, Kinderwunsch, Eizelle ie Polkörperdiagnostik (PKD) ist eine Methode zur genetischen Untersuchung von Eizellen D noch vor Abschluss der Befruchtung (Präkonzeptionsdiagnostik) (1). Die Entnahme und Untersuchung des ersten und zweiten Polkörpers ermöglicht eine indirekte Aussage über die genetische Konstitution der Eizelle. Im Gegensatz dazu offeriert die Präimplantationsdiagnostik (PID) durch Entnahme und Analyse einzelner Blastomeren die direkte Untersuchung des Erbguts eines entstehenden Embryos (2). PKD und PID sind nur im Rahmen einer In-vitro-Fertilisationstherapie durchführbar. Die Verfahren erlauben den Nachweis von numerischen Chromosomenfehlverteilungen (Aneuploidien), Translokationen und monogenen Erkrankungen. Ziele dieser Methoden sind, die Erfolgsraten der assistierten Reproduktion zu verbessern sowie Schwangerschaften und Geburten schwer erkrankter Kinder zu vermeiden. Aufgrund der höheren diagnostischen Aussagekraft hat sich international die Präimplantationsdiagnostik durchgesetzt. In Deutschland gilt die PID als nicht mit dem Deutschen Embryonenschutzgesetz vereinbar. Deshalb hat sich parallel zur anhaltenden ethischen und juristischen Debatte über Inhalt und Nutzen dieser gesetzlichen Regelung die Polkörperdiagnostik etabliert. Neben der methodischen Darstellung werden im Folgenden auf der Basis einer selektiven Literaturaufarbeitung Möglichkeiten und Wertigkeit der Polkörperbiopsie für verschiedene diagnostische Fragestellungen im zeitlichen und rechtlichen Rahmen des Deutschen Embryonenschutzgesetzes erläutert und diskutiert. Meiose mit Bildung des ersten und zweiten Polkörpers Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Universitätsklinikum Bonn: Prof. Dr. med. van der Ven, PD Dr. rer. nat. Montag, Prof. Dr. med. van der Ven A 344 Der diploide Chromosomensatz der Eizelle wird kurz vor der Ovulation durch Vollendung der ersten Reifeteilung auf einen haploiden Chromosomensatz reduziert (Grafik 1). Ein Chromosomensatz verbleibt in der Eizelle, während der zweite Chromosomensatz unter Bildung des ersten Polkörpers aus dem Zytoplasma ausgeschleust wird. Nach Eindringen eines Spermiums folgt die zweite Reifeteilung. Dabei spalten sich die zweifädigen Chromosomen weiter in Chromatiden auf und ein Chromatidensatz wird unter Bildung des zweiten Polkörpers ausgeschleust. Die Zahl der Chromosomen D O K U M E N TAT I O N beziehungsweise Chromatiden in Polkörpern und Eizelle ist nach regulär abgelaufener erster und zweiter Reifeteilung gleich. Die Polkörper haben für die weitere embryonale Entwicklung keine nachgewiesene Bedeutung und stehen für diagnostische Maßnahmen zur Verfügung. Nach der Fertilisation entwickeln sich in der Eizelle der männliche und weibliche Vorkern, die das maternale und paternale Erbmaterial enthalten. 16 bis 20 h später lösen sich die Vorkernmembranen als Vorbereitung auf die erste Zellteilung auf. Hiermit ist nach biologischer Definition der Befruchtungsvorgang abgeschlossen. Regelungen des deutschen Embryonenschutzgesetzes Das Embryonenschutzgesetz von 1990 gibt den zeitlichen und therapeutischen Rahmen für Verfahren der künstlichen Befruchtung in Deutschland vor. Als Embryo im Sinne des Embryonenschutzgesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der „Kernverschmelzung“ an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle. Embryonen dürfen einzig zum Zweck des Embryotransfers erzeugt werden. Nach der derzeitigen Interpretation dürfen maximal drei Eizellen befruchtet und maximal drei Embryonen einzeitig auf die Mutter übertragen werden. Da die Polkörperbiopsie zeitlich vor der „Verschmelzung“ der Vorkerne stattfindet, stellt sie eine Maßnahme der Präkonzeptionsdiagnostik dar und ist mit dem Embryonenschutzgesetz kompatibel. Für die Durchführung der PKD steht jedoch nur ein enger zeitlicher Rahmen von maximal 20 h zwischen Eindringen des Spermiums und Sichtbarwerden der Vorkerne zur Verfügung (Grafik 2). Zur Erweiterung des engen Zeitrahmens, den das deutsche Embryonenschutzgesetz vorgibt, könnte theoretisch eine Kryokonservierung der Eizellen im Vorkernstadium bis zum Abschluss der genetischen Diagnostik erfolgen. Trotz guter Überlebens- und Entwicklungsraten kryokonservierter Eizellen nach Polkörperbiopsie konnten bislang nur wenige fortlaufende klinisch nachweisbare Schwangerschaften erzielt werden. Aufgrund ungelöster kryobiologischer Probleme stellt dieses Vorgehen zurzeit noch keine akzeptable Strategie dar. Entstehung und Häufigkeit von Aneuploidien Aneuploidien, das heißt Abweichungen von der regulären Chromosomenzahl, entstehen überwiegend durch Fehlverteilungen der Chromosomen während der Meiose (Grafik 3). Bis zu 80 Prozent der Aneuploidien entstehen während der ersten Reifeteilung. Die Häufigkeit von Aneuploidien in Eizellen steigt nach dem 35. Lebensjahr stark an. Bei einer 40-Jährigen sind schätzungsweise 50 bis 70 Prozent der reifen Eizellen von einer Chromosomenanomalie betroffen (3). TABELLE 1 Polkörperdiagnostik (PKD) versus Präimplantationsdiagnostik (PID) Polkörperdiagnostik Präimplantationsdiagnostik Vorteile Vorteile Polkörper sind keine embryonalen Zellen Maternales und paternales Erbgut beurteilbar Polkörper verzichtbar für weitere embryonale Entwicklung Breiteres Indikationsspektrum Ggf. größere diagnostische Sicherheit durch Untersuchung mehrerer Zellen Nachteile Nachteile Information nur über maternales Erbgut Entnahme embryonaler Zellen Eingeschränktes diagnostisches Spektrum Potenzielle Einschränkung der embryonalen Entwicklungsmöglichkeiten durch Blastomerenbiopsie Dies erklärt das steigende Abortrisiko bei Patientinnen mit höherem mütterlichem Alter. Ein natürlicher Verlust von Embryonen mit abweichendem Chromosomensatz setzt bereits in frühen embryonalen Entwicklungsphasen ein und gilt als einer der verantwortlichen Faktoren für die vergleichsweise geringe Fertilität des Menschen (4). Neuere Daten belegen jedoch auch bei jungen Frauen erhebliche individuelle Unterschiede bezüglich der Zahl chromosomal auffälliger Eizellen und Embryonen (5, 6, 7). Über 90 Prozent der embryonalen Chromosomenanomalien sind maternalen Ursprungs. Die Aneuploidieraten in Spermien sind bei normalem väterlichen Karyotyp als gering einzustufen (1 bis 2,5 Prozent), steigen aber mit zunehmender Einschränkung der Spermaqualität signifikant an. Trotzdem tragen Spermien mit abweichender Chromosomenkonstitution selbst bei Verfahren der künstlichen Befruchtung nur geringfügig zum embryonalen Aneuploidierisiko bei (8). Indikationen zur Polkörperbiopsie In Deutschland zielt die Polkörperdiagnostik hauptsächlich auf verbesserte Behandlungserfolge der assistierten Reproduktion und nur in Einzelfällen auf die spezifische Diagnostik monogener Erkrankungen (9, 10) oder maternaler Translokationen (11). Im Rahmen der assistierten Reproduktion müsste die Identifikation chromosomal normaler Eizellen durch die Polkörperdiagnostik höhere Implantationsund Geburtenraten ermöglichen. Dies könnte insbesondere für Patientinnen von Vorteil sein, bei denen erhöhte Raten aneuploider Eizellen zu erwarten sind. Dies ist etwa der Fall bei höherem Lebensalter oder bei maternalen Translokationen, und eventuell auch dann, wenn eine Implantation nach Embryotransfer („Implantationsversagen“) wiederholt ausbleibt oder bei ungeklärten rezidivierenden Spontanaborten. A 345 D O K U M E N TAT I O N Meiose mit Bildung des ersten und zweiten Polkörpers (PK) GRAFIK 1 Labortechnische Voraussetzungen und diagnostische Sicherheit Labortechnisch kritische Aspekte der Polkörperdiagnostik umfassen: ❃ die atraumatische Eröffnung der äußeren Eizellhülle (Zona pellucida) ❃ die zeitgerechte Entnahme der vollständigen Polkörper ❃ die präzise und umfassende genetische Diagnostik. Das Eizelltrauma nach laservermittelter Eröffnung der Zona pellucida wird mit circa 0,5 bis 1 Prozent angegeben (12). Essenziell bleiben jedoch eine umfangreiche Laborroutine und technische Erfahrung der beteiligten Biologen und Genetiker. Bei der Aneuploidiediagnostik kann sich der theoretische Vorteil der PKD statistisch und klinisch erst auswirken, wenn Zeitlicher Ablauf der Polkörperdiagnostik; NVK, Nukleolus-Vorläuferkörperchen A 346 GRAFIK 2 methodenimmanente technische Risiken, wie zum Beispiel Eizelltraumata und Fehldiagnosen, minimiert werden. Bei der Präimplantationsdiagnostik wurde beobachtet, dass bei Entnahme von ein oder zwei Blastomeren eine signifikante Reduktion des Implantationspotenzials der Embryonen resultieren kann (13, 14, 15). Das methodische Vorgehen muss im Hinblick auf die Polarität des frühen Embryos kritisch hinterfragt werden, weil bereits im Vier-Zellstadium alle Blastomere Differenzierungsmarker aufweisen (16). Die Entfernung einzelner Blastomere könnte die Polarität des Embryos und damit sein weiteres Entwicklungspotenzial beeinflussen, auch wenn für die verbleibenden Zellen des Präimplantationsembryos eine gewisse kompensatorische Plastizität postuliert wird. Bei der PKD werden lediglich Polkörper entnommen, die keine physiologische Bedeutung für die weitere Embryonalentwicklung haben. Ob aus diesem Grund die PKD der PID im Rahmen der Aneuploidiediagnostik überlegen ist, müssen Studien zeigen. Methoden zum Nachweis chromosomaler Fehlverteilungen Nach Biopsie des ersten und zweiten Polkörpers erfolgt die Darstellung verschiedener Chromosomen (zumeist der Chromosomen 13, 16, 18, 21, 22) mit einer Mehrfachproben-Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH). Meiotische Fehlverteilungen der genannten Chromosomen sind häufige Ursache für Monosomien und Trisomien bei klinisch nachweisbaren Schwangerschaften und führen in hohem Prozentsatz zu Fehlgeburten. Bei der fluoreszenzmikroskopischen Auswertung wird bestimmt, wie viele Kopien der untersuchten Chromosomen/Chromatiden im ersten beziehungsweise zweiten Polkörper vorhanden sind. Aus dem Ergebnis kann man indirekt auf den Chromosomensatz der Eizelle schließen. Mit der gegenwärtigen FISH-Technik können bis zu sechs Chromosomen in einer Bestimmung erfasst werden (17). Im Zeitrahmen, den das Embryonenschutzgesetz vorgibt, sind maximal zwei Bestimmungsansätze mit der Analyse von insgesamt zehn bis zwölf Chromosomen durchführbar, was diese Untersuchungsmethode erheblich limitiert. Die Aussagekraft des Verfahrens wird weiterhin durch den sogenannten FISH-drop-out eingeschränkt, bei dem eine FISH-Sonde das zu untersuchende Chromosom nicht darstellt, obwohl es eigentlich vorhanden ist. Die Häufigkeit des FISHdrop-out wird mit zwei bis drei Prozent pro untersuchtes Chromosom veranschlagt. Weitere Methoden zur simultanen Darstellung aller Chromosomen wurden in diesem Zusammenhang bereits geprüft, sind aber entweder aus technischen