Darwin im naturwissenschaftlichen Kontextrischen Kontext

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Darwin im naturwissenschaftlichen Kontext
Anna Kling, Neuerburg
Darwin als interdisziplinäre Forschernatur
Darwin war eine wahrlich interdisziplinäre Forschernatur. Dabei war er mehr Systematiker als
Zufallsentdecker, mehr Generalist als Spezialist, mehr Genussmensch als Asket (sodass er die
Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln zunächst nur kulinarisch würdigte), mehr
Theoretiker als Praktiker. Seine Arbeiten beruhen auf genauer Beobachtung, liefern akribische Beschreibungen und er besticht durch seine innovative Denkweise. Darwin verliert sich
nicht in Details, sondern behält stets die Gesamtzusammenhänge im Blick. In den Jahren
seiner Forschung in England ist sein Tagesablauf stets streng reguliert – jede Abweichung
scheint ihn aus der Bahn zu werfen. Dies mag mit einer Tropenkrankheit zusammenhängen,
die er möglicherweise von seiner Reise mit der Beagle mitgebracht hat. Eine Anekdote am
Rande zeigt, dass seine Akribie auch vor dem Privatleben nicht halt machte: Er spielte abends
meist Backgammon mit seiner Frau und zeichnete über Jahre hinweg die Ergebnisse auf.
Darwins Liebe für die Natur ist unbestritten, auch wenn sie nicht in allen Werken präsent zu
sein scheint. Wenn sich einige seiner Werke im Vergleich zu Humboldts fast schon romantischen Reiseberichten etwas nüchtern anhören, dann wohl lediglich aus dem Grund, dass er
seine Theorien auf naturwissenschaftliche Grundlagen stellen wollte und sich nicht auf eine
naturtheologische Argumentation einließ wie einige seiner Zeitgenossen und Dozenten.
Er war sehr belesen in so verschiedenen Bereichen wie Medizin (Studium), Psychologie,
Naturwissenschaften, Philosophie, Theologie und politische Ökonomie.
Stand der Forschung zu Darwins Zeit
Nur aus dieser Interdisziplinarität heraus war die Entwicklung der Evolutionstheorie durch
Darwin überhaupt möglich. In der Folge gelang dadurch ein weiterer entscheidender
Brückenschlag, nämlich der Übergang von den erdgeschichtlichen und lebensgeschichtlichen
Theorien (Geologie, Fossilien, vergleichende Anatomie, Veränderlichkeit der Erde und der
Arten) hin zum neuen Zeitalter der Entwicklungsbiologie und Genetik/Molekularbiologie
(Embryonalentwicklung, Gene als Erbeinheit).
Die genauen Vorgänge von Zeugung und Vererbung waren Darwin noch nicht bekannt – über
die Beschaffenheit des Zeugungsmaterials, die Ähnlichkeit von Kindern mit ihren Eltern oder
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die Festlegung des Geschlechts der Nachkommenschaft wurden zwar zu Darwins Lebzeiten
einschlägige Entdeckungen gemacht, wie beispielsweise die Entdeckung der Eizelle durch
Karl Ernst von Baer oder die Begründung der Genetik durch Mendel, deren tiefe Bedeutung
wurde jedoch nicht gleich erkannt. Die Formulierung des Genbegriffs, wodurch die Gene als
Träger des Erbmaterials definiert wurden, sollte erst später erfolgen.
Ein grundlegendes Werkzeug, das Darwin allerdings zur Verfügung stand, war das von
Linnäus erdachte System der Klassifizierung, das als Gerüst für die Benennung und Erfassung
der Arten diente. Jedoch zweifelte Darwin (und nicht nur er) an der „Konstanz der Arten“, die
von Linnäus vorgegebenen worden war. Interessanterweise ordnete Linnäus Affen und Menschen der selben Gruppe zu, nämlich den Primaten.
Erste Ansätze: Klassifizierung der Arten und vergleichende Anatomie
Während seiner Studienzeit in Cambridge fängt Darwin an, Käfer zu sammeln und lernt somit
viel über Katalogisierung, vergleichende Anatomie oder Zusammenhänge zwischen Struktur
und Funktion. Dies sind die Grundlagen, die ihm später noch sehr nützlich werden sollten.
