Pressezentrum Dokument: Sperrfrist: Samstag, 16. Juni 2001; 15:00 Uhr Programmbereich: Themenbereich 2: In Würde leben Veranstaltung: Forum Gentechnik Referent/in: Dr. Christoph Rehmann-Sutter, Sozialethiker, Basel/CH Ort: Messe, Festhalle, Ludwig-Erhard-Anlage 1 (Innenstadt) 2/067 PF Stammzellen: Ersatzteilmedizin mit geklonten Embryonen? Als ich die Aufgabe übernommen habe, die ethische Problematik der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen hier kurz darzustellen, war nicht absehbar, dass just in diesen Tagen die Wogen des öffentlichen Diskurses so hoch gehen, aufgepeitscht vom Vorstoss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Anfang Mai, die Forschung an embryonalen Stammzellen zuzulassen, vorausgesetzt diese Zellen würden aus dem Ausland importiert. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 verbietet die Zerstörung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken. Es legt den Beginn der absoluten Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens auf den Zeitpunkt der Befruchtung zwischen Ei und Spermium fest. Diese embryonalen Stammzellen können aber erst etwa fünf Tage nachher gewonnen werden. Der Embryo befindet sich dann im Stadium der Blastocyste (Bild). Es sind Kügelchen von etwa 1/10 mm Durchmesser. Sie bestehen aus einer äusseren Schicht und einer inneren Zellmasse. Die äussere Schicht wächst nach der Einnistung in die Gebärmutter zur Plazenta und den Embryonalhüllen weiter; die innere Zellmasse wird zum Fötus weiterwachsen. Weil diese rund 100 inneren Zellmasse-Zellen noch keine weiteren Differenzierungen eingegangen sind als diese Separierung von der Hülle, sind sie noch in der Lage, prinzipiell alle menschlichen Zelltypen unseres Körpers zu bilden. Sie sind pluripotent, wie man sagt, d.h. sie können zwar nicht mehr einzeln einen ganzen Embryo bilden – das wäre Totipotenz (diese hört nach dem 8-Zell-Stadium schon auf) – aber sie können je nach Entwicklungsgeschichte und Umgebung alle Zelltypen des menschlichen Körpers bilden. Sie sind also keine potenziell ganzen Embryonen, aber Alleskönner innerhalb des menschlichen Körpers in allen seinen Entwicklungsstadien, vom Beginn bis ins hohe Alter. Diese Eigenschaft macht sie für die biomedizinische Forschung im Moment ungeheuer interessant. Man kann mit ihnen die zellulären Entwicklungs- und Differenzierungsvorgänge im menschlichen Körper studieren und damit möglicherweise die Entstehung von solchen Krankheiten besser verstehen, die mit zellulären Defekten zusammenhängen. Darunter sind viele Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, juveniler Diabetes, in denen die Medizin noch weitgehend machtlos ist. Die Hoffnung besteht, mit diesen Forschungen Therapien für diese und andere Krankheiten zu entwickeln, die auf dem Prinzip des in vitro gezüchteten Ersatzgewebes beruhen könnten. Die Gewinnung dieser embryonalen Stammzellen ist aber nur möglich – und das ist die Crux – wenn die Blastocyste zerstört wird. Eine weite Problematik ist eröffnet. Blastocysten sind ohne Zweifel lebendige menschliche Organismen in einem sehr frühen Entwicklungsstadium. Können wir die Verwendung von Blastocysten unter bestimmten Umständen mit dem Schutz vereinbaren, den wir allem werdenden menschlichen Leben schulden? Ein Szenario von Umständen ist in Diskussion, seit die von US-Präsident Clinton eingesetzte Ethikkommission (Das National Bioethics Advisory Committee) vorgeschlagen Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 hat, die Verwendung von Blastocysten dann zuzulassen, wenn es sich um Blastocysten handelt, die aus in vitro Befruchtungen übriggeblieben sind und sowieso zerstört werden müssten. Solche sog. “überzählige” Embryonen fallen auch bei uns an, wenn z.B. die Mutter im Verlauf einer in vitro Fertilisation