Unser Gedächtnis ist wie ein Notizbuch Denn wir fügen ihm ein Leben lang Dinge zu, streichen andere durch oder schreiben sie um. Psychologe Douwe Draaisma darüber, warum uns die Zeit vor 30 am präsentesten ist und wieso wir Erinnerungen immer wieder anders abspeichern 66 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER NOVEMBER/DEZEMBER 2016 INTERVIEW S ein erstes publikumswirksames Buch schrieb Douwe Draaisma (63) „als Geschenk für sich selbst“. Weil der Niederländer zum Beispiel wissen wollte, warum wir uns an kaum etwas aus unseren ersten Lebensjahren erinnern. Oder wie man vor der Erfindung des bewegten Bilds den Mein-Leben-zogan-mir-vorbei-wie-ein-Film-Effekt in Worte fasste. Fragen, die offenbar viele Leser neugierig machten, und so wurde Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird zu einem weltweiten Erfolg. 20 Übersetzungen sind bislang erschienen, darunter eine koreanische und eine äthiopische. Inzwischen ist Douwe Draaisma, Professor für die Geschichte der Psychologie in Groningen, schon etliche Bücher weiter. In diesem Sommer erschien sein siebtes, Halbe Wahrheiten, zeitgleich auf Niederländisch und Deutsch. Thema darin ist, wie wir auf unsere Erfahrungen zurückblicken und Erinnerungen sich im Laufe unseres Lebens ziemlich verändern können. Halbe Wahrheiten ist auffällig persönlich. So verarbeitet Draaisma darin Erinnerungen an Bibelgeschichten, die sein Vater früher nach dem Abendbrot vorlas. Auch die Popmusik, die er als Jungspund gehört hat, kommt zur Sprache. Allen voran die britische Kultband Cream, die sich 1968 im Streit trennte und für die Gitarrist Eric Clapton 2005 eine Wiedervereinigung organisierte. Draaisma nutzt den Werdegang von Cream als roten Faden in seiner Ausführung über, wie er sie nennt, „meine Zeit“. Jeder jenseits der 30 scheint eine solche Phase zu kennen: die, in der seiner Meinung nach die beste Musik gemacht wurde. Interessanterweise fällt sie durchgängig in etwa in die Zeit zwischen 15 und 30. Ihrer Ansicht nach haben wir alle ein „Popfenster“ von etwa 15 Jahren. Was danach an Musik gemacht wurde, lässt uns relativ kalt. Sie selbst seien Anfang der 80er ausgestiegen, schreiben Sie. Ja. Ich weiß natürlich, dass dieses Bild verzerrt ist, aber mir fällt es schwer, gute Bands aus den 80ern zu nennen. Sagen Sie selbst – was war gut an Duran Duran? Douwe Draaisma taucht als Pro­fessor für Psychologie-Geschichte in Erinnerungen ein Nichts. Aber als Kind der 80er hat mich die Passage doch ein wenig geärgert. U2 waren schon großartig! (Grinst) Es war tatsächlich ein wenig suggestiv, sie in meinem Buch nicht zu nennen. Oder Prince. Aber diese Mu­ siker stammen einfach aus einer Zeit, in der ich nicht mehr den ganzen Tag das Radio anhatte und viel seltener zu Konzerten ging. Wie bei den meisten hatte dieses „Aussteigen“ schlicht damit zu tun, dass wir Kinder bekamen und für Konzerte einen Babysitter brauchten. Und dass Freunde auch eine Menge anderer Dinge zu tun hatten. Aber es spielt dabei auch eine Rolle, dass man mit 30 schon ziemlich geformt ist. Man braucht keine Musik mehr, um anderen klarzumachen, wer man ist. Das muss man mal mit der Zeit um die 18 vergleichen: Da ist Musik noch das Mittel, sich selbst zu definieren. Außerdem ist es genau die Phase, in der man vieles zum ersten Mal erlebt: die erste ernsthafte Beziehung, den ersten Urlaub ohne Eltern, das erste Semester an der Uni … Das führt dazu, dass diese Jahre viel besser in unserem Gedächtnis verankert werden. Und die damalige Musik gehört dazu. Sie bekommt eine größere Bedeutung als gute Musik in späteren Lebensjahren. Das frühe Erwachsenenalter ist auch die Phase, die gegen Ende des Lebens am intensivsten wiederkehrt, schreiben Sie. Das stimmt. So ums 60. Lebensjahr herum tritt allmählich der sogenannte Reminiszenzeffekt auf. Menschen erinnern sich spontan an allerlei Dinge, die grob geschätzt zwischen ihrem 15. und 30. Lebensjahr passiert sind. Fragt man sie PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER NOVEMBER/DEZEMBER 2016 67