Später schreibt er einer fünfbändige Zoologie über die Tiere, die ihm auf der Fahrt mit der
Beagle begegnet sind: 1. Band: Fossilien, 2. Band: Säugetiere, 3. Band: Vögel, 4. Band:
Fische, 5. Band: Reptilien.
Darwin kannte die Schriften von Alexander von Humboldt und er meinte, seine Beschreibungen seien unvergleichlich und würden es immer sein. Die Reiseberichte von Humboldt
hatte
Darwin
im
Gepäck
auf
seiner
Reise
mit
der
Beagle
dabei.
Eine reine Beschreibung und Sortierung der Naturphänomene reichte natürlich nicht aus, um
eine Evolutionstheorie zu entwickeln – dazu waren auch praktische Ansätze nötig, die über
eine reine Beschreibung hinausgingen. Dazu gehörten natürlich die Anfänge der vergleichenden Anatomie (etwa durch Andreas Vesalius oder Leonardo da Vinci), die bereits erste
Vergleiche zwischen der Anatomie des Menschen und anderer Lebewesen ermöglicht hatten.
In Richtung Evolutionstheorie stellt sich natürlich die Frage nach dem Grund für die Unterschiede zwischen den Arten bei gleichzeitig relativ großer Ähnlichkeit ihrer Anatomie?
Einfluss der Geologie auf Darwins Forschungen
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Aus der geologischen Beschäftigung mit Fossilien heraus und durch die Erkenntnis, dass
Fossilien versteinerte Lebewesen aus längst vergangenen Zeiten sein müssen, konnte sich die
Paläontologie als Wissenschaft etablieren. Durch verschiedene paläontologische Funde wurde
die Möglichkeit des Aussterbens von Arten immer stärker in Betracht gezogen – die Erklärungen dafür liefen natürlich den Kreationisten zuwider, die an die Schöpfung der Erde und
ihrer Lebewesen glaubten, wie in der Bibel beschrieben. Durch Sichtung von Fossilien aus
verschiedenen Strata wurde bald klar, dass sich die Arten im Lauf der Zeit veränderten.
Bei seiner Abreise mit der Beagle hat Darwin die „Prinzipien der Geologie“ von Lyell im Gepäck und sie dienen ihm als lehrreiche Lektüre und Inspiration. Als er beispielsweise im Gestein der Andengipfel fossile Meeresmuscheln findet, muss er sich natürlich fragen: wie
kommt die Muschel auf den Berg? Darwin sah die Welt nicht als unveränderlich (perfekt geschaffen) an, sondern er erkannte, dass sie sich ständig verändere und weiterentwickle. Ihm
dämmerte damals auch, dass Vulkanismus und enorme Hebekräfte im Zusammenwirken für
das Entstehen der „Knautschzone Anden“ verantwortlich sein dürften und dass so die
Muschel auf den Berg kommt. Erst hundert Jahre später setzt sich die Erkenntnis durch, dass
Kontinentaldrift und Plattentektonik in der Lage sind, ganze Berge zu versetzen.
Darwin erfuhr auf seiner Reise mit der Beagle die Auswirkungen von Vulkanismus und Erdbeben am eigenen Leib. Dabei beobachtete er Dinge, die er sich nur durch das erlebte Zusammenwirken enormer Kräfte erklären kann: die Erdoberfläche ist nicht unveränderlich.
Viele kleine Veränderungen in einer langen Zeitspanne haben das Bild der Erde geprägt.
Über die Entstehung der Arten – Entwicklung von Darwins Evolutionstheorie
Zur Zeit von Darwin standen erste Ansätze von Evolutionismus in starkem Gegensatz zu den
vorherrschenden Theorien der Kreationisten, die den Schöpfergott als einzige Kraft hinter der
Erschaffung der Erde und der Lebewesen ansahen. Bereits Lamarcks Theorien zur Vererbung
von Merkmalen wurden von Kreationisten strikt abgelehnt – er hatte sein Werk im Jahr 1809,
Darwins Geburtsjahr, veröffentlicht und war der Meinung, der Gebrauch bzw. Nichtgebrauch
von Organen sowie der Einfluss der Umwelt steuere die Evolution (Veränderung) der Arten.