Gründen nicht praktikabel (18, 19) oder in der Zeitvorgabe des Embryonenschutzgesetzes trotz kürzlich erreichter technischer Fortschritte noch nicht anwendbar (zum Beispiel comparative genomische Hybridisierung [CGH] und Chiptechnologie) (20–24). D O K U M E N TAT I O N Diagnostik monogener Erkrankungen Die Polkörperdiagnostik kann zur Untersuchung monogener Erkrankungen herangezogen werden, ist aber der Präimplantationsdiagnostik in Praktikabilität und Diagnosesicherheit klar unterlegen. Physiologische Abläufe während der Meiose – wie der Austausch genetischen Materials zwischen den homologen Chromosomen in der Prophase der ersten Reifeteilung (Crossing-over) gegebenenfalls kombiniert mit einer vorzeitigen Chromatidensegregation – reduzieren die Aussagekraft dieser Methode und machen die Analyse des ersten und zweiten Polkörpers zur Sicherung einer korrekten Diagnose zwingend notwendig. Bei monogenen Erkrankungen erfolgt der Nachweis der krankheitsspezifischen Mutation über eine Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Neben der Kontaminationsgefahr bei Einzelzell-PCR sind methodeninhärente Probleme, wie die ausschließliche Amplifikation eines der zu untersuchenden Krankheitsallele (Allele-drop-out) zu berücksichtigen. Ein Amplifikationsversagen tritt bei Einzelzell-PCRs in 10 bis 20 Prozent der Fälle auf (25) und kann unerkannt zu Fehldiagnosen führen. Ein grundsätzlicher Nachteil der Polkörperdiagnostik besteht darin, dass nur das mütterliche Erbgut untersucht und eine Aussage über mögliche paternale Faktoren nicht getroffen werden kann. Dies wäre bei maternalen autosomal-dominanten oder x-chromosomalen Erkrankungen maternalen Ursprungs akzeptabel, weil alle mutationstragenden Eizellen unabhängig von der genetischen Konstitution des Vaters zu einem erkrankten Kind führen. Auch bei der Diagnostik rezessiver Erbgänge müssen alle mutationstragenden Eizellen (statistisch 50 Prozent) verworfen werden, obwohl die Krankheit sich nur bei 25 Prozent der entstehenden Embryonen manifestieren würde. Der Grund dafür ist, dass nur 50 Prozent der Spermien ebenfalls die Krankheitsanlage tragen. Entstehung numerischer Chromosomenaberrationen (Trisomie/Monosomie) bei der Bildung des ersten Polkörpers GRAFIK 3 Prädiktiver Wert der Polkörperbiopsie bei der Aneuploidiediagnostik Schätzungen zur Diagnosesicherheit der Polkörperbiopsie basieren auf Daten aus Abortmaterial. Ausgehend von chromosomenspezifischen Trisomieraten in Abortmaterial wurde veranschlagt, dass durch Analyse der Chromosomen 13, 16, 18, 21 und 22 etwa 50 Prozent der Chromosomenaberrationen, die bei Fehlgeburten im ersten Trimenon auftreten, erfasst würden (e1). Die geringe Zahl der durch Polkörperbiopsie mit FISH erkennbaren Chromosomen stellt also eine klare Limitation der Methode dar. Vergleichende Untersuchungen von Eizellen mitsamt zugehörigen ersten Polkörpern durch FISH und CGH zeigten, dass bei Einsatz von fünf FISHSonden nur 37 Prozent der tatsächlich vorhandenen Chromosomenanomalien erkannt wurden. Die Nachweisrate steigt beim Einsatz von zwölf FISH-Son- TABELLE 2 Ergebnisse der PKD zur Aneuploidie-Testung bei Frauen zwischen 35 und 39 Jahren und mindestens 2 vorausgegangenen IVF-Versuchen PKD-Gruppe Kontrolle Statistik Behandlungszyklen 159 163 Alters-Median 37,8 36,9 n.s. Transferrate 89,3 % (142/159) 90,2 % (147/163) n.s. Embryonen/Transfer 1,77 (251/142) 2,02 (297/147) P < 0,05 Biochemische SS-Rate/Transfer 31,7 % (45/142) 31,9 % (47/147) n.s. Klinische SS-Rate/Transfer 28,9 % (41/142) 21,8 % (32/147) n.s. Implantationsrate 17,5 % (44/251) 11,8 % (35/297) P < 0,05 Abortrate 19,5 % (8/41) 28,1 % (9/32) n.s. Geburtenrate/Zyklus 20,8 % (33/159) 14,1 % (23/163) n.s. Geburtenrate/Transfer 23,2 % (33/142) 15,6 % (23/147) P = 0,1 Zur statistischen Analyse wurden ANOVA und Chi-square-Test eingesetzt; PKD, Polkörperdiagnostik; IVF, In-vitro-Fertilisation; n.s., nicht signifikant A 347 D O K U M E N TAT I O N TABELLE 3 Ergebnisse der PKD zur Aneuploidie-Testung bei Frauen ✞ 40 Jahren PKD-Gruppe Kontrolle Behandlungszyklen 103 110 Statistik Transferrate 80,6 % (83/103) 92,7 % (102/110) n.s. Embryonen/Transfer 1,75 (145/83) 2,03 (207/102) P < 0,05 Biochemische SS-Rate/Transfer 20,5 % (17/83) 18,6 % (19/102) n.s. Klinische SS-Rate/Transfer 14,5 % (12/83) 14,7 % (15/102) n.s. Implantationsrate 9,7 % (14/145) 7,2 % (15/207) n.s. Abortrate 14,3 % (2/14) 46,7 % (7/15) P = 0,06 Geburtenrate/Zyklus 9,8 % (10/103) 7,3 % (8/110) n.s. Geburtenrate/Transfer 12,0 % (10/83) 7,8 % (8/102) n.s. Zur statistischen Analyse wurden ANOVA und Chi-square-Test eingesetzt; PKD, Polkörperdiagnostik den auf 67 Prozent der durch CGH diagnostizier-baren Aneuploidien der Eizell-/Polkörperpaare (13, 22, 23). Die zusätzliche Analyse des zweiten Polkörpers verbessert die Nachweisraten chromosomaler Fehlverteilungen deutlich. Eine Untersuchungsreihe an 10 317 Oozyten aus 1 551 IVF-Zyklen (e2) fand bei FISH-Analyse des ersten und zweiten Polkörpers für fünf Chromosomen (Chromosom 13, 16, 18, 21, 22) eine Aneuploidierate von 61,8 Prozent. Ein Drittel der entdeckten Aneuploidien entstand während der zweiten Reifeteilung und war somit nur im zweiten Polkörper nachweisbar (6, e2, e3). Während die Aneuploidieraten in Eizellen mit dem mütterlichen Alter steigen (6, e3), zeigen postmeiotische Anomalien, die während der mitotischen Teilungen des frühen Embryos entstehen (zum Beispiel Chromosomenmosaike) in allen Altersgruppen vergleichbare Inzidenzen. Postmeiotische Chromosomenanomalien, nicht jedoch Aneuploidien, korrelieren eindeutig mit veränderter Morphologie und reduzierter Teilungsgeschwindigkeit der betroffenen Embryonen (e3). Da laut Embryonenschutzgesetz die Auswahl der Eizellen für den späteren Embryotransfer bereits im Vorkernstadium erfolgen muss, können die genannten Beurteilungskriterien der Embryonenqualität in Deutschland klinisch nicht genutzt werden. Der Karyotyp der reifen Eizelle ist nach neueren Studien der hauptsächliche determinierende Faktor des Entwicklungspotenzials der resultierenden Embryonen. Die Mehrzahl der euploiden Eizellen entwickelt sich zu euploiden Embryonen, die wiederum in einem wesentlich höheren Prozentsatz das Blastozystenstadium erreichen als Embryonen mit Chromosomenanomalien (93 versus 21 Prozent) (e4). Die Aneuploidiediagnostik ist somit gerade in Deutschland ein wichtiges Instrument zur Identifikation von Eizellen mit hohem Entwicklungspotenzial. A 348 Während Chromosomenanomalien mit Ursprung in der Meiose alle Zellen des Embryos betreffen, können postmeiotische Aneuploidien im Hinblick auf die Zahl betroffener Blastomeren und die Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Embryos heterogen sein. Die hohe Diskordanz der Chromosomenbefunde, die im Rahmen der PID an verschiedenen Blastomeren desselben Embryos erhoben wurden (7, e5), und die Festlegung adäquater Konsequenzen bei pathologischen Befunden stellen derzeit ein signifikantes praktisches Problem der Präimplantationsdiagnostik dar (e5, e6). Ergebnisse der PKB zum Aneuploidiescreening Wie bei der Präimplantationsdiagnostik (12, 15, e6, e7) ist der Nutzen der Aneuploidietestung bei der Polkörperbiopsie im Hinblick auf eine Steigerung der Erfolgsraten der extrakorporalen Befruchtung zurzeit noch umstritten. International wird die Polkörperdiagnostik zum Aneuploidienachweis in großem Umfang nur von der Arbeitsgruppe um Verlinsky eingesetzt. Die umfangreichste retrospektive Ergebnisdokumentation dieser Gruppe umfasst mehr als 1 200 Behandlungszyklen bei Patientinnen mit einem Durchschnittsalter von 38,5 Jahren und nicht näher definierter reproduktionsmedizinisch „schlechter Prognose“. Die klinische Schwangerschaftsrate aller Zyklen mit Embryotransfer nach Analyse von fünf Chromosomen wurde mit 22 Prozent angegeben. Durchschnittlich wurden 2,35 Embryonen übertragen (e8). Eine Kontrollgruppe wird nicht präsentiert. Das Deutsche IVF-Register (DIR), das alle in Deutschland durchgeführten IVF-Zyklen prospektiv erfasst, zeigt für alle Patientinnen über 35 Jahre nach regulärer IVF ohne Polkörperdiagnostik eine klinische Schwangerschaftsrate pro Embryotransfer von 21,3 Prozent (DIR 2003). Eine Auswertung der PKD D O K U M E N TAT I O N bei 460 Frauen aus einem deutschen IVF-Zentrum erbrachte, wie in der Arbeit von Verlinsky (e6), klinische Schwangerschaftsraten, die bei fehlender eigener Kontrollgruppe sogar unter den Vergleichsdaten des DIR liegen (e9). Zum Nachweis des effektiven Nutzens der PKD zur Aneuploidiediagnostik sind daher kontrollierte Studien oder zumindest die Einbeziehung einer zentrumsbezogenen Kontrollgruppe zwingend erforderlich. Unter dieser Maßgabe haben die Autoren nach Optimierung der Labortechniken eigene, prospektiv in einem DIR-kompatiblen Erfassungsprogramm dokumentierte Behandlungsdaten nach Zyklen mit und ohne PKD ausgewertet. Die Ergebnisse für die Untergruppe der Frauen im Alter von 35 bis 39 Jahre mit mindestens zwei vorausgegangenen IVF-/ICSIBehandlungsversuchen sind in Tabelle 2 dargestellt. Diese Daten zeigen, dass trotz einer geringeren Zahl transferierter Embryonen in der PKD-Gruppe signifikant höhere Implantationsraten erzielt werden konnten. Eine Auswertung für Patientinnen über 39 Jahre lässt erkennen, dass nach Durchführung einer PKD bei vergleichbarer klinischer Schwangerschaftsrate die Abortrate abnimmt (Tabelle 3). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein indikationsbezogener Einsatz der PKD, zum Beispiel bei erhöhtem Patientenalter, durchaus vorteilhaft sein könnte. Weitere Untersuchungen an größeren Patientenkollektiven und unter standardisierten Laborbedingungen sind aber zur klinischen und wissenschaftlichen Evaluierung der PKD unbedingt erforderlich. Eine eingeleitete Multicenterstudie konnte aufgrund unterschiedlicher Laborroutine und Biopsietechniken nicht fortgesetzt werden. Ausblick Die Polkörperdiagnostik ist eine neue Methode zur indirekten genetischen Untersuchung der Eizelle, deren therapeutischer Nutzen bei individuellen Patientengruppen noch eindeutig belegt werden muss. Obwohl bereits in mehreren deutschen Labors etabliert, ist die Polkörperbiopsie technisch anspruchsvoll und keine Routinemethode, die unkritisch in großem Umfang eingesetzt werden sollte. Parallel zur klinischen Evaluierung und Definition klarer Indikationsgruppen ist eine weitere Optimierung der Labortechniken wünschenswert. Dazu gehören Verbesserungen der Biopsietechniken und der Kryokonservierung von Eizellen nach Polkörperbiopsie sowie die Erhöhung der Zahl untersuchter relevanter Chromosomen bei der Aneuploidiediagnostik. Unbestritten ist, dass in den nächsten Jahren die Weiterentwicklung molekulargenetischer Methoden auch die klinische Bedeutung der Polkörperdiagnostik beeinflussen wird. Als wesentlicher Nachteil der Polkörperdiagnostik gegenüber der Präimplantationsdiagnostik durch Blastomerenbiopsie wird bestehen bleiben, dass paternale Faktoren nicht und monogene Erkrankungen nur eingeschränkt diagnostizierbar sind. Zu betonen ist weiterhin, dass die Polkörperbiopsie keine vorgezogene Pränataldiagnostik darstellt und diese nicht ersetzen kann. In Kenntnis dieser Einschränkungen ist die Polkörperdiagnostik zum Beispiel zur Aneuploidietestung dennoch ein Schritt in die richtige Richtung als indikationsbezogene Ergänzung einer Sterilitätstherapie unter den limitierten Bedingungen des deutschen Embryonenschutzgesetzes. Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht: 6. 7. 2006, revidierte Fassung angenommen: 16. 10. 2007 LITERATUR 1. Verlinsky Y, Ginsberg N, Lifchez A, Vale J, Moise J, Strom CM: Analysis of the first polar body: preconception genetic diagnosis. Hum Reprod 1990; 5: 826–9. 2. Handyside AH, Pattinson JK, Penketh RJ, Delhanty JD, Winston RM, Tuddenham EG: Biopsy of human preimplantation embryos and sexing by DNA amplification. Lancet 1989; 18: 347–9. 3. Hassold T, Jacobs PA, Leppert M, Sheldon M: Cytogenetic and molecular studies of trisomy 13. J Med Genet 1987; 24: 725–32. 4. Bahce M, Cohen J, Munne S: Preimplantation genetic diagnosis of aneuploidy: were we looking at the wrong chromosomes? J Assist Reprod Genet 1999; 16: 176–81. 5. Munné S, Sandalinas M, Magli C, Gianaroli L, Cohen J, Warburton D: Increased rate of aneuploid embryos in young women with previous aneuploid conceptions. Prenat Diagn 2004; 24: 638–43. 6. Munné S, Sandalinas M, Escudero T et al.: Improved implantation after preimplantation genetic diagnosis of aneuploidy. Reprod Biomed Online 2003; 7: 91–7. 7. 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Gutierrez-Mateo C, Benet J, Wells D et al.: Aneuploidy study of human oocytes first polar body comparative genomic hybridization and metaphase II fluorescence in situ hybridization analysis. Hum Reprod 2004; 19: 2859–68. 23. Gutierrez-Mateo C, Wells D, Benet J et al.: Reliability of comparative genomic hybridization to detect chromosome abnormalities in first polar bodies and metaphase II oocytes. Hum Reprod 2004; 19: 2118–25. 24. Landwehr M, Montag M, van der Ven K, Weber R: Rapid comparative genomic hybridization for prenatal diagnosis and its application to aneuploidy sreening of human polar bodies. Fertil Steril: im Druck. 25. Rechitsky S, Strom C, Verlinsky O et al.: Accuracy of preimplantation diagnosis of single-gene disorders by polar body analysis of oocytes. J Assist Reprod Genet 1999; 16: 192–8. Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Hans van der Ven Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Straße 25, 53105 Bonn SUMMARY Polar Body Diagnosis – A Step in The Right Direction? Introduction: Polar body diagnosis (PBD) is a new diagnostic method for the indirect genetic analysis of oocytes, which is carried out as part of in vitro fertilization. The biopsy of polar bodies is technically demanding and cannot be adopted uncritically a routine practice, in the absence of robust data to support this laboratory procedure. Methods: Selective literature review and analysis of own PBD data. Results: The main application of PBD is the detection of chromosomal aneuploidies and maternally inherited translocations in oocytes. The major disadvantage of PBD is that the paternal contribution to the genetic constitution of the developing embryo cannot be evaluated. Moreover, the potential value of polar body biopsy for the diagnosis of monogenetic diseases is limited. Discussion: The role of PBD in improving of success rates in assisted reproduction requires evaluation in further clinical trials. For maternal translocations, PBD can be used to reduce the risk of miscarriage. Rapid development in the field of molecular diagnostic and biopsy techniques will also influence PBD and will most likely allow wider application of this method in the near future. Dtsch Arztebl 2008; 105(11): 190–6 DOI: 10.3238/arztebl.2008.0190 Key words: polar body diagnosis, aneuploidy testing, in vitro fertilization, infertility, oocyte @ The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de eLiteratur: www.aerzteblatt.de/lit1108 Heft 11, 14. M rz 2008 STAMMZELLDEBATTE Foto: dpa Zwölf Experten – zwölf Meinungen Das Ringen um das Stammzellgesetz geht in eine neue Runde. Wegweisende Erkenntnisse konnte dabei auch die kurzfristig anberaumte Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 3. März nicht liefern. A 350 Stattdessen zeigten sich die zwölf geladenen Sachverständigen aus den Bereichen Medizin, Ethik, Recht und Theologie ebenso uneins über eine mögliche Novelle des Stammzellgesetzes wie die Parlamentarier selbst. Prof. Dr. rer. nat. Hans Schöler, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster, beklagte den schlechten Zustand der zur Verfügung stehenden Stammzelllinien, die vor dem 1. Januar 2002 im Ausland etabliert wurden. Teilweise seien sie unbrauchbar, hochrangige Forschung nur eingeschränkt möglich. „Alte Stammzellen sind eindeutig für die Grundlagenforschung zu verwenden“, sagte dagegen Prof. Dr. med. Regine Kollek, Universität Hamburg. Der Kardiologe Prof. Dr. med. Bodo Strauer plädierte für die Arbeit mit adulten Stammzellen. Für seine Forschungsergebnisse habe er nicht auf das Wissen aus der embryonalen Stammzellforschung zurückgreifen müssen. Während der fünfstündigen Anhörung waren die Fraktionsgrenzen aufgehoben. Vier parlamentarische Initiativen liegen vor: Komplette Streichung der Stichtagsregelung, Verschiebung des Stichtags auf 2007, Beibehaltung des geltenden Gesetzes sowie völliges Importverbot. Abstimmen über eine Änderung des Stammzellgesetzes will der Bundestag nach der Osterpause. D O K U M E N TAT I O N Heft 14, 4. April 2008 SPÄTABTREIBUNGEN Die Koalition drückt sich Um die Zahl der Spätabtreibungen zu verringern, fordert die Ärzteschaft gesetzliche Nachbesserungen. Doch die Politik fühlt sich nicht zuständig. hefarzt Prof. Dr. med. Heribert Kentenich will nicht warC ten, bis die Regierungskoalition „ Was dem muss sich die Befristung für eine Spätabtreibung nach Meinung der Bundesärztekammer am Entendlich handelt und die unzurei- wicklungsstadium des Kindes orichende Regelung für Spätabtreibun- entieren. Vor allem von der 23. gen reformiert. Schwangere, die in Schwangerschaftswoche an soll ein Kentenichs Klinik, der Frauenklinik Abbruch nur nach strengen KriteriBerlin-Westend, eine Spätabtreibung en möglich sein. vornehmen lassen wollen, müssen Im vergangenen Jahr kam es nach sich ausführlich beraten lassen und Angaben des Statistischen Bundessich mindestens drei Tage Zeit neh- amts zu 229 Abbrüchen nach der 23. men, ihre Entscheidung gründlich Schwangerschaftswoche. Diese seizu überdenken. en für die Schwangere und für den Ein solches Vorgehen ist nicht betreuenden Arzt oft belastend, bedie Regel, denn das Gesetzbuch richtet BÄK-Präsident Prof. Dr. med. schreibt für eine straffreie Spätab- Jörg-Dietrich Hoppe. Dies gelte instreibung weder ein Beratungsge- besondere, wenn der Wunsch nach spräch noch eine Bedenkzeit vor. einem Abbruch wegen Schäden des Deshalb entscheiden sich werdende Feten mit dessen extrauteriner LeEltern, die im Rahmen der Pränatal- bensfähigkeit zusammentreffe. Noch diagnostik von einer schwerwiegen- schlimmer sei es, wenn der geden Erkrankung ihres ungeborenen wünschte Abbruch mit der Geburt Kindes erfahren, häufig rasch für ei- eines lebenden Kindes ende und somit die Lebenserhaltungspflicht des Arztes die Bundesärztekammer vorschlägt, eintrete. Doch obwohl die ist genau das, was wir machen – Koalition um die Sorund es hat sich bewährt. gen der Ärzte weiß, Heribert Kentenich duckt sie sich weg. „Die Politik hat die nen Schwangerschaftsabbruch. Die- Probleme zwar erkannt, aber sie ist ses Verhalten sei zwar nachvollzieh- offenbar zu feige, diese zu lösen“, bar, doch sollten in einer solchen kritisiert Hoppe. In den RegierungsSchocksituation keine Entscheidun- fraktionen herrsche die Sorge vor, gen über Leben und Tod getroffen der gesamte Abtreibungsparagraf werden, meint Kentenich. Der Gynä- 218 Strafgesetzbuch könnte über den kologe unterstützt aus diesem Grund Umweg der Spätabtreibung infrage die Forderung der Bundesärztekam- gestellt und auch die Rechtslage für mer (BÄK) nach einer Änderung Abbrüche vor der zwölften Schwander bisherigen Bestimmungen für gerschaftswoche könnte neu diskuSpätabtreibungen. „Was die BÄK tiert werden. „Eine Generaldebatte vorschlägt, ist genau das, was wir über den § 218 ist nicht nötigt, weil es machen – und es hat sich bewährt“, sich bei unseren Vorschlägen nur um Ergänzungen der bisherigen Regesagt Kentenich. Die Bundesärztekammer fordert lungen handelt“, stellt Hoppe klar. Die derzeit gültigen Bestimmuneine verpflichtende Beratung der Schwangeren vor einer Spätabtrei- gen gehen auf die kontrovers disbung. Zwischen Diagnose und Ein- kutierte Gesetzesnovelle des § 218 griff sollen drei Tage vergehen. Zu- im Jahr 1995 zurück. Damals wur- “ de die „embryophatische“ Indikation – bei der das Kind eine schwere Erkrankung aufweisen muss – abgeschafft. Grund war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach diese Begründung für einen Schwangerschaftsabbruch diskriminierend gegenüber Behinderten sei. Rückendeckung von Merkel In der Praxis ist die embryophatische Indikation allerdings in der erweiterten medizinischen Indikation aufgegangen. Damit sind Schwangerschaftsabbrüche im Zusammenhang mit einer schweren Schädigung des erwarteten Kindes und einer erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigung der Mutter bis unmittelbar vor der Geburt zulässig. Das gilt auch, wenn es die Mutter psychisch nicht verkraften kann, ein behindertes Kind aufzuziehen. Union und SPD hatten bereits im Koalitionsvertrag angekündigt zu überprüfen, wie die „Situation bei Spätabtreibungen verbessert werden“ könnte. Doch geschehen ist bislang nichts. Mittlerweile vertrete die SPD die Auffassung, die Ärzteschaft solle die Probleme selbst lösen, sagt Hoppe. Dies sei jedoch nicht möglich, weil das ärztliche Berufsrecht für solch weitreichende gesamtgesellschaftliche Probleme nicht ausgelegt sei. Rückendeckung bekommen die Ärzte jedoch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Beim Parteitag der Christdemokraten Anfang Dezember in Hannover zeigte sie sich verärgert darüber, dass die Koalition bislang keine Lösung in dieser Frage gefunden hat. „Es gehört zu den Dingen, die ich nicht verstehen kann, dass uns das mit unserem Koalitionspartner nicht gelingt“, sagte sie. ■ Samir Rabbata A 351 D O K U M E