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Bruder oder Vetter - was verbindet uns mit dem
Neandertaler?1
BÄRBEL KUNZE2, Universität Lübeck
Erweiterter Bericht von Wolfram Eckloff
In ihrem beeindruckenden Vortrag berichtete Frau Dr. Kunze über den aktuellen
Forschungsstand und erläuterte dabei einige molekularbiologische Forschungsmethoden.
Die Erforschung der Menschheitsgeschichte erhielt durch die Genomanalyse
einen wichtigen Impuls. So ist es heute möglich, recht genaue Vergleiche im
Erbgut von Menschen verschiedener Herkunft durchzuführen. Eine der Fragen,
die äußerst naheliegend ist, gilt
der verwandtschaftlichen Nähe
von Neandertaler und Mensch: Ist
der Neandertaler, der noch während der letzten Eiszeit bis vor
30.000 Jahren in Mitteleuropa
lebte, unser Verwandter, wurde er
vom Homo sapiens assimiliert
oder bekämpft? Wo fossile Knochen und Spuren stumm bleiben,
hat die genetische Analyse bemerkenswert Klarheit geschaffen.
Rekonstruierte Szene im Neanderthal-Museum in
Hiervon soll im Folgenden die
Mettmann. Foto UNiesert, Wiki Commons
Rede sein, doch zuvor werfen wir
einen Blick ins Schülerlabor von Frau Dr. Kunze, denn dort vollziehen Schüler
der Oberstufe einige grundlegende Techniken nach, die heute zum Standard der
molekulargenetischen Arbeit gehören. In ihren zwei modern ausgestatteten Laboren mit 36 Arbeitsplätzen im Institut für Biologie vermehren die Schüler
DNA-Stücke, schneiden sie und vergleichen die Bandenmuster nach der GelElektophorese. Was so einfach klingt, setzt jedoch äußerst sauberes Arbeiten und
1
Vortrag am 20.1.2013 für den Naturwissenschaftlichen Verein zu Lübeck im Museum
für Natur und Umwelt
2
PD Dr. Bärbel Kunze ist Leiterin des molekularbiologischen Schülerlabors der Universität
Lübeck (LOLA). Siehe auch im Internet unter http://www.lola.uni-luebeck.de
die Verfügbarkeit der zu untersuchenden Erbsubstanz und der spezifischen Enzyme voraus. Die einzelnen Schritte sind Folgende:
1. Die in unseren Mitochondrien vorhandene DNA (mtDNA) ist bei allen rezenten Menschen nahezu identisch. Deshalb bot sich ein Vergleich dieser DNA
besonders an. Die Schüler erhalten menschliche mtDNA und zum Vergleich
mtDNA vom Neandertaler.
Hinter dieser „Verfügbarkeit“ verbirgt sich bereits eine einzigartige Leistung der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. SVANTE PÄÄBO vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre
Anthropologie in Leipzig. 1997 gelang es den Leipziger Forschern, mitochondriale
DNA aus geborgenen 30.000 Jahre alten Neandertalerknochen zu gewinnen – ein Meisterstück, wenn man bedenkt, dass die DNA dort nur in kleinen Bruchstücken vorliegt
und äußerst stark vermischt ist mit DNA von Bakterien und anderen Mikroben, die einst
die Leichen zersetzten. Diese geborgene mtDNA vom Neandertaler stellte Prof. Pääbo
auch dem Lübecker Labor zur Verfügung.
2. Die beiden mtDNA-Proben liegen in starker Verdünnung im Reagenzglas vor
und müssen erst einmal stark vermehrt (amplifiziert) werden, um an ihnen etwas
untersuchen zu können. Hier lernen die Schüler das Verfahren der PolymeraseKettenreaktion (PCR, polymerase chain reaction) kennen, ein Verfahren von
KARY MULLIS 1985, für das er 1993 den Nobelpreis erhielt. Hier passiert im
Einzelnen Folgendes1:
Bei der PCR-Reaktion werden spezifische DNA-Abschnitte vermehrt (amplifiziert). Dies geschieht durch ein Temperaturprogramm, bei dem das Aufschmelzen
eines DNA-Doppelstrangs, die DNA-Neusynthese und das Aufschmelzen des neu
entstandenen DNA-Doppelstrangs zyklisch aufeinanderfolgen (30 - 40 mal, in unserem speziellen Fall nur 20 mal). Dabei wird die Ziel-DNA exponentiell vermehrt.
Die Spezifität der Reaktion wird durch zwei DNA-Primer gewährleistet, die die
Zielsequenz flankieren. Primer sind kurze, chemisch synthetisierte DNASequenzen (ca. 20 Nukleotide lang), die an komplementäre einzelsträngige DNA
binden. Sie stellen ein freies 3'-OH-Ende zur Verfügung, das für die DNASynthese benötigt wird.