Lamarck ging davon aus, dass die im Lauf des Lebens erworbenen Eigenschaften auf die
Nachkommenschaft vererbt werden. Das wäre praktisch, denn dann würden wir unseren
Kindern vieles ersparen – Französischkenntnisse würden genauso weitervererbt wie Autofahren, Kaffee kochen oder Klavierspielen.
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Wo wir Lamarck jedoch nur Recht geben können, ist mit seiner Feststellung, dass es leichter
sei, „neue Wahrheiten zu entdecken, als sie zur allgemeinen Anerkennung zu bringen“.
Zu diesen neuen Wahrheiten gehörte die Erkenntnis, dass die Erdoberfläche nicht unveränderlich ist, genauso wie die Schlussfolgerung, dass auch die Tier- und Pflanzenarten nicht konstant sind, sondern dass sie sich von einer Generation zur anderen an die sich ändernden Gegebenheiten anpassen. Fossilien aus verschiedenen Strata der Erdgeschichte geben einen
ersten Einblick; Artenvielfalt und Unterschiede zwischen Lebewesen benachbarter Inseln (infolge von Isolationseffekten) führen die Überlegungen weiter. Hierzu ist anzumerken, dass
Darwin die Bedeutung der berühmten und nach ihm benannten Finken auf den Galapagosinseln bei seinem Besuch mit der Beagle überhaupt nicht erkannte. Erst 1837 fiel es ihm
(durch eine andere Veröffentlichung) wie Schuppen von den Augen, dass die Arten der benachbarten Inseln eng verwand sind, ohne dass eine klare Trennung zwischen Arten und
Varietäten möglich ist. Darwins Schluss im Nachhinein: der gemeinsame Vorfahre der Finken
auf den verschiedenen Inseln liegt noch nicht allzu viele Generationen zurück und die einzelnen Populationen auf den Inseln haben noch keine klaren Artgrenzen, da ihre Isolation voneinander noch nicht lange her ist. Das Fehlen von klaren Artgrenzen lieferte einen weiteren
Hinweis für die Veränderlichkeit der Arten und untermauerte Darwins Evolutionstheorie.
Der grundlegende Gedanke der Evolution, der Veränderlichkeit der Welt, war natürlich
keineswegs neu. Schon Darwins Großvater Erasmus Darwin hatte in seinem Werk „Zoonomia
oder Die Gesetze des Organischen Lebens“ die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass alle
Lebewesen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen (E conchis omnia) und dass sich
Menschen aus „niederen“ Lebensformen entwickelt haben könnten. Dennoch kann Darwin
sozusagen als „Vollender“ dieses über 100-jährigen Denkprozesses gesehen werden.
Nachdem Darwin fast 20 Jahre von einer Veröffentlichung seiner Evolutionstheorie abgesehen hatte, kam ihm der junge Naturforscher Alfred Russel Wallace fast zuvor. Wallace hatte
aufgrund seiner eigenen Beobachtungen einen Aufsatz geschrieben und an Darwin geschickt,
um dessen Meinung zu hören. Obwohl Darwin um seine Priorität bei der Veröffentlichung
fürchtete, leitete er den Artikel weiter – es stimmt also nicht, dass er den Artikel von Wallace
verhindern wollte, wie oft behauptet wird. Er setzte jedoch seine eigene Arbeit zu dem Thema
beflügelt fort. Im Sinne eines „gentlemanly agreement“, einer Einigung zwischen Gentlemen,
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fand im Juli 1858 eine „gemeinsame Vorlesung“ der Manuskripte von Darwin und Wallace
bei der Linneaen Society in London statt. Weder Darwin noch Wallace waren anwesend – das
ersparte ihnen vielleicht auch die Enttäuschung darüber, dass ihre neue Theorie keine besonderen unmittelbaren Reaktionen hervorrief – weder bei den Zuhörern noch nach der Publikation.
Zusammenfassung von Darwins Evolutionstheorie „Über die Entstehung der Arten“ („On the
Origin of Species“):
1. Variation: Die Individuen einer Tier- oder Pflanzenart unterscheiden sich innerhalb
einer gewissen Variationsbreite in ihren Eigenschaften.