N TAT I O N Heft 15, 11. April 2008 Heft 16, 18. April 2008 STAMMZELLGESETZ RANDNOTIZ Vera Zylka-Menhorn Mit „Muh“ hat man bislang die Laute einer Kuh assoziiert. Seit Bekanntwerden der Klonexperimente am Institut für Humangenetik an der britischen Universität Newcastle, könnte damit nun auch eine Chimäre aus „viel Mensch“ (M) und „etwas Kuh“ (uh) gemeint sein. Um genau zu sein: aus 99,9 Prozent Mensch und 0,1 Prozent Kuh. Konkret hat- Chimäre „Muh“ ten die Stammzellforscher(innen) um Lyle Armstrong Genmaterial aus menschlichen Hautzellen in ausgehöhlte Eizellen von Kühen eingefügt – und diese anschließend mit einem elektrischen Impuls zum Wachsen angeregt. Die auf diese Weise geschaffenen Hybrid-Embryonen seien ein wichtiger Erfolg für die Stammzellforschung, erklärten die Wissenschaftler. Könne man dadurch doch die geringe Verfügbarkeit wertvoller humaner Eizellen überwinden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hält die Klonexperimente für wenig zielführend. Angesichts der nun möglichen „Reprogrammierung“ von Hautzellen in embryonale Stammzellen, stelle sich zudem die Frage, ob die Methode nicht bereits überholt sei. Selbst Ian Wilmut, der mit dem Klonschaf Dolly die Technik für derartige Chimären entwickelt hat, setzt nunmehr auch auf die Reprogrammierung von Hautzellen, mit der viel effizienter therapeutisch nutzbares Gewebe gewonnen werden könne. Gleichwohl wollen die Forscher in Newcastle weitermachen – mit Kaninchen und Ziegen. Angesichts dieser Entwicklung fragt sich nicht nur Bischof Gebhard Fürst (Rottenburg), als Vorsitzender der Kommission Bioethik der Deutschen Bischofskonferenz, „zu welchen Tabubrüchen die Exponenten der embryonalen Stammzellforschung in ihrem Experimentierwahn noch bereit sind“. A 352 Neuauflage „2008“ für den Kompromiss Nach langen Debatten sprach sich das Parlament für eine Lockerung des Stammzellgesetzes von 2002 aus: Der Stichtag für den Import von embryonalen Stammzellen wird verschoben. ange und für alle sichtbar hielt René Röspel (SPD) während L jeder namentlichen Abstimmungsrunde im Bundestag seine Stimmkarte in die Höhe: eine rote bei den Anträgen von Ulrike Flach (FDP) zur Liberalisierung der Stammzellforschung und von Hubert Hüppe (CDU) zum Verbot dieses Forschungsbereichs; eine blaue bei der Abstimmung seines eigenen Entwurfs eines neuen Stammzellgesetzes. Röspel hatte Erfolg. Mit großer Mehrheit (346 Ja-Stimmen und 228 Nein-Stimmen bei sechs Enthaltungen) unterstützte das Parlament am 11. April in Zweiter und Dritter Lesung seinen Antrag. Er sieht eine Verschiebung des Stichtags für den Import von embryonalen Stammzelllinien von Januar 2002 auf den 1. Mai 2007 vor. Ferner wird die Strafandrohung für Forscher, die mit jüngeren Zelllinien arbeiten, auf das Inland begrenzt. Internationale Kooperationen in diesem Forschungsbereich werden somit vereinfacht. Die vorangegangene Debatte verlief engagiert und sachlich. Lediglich vier Minuten später als im Protokoll vorgesehen, konnte mit der Abstimmung über die fünf Gesetzentwürfe begonnen werden. „Es geht nicht um die Verschiebung eines Datums, sondern um eine Verschiebung unserer Ethik, unserer Normen“, warnte Hüppe zuvor und forderte Unentschlossene auf, sich durch ihr Votum für eine Beendigung der Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland einzusetzen. Seinen Antrag lehnte das Parlament mit 442 Nein- und 118 Ja-Stimmen ab. „Wir befinden uns erst in der Phase der Grundlagenforschung. Alle Wege sollten den Forschern offenstehen“, argumentierte dagegen Peter Hintze (CDU) und warb für die völlige Abschaffung der Stichtagsregelung. Auch diesen, von Flach gestellten Antrag, lehnte der Bundestag mit 443 Neinund 126 Ja-Stimmen ab. Über die beiden auf die Beibehaltung der bisherigen Gesetzeslage abzielenden Initiativen stimmten die Abgeordneten aufgrund der großen Mehrheit für Röspels Entwurf nicht mehr ab. Die Reaktionen auf das novellierte Stammzellgesetz sind geteilt. Größtenteils begrüßt jedoch die Wissenschaftsgemeinde, wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft, die Entscheidung des Parlaments. „Sie ist ein sinnvoller Kompromiss im Geiste des Gesetzes von 2002“, sagte auch Prof. Dr. med. Gerd Kempermann, Universität Dresden, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken nahm die Stichtagsverschiebung von 2002 auf 2007 hingegen „mit großer Enttäuschung“ auf. Sie sei „das falsche Signal“. ■ Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann D O K U M E N TAT I O N REAKTIONEN AUS DER STAMMZELLFORSCHUNG „Ich begrüße die Entscheidung des Parlaments. Mit der Verschiebung des Stichtags können wir als Forscher leben. Nach entsprechenden Anträgen und Genehmigungen sind wir nun in der Lage, auf rund 500 neuere Stammzelllinien zurückzugreifen, die qualitativ deutlich besser sind als die etwa 20 Linien, die uns noch nach der bisProf. Dr. med. herigen Gesetzeslage zur Verfügung standen. Frank Emmrich, Dies ist derzeit von großer Bedeutung, da Leiter des Fraunhoferneben der Arbeit mit induzierten pluripotenten Instituts für ZellStammzellen embryonale Stammzellen als therapie und ImmunoVergleich benötigt werden. In einigen Jahren logie, Leipzig, und Direktor des Transwerden sie möglicherweise nicht mehr gelationszentrums für braucht, denn ich glaube, dass die Zukunft Regenerative Medizin, bei den induzierten pluripotenten StammLeipzig zellen liegen wird. Das wichtigste Element des neuen Gesetzes ist für uns Forscher an der Basis jedoch die Beschränkung der Strafandrohung gegenüber Forschern im Inland. Internationale Kooperationen werden somit sicherer. Darüber sind wir erleichtert.“ Foto: Fraunhofer-Gesellschaft Foto: dpa „Die Entscheidung des Parlaments respektiere ich. Eine Verschiebung des Stichtags wäre meiner Ansicht nach jedoch nicht nötig gewesen. Wir hatten bereits einen Stichtag, der sich bewährt hat. Yamanaka und Kollegen haben ihre Versuche zur Reprogrammierung von Hautzellen zu induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) ebenfalls mit embryonalen Stammzelllinien aus dem Jahr 1998 vorgeProf. Dr. med. Bodo-E. Strauer, nommen. Auf meine wissenschaftliche und Direktor der Klinik für klinische Arbeit mit adulten Stammzellen des Kardiologie, PneumoMenschen hat die Entscheidung des Bundeslogie und Angiologie, tags keinen Einfluss. Es mag interessant sein, Heinrich-Heine-Uniadulte Stammzellen mit embryonalen verversität Düsseldorf gleichen zu können. Wir haben embryonale Stammzellen (ES) jedoch bei unserer Forschung in Düsseldorf nie vermisst. Forscher, die in Deutschland mit ES arbeiten, sollten sich bewusst sein, dass jede ES gleichzeitig eine potenzielle Tumorzelle mit einer Tumorrate von bis 86 Prozent ist. Die Therapie von Patienten ist deshalb Wunschdenken. Künftige Stammzellforschung wird sich meiner Ansicht nach zunehmend an iPS-Zellen orientieren, die die humanen embryonalen Stammzellen methodisch verdrängen werden.“ Heft 16, 18. April 2008 WOCHE FÜR DAS LEBEN Hoffen auf Gesundheit statt Erlösung Die großen christlichen Kirchen in Deutschland sprechen sich gegen den zunehmenden Fitnesswahn und aktive Sterbehilfe aus. ung, schön und gesund – diesem Ideal jagen immer mehr J Menschen nach. In der Werbung wird für zahlreiche Anti-Aging-Produkte geworben, in der Freizeit wird „mal gejoggt, mal gewalkt oder sich eine ,gesunde‘ Bräune aus dem Sonnenstudio geholt“, wie es der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Heinrich Mussinghoff, beschrieb. Der Urlaub werde zum Wellnessurlaub, das Hotel zum Wellnesshotel mit Ayurveda-Anwendungen oder Reiki-Massagen. Gegen das wachsende Gesundheitsbewusstsein hat Bischof Mussinghoff ebenso wie der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolf- gang Huber, wenig einzuwenden. Es sei sogar durchaus anerkennenswert, dass das deutsche Gesundheitssystem trotz aller Finanzierungsschwierigkeiten weiterhin eine bemerkenswert gute Grundversorgung leiste. Dennoch kritisierten die Bischöfe bei der Auftaktveranstaltung der „Woche für das Leben“ in Würzburg „krasse Fehlentwicklungen“, so Bischof Huber. „Manchmal habe ich den Eindruck: Wo es früher noch um das Heil der Seele ging, geht es heute nur noch um den heilen Körper. Unsere Großeltern hofften auf die Erlösung; wir hoffen nur noch auf Gesundheit. Wenn das nicht klappt, fordert man ein schnelles Ende. Denn ein beschädigtes Leben gilt nicht mehr als sinnvoll. Ärzte sehen sich vor die Er- wartung gestellt, ihre Patienten von Krankheit und Leiden zu ,erlösen‘.“ Die vom ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch vorgestellte sogenannte Tötungsmaschine sowie die Existenz von Sterbehilfe-Organisationen in der Schweiz bezeichnete Huber als „erschreckend“. „Leiden und Tod gehören zu unserem Leben. Wer das leugnet, verleugnet die Wirklichkeit.“ Pflege wird zur Dienstleistung Heutzutage bestehe die Gefahr, dass Gesundheit zum Produkt der eigenen Lebensgestaltung sowie der gegebenen medizinischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten werde. Der EKD-Ratsvorsitzende fürchtet, dass Ärzte zu Vertragspartnern würden, A 353 D O K U M E N TAT I O N Foto: dpa „Gesundheit – höchstes Gut“: Unter diesem Motto steht der auf drei Jahre angelegte Themenschwerpunkt der Kirchen, der in Würzburg von Bischof Heinrich Mussinghoff (links) und Bischof Wolfgang Huber vorgestellt wurde. bei denen man eine gelungene Operation oder einen wiederhergestellten Körper einklagen möchte. Der Heilungsprozess werde nach Diagnosen berechnet und solle einem festgelegten Zeitschema folgen. Pflege werde zur Dienstleistung, die man in einzelne Funktionseinheiten zerlegen könne. Die Orientierung an einem Produkt- und Kundenbewusstsein führt Bischof Huber zufolge schließlich zu einer Verrechtlichung, die am Ende auch das Recht auf einen guten Tod einzuschließen scheine. „Visionen tauchen am Horizont auf, die uns in eine dunkle Zeit unserer Geschichte zurückverweisen: ,guter Tod – Euthanasie‘.“ Auch Bischof Mussinghoff, fürchtet, „dass die Sorge um äußerliches Wohlbefinden und körperliche Fitness einen derart hohen Stellenwert einnimmt, dass man schon von Gesundheitsreligion sprechen kann“. Der körperliche und mentale Leistungsträger werde zum „Nor- malfall“, dem nicht nur die Werbung ein gesteigertes Interesse entgegenbringe. An ihm richte sich inzwischen die ganze Gesellschaft aus. „Denn wieso – so stellt sich dann eine Frage, die in den 20er-Jahren diskutiert und in der NS-Zeit konkrete Politik wurde – müssen Mittel von der Gemeinschaft aufgebracht werden für Menschen, die nichts Produktives für sie leisten?