Da das Aufschmelzen des DNA-Doppelstrangs bei 94°C erfolgt, muss die verwendete DNA-Polymerase hitzestabil sein. Eine solche Polymerase ist z.B. die
Taq-Polymerase aus dem thermophilen Bakterium Thermus aquaticus. Die TaqPolymerase synthetisiert in einer Minute ca. 1000 Basenpaare, mit einer Fehlerrate von etwa 1 Fehler pro 105 eingebauten Nukleotiden.
Die PCR-Technik von K.B. Mullis hat sowohl die molekulare Diagnostik als auch
die Molekularbiologie revolutioniert, da mit dieser Technik aus extrem geringen
1
zitiert aus dem Kursskript des LOLA
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Materialmengen spezifische DNA-Abschnitte vermehrt werden können (z.B. in
der Kriminaltechnik). Im Experiment kann man durch die PCR DNA-Abschnitte
mit einer Größe bis etwa 25.000 Basenpaaren (25 kb) synthetisieren.
3. Mit Hilfe spezifischer Enzyme, die aus Bakterienkulturen gewonnen
werden, können die vervielfältigten DNA-Stücke an bestimmten Stellen so
geschnitten werden, dass Teile unterschiedlicher Länge entstehen (Restriktionsspaltung = Spaltung durch Restriktionsendonukleasen). Diese gilt es
nun aufzutrennen, wozu
4. die anschließende Agarose-Gelelektrophorese dient. Hierbei wandern die
unterschiedlich langen DNA-Abschnitte im Spannungsfeld unterschiedlich
schnell durch das Gel auf den Pluspol zu. Anschließend werden die Banden
durch Anfärben sichtbar gemacht und es entsteht ein charakteristisches
Bandenmuster für die jeweils verwendete DNA. Allein schon an diesem
Bandenmuster werden Polymorphismen von (meist nichtkodierenden)
DNA-Abschnitten erkennbar.
Durch die weiterführende Bestimmung der Basensequenzen der mtDNA
(Sequenzierung) gelang es den Leipziger Forschern um PÄÄBO, eindeutige
Unterschiede zwischen dem Neandertaler und dem modernen Menschen
festzustellen. Ihre erste Antwort auf die Frage, ob Vermischungen im frühen
Paläolithikum stattgefunden haben, lautete deshalb bis 2009: nein, „no sex
with Homo sapiens“.
Inzwischen hat das Team von SVANTE PÄÄBO vom MPI in Leipzig auch
die DNA des Zellkerns des Neandertalers untersuchen können. 2009 hatten
sie 60 % der Kern-DNA sequenziert und dabei gefunden, dass die Genome
von uns und dem Neandertaler sich in weniger als 0,5 % unterscheiden. In
weiteren Arbeiten bis 2013 wurden wahrhaft spannende Hinweise gefunden
für die Rekonstruktion unserer gemeinsamen Vergangenheit, die inzwischen
auch in einem lesenswerten Artikel in Wikipedia 1 wie folgt zusammengefasst wurden:
Ausgangsmaterial waren aDNA2-Fragmente von weniger als 200, zumeist nur 40
bis 60 Basenpaaren. Sie waren drei Bruchstücken von Schienbein-Funden aus der
Vindija-Höhle entnommen und ihre Rekonstruktion ergänzend mit aDNA aus drei
weiteren Neandertalerfunden verglichen worden, von denen einer der Holotypus
aus dem Neandertal war. Die rekonstruierte Neandertaler-DNA wurde anschlie-
1
2
http://de.wikipedia.org/wiki/Neandertaler
a steht für ancient – damit ist DNA von alten/fossilen Orgnismen gemeint
3
ßend mit DNA-Proben moderner Menschen aus Afrika, Europa und Asien verglichen.
Die DNA-Analyse ergab erneut, dass die Erbanlagen der Neandertaler sich nur in
sehr geringem Maße von den Erbanlagen der heutigen Menschen unterscheiden.
Die Autoren der Studie betonten sogar ausdrücklich „die Tatsache, dass die Neandertaler innerhalb der Variationsbreite der modernen Menschen liegen“. Gleichwohl wurden mehrere Dutzend Genvarianten identifiziert, anhand derer Neandertaler und Homo sapiens unterschieden werden können. Von einigen gilt als gesichert, dass sich die verursachenden Mutationen erst nach der Trennung der beiden
Entwicklungslinien ereigneten, die zu Neandertalern und anatomisch modernen
Menschen führten: Und zwar beim anatomisch modernen Menschen, denn diese
Gene haben beim Neandertaler und bei den heute lebenden Schimpansen eine
identische – das heißt ursprüngliche – Nukleotidsequenz (….).
Besonderes Augenmerk richteten die Forscher zudem auf den Vergleich des Neandertaler-Genoms mit menschlicher DNA aus unterschiedlichen Erdteilen und
Ethnien: mit DNA-Sequenzen eines Franzosen, eines Han-Chinesen, eines Papua,
eines Yoruba und eines San (Letztere sind afrikanische Stämme. Anm. Eckloff). Sie
berichteten, dass das Genom der Neandertaler eine signifikant größere Ähnlichkeit
mit dem Genom von Europäern und Asiaten hat als mit dem Genom von Afrikanern: Der Franzose, der Han und der Papua stehen den Neandertalern in gleichem
Maße nahe, der Yoruba und der San weisen diese genetische Nähe gleichermaßen
nicht auf. Die Autoren deuten dies so: „Die sparsamste Erklärung für diese Beobachtung ist, dass Neandertaler Gene mit den Vorfahren der Nicht-Afrikaner austauschten.“ Da anhand weiterer Analysen der untersuchten Genome der fünf Vertreter heutiger Populationen ein Genfluss vom Homo sapiens zum Neandertaler
ausgeschlossen werden konnte, kam die Studie zu dem Ergebnis „dass der
Genfluss vom Neandertaler zu den Vorfahren der Nicht-Afrikaner erfolgte, bevor
sich die eurasischen Gruppen voneinander trennten“, das heißt im Nahen Osten,
wo Neandertaler und anatomisch moderne Menschen in der Zeitspanne von vor
110.000 Jahren bis vor rund 50.000 Jahren koexistierten. Gestützt wird diese Vermutung, der Genfluss sei ausschließlich in eine Richtung gegangen, unter anderem
durch eine Studie, der zufolge die Wahrscheinlichkeit grundsätzlich sehr viel größer ist, dass Gene von einer ortsansässigen Population in eine andere Population
übergehen, wenn diese andere Population in das Siedlungsgebiet der ansässigen
Population eindringt, als umgekehrt. 2012 wurde die Zeitspanne des möglichen
Genflusses zunächst in die Zeit vor 65.000 bis 47.000 Jahren eingegrenzt.
Das Ausmaß des Genflusses vom Neandertaler zum Homo sapiens beträgt den
Autoren der Studie zufolge zwischen einem und vier Prozent des Genoms der heutigen nicht-afrikanischen Bevölkerung. Sie äußern zugleich ihr Erstaunen darüber,
dass der Genfluss in Europa nicht größer war als in Asien, obwohl in Europa einige Fossilien gefunden worden seien, die von Vertretern der „Vermischungshypothese“ als Beleg für einen solchen Genfluss angeführt wurden. Sie schließen nicht
aus, dass spätere Wanderungsbewegungen im Zusammenhang mit der Verbreitung
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der Landwirtschaft früheren Genfluss verdeckt haben. Möglich sei aber auch, dass
– im Unterschied zur anfänglichen Situation im Nahen Osten – in Europa bereits
relativ große Populationen von Homo sapiens auf die Neandertaler trafen; ein in
geringem Maße erfolgter Genfluss sei dann heute nicht mehr nachweisbar. Die
„Kreuzungsrate“ – bezogen auf die Anzahl später eigenen Nachwuchs zeugender
Neugeborener – betrug Modellrechnungen zufolge weniger als zwei Prozent, vermutlich sogar weniger als ein Prozent. (…)
Ob angesichts der genetischen Daten die Einordnung von Neandertalern und anatomisch modernen Menschen in zwei biologische Arten Bestand haben wird, ist
SVANTE PÄÄBO zufolge offen, da es keinen verbindlichen Maßstab dafür gibt,
ab welchem morphologischen oder genetischen Abstand von getrennten Arten
auszugehen ist.“
In der Zusammenschau ergibt sich folgendes Bild: Als gemeinsamer Vorfahre gilt der Homo erectus, der in Afrika zu weiter Verbreitung kam. Vor
3-400.000 Jahren erreichte eine Wanderwelle aus Afrika Südeuropa und
entwickelte sich über den Heidelberg-Mensch zum Neandertaler, der sich
im Laufe von 250.000 Jahren von Spanien bis Zentralasien (Nordirak, Tadschikistan, Altai) ausbreitete.
Vor 70-100.000
Jahren wanderte
aus Afrika der
moderne Mensch
aus Afrika in den
Nahen Osten ein
und lebte über
30.000 Jahre dort
im Areal des Neandertalers.
Da
ein bis vier Prozent NeandertalerVerbreitungsgebiet des Neandertalers. Wiki Commons
gene in uns stecken, muss es hier zu einer leichten Vermischung gekommen sein. Als der
Homo sapiens sich dann nach Westeuropa und weiter nach Osten ausbreitete, nahm er die Neandertalergene mit, die heute auch in Ostasien, wo nie ein
Neandertaler war, nachweisbar sind. Da der Neandertaler sich erst in Europa entwickelte, sind seine spezifischen Gene nicht bei Urvölkern Afrikas
vorhanden. Da die Forschung in vollem Fluss ist, darf man gespannt sein
auf das, was noch kommen wird.
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