2. Überproduktion: Organismen erzeugen mehr Nachkommen, als aufgrund des vorliegenden Lebensraums und der jeweils gegebenen Bedingungen existieren können.
3. Natürliche Auslese: Die Beschränktheit der Ressourcen führt unter den Individuen zu
Konkurrenz, einem „Kampf ums Dasein“ („struggle for life“), bei dem insbesondere
die lebensfähigsten Varianten übrig bleiben.
4. Vererbung von Eigenschaften: Vor allem die lebensfähigsten Varianten pflanzen sich
fort und vererben ihre Eigenschaften an die nächste Generation. Über den Verlauf von
vielen Generationen trägt dieser Prozess zum Erhalt bzw. zur Entwicklung vorteilhafter Eigenschaften bei. Er führt zu einer Anpassung an die jeweils vorliegenden Bedingungen und schließlich zur Entwicklung neuer Arten.
Diese vier Punkte sind für jedermann derart leicht nachvollziehbar und plausibel, dass man
sich gerne dazu verleiten lässt, zu behaupten – da hätte ich ja auch drauf kommen können.
Gleichzeitig sind sie so universell, dass sie noch bis heute in Genetik und Molekularbiologie
Anwendung finden. Genau darin liegt das Geheimnis des Erfolgs von Darwins Theorie: sie ist
verblüffend einfach und leicht nachvollziehbar, gleichzeitig aber universell anwendbar.
Darwin hatte in seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“ bereits die Übertragung seiner
Theorie auf den Menschen angekündigt: „Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und
ihre Geschichte fallen.“ (1859)
Darwins anthropologische Forschungen
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Im Jahr 1871 ist es dann so weit: Darwin veröffentlicht sein Werk „Über die Abstammung des
Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“, worin er die Haupterkenntnisse aus seinen
Überlegungen zum Ursprung der Arten auf den Menschen überträgt. Darwin geht im Evolutionsgedanken sogar noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: „Wenn alle Menschen tot wären,
wären die Affen Menschen und die Menschen Engel.“
Die wesentlichen Punkte, die er in diesem Werk behandelt, kann man zusammenfassen wie
folgt: er überträgt das Evolutionsprinzip auf den Menschen, liefert Argumente für die Verwandtschaft des Menschen mit den Affen und weist darauf hin, dass es einen gemeinsamen
Vorfahr im Stammbaum ebenso geben muss wie einen „missing link“ – das fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Affe. Er kommt außerdem zu dem Schluss, dass der Mensch in
Afrika entstanden sein muss – was sich später als richtig herausstellen wird.
Auch dieses anthropologische Werk Darwins hatte natürlich weitreichende Auswirkungen auf
Theologie, Philosophie und andere Geisteswissenschaften sowie für den politischen und
sozialen Bereich. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung reichten von Bewunderung und
Ehrfurcht über Ratlosigkeit bis hin zu Zorn und Empörung. Als wolle er diesen Reaktionen
vorher schon den Wind aus den Segeln nehmen, schreibt Darwin:
Die hauptsächlichste Folgerung, zu welcher ich in diesem Werke gelangte, nämlich dass
der Mensch von einer niedriger organisirten Form abgestammt ist, wird für viele Personen, wie ich zu meinem Bedauern wohl annehmen kann, äusserst widerwärtig sein. Es
lässt sich aber kaum daran zweifeln, dass wir von Barbaren abstammen. […] Was mich
betrifft, so möchte ich ebenso gern von jenem heroischen kleinen Affen abstammen,
welcher seinem gefürchteten Feinde trotzte, um das Leben seines Wärters zu retten, oder
von jenem alten Pavian, welcher, von den Hügeln herabsteigend, im Triumph seinen
jungen Kameraden aus einer Menge erstaunter Hunde herausführte, – als von einem
Wilden, welcher ein Entzücken an den Martern seiner Feinde fühlt, blutige Opfer darbringt, Kindesmord ohne Gewissensbisse begeht, seine Frauen wie Sclaven behandelt,
keine Züchtigkeit kennt und von dem grössten Aberglauben beherrscht wird.
Wesentliche Merkmale des Menschen im Unterschied zum Tier sah Darwin im aufrechten
Gang (Homo erectus), in der Sprache sowie in der Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten.