“ Bei aller Einigkeit in der Ablehnung des Fitnesswahns und der aktiven Sterbehilfe, nicht angesprochen wurde – kurz vor der Entscheidung des Bundestages – das Thema Stammzellforschung. Bischof Huber hatte seine Position in Berlin verteidigt. Gegen eine einmalige Verschiebung habe er keine Bedenken, sagte er (dazu DÄ, Heft 7/ 2008). Dagegen vertritt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Robert Zollitsch, die Auffassung, dass eine verbrauchende Embryonenforschung niemals gerechtfertigt werden dürfe, da embryonale Stammzellforschung die Tötung menschlicher Embryonen voraussetze. ■ Heft 18, 2. Mai 2008 SPÄTABTREIBUNGEN Vorstoß zur Gesetzesänderung Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in Abstimmung mit der Bundesärztekammer (BÄK) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) eine Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes vorgeschlagen. Der Vorschlag sieht eine ärztliche Beratung bei einem Abbruch aus medizinischer Indikation vor. Der Arzt muss die Schwangere auf die Hilfen einer psychosozialen Beratung hinweisen. Nach der Beratung muss eine Bedenkzeit von mindestens drei Tagen eingehalten werden. Auch die statistische Erfassung des Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation soll verbessert werden. „Wir würden es sehr begrüßen, wenn nun endlich im Schwangerschaftskonfliktgesetz die unbestrit- A 354 tenen Defizite im gegenwärtigen Recht behoben werden könnten. Jetzt gibt es erstmals seit Jahren die Möglichkeit, Einigkeit über eine Gesetzesergänzung zu erzielen, die sich eng an die konzeptionelle Grundentscheidung der Reform aus dem Jahr 1995 anlehnt und den seinerzeit gefundenen Kompromiss unangetastet lässt“, sagte der Präsident der BÄK, Prof. Dr. med. JörgDietrich Hoppe. Etwa 120 000 Schwangerschaftsabbrüche werden pro Jahr in Deutschland vorgenommen, davon drei Prozent nach medizinischer Indikation. Der Präsident der DGGG, Prof. Dr. med. Walter Jonat, betonte, dass es gerade im späten Stadium einer Schwangerschaft, „gleichermaßen einer kompetenten wie einfühlsamen Beratung bedarf“. Kli Gisela Klinkhammer D O K U M E N TAT I O N Heft 24, 13. Juni 2008 Heft 36, 5. September 2008 STAMMZELLFORSCHUNG KOMMENTAR Norbert Jachertz chon zum zweiten Mal sind unsere Parlamentarier der Forderung, die Forschung an embryonalen Stammzellen zu erleichtern, mehrheitlich erlegen. Der Bundestag beschloss am 11. April eine Revision des Stammzellgesetzes (vgl. DÄ, Heft 16/2008), der Bundesrat folgte am 23. Mai, bis auf Bayern und das Saarland. Im Bundestag und Bundesrat setzten sich die Pragmatiker durch. Der Stichtag wurde verschoben. Nunmehr dürfen embryonale Stammzellen importiert S Der Bundestag hat eine neue Stichtagsregelung beschlossen (DÄ 24/2008: „Stammzellgesetz: Orientierungslos“ von Norbert Jachertz). Die DFG, bis dahin strikt gegen die „verbrauchende“ Forschung, sekundierte nun und forderte Liberalisierung. Der Bundestag kapitulierte angesichts des Fait accompli. Ergebnis: das Stammzellgesetz von 2002, ein fauler Kompromiss, angeblich eine einmalige Ausnahme. Auch der jüngsten Novellierung ging eine Kampagne der Interessenten voraus. Im November 2006 forderte die DFG einmal mehr, den Stichtag abzuschaffen, international tätige Forscher STAMMZELLGESETZ Orientierungslos werden, die vor dem 1. Mai 2007 entstanden sind; bisher war Stichtag der 1. Januar 2002. Der Kompromiss erübrigte eine – an sich überfällige – Meinungsbildung über die ethische Rechtfertigung der „verbrauchenden“ Embryonenforschung. Das Parlament müsste sich darüber eigentlich selbst klar werden, um nicht bei Entscheidungen über die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen (HES) den Forderungen der interessierten Kreise orientierungslos ausgeliefert zu sein. Sonst folgt Kompromiss auf Kompromiss. Die einschlägigen Forscher und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die seit ihrem plötzlichen Sinneswandel 2001 massiv für die HES-Forschung eintritt, werden jedenfalls keine Ruhe geben, hängen doch Karrieren, die Sehnsucht, international mitreden zu können, oder schlichtweg das Lebenswerk einiger Wissenschaftler an der Fortsetzung der HES-Forschung. Ethische Probleme? Eine Definitionsfrage. Organisatorisch zu lösen. Man schaffe eine Ethikkommission und besetze sie passend. Das Muster, nach dem das strenge deutsche Embryonenschutzgesetz ausgehöhlt wird, ist seit 2001 bekannt. Damals importierten mindestens zwei Universitäten humane embryonale Stammzellen, eine weitere stand kurz davor. Sie nutzten eine Gesetzeslücke, denn im Embryonenschutzgesetz war der Import nicht ausdrücklich verboten. von Strafandrohung frei zu stellen und anwendungsbezogene Experimente zuzulassen. Ganz so weit mochte der Bundestag nicht gehen. Doch er kam der DFG entgegen. Die goldene Brücke hatte Bischof Wolfgang Huber, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, gebaut. Er schlug im Gefolge der DFG die Verschiebung des Stichtags vor. Das war nicht nur ein Kompromissvorschlag, sondern mehr: das Signal, dass die Bastion der Kirchen, bis dahin ein Orientierungspunkt, keine mehr war. Hubers gegenteilig gesonnene Mitbrüder, evangelisch wie katholisch, standen plötzlich als fundamentalistische Außenseiter da. Bischof Huber äußerte inzwischen die Hoffnung, die Verschiebung sei einmalig und man werde die Grundlagenforschung „so schnell wie möglich“ beenden können. Das mag so kommen, aber vielleicht anders, als Huber meint. Zu erwarten sind nämlich erneute Vorstöße, die HESForschung auf diagnostische, präventive und therapeutische Zwecke auszudehnen. Gelingt das, dürfte sich herausstellen, dass die Stammzelllinien bei Weitem nicht reichen. Folglich werden die Forderungen erneuert, den Stichtag ganz abzuschaffen sowie endlich auch in Deutschland die „Herstellung“ (so die DFG) von Stammzellen zu erlauben. So geht, Stück für Stück und ganz pragmatisch, das Embryonenschutz■ gesetz zum Teufel. Wissenschaftsfeindlich In seinem Kommentar zur Novellierung des Embryonenschutzgesetzes schlägt Norbert Jachertz mit Worten wie „interessierte Kreise“, „Abhängigkeit von Karrieren“, „die Sehnsucht, international mitreden zu können“ einen erschreckend wissenschaftsfeindlichen Ton an. Entspräche eine derartige Einstellung der Grundeinstellung der Ärzteschaft, würden heute noch Patienten wie vor wenigen Jahrhunderten durch Ärzte häufig mehr vergiftet als therapiert. Medizinhistoriker können Bücher darüber schreiben. Nur ein kleines Beispiel: Zurzeit meines Studiums in den 50er-Jahren stand Hydrargyrum liquidum (flüssiges Quecksilber) noch als Abführmittel im Deutschen Ärzteblatt. Primär zweckfreie Grundlagenforschung ist ein fundamentales Element eines auch medizinisch sinnvollen Fortschritts. Ohne die Aufklärung unzähliger anatomischer, physiologischer, biochemischer und dann kliniknäher, pharmakologischer und immunologischer etc. Prozesse, wäre die heutige Medizin nicht denkbar. Natürlich gehören persönlicher Ehrgeiz und auch Gewinnstreben – allerdings als zu kontrollierende Elemente – mit dazu. Das Experiment des Kommunismus hat gezeigt, welche Folgen die Ausschaltung dieser Motive hat. Zehn Jahre nach Ende meiner wissenschaftlichen Arbeit in der medizinischen Grundlagenforschung (nicht an Stammzellen) an einem Universitätsinstitut, dürfte ich wohl nicht zu den „interessierten Kreisen“ oder „Karriereabhängigen“ gehören . . . Prof. Dr. med. Helmut Kammermeier, Effertzfeld 41, 41564 Kaarst Gratulation Ich gratuliere Herrn Norbert Jachertz zu seinem Artikel „Stammzellgesetz: Orientierungslos“ im DÄ. Endlich mal einer, der die Sache beim Namen nennt, vielen Dank! Dr. med. Bruno Kerber, Luisenstraße 3, 90762 Fürth A 355 D O K U M E N TAT I O N Heft 27, 4. Juli 2008 PRÄNATALE DIAGNOSTIK Hohe Zuverlässigkeit Humangenetische Fachverbände nehmen Stellung zum Beitrag „Pränataldiagnostik: Hohe Fehlerrate“ in DÄ, Heft 24/2008. ie pränatale humangenetische Diagnostik wird im oben geD nannten Bericht fälschlicherweise als „unzuverlässig“ dargestellt, weil bei der Untersuchung von Chromosomen aus Fruchtwasser beziehungsweise Chorionzottenmaterial angeblich eine erhöhte Fehlerrate beobachtet wurde. Diese Darstellung ist aufgrund eines Übersetzungsfehlers falsch. Vielmehr handelt es sich bei der zitierten Studie um die Feststellung des Risikos für Chromosomenveränderungen in Feten mittels der biochemischen Analyse im Ersttrimester-Screening. Zu den Details: Dr. Francesca Grati hatte bei der Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik 2008 die Ergebnisse ihrer retrospektiven Studie über biochemische Diagnostikverfahren zur Erkennung von Chromosomenstörungen vorgestellt. Dieses Verfahren (Ersttrimester-Screening) wird Schwangeren von Gynäkologen als IGeL-Leistung angeboten, um die Indikationsstellung der aus Altersgründen durchgeführten Amniozentesen zu verbessern und unnötige Untersuchungen zu vermeiden. Von 1 000 Neugeborenen 35-jähriger Mütter haben nur etwa drei eine Trisomie 21 (Down-Syndrom), weitere drei eine andere Chromoso- A 356 menanomalie und 994 einen unauffälligen Chromosomensatz. Die Wahrscheinlichkeit eines DownSyndroms als häufigste Chromosomenaberration beträgt somit in diesem Alter nur etwa 0,3 Prozent; 994 invasive Untersuchungen würden ein unauffälliges Ergebnis zeigen. Die Untersuchung biochemischer Marker in Verbindung mit Ultraschallmessungen des Feten („Nackentransparenz“) ermöglicht eine Wahrscheinlichkeitsberechnung für eine fetale Chromosomenveränderung. Diese Bestimmung kann zu einer Reduktion des rechnerischen Risikos führen oder – bei auffälligen Werten – auf ein erhöhtes Risiko hinweisen. Die meisten Schwangeren verzichten bei einem niedrigen Risikowert auf eine Fruchtwasserpunktion. Das Verfahren untersucht aber lediglich die Wahrscheinlichkeit für eine fetale Chromosomenveränderung, nicht jedoch den Chromosomensatz selbst. Der Vorteil des ErsttrimesterScreenings liegt (auch im Hinblick auf das Abortrisiko) in der Nichtinvasivität. Der Nachteil liegt in der, verglichen mit der Chromosomenanalyse aus fetalen Zellen, sehr schlechten Sensitivität; zudem besteht nur die Möglichkeit der Risikoberechnung für die Trisomien 13, 18 und 21. Es ist deshalb folgerichtig, dass die Fruchtwasseruntersuchung für Frauen ab 35 Jahren sowie bei sonstigen Risikokonstellationen für eine Chromosomenveränderung eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen ist, das Ersttrimester-Screening dagegen eine IGeL-Leistung, die die Schwangeren selbst bezahlen müssen. Tatsächlich kennen alle Humangenetiker/innen Fälle von Kindern mit einer Trisomie 21, bei denen alle nicht invasiven biochemischen und sonografischen Untersuchungen unauffällig waren. Viele der betroffenen Eltern dachten jedoch nach dem Screening, dass eine Chromosomenveränderung ausgeschlossen worden wäre. Die Humangenetiker empfehlen deshalb im Einklang mit den Entwürfen zum Gendiagnostikgesetz, dass vor jeder genetischen Untersuchung eine qualifizierte Beratung durch Fachärzt(inn)e(n) für Humangenetik oder Kolleg(inn)e(n) mit der Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik stattfinden muss. ■ Dr. med. Bernt Schulze* Prof. Dr. med. André Reis* * für die Vorstände des Berufsverbands Deutscher Humangenetiker e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik e.V. D O K U M E N TAT I O N Heft 27, 4. Juli 2008 STAMMZELLEN: DEM THERAPEUTISCHEN EINSATZ NÄHER Die Stammzellforschung ist abermals einen Schritt weiter. Wissenschaftlern um Prof. Dr. rer. nat. Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster gelang es jetzt, mit einer verfeinerten Methode der ethisch unbedenklichen Reprogrammierung von Zellen induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) herzustellen. Das Geheimnis: Zwei statt vier Während die japanischen Forscher um Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto vor etwa zwei Jahren vier Gene (Sox2, C-Myc, Oct4 und Klf4) mithilfe eines Retrovirus in eine Zelle einschleusen mussten, um inaktive Bereiche des Erbguts zu aktivieren, benötigt das Team um Schöler mittlerweile nur noch zwei Gene. Mit ihnen reprogrammierten sie allerdings nicht normale Körperzellen, sondern adulte Nerven- stammzellen. Die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit veröffentlichten sie jetzt in der Onlineausgabe des Magazins „Nature“ (doi10.1038/ nature07061) am 29. Juni. Schölers Erfolg basiert auf der Verwendung von adulten Stammzellen anstatt von Hautzellen. Diese weisen an sich höhere Level der Transkriptionsfaktoren Sox2 und c-Myc auf, sodass es Schöler durch ausschließliche Zugabe der beiden Gene Oct4 und Klf4 gelang, die adulten Nervenstammzellen in iPS-Zellen zu reprogrammieren. Ein Einschleusen der c-Mycund Sox2-Gene war nicht mehr nötig. Versuche an Mäusen zeigten, dass die hergestellten iPS-Zellen tatsächlich pluripotent waren. Aus ihnen ließen sich Chimären entwickeln, die sowohl selbst als auch deren Nachkommen tumorfrei waren. Das hohe karzinogene Risiko war bislang ein Hauptnachteil der Methode der Reprogrammierung und verhinderte deren therapeutischen Einsatz. iPSZellen lösten oftmals Krebs aus, wenn sie in den Körper zurückgespritzt wurden. Ein Grund dafür war die Verwendung des Krebsgens c-Myc für die Reaktivierung der Zelle. Ferner birgt aber auch das Einschleusen der Gene mit Retroviren ein Tumorrisiko, da diese Viren das Erbgut der Zelle verändern können. Der nächste Schritt wird es Schöler zufolge sein, die Methode an humanen adulten Nervenstammzellen zu erproben. Um eine klinische Anwendung zu erreichen, sei es allerdings nötig, auch den Einsatz von Retroviren bei der Reprogrammierung zu verhindern. Möglicherweise lasse sich als Alternative eine Erhöhung von Oct4 und Klf4 in der Zelle auch mit chemischen Substanzen erreichen. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann Heft 27, 4. Juli 2008 PATENTIERUNG VON STAMMZELLEN Eine Grundsatzentscheidung zur Patentierbarkeit embryonaler Stammzellen wird demnächst von der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) in München erwartet. Eine EPA-Anhörung Ende Juni, bei der über den Antrag des US-amerikanischen Forschers James Thomson verhandelt wurde, blieb ohne Ergebnis. Thomson will sein Forschungsverfahren – und damit auch die Zellen selbst – patentieren lassen. „Es gibt keinen Grund dafür, embryonale Stammzellen von der Patentierbarkeit auszuschließen“, sagte Thomsons Anwalt Justin Turner, der ihn vor der Großen Beschwerdekammer des EPA vertritt. Die Richtlinie 23d des Europäischen Patentübereinkommens schließe zwar aus, Patente für menschliche Embryonen zu vergeben, das gelte aber nicht für Zellen, die aus Embryonen gewonnen würden. Mit Hinweis auf diese Richtlinie hatten vorhergehende In- Foto: Keystone Die höchste Instanz entscheidet stanzen am EPA den Antrag Thomsons bislang abgelehnt. Einspruch gegen Patente auf menschliche Embryonen und aus ihnen gewonnene Stammzellen hat Greenpeace eingelegt. Der Umweltorganisation zufolge sind 41 Stammzell-Patente bei der EPA angemeldet. Vom Ausgang des Musterprozesses wird es laut Greenpeace abhängen, wie mit den 110 Patentanmeldungen aus der Stammzellforschung umgegangen wird, die derzeit noch geprüft werden. ER Kann man Stammzellen patentieren lassen? Darüber wird die Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts entscheiden. A 357 D O K U M E N TAT I O N Heft 30, 25. Juli 2008 STAMMZELLFORSCHUNG „Ich habe das Rad nicht neu erfunden“ Den Internationalen Kongress für Genetik in Berlin nutzte der Stammzellforscher Hans Schöler für einige Klarstellungen. Von den Medien fühlt er sich falsch zitiert. en 20. Internationalen Genetikkongress Mitte Juli in BerD lin – seit 81 Jahren erstmals wieder in Deutschland – überschattete ein Medieneklat. Prof. Dr. rer. nat. Hans Schöler vom Max-PlanckInstitut für molekulare Biomedizin in Münster, einer der renommiertesten deutschen Stammzellforscher, brach seinen Vortrag zur „Induktion der Pluripotenz von Körperund Keimbahnzellen“ plötzlich ab. Der Grund: Journalisten seien bei der Tagung anwesend. In einem anschließenden Pressegespräch erläuterte Schöler seinen Unmut: Erst vor wenigen Tagen habe er seinen Familienkurzurlaub in der Sächsischen Schweiz abbrechen müssen, weil seine Mailbox überquoll von empörten Briefen. Unter diesen seien E-Mails von seinen Kollegen Gerd Hasenfuß und Wolfgang Engel aus Göttingen gewesen, die sich über eine Diskreditierung ihrer Forschungsergebnis- A 358 se durch ihn beschwerten. Dies habe er jedoch nie beabsichtigt und auch nicht getan, er sei lediglich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) verzerrt zitiert worden. Das Blatt hatte über den zweiten Internationalen Kongress für Stammzellen und Gewebeerzeugung in Dresden berichtet, bei dem Schöler bislang unpublizierte Ergebnisse vorgestellt hatte. Dem Stammzellforscher ist es nämlich gelungen, Keimbahn-Stammzellen, sogenannte germline derived pluriProf. Dr. rer. nat. Hans Schöler vom Max-Planckpotent stem cells, aus MäuseInstitut für molekulare Biomedizin in Münster hoden in pluripotente Stammzellen umzuprogrammieren – und zwar allein durch bestimmte zu aktivieren und induzierte pluriKulturbedingungen – also ohne ge- potente Stammzellen (iPS) herzunetische Manipulation. „Wegwei- stellen. Kürzlich berichtete Schölers Team sender Erfolg in der Stammzellforschung“, „Reprogrammierung ohne im Fachmagazin „Nature“ über eine Gen-Eingriff“, lautete die Schlag- verfeinerte Methode dieser ethisch unbedenklichen Reprogrammierung zeile in der FAZ. Foto: dpa Foto: SUPERBILD Stammzellen: die Hoffnungsträger der biomedizinischen Forschung Als „Durchbruch“ will Schöler seine Ergebnisse jedoch nicht bezeichnet wissen. „Ich habe das Rad nicht neu erfunden, sondern meine Ergebnisse in die bisherigen Erkenntnisse eingeordnet“, verteidigte er sich in Berlin. „Auch die Eigenschaften der Göttinger Zellen habe ich nie infrage gestellt.“ Bereits vor zwei Jahren hatten die Göttinger Forscher die Gewinnung von pluripotenten Stammzellen direkt aus Zellen des Hodens gemeldet. Schöler zog eine Konsequenz aus der aus seiner Sicht verzerrten Darstellung: Journalisten sollten nicht mehr unabgesprochen von solchen Tagungen berichten dürfen. „Zumindest die Fakten müssten sie von dem jeweiligen Wissenschaftler gegenchecken lassen“, forderte er. Sein Vorschlag: Vor der Teilnahme an Kongressen sollten sie künftig eine entsprechende Erklärung unterzeichnen (siehe Kommentar). Als eines der herausragendsten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Stammzellforschung bezeichnete Schöler die Publikation von Yamanaka vor zwei Jahren. Damals war es dem japanischen Forscherteam um Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto erstmals gelungen, mithilfe von Retroviren vier Gene in das Erbgut von menschlichen Fibroblasten einzuschleusen, inaktive Bereiche D O K U M E N TAT I O N (DÄ, Heft 27/2008). Sie hatten lediglich zwei Gene in adulte Nervenstammzellen der Maus einschleusen müssen, um diese zu induzierten pluripotenten Stammzellen zu reprogrammieren. „Wir sind daran interessiert, die Methodik zu verbessern. Wir wollen die Epigenetik der Zellen verstehen“, erklärte Schöler. Sein Kollege Prof. Dr. Rudolf Jaenisch vom Whitehead Institute of Biomedical Research (Cambridge/USA) pflichtete ihm bei. Bei allen Experimenten gehe es vorrangig darum, die molekularen Me- chanismen der Reprogrammierung zu verstehen. Alle bislang hergestellten Zellen seien je nach Isolierung und Kultivierung unterschiedlich, jeder Typus habe andere Vorteile. Als einen „Durchbruch“ würde auch er die jüngsten Ergebnisse von Schöler nicht bezeichnen. „Sein Erfolg überrascht mich nicht. Er war zu erwarten“, sagte Jaenisch gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Generell überzeugt ist Jaenisch, der auch als Vorreiter des therapeutischen Klonens bekannt ist, jedoch von einem sehr großen Poten- zial der Stammzellforschung. „Es ist wichtig, dass neue embryonale Stammzelllinien untersucht und mit den verschiedenen iPS-Zellen verglichen werden“, sagte er. „Wir müssen den Goldstandard erst noch finden.“ Jaenisch selbst demonstrierte kürzlich, wie iPS-Zellen erfolgreich bei der Behandlung von Mäusen mit Sichelzellanämie eingesetzt werden können. In der Therapie von Blutkrankheiten sieht er auch die ersten potenziellen Einsatzgebiete von iPS beim Menschen. ■ Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann Heft 31 32, 4. August 2008 SPÄTABTREIBUNGEN Foto: Klaus Rose Koalition bleibt uneinig Zur Beratungspflicht bei Spätabtreibungen haben Union und SPD unterschiedliche Ansichten. Auch bei einem dritten Anlauf haben sich Union und SPD nicht über eine erweiterte Beratungspflicht bei Spätabtreibungen verständigen können. CDU und CSU wollen deshalb nach der Sommerpause einen Gruppenantrag in den Bundestag einbringen, dem sich auch Abgeordnete aus anderen Fraktionen anschließen können. Die SPD will dagegen die Beratung aller Schwangeren mit dem neuen Gendiagnostikgesetz verbessern, dessen Referentenentwurf jetzt vorliegt. Mit ihrem Gruppenantrag strebt die Union Korrekturen im Schwangerschaftskonfliktgesetz an; den eigentlichen Strafgesetzparagrafen 218 will sie jedoch unverändert lassen. So sollen Ärzte künftig verpflichtet sein, die betroffene Schwangere ausführlich über das Leben mit einem behinderten Kind zu informieren und sie über mögliche Unterstützungen aufzuklären. Zwischen Gespräch und Eingriff soll ferner eine Bedenkzeit von mindestens drei Tagen liegen. Zuwiderhandlungen sollen mit Geldbußen bestraft werden. Bislang ist ein Schwangerschaftsabbruch nach medizinischer Indikation nicht an eine Frist gebunden. Abtreibungen sind auch dann noch erlaubt, wenn das Kind außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre. Eine Beratungspflicht gibt es nicht. Die SPD setzt mit dem neuen Gendiagnostikgesetz auf eine „bessere Information und Beratung“ aller Schwangeren. Dem Referentenentwurf zufolge soll die Beratungspflicht des Arztes vor und nach pränatalen Untersuchungen festgeschrieben werden. Auch müsse die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und psychosozialen Beratungsstellen durch eine „Hinweispflicht“ verbessert werden. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unterstützen die Initiative der Union. Sie fordern, die Defizite im geltenden Recht zu beheben. Die vorgeschlagene Regelung im Gendiagnostikgesetz greife zu kurz, kritisieren die Ärzteorganisationen, die bereits im Dezember 2006 einen Vorschlag zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchrechts aus medizinischer Indikation unterbreitet hatten. ER A 359 D O K U M E N TAT I O N Heft 37, 12. September 2008 DAS GESPRÄCH mit Dr. med. Peter Liese, CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament „Die EU-Kommission schießt gerne mal übers Ziel hinaus“ Der Politiker umriss im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt die zunehmende Bedeutung der Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene. er wachsende Einfluss der Europäischen Union (EU) auf D einzelstaatliche Entscheidungen in der Gesundheitspolitik sei unverkennbar, meint Peter Liese. Seit nunmehr 14 Jahren ist der Arzt Mitglied des Europäischen Parlaments (EP). Mit gerade einmal 29 Jahren übernahm Liese den Abgeordnetensitz des CDU-Politikers Friedrich Merz, der es 1994 vorzog, in den Deutschen Bundestag zu wechseln. Zwar würden auch in Zukunft die entscheidenden gesundheitspolitischen Weichenstellungen auf nationaler Ebene vorgenommen, ist Liese überzeugt. „Derzeit passiert auf diesem Gebiet aber in Brüssel so viel wie noch nie“, sagt der 43-Jährige. Die Europäische Kommission, die als einzige EU-Institution Gesetzesvorschläge vorlegen dürfe, schieße dabei allerdings schon mal über das Ziel hinaus. Aktuelles Beispiel: der von der Brüsseler Behörde Anfang Juli vorgelegte Richtlinienentwurf, der die Freizügigkeit der Patienten innerhalb der EU regeln soll. Zwar wünscht sich Liese wie die Mehrheit der Europaabgeordneten, dass endlich Rechtssicherheit bei der grenzüberschreitenden medizinischen Versorgung herrscht. „Es muss aufhören, dass EU-Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in mühsamen Einzelfallentscheidungen ihr Recht auf Kostenerstattung nach einer Auslandsbehandlung einklagen müssen.“ Mit einer gesetzlichen Regelung der geltenden EuGHRechtsprechung zur Patientenmobilität ist Liese daher auch einverstanden. Dass sich die EU-Kommission aber zugleich mehr Möglich- keiten einräumen will, den Ländern in der Gesundheitspolitik reinzureden, geht dem CDU-Politiker zu weit. Dies gelte beispielsweise für die Forderung der Behörde, Qualitäts- und Sicherheitsstandards in der medizinischen Versorgung zu definieren. „Mit dem Recht auf Freizügigkeit der Versicherten hat das nichts zu tun“, moniert Liese. Ähnlich kritisch sieht er den im Richtlinienentwurf verankerten Grundsatz auf Gleichbehandlung. „Wie weit soll das gehen?“, fragt Liese. „Sollen Versicherte in der EU das Recht erhalten, auf Gleichbehandlung zu klagen?“ Ein solcher Anspruch ließe sich seiner Ansicht nach gerichtlich nicht durchsetzen. Mit einer Annahme des Gesetzentwurfs durch das EP und die EURegierungen rechnet Liese frühestens in einem Jahr. „Bis zu den Europawahlen im Sommer nächsten Jahres ist das jedenfalls nicht zu schaffen“, erklärt der CDU-Politiker. Grund hierfür sei auch, dass es innerhalb des EP bislang keine klar erkennbaren parteipolitischen Positionen zum Vorschlag der Kommission gebe. „In jeder Fraktion gibt es Befürworter und Kritiker“, so Liese. „ Typisch für das Europäische Parlament ist die Meinungsvielfalt auch in den Fraktionen. “ Fotos: Eberhard Hahne D O K U M E N TAT I O N medizingesetzes am deutschen Modell. Denn der deutsche Weg ermögliche es Reproduktionsmedizinern, trotz relativ restriktiver Vorschriften hervorragende Arbeit zu leisten. „Durch die Verschiebung des Stichtags ist die deutsche Position leider angreifbar geworden“, bedauert Liese. Eine EU-weite Harmonisierung des gesamten Bereichs der Fortpflanzungsmedizin hält er indessen auch auf lange Sicht für undenkbar. Dass allerdings auch mit deutschen Geldern europäische Projekte zur embryonalen Stammzellfor- „ Die europäische Forschungsförderung sollte sich auf Vorhaben konzentrieren, die in allen EU-Ländern erlaubt sind. Diese Meinungsvielfalt sei zugleich typisch für das Europäische Parlament. „Man kann nie genau vorhersagen, welchen Verlauf eine Diskussion nehmen wird“, weiß der EU-Politiker. Gerade das aber mache für ihn den Reiz seiner Arbeit aus, bekennt Liese. Dass der im südwestfälischen Meschede beheimatete Familienvater im kommenden Jahr bei den Europawahlen erneut antreten will, zeigt auch, dass er den Spaß an dem bisweilen äußerst aufreibenden Job noch nicht verloren hat. Liese, der am Humangenetischen Institut der Universität Bonn promoviert hat, macht zudem deutlich, dass er sich bei einem erneuten Einzug ins Parlament auch weiterhin medizinethischen Fragen widmen will. Die Verschiebung des Stichtags für den Import von Stammzelllinien hält er zum Beispiel für einen großen Fehler. „Mit dem strengen Embryonenschutzgesetz war Deutschland für einige EU-Länder ein Vorbild“, betont Liese. Italien beispielsweise habe das deutsche Gesetz weitgehend übernommen. Auch die polnische Regierung orientiere sich bei der Vorbereitung ihres Fortpflanzungs- “ Politiker und Arzt: Dr. med. Peter Liese bei einem Besuch des Deutschen Ärzteblattes in Köln schung gefördert werden können, ärgert ihn. „Die europäische Forschungsförderung sollte sich auf Vorhaben konzentrieren, die in allen EU-Ländern erlaubt sind.“ Sorge bereitet Liese auch die anstehende Entscheidung des Europäischen Patentamts in München über einen Antrag zur Patentierung embryonaler Stammzellen. „Ein solches Patent würde gegen die EU-Richtlinie zur Patentierung biotechnologischer Erfindungen verstoßen“, mahnt Liese. Dies wider- spräche zugleich dem EU-weiten Verbot, Teile des menschlichen Körpers zu kommerzialisieren. Wenig glücklich ist er auch mit der von den Arbeits- und Sozialministern der EU-Länder im Juni ausgehandelten Neudefinition der Bereitschaftsdienste bei der Revision der Arbeitszeitrichtlinie. „Hier brauchen wir dringend eine Korrektur“, so der Abgeordnete. Denn sonst sei es künftig mit dem EU-Recht vereinbar, dass Ärzte sechs Tage am Stück im Krankenhaus anwesend sein müssen. Liese hofft, dass es dem Europaparlament in zweiter Lesung gelingen wird, den Ministerrat davon zu überzeugen, die sogenannten inaktiven Phasen des Bereitschaftsdienstes nicht als Ruhezeit zu werten. Seine langjährige Erfahrung mit den europapolitischen Spielregeln hat ihn aber gelehrt, dass Maximalforderungen nur schwer durchzusetzen sind. Daher räumt er der von einigen Abgeordneten sowie vom Marburger Bund aufgestellten Forderung, die EuGH-Rechtsprechung eins zu eins in die Richtlinie zu übernehmen, keine Chance ein. „Eine Einigung mit dem Rat darüber, Bereitschaftsdienste voll auf die Arbeitszeit anzurechnen, ist nicht möglich“, sagt Liese. ■ Petra Spielberg DAS EUROPAPARLAMENT Das Europäische Parlament (EP) ist das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union (EU). Die Wahlen finden alle fünf Jahre in den Mitgliedsländern der EU (derzeit 27) statt. Die nächsten Wahlen sind im Juni 2009. Sitz des EP ist Straßburg. Weitere Dienstorte sind Brüssel und Luxemburg. Das EP hat aktuell 785 Mitglieder. Die von ihnen vertretenen rund 160 Parteien sind in sieben Fraktionen zusammengeschlossen. Stärkste Fraktion ist die christdemokratisch-konservative EVP/ED, gefolgt vom Zusammenschluss der Sozialdemokraten Europas, den Liberalen und den Grünen. Das Parlament berät und verabschiedet gleichberechtigt mit dem Ministerrat Rechtsvorschriften, die Auswirkungen auf den Lebensalltag der Bürger haben. Dies gilt unter anderem für die Bereiche Umwelt- und Verbraucherschutz, Gesundheit, Gleichberechtigung, Verkehr sowie für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, Kapital, Waren und Dienstleistungen. Das Parlament ist ferner gemeinsam mit dem Rat für den Jahreshaushalt der Europäischen Union zuständig. Einmal im Monat findet eine einwöchige Plenarsitzung in Straßburg statt. Während der übrigen Wochen beraten sich die Abgeordneten in ihren Ausschüssen sowie in Fraktions- und Arbeitsgruppensitzungen in Brüssel. Das EP tagt an insgesamt 42 Sitzungswochen im Jahr. ps A 361 D O K U M E N TAT I O N Heft 39, 26. September 2008 INTERVIEW mit Priv.-Doz. Dr. med. Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats „Wir fühlen uns der Würde des Menschen verpflichtet“ Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats plädiert für „ein ausgewogenes Miteinander“, das sie auch dem Nationalen Ethikrat attestiert. Sie nimmt Stellung zur Zusammensetzung und Themenfindung des neuen Gremiums. Ethikrat das Entgegenkommen gegenüber der Forschung überwog und nicht die Kritiker die Meinung mitgeprägt haben. Sie waren bereits Mitglied im Nationalen Ethikrat, dem Vorgänger des Deutschen Ethikrats. Dem früheren Ethikrat wurde nachgesagt, ausgesprochen forschungsfreundlich gewesen zu sein. Stimmt das? Woopen: Im Nationalen Ethikrat gab es verschiedene Meinungen. Es gab darin niemanden – und das gilt auch für den heutigen Ethikrat – der ausschließlich sagte: Forschung ist Christiane Woopen immer gut, und niemanden, der Forhat einen Lehrauftrag schung grundsätzlich ablehnte. Es ging und geht mehr um die Grundam Institut für Geschichte und Ethik haltung, mit der man sich einer Frader Medizin an der gestellung annähert, also ob man Universität zu Köln. zuerst nach den Risiken oder zuerst Sie hat sich unter an- nach den Chancen fragt. Und da derem intensiv mit würde ich dem ehemaligen Ethikrat ethischen Fragen der pränatalen Diagnos- keine Einseitigkeit attestieren. tik und Präimplantationsdiagnostik beschäftigt. A 362 In der Öffentlichkeit entstand aber anfangs der Eindruck, dass im früheren Woopen: Es war ein ausgewogenes Miteinander. Ich erinnere mich an die anfängliche Diskussion über die Stammzellforschung. Da haben einige Mitglieder ihre Position in der Öffentlichkeit verfremdet dargestellt gefunden. Ich glaube, das hatte weniger mit den Personen als mit der Entstehungsgeschichte des Rats zu tun. Zur Zeit der Gründung wurde intensiv über embryonale Stammzellforschung debattiert, die im Bundestag teilweise restriktive Gegner hatte. So dominierte der Eindruck, dass der damalige Bundeskanzler im Handstreich den Nationalen Ethikrat als forschungsfreundlichen Gegenpart installiert habe. Die tatsächlich abgegebenen Voten haben dann schließlich bewiesen, dass von einer einseitigen Forschungseuphorie nicht die Rede sein konnte. Die Mehrheitsvoten nicht nur zur Stammzellforschung gingen aber doch eher in Richtung Forschungsfreiheit, die Präimplantationsdiagnostik (PID) wollte man doch beispielsweise unter bestimmten Voraussetzungen gestatten. Woopen: Aber die Mehrheitsvoten waren knapp. Abgesehen davon gehörte und gehöre ich zu denen, die der Auffassung sind, dass man sol- che Voten nicht nach Stimmenverhältnissen wahrnehmen sollte. Wie viele Mitglieder für oder gegen eine bestimmte Regelung sind, ist nach meiner Auffassung für ein solches Beratungsgremium nicht vorrangig. Wichtiger ist es, dass das gesamte Spektrum an Argumenten berücksichtigt, gebündelt und strukturiert wird, um denjenigen, die die Entscheidung treffen müssen, eine fundierte Meinungsbildung zu erleichtern. Im Grunde genommen wäre es fast gleich, wie die Voten ausfallen. Die Hauptsache ist, das Meinungsspektrum kommt zum Ausdruck – haben wir Sie da richtig verstanden? Woopen: Ja, vom Grundsatz her sehe ich das so, wenn man bedenkt, welch fundamentale Fragen zum Beispiel zum Lebensanfang oder zum Lebensende der Ethikrat behandeln muss. Würde er in diesen Fragen immer eine einheitliche Überzeugung vertreten, erschiene mir das angesichts der Vielfalt moralischer Überzeugungen in der Gesellschaft unplausibel. Dennoch ist es seine große Aufgabe, Konsensbereiche zu identifizieren und tatsächlich einen Rat zu geben. Wenn vor diesem Hintergrund der Ethikrat dann nahezu einstimmig eine bestimmte Empfehlung ausspricht und es nur einzelne Ausscherende gibt – die selbstverständlich auch ihre Auffassung in der Stellungnahme D O K U M E N TAT I O N Sind Sie denn generell mit der öffentlichen Wirkung Ihrer Stellungnahmen zufrieden? Woopen: Das war bei den vielen Stellungnahmen des Nationalen Ethikrats unterschiedlich. Zur genetischen Diagnostik vor und während der Schwangerschaft gab es beispielsweise eine sehr intensive öffentliche Diskussion. Weniger emotionale Themen wurden in der breiten Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen, wohingegen die Stellungnahmen zur Patientenverfügung und zur Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende differenziert rezipiert wurden. Der Nationale Ethikrat hätte sich allerdings einen besseren Kontakt mit dem Bundestag gewünscht. Hatten Sie beim alten Ethikrat mit dem Bundestag und seiner Enquete-Kommission außer Reibungsflächen überhaupt Kontakte? Woopen: Es gab viele gute inoffizielle Kontakte. Dass sich die EnqueteKommission von der Einsetzung des Nationalen Ethikrats düpiert fühlte, kann ich verstehen. Das war jedoch nicht die Absicht derer, die in den Nationalen Ethikrat berufen wurden. Letztlich war es aber doch eine Zusammenarbeit – wenn auch mit Reibungsflächen und einigen Kontroversen – im Engagement für gemeinsame, gesellschaftlich bedeutungsvolle Themen. Wie ist denn die Arbeit des neuen Deutschen Ethikrats angelaufen? Woopen: Wir sind in der Findungsphase und sammeln solche Fragestellungen, denen wir eine hohe gesellschaftliche Relevanz beimessen, was nicht unbedingt schon gesetzgeberische Relevanz heißen muss. Wir wollen die Themen identifizieren, von denen wir der Über- zeugung sind, dass es sich lohnt, sie in die öffentliche Diskussion zu befördern. In welcher Form wir sie dann im Rat weiter verfolgen, ob beispielsweise Stellungnahme, Bericht, öffentliche Veranstaltung, wird nach dem Durchleuchten eines Themas jeweils eigens diskutiert. Darüber hinaus haben wir erste Kontakte zu ausländischen Ethikräten aufgenommen und planen einen Austausch zu gemeinsam interessierenden Themen. Ebenso laufen die Vorbereitungen für die ersten öffentlichen Veranstaltungen. Glauben Sie, dass Sie mit dem Parlamentarischen Beirat harmonischer zusammenarbeiten können als mit der früheren Enquete-Kommission des Bundestags, zu der es das schon erwähnte Konkurrenzverhalten gab? Woopen: Beirat und Enquete-Kommission sind von ihrer Struktur und ihrem Auftrag her nicht miteinander zu vergleichen. Es gibt im Parlamentarischen Beirat keine externen Experten mehr, er besteht ausschließlich aus Bundestagsabgeordneten, die von ihren Fraktionen benannt sind. Seine explizite Aufgabe ist der Kontakt zwischen dem Ethikrat und dem Bundestag. Es gab erste Begegnungen, und ich bin mir sicher, dass es eine gute Zusammenarbeit wird. nung jetzt die Möglichkeit, in unsere Arbeitsgruppen externe Sachverständige als Dauergäste einzuladen. Der Nationale Ethikrat war darauf angewiesen, die Fachperspektiven in den Arbeitsgruppen mit eigenen Mitgliedern zu bestücken. Wenn eine Fachkompetenz gefehlt hat, wurde ein Gutachten in Auftrag gegeben oder eine Anhörung durchgeführt. Jetzt können wir Sachverständige kontinuierlich in die Arbeit einer Arbeitsgruppe einbinden. Das kann je nach thematischer Ausrichtung sehr hilfreich sein. Denn mit 26 Mitgliedern kann man zwar ein gewisses Spektrum abdecken, aber nicht alle Themen, die zu bearbeiten sind. Von Ihnen wird eine Äußerung kolportiert, die Kirchen hätten zu großes Gewicht bei der Meinungsbildung und sollten das mal den Wissenschaftlern überlassen. Wie denken Sie sich das? Woopen: Hier muss es sich offensichtlich um ein Missverständnis gehandelt haben. Es gab ein Interview und dazu die Schlagzeile „Ein- Der ärztliche Sachverstand ist nach Auffassung von Woopen im Deutschen Ethikrat durchaus vorhanden. Außerdem können auch externe Sachverständige eingeladen werden. Auch der neue Ethikrat beschäftigt sich überwiegend mit medizinischen und ärztlichen Themen. Bringt der Ethikrat genug medizinischen Sachverstand zusammen, oder sind die Ärzte zu schlecht vertreten? Woopen: Der ärztliche Sachverstand ist durchaus vorhanden, er steht aber nicht im Vordergrund. Die Breite der vertretenen Expertise ist geblieben: Jura, Philosophie, Theologie, Psychologie, Soziologie, Biologie und weitere Disziplinen. Im Unterschied zum Nationalen Ethikrat haben wir über eine Neugestaltung der Geschäftsord- Fotos: Lajos Jardi darlegen – entfaltet eine solche einmütige Stellungnahme schon eine Überzeugungskraft an sich. A 363 D O K U M E N TAT I O N Heft 49, 5. Dezember 2008 fluss der Kirche ist groß“ (Kölner Stadt-Anzeiger vom 30. 5. 2008, Anmerkung d. Red.). Im Interview habe ich auch genau das gesagt, dass ich nämlich den Einfluss der Kirchen für groß halte, ich habe nicht gesagt „zu groß“. Das würde im Übrigen weder meinen Grundüberzeugungen noch meiner grundsätzlich wissenschaftlichen Haltung entsprechen. Wie kommt denn der Ethikrat überhaupt zu einer ethisch fundierten Meinung, woher bezieht er seine Überzeugungen? Aus dem Grundgesetz, aus der Deklaration der Menschenrechte, aus dem eigenen Gewissen der Mitglieder, aus der Philosophie, aus der Geschichte des Abendlandes? Woopen: Alle Mitglieder des Ethikrats teilen die Grundüberzeugung von der Geltung der Menschenrechte und fühlen sich dem Schutz der Würde des Menschen verpflichtet. Auf dieser Grundlage bringt jeder Einzelne Wertvorstellungen und Gewichtungen aus unterschiedlichen Erfahrungshorizonten und fachlicher Expertise mit. Auch wenn der uns allen vorgegebene Rahmen das Grundgesetz ist, kann man dieses im Einzelfall ganz unterschiedlich auslegen. Die Argumente, die aus den verschiedenen Perspektiven heraus entwickelt werden, werden sodann zusammengenommen, in Beziehung zueinander gesetzt, es wird nach Gemeinsamkeiten – auch bei unterschiedlichen Ausgangspunkten – gesucht, und es werden Empfehlungen formuliert. Es wäre ein vergebliches Unterfangen anzustreben, dass der gesamte Ethikrat als Gremium in einer freien und pluralistischen Gesellschaft in allen Fragen eine gemeinsame moralische Position findet. Das ist aber nicht schädlich für seine Arbeit, ganz im Gegenteil. Denn nicht die Entwicklung einer gemeinsamen Grundüberzeugung ist seine Aufgabe, sondern angesichts vieler verschiedener Überzeugungen einmütige Lösungen für Handlungsbereiche zu entwickeln, die für die Gesellschaft lebbar sind. ■ Die Fagen stellten Norbert Jachertz und Gisela Klinkhammer. A 364 INTERVIEW Christiane Woopen, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, nimmt Stellung zur Themenfindung des neuen Gremiums (DÄ 39/2008: „Wir fühlen uns der Würde des Menschen verpflichtet“). Selbstgerechtigkeit Frau Dr. Woopen nennt auf die Frage nach dem Klärungsspektrum im Ethikrat beispielhaft die „fundamentalen Fragen zu Lebensanfang und Lebensende“. Würde dazu eine einheitliche Überzeugung vertreten, erschiene ihr das „angesichts der Vielfalt moralischer Überzeugungen in der Gesellschaft unplausibel“. Das beschreibt sehr gut die Situation im Lande, dass, nachdem das viele Jahrhunderte allgemeingültige christlich-biblische Wissen und Bekenntnis zum grundsätzlichen Lebensrecht – auch der Ungeborenen – und der Einsicht einer Verantwortlichkeit vor Gott sich aufgelöst hat, es ersetzt wurde durch einen bunten Mix „autonomer“ variabler Ansichten und die resultierende Moral zu Beliebigkeit und Willkür pervertierte mit dem Ergebnis hedonistischer, ,,mainstream“-orientierter und leicht manipulierbarer Mehrheiten. Gerade bei der Frage der Tötung noch ungeborener Menschlein wird gerne „Selbstverantwortlichkeit“ (der Geborenen) vorgeschoben, tatsächlich meint dies nichts anderes als beliebige „Selbstgerechtigkeit“. Dr. med. Rainer Zoch, Rathausstraße 60, 56203 Höhr-Grenzhausen Ethik wurde abgeschafft Wir Mediziner haben in unserer Gesellschaft einen Riesenvorteil: Wir brauchen uns mit ethischen Fragen nicht mehr zu beschäftigen. In unserem Fachbereich wurde die Ethik mittels Sozialgesetzgebung durch Horst Seehofer und Ulla Schmidt gänzlich abgeschafft. Patienten müssen behandelt werden nach folgenden Vorgaben: wirtschaftlich, angemessen, zweckmäßig. Von Ethik keine Spur. Meine Berufsgruppe ist es natürlich auch selbst schuld. Wer den Eid des Hippokrates selbst abschafft, darf sich nicht wundern, wenn er nicht mehr für voll genommen wird. Umso erstaunlicher ist es auf den ersten Blick, dass eine Medizinerin in den Vorstand des Deutschen Ethikrats berufen worden ist. Bei näherem Hinsehen ist diese Entscheidung jedoch folgerichtig. Der Vorsitzende dieses ExBK-Schröder-Gremiums ist schließlich ein Jurist. Juristen sind von Natur aus bestens für solche Posten geeignet: Sie haben in den letzten 2 000 Jahren tatkräftig bewiesen, dass sich ihre „Wissenschaft“ beliebig im jeweiligen Sinne der Machthaber oder heute der political correctness als „frei beweiswürdig“ erweist . . . Dr. med. Walter Wehler, Guntherstraße 82, 51147 Köln