vor der Einpflanzung der Embryonen verstirbt, oder wenn sie die Prozedur aus einem anderen Grund nach der Befruchtung vor dem Embryotransfer abbricht. Die Forschung verlangt nicht nach Embryonen in grosser Zahl. Die embryonalen Stammzellen lassen sich in Kultur vermehren. Mit dem Zugeständnis, diese Embryonen in Einzelzellen zerlegen zu dürfen, die sowieso zerstört würden, wäre der Forschung heute sehr gedient. In den USA hat die konservative Administration Bush das Ruder herumgeworfen und verbietet nun die staatliche Förderung solcher Projekte mit embryonalen Stammzellen. Dagegen hat jetzt eine Gruppe prominenter Zellbiologen zusammen mit drei Patienten Klage eingelegt.1 Die Regierung hat 60 Tage Zeit, um die Klage zu beantworten. Die Debatte ist eine politische, einfach schon deshalb, weil es in Deutschland (und parallel auch in der Schweiz) um die Auslegung, evtl. um die Änderung von Gesetzen geht. In Demokratien kann keine kulturelle oder religiöse Gruppierung die politische Debatte stellvertretend führen. Es geht vielmehr darum, an ihr teilzunehmen. Für die Ethik aus christlichem Hintergrund stellt sich die Frage, mit welchen Anliegen sie teilnehmen will. Ist das Instrumentalisierungsverbot das einzige Anliegen, das sich für die Ethik in dieser Situation stellt? Die Züchtung embryonaler Stammzell-Linien aus “überzähligen” Embryonen stellt zweifellos eine Instrumentalisierung dar. Zerstört würden sie allerdings ohnehin. Die Tötung der Blastocyste selbst ist deshalb nicht der ethisch brisante Punkt. Es ist die Verwendung der Zellen der Blastocyste zu anderen Zwecken als zur Rettung der Blastocyste. Die Verbotsposition ist in einer gewissen Hinsicht konsequent: Menschliche Wesen dürfen nie bloss als Mittel zum Zweck, sondern müssen immer auch als Zweck an sich selbst behandelt werden. Das muss gelten vom Beginn des menschlichen Lebens an, und das heisst eben biologisch von der Befruchtung an. Gegenüber dieser Position müssen alle Alternativen irgendwie korrumpiert erscheinen: Ausnahmen machen, um fremde Interessen zu befriedigen: Forschungsstandort, mögliche Heilungschancen für Krankheiten. Es wird häufig suggeriert, dass die einzige respektable christliche Beteiligung am politischen Diskurs deshalb darin besteht, die Verbotsposition zu vertreten. Mir scheint diese Position zwar logisch konsistent, aber sehr abstrakt. Zu abstrakt, um noch unmittelbar evident zu sein. Wer sagt uns nämlich, dass der Zeitpunkt der Befruchtung als Beginn der absoluten Schutzwürdigkeit nicht genauso willkürlich gesetzt ist, wie die britischen 14 Tage nach der Befruchtung? Die Entstehung des individuellen Genoms ist ja nicht dasselbe wie die Entstehung einer individuellen Person. Man kann Genom und Persönlichkeit nicht gleichsetzen. Die Personen würde man nicht an eine Mischung von Genen knüpfen. Das wäre sonst ein schwer haltbarer Genetizismus, eine Art Gen-Mythologie, die dem Genom die Position zuspricht, die früher der Seele zukam. Wenn das individuelle Genom die Person tatsächlich konstituieren würde, müsste man übrigens hinsichtlich des zweiten Problems, das heute zur Debatte steht, dem therapeutischen Klonen, automatisch eine zulassende Haltung einnehmen. Das Genom stammt dort von der Körperzelle des Patienten. Die geklonte Blastocyste wäre dann nämlich nichts anderes als eine Art extrakorporaler Ableger des Patienten, der keine eigene menschliche Würde hat. Dieser Grund ist mir deshalb zu schwach. Wenn es aber nicht das individuelle Genom ist, das den Beginn der absoluten Schutzwürdigkeit auf die Befruchtung festlegt, könnten es höchstens noch pragmatische Gründe sein. Etwa diejenigen, welche Bundespräsident Rau in seiner Berliner Rede am 18. Mai nannte: “Wer die Auffassung nicht teilt, dass menschliches Leben mit diesem Zeitpunkt beginnt, der muss die Frage beantworten: Ab welchem anderen Zeitpunkt sollte 1 Gretchen Vogel: “Court Asked to Declare NIH Guidelines legal”, Science 292 (2001): 1463. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 menschliches Leben absolut geschützt werden? Und warum genau erst ab diesem späteren Zeitpunkt?”2 Die Befruchtung ist natürlich ein klar erkennbarer Zeitpunkt. Es ist der Zeitpunkt, wo das bereits bestehende menschliche Leben der Eizelle im lebendigen mütterlichen Körper mit dem lebenden Spermium zusammenkommt und sich beide in das Leben eines Embryos fortsetzen. Aber es kann nicht fraglos sein, dass dieser Zeitpunkt der Befruchtung, nur deshalb weil er klar erkennbar ist, auch der Zeitpunkt des Beginns absoluter Schutzwürdigkeit sein muss. Die Lösung des Embryonenschutzgesetzes ist nicht frei von der ethischen Begründungslast. Diese wiegt schwerer, je mehr medizinisch relevante Forschung ausgeschlossen würde. Es heisst, willkürlich bestimmte medizinische Entwicklungslinien nicht zu beschreiten. Wird unsere Gesellschaft dann auch stark genug sein, um Therapien nicht aus dem Ausland zu importieren, wenn sie einmal verfügbar werden sollten? Der für mich zentrale Grund, der den Schutz des Embryos von der Befruchtung an nötig macht, und z.B. bei Keimbahneingriffen und sonstigen Manipulationen zum Tragen kommt, fällt bei der Stammzellforschung dahin: die Betroffenheit eines entstehenden Kindes. Ich finde jedenfalls die Doppelmoral fragwürdiger, die entsteht, wenn Länder wie die Schweiz und Deutschland den Import von embryonalen Stammzellen für Forschungszwecke zulassen würden, ihre Gewinnung aus überzähligen Embryonen, die sowieso zerstört würden im eigenen Land aber zu verbieten. Woher kommen diese Zellen dann? Unter welchen Verhältnissen werden sie gewonnen? Ich plädiere für einen sehr sorgfältigen Neuanfang der Embryonenschutzdiskussion ohne Gen-Mythologie, einfach aus dem Respekt vor dem sich entwickelnden menschlichen Wesen heraus, das selbst immer komplexer einen eigenen Sinn-Raum entfaltet, nicht schlagartig von Null auf Eins, sondern schrittweise, kontinuierlich, wie auch die konkreten organischen Strukturen des Embryos immer komplizierter werden. Embryonen verlangen gesetzlichen Schutz; er muss auch rigoros sein, soll aber nicht abstrakt-rigoristisch begründet werden. Ich plädiere für Pluralität in der ethischen Diskussion, gerade wenn es wie heute darum geht, die christlichen ethischen Anliegen der Nächstenliebe und Solidarität zu konkretisieren und auszudrücken. Möglicherweise gibt es nicht nur ein einziges wichtiges Anliegen. Und möglicherweise stehen verschiedene Anliegen miteinander im Konflikt. Das ist aber in menschlichen Beziehungen der Fürsorge normal. Die Medizin ist moralisch auf dem Prinzip der Fürsorge aufgebaut. Auch die Ersatzteilmedizin muss Grenzen haben. Man darf Körperteile von Mitmenschen nicht missbrauchen. Und eine extreme Form der Ersatzteilmedizin tut den Patienten selbst nicht gut, weil sie die Illusion nährt, die Grenzen des menschlichen Lebens ausser Kraft setzen zu können. Ist aber deshalb, weil diese vorgestellte Extremform von Ersatzteilmedizin ungut ist, auch jede einzelne, je viel bescheidenere Form von Ersatzteiltherapie zu verurteilen? Das absolute Argument zeigt nur einen Aspekt des konkreten Falls. Maßstab muss die Verantwortung für einzelne konkrete Patientinnen und Patienten bleiben. Ob diese Verantwortung Stammzellforschung und therapeutisches Klonen erlaubt oder verbietet, vermag ich heute noch nicht sicher erkennen. Die Verbotslösung scheint vielleicht nur deshalb attraktiv, weil sie einfach das Problem vermeidet. Wir benötigen einen Diskurs mit offenem Ausgang. 2 Johannes Rau in der F.A.Z., 19. Mai 2001, S. 45. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.