Im weitesten Sinne gehört auch die Verwendung von Technik zu den Errungenschaften des
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Menschen durch gesteigerte kognitive Fähigkeiten. Die Bedeutung der Technik für den Menschen ist ein Punkt, den Wallace in einem Aufsatz über den „Ursprung der menschlichen
Rassen und Alter des Menschen, gefolgert aus der Theorie der natürlichen Selektion“ nach
Darwins Veröffentlichung der Evolutionstheorie aufgriff.
Durch die Technik kann der Mensch seine Umwelt an seine Bedürfnisse anpassen und er
muss nicht darauf warten, bis sich erst allmählich (also über Generationen hinweg) durch
Mutation und Selektion die gewünschte bzw. benötigte körperliche Veränderung eingestellt
hat. Konkret geht es dabei beispielsweise um Angriffs- und Verteidigungsmittel, Techniken
zum Beutefang sowie Fortbewegungsmittel (Boote), Ackerbau und Viehzucht zur ständigen
Versorgung mit Nahrung, aber auch die Beherrschung der Feuers oder das Tragen von Kleidung. Mittels der Technik habe sich der Mensch jedoch nicht nur von der Wirkung der natürlichen Selektion auf seinen Körper befreit, sondern er habe die Natur darüber hinaus bis zu
einem gewissen Grade entmachtet. Wallace sieht hierin ein neues Argument für die Sonderstellung des Menschen – Darwin drückt sich in diesem Punkt allgemeiner aus und argumentiert, dass kognitive Fähigkeiten genauso wie körperliche Fähigkeiten eine „Anpassung“ an
die Umweltbedingungen darstellen und dass sich eine Verbesserung der geistigen und sozialen Eigenschaften als vorteilhaft erweist.
In diesem Zusammenhang stellt Darwin sogar in gewisser Weise Überlegungen kultur- und
moraltheologischer Art an: „Große Gesetzgeber, die Stifter wohltätiger Religionen, große
Philosophen und Entdecker tragen durch ihre Arbeiten in weit höherem Maße zum Fortschritt
der Menschheit bei als durch das Hinterlassen einer großen Nachkommenschaft.“
Ernst Haeckel war einer der stärksten Verfechter und Verbreiter von Darwins Theorien in
Deutschland und weit darüber hinaus. Darwins Evolutionstheorie stellt die Grundlage für sein
biogenetisches Grundgesetz dar, welches lautet: „Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese“. Das soll heißen, die morphologischen Phasen, die der Embryo in seiner Entwicklung
durchläuft, entsprechen denen der evolutionären Stammesentwicklung, die sich vom Einzeller
aus dem Meer zu einem wirbellosen Tier entwickelt, dann fischartig, säugetierartig, primatenartig wird, und schließlich menschliche Formen annimmt. Er war überzeugt, dass sich
während jeder Embryonalentwicklung die einzelnen Schritte der Evolution immer wieder aufs
Neue vollziehen. Damit lag er natürlich gründlich falsch, auch wenn ein Blick auf den frühen
Embryo von Mensch, Fisch, Vogel oder Reptil im Vergleich derartige Schlüsse zumindest
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nachvollziehbar macht. Haeckel sei also sein Irrtum verziehen und stattdessen sei ihm an
dieser Stelle für seinen Einsatz bei der Verbreitung der Evolutionstheorie Darwins in
Deutschland und darüber hinaus gedankt.
Einfluss auf Genetik und Molekularbiologie – was hat Darwin damit zu tun?
Für ein Phänomen hatte Darwin sein Leben lang allerdings keinen Namen gefunden: für die
Ursache der Variationen zwischen Individuen einer Art. Darwin erkannte die grundlegende
Bedeutung der Variation und Selektion für die Vererbung von Merkmalen, ohne jedoch die
Einheit, die Gene, zu kennen. Dies war sozusagen der letzte Baustein, der Darwin in seinen
Bemühungen noch fehlte, um die Evolution der Organismen durch natürliche Auslese und
Vererbung vollständig zu erklären. Mich reizt in diesem Zusammenhang die Vorstellung
eines Zusammentreffens zwischen Darwin und Mendel: vielleicht hätten die beiden durch
Kombination ihrer Theorien und Erfahrungen damals schon dieses fundamentale Geheimnis
des Lebens entschlüsselt.
Gregor Mendel kam diesen Ursachen durch seine legendären Kreuzungsversuche mit Erbsen
zwar bereits Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Spur, aber seine Arbeit wurde erst 1900 zufällig wiederentdeckt und mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit bedacht. Mendel hatte die
Erbeinheiten noch „Anlagen“ oder „Factoren“ genannt – erst seit dem Vorschlag des dänischen Forschers William Johannson im Jahr 1909, also vor gerade einmal 100 Jahren, sollten
die Erbeinheiten „Gene“ genannt werden. Ob der Brückenschlag zwischen Evolutionstheorie
und Genetik tatsächlich gelungen wäre, wenn Darwin damals auf den erbsenkreuzenden
Mendel gestoßen wäre, bleibt Spekulation.
Das Gen als Erbeinheit stellt die Verbindung von Darwins Theorie zur Molekularbiologie und
Genetik dar, wie wir sie heute kennen. Darwins Theorie, die er vor 150 Jahren ausgearbeitet
hat, besticht dadurch, dass sie ebenso plausibel wie universell ist, und durch sie gelingt die
Verknüpfung der großen Zusammenhänge mit den kleinsten Details.
Darwins Äußerung „Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel“ trifft
natürlich auf die Mechanismen der Genetik genau zu. Seine Erkenntnis, dass „ein Körnchen
in der Waage über Leben und Tod eines Individuums“ bestimme, könnte man angesichts
unserer heutigen Kenntnisse als Versuch deuten, die kleinsten Einheiten zu beschreiben, mittels derer Merkmale vererbt werden – diese Einheiten nennen wir heute Gene. Auch wenn
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Darwin diesen Begriff weder kannte noch seine wirkliche Bedeutung erkannte, hat seine Forschung doch den Genbegriff entscheidend geprägt und seine universelle und plausible Theorie
trug zu einem schnellen Wissenstransfer bei.
Ich würde Ihnen die Universalität von Darwins Theorie gerne anhand der hochkonservierten
Hox-Gene veranschaulichen. Die Hox-Gene steuern die frühe Embroynalentwicklung
(Morphogenese) und kommen in Tieren von äußerst unterschiedlichen Gruppen (Fliegen,
Fadenwürmer, Wirbeltiere) vor. Besonders auffällig ist die große Ähnlichkeit der Hox-Gene
in diesen verschiedenen Tiergruppen – man spricht davon, dass eine große Homologie (also
Ähnlichkeit) vorliegt und schließt daraus, dass der letzte gemeinsame Vorfahre dieser Tiergruppen besaß bereits ähnliche Gene besessen haben muss. Mutationen (Variationen) in
diesen Genen (Merkmalen) haben schwerwiegende Folgen für die frühe Entwicklung und
setzen sich deshalb kaum durch, da Mutationen mit Funktionsverlust einhergehen und der
Organismus sich nicht weiterentwickeln kann. Ein anschaulicher Vergleich: Beim Hausbau
wird jedes Fundament nach sehr ähnlichen Prinzipien gebaut – hier ist wenig Spielraum möglich, da allzu große Abweichungen zu einem Funktionsverlust, also der Instabilität des
Fundaments, führen. Was die Anzahl, Größe, Form und Farbe der Fenster betrifft, sind jedoch
unzählige Variationen denkbar. Ähnlich verhält es sich bei Genen – diejenigen Gene, welche
die grundlegensten, die fundamentalsten Merkmale oder Mechanismen verschlüsseln, sind
relativ wenig variabel.
Darwin wusste dies zwar nicht, aber seine Theorie findet auch hier ihre Anwendung und hilft
bei der Klärung unbekannter Zusammenhänge.
Diverse andere Veröffentlichungen
Darwin schrieb 1872 ein Buch über Verhaltensbiologie: „Der Ausdruck der Gefühle bei dem
Menschen und den Tieren“, in dem er einen Bezug zur Evolutionstheorie herstellt und sogar
Beobachtungen am Gesichtsausdruck seiner Kinder mit einbezieht. Er zieht Parallelen zwischen tierischem und menschlichen Verhalten, zum Beispiel bei Angst oder Unsicherheit, und
findet ähnliche physiologische Reaktionen (Zittern).
Zudem veröffentlichte Darwin mehrere Schriften über Botanik: „Über die Einrichtungen zur
Befruchtung Britischer und ausländischer Orchideen durch Insekten und über die günstigen
Erfolge der Wechselbefruchtung“ (1862), „Über die Bewegungen der Schlingpflanzen“
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(1867), „Die Wirkungen der Kreuz- und Selbst-Befruchtung im Pflanzenreich“ (1876), „Die
verschiedenen Blüthenformen an Pflanzen der nämlichen Art“ (1877), „Das Bewegungsvermögen der Pflanzen“ (1880). Dies untermauert erneut die Breite seiner Forschungsaktivitäten.
Eine weitere Frage, mit der Darwin sich über Jahrzehnte hinweg (auch mittels Freilandexperimenten) beschäftigt hatte, behandelte er schließlich in seinem letzten Werk über „Die
Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer“ (1881), worin er die Rolle der
Regenwürmer an der Humusbildung beschreibt. Damit bereitete er der Weg für den Forschungsbereich der Bodenbiologie, nur wenige Monate bevor er im April 1882 im Alter von
73 Jahren starb.
Einige Missverständnisse von Darwins Theorien
1. Sozialdarwinismus – das Recht des Stärkeren
Der sogenannte Sozialdarwinismus kann als das größte Missverständnis der Theorien Darwins bezeichnet werden. Darwin kannte das Wachstumsgesetz des englischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Robert Malthus, der von der Beobachtung ausgeht, dass die Bevölkerung exponenziell ansteigt, während das Nahrungsangebot nur linear wächst. Dadurch
kommt es unweigerlich zu einem Kampf um die vorhandenen Ressourcen, bei dem sich der
Stärkere durchsetzt und die Bevölkerungszahlen müssten unweigerlich durch Krankheit,
Krieg, Verbrechen, Hungersnot oder sonstige Ereignisse verringert werden.
Darwin übernahm zwar diese Idee für seine Evolutionstheorie („struggle for life“), stand
Malthus’ Gesetz jedoch äußerst kritisch gegenüber und zielte keinesfalls darauf ab, ein
„Gesetz des Stärkeren“ zu propagieren. Dies wird beispielsweise durch seine Äußerungen
bezüglich der Sklaverei deutlich, die wohl ein großes Streitthema zwischen ihm und Captain
FitzRoy darstellten: Darwin war politisch liberal eingestellt und verabscheute die Sklaverei
zutiefst.
Darwin hatte selbst mehrfach davor gewarnt, seine Methapher „struggle for existence“ falsch
zu deuten oder zu übersetzen – leider vergeblich. Er war sich der Tragweite seiner Forschung
und des möglichen Missbrauchs durchaus bewusst und erkannte, dass es „über die Zeit seines
Lebens hinaus“ dauern würde, um diesen Missverständnissen zu begegnen.
2. Der Mensch ist das „bessere“ Tier
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Für Darwin war der Evolutionsgedanke keine Verbesserung oder „Höherentwicklung“ zum
Menschen hin. Er sah den Menschen weder als Krone der Schöpfung noch als Krone der
Evolution. Er meinte, man solle niemals sagen „höher“ oder „niedriger“ – obwohl er sich
selbst auch nicht daran hielt –, denn eine Amöbe sei an ihren Lebensraum ebenso gut angepasst wie der Mensch an den seinen. In seinem Notizbuch aus dem Jahr 1837 schreibt er:
Es ist absurd zu sagen, dass ein Tier höher als ein anderes steht. – Wir betrachten jene,
bei denen die Gehirnstrukturen oder auch intellektuellen Fähigkeiten am weitesten entwickelt sind, als die höchsten. – Eine Biene würde diejenigen als die höchsten betrachten,
deren Instinkte so weit entwickelt sind.
Darwin ließ die selbst bis heute noch weitverbreitete starre Unterscheidung zwischen dem
Tier als Instinktwesen und dem Menschen als Intelligenz- und Geistwesen (animal rationale
oder zoon logikon) nicht gelten.
Er geht sogar noch weiter und übt Kritik an der menschlichen Arroganz: „In seiner Arroganz
hält sich der Mensch für ein großes Werk, das des Eingreifens Gottes würdig ist, bescheidner
& ich glaube zutreffend ist die Annahme, dass er aus den Tieren hervorgebracht wurde.“
Ähnlich äußert sich Nietzsche im Antichrist, aber er geht noch weiter: „Wir sind in allen
Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist’, von der
‚Gottheit’ ab. Wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.“
3. Die Evolutionstheorie ist unvereinbar mit dem Glauben an die Existenz Gottes
Die vermutete Spannung zwischen Wissenschaft und Religion bestand für Darwin gar nicht in
der Weise, wie es viele vermuten. Für Darwin stand die Frage nach der Existenz Gottes
schlichtweg außerhalb der Reichweite wissenschaftlicher Untersuchungen.
Durch die Wissenschaftstheorie (den Kreis von Theorie, Deduktion, Empirie und Induktion)
lässt sich die Existenz Gottes jedoch weder beweisen noch widerlegen.
Lässt Darwins Theorie Raum für Glauben?
Darwin war als Forscher äußerst vielseitig. Insbesondere seine Evolutionstheorie besticht
durch ihre Plausibilität (sodass man meint, man hätte auch selbst darauf kommen können) und
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durch ihre Universalität (sodass sie auch heute noch auf zahlreiche Phänomene in Molekularbiologie und Genetik anwendbar ist).
Mit seiner Evolutionstheorie hat Darwin die Menschheit so nachhaltig beeinflusst – man
könnte fast sagen erschüttert – wie kaum ein anderer Forscher vor oder nach ihm. Weshalb
geht uns Darwin so nahe? Sigmund Freud spricht in diesem Zusammenhang von den drei
Kränkungen der naiven Eigenliebe des Menschen.
1. Die kosmologische Kränkung durch Kopernikus
2. Die biologische Kränkung durch Darwin
3. Die psychologische Kränkung durch Freud
Freud zufolge wird die Vorstellung eines anthropozentrischen Weltbilds nach und nach zerstört.
Wenn wir uns von Kopernikus, Darwin oder Freud gekränkt fühlen sollten, besitzen wir vielleicht eben diese Arroganz, vor der Darwin selbst warnte. Vielleicht begehen auch wir den berühmten naturalistischen Fehlschluss und sollten uns die David Humesche „Unableitbarkeit
eines Sollens aus dem Sein“ zu Herzen nehmen. Darwins Theorie ist eine naturwissenschaftliche Theorie, und als solche macht sie keine moralischen Vorgaben.
Die Erkenntnis, dass das Herz Blut durch den Kreislauf pumpt, enthält weder die Aussage, ob
das gut oder schlecht ist, keine moralische Bewertung, ob es so sein soll, und auch keinen
Bezug zu Gott – dennoch betrachten wir diese Erkenntnis nicht als „atheistisch“ oder „Gott
verleugnend“. Wir Menschen entwickeln leicht die „Arroganz“, vor der Darwin selbst warnt,
uns als das Maß aller Dinge zu betrachten.
Der Mensch ist wohl zu entschuldigen, wenn er einigen Stolz darüber empfindet, dass
er, wenn auch nicht durch seine eigenen Anstrengungen, zur Spitze der ganzen organischen Stufenleiter gelangt ist; und die Thatsache, dass er in dieser Weise emporgestiegen ist, statt ursprünglich schon dahin gestellt worden zu sein, kann ihm die Hoffnung verleihen, in der fernen Zukunft eine noch höhere Bestimmung zu haben. […] Wir
müssen indessen anerkennen, wie mir scheint, dass der Mensch mit allen seinen edlen
Eigenschaften, mit der Sympathie, welche er für die Niedrigsten empfindet, mit dem
Wohlwollen, welches er nicht bloss auf andere Menschen, sondern auch auf die niedrigsten lebenden Wesen ausdehnt, mit seinem gottähnlichnen Intellect, welcher in die
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Bewegungen und die Constitution des Sonnensystems eingedrungen ist, mit allen diesen
hohen Kräften doch noch in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel eines niederen Ursprungs trägt.
Vielleicht lehrt uns Darwin nicht zuletzt auch etwas mehr Bescheidenheit – dann müssen wir
seine Theorie auch gar nicht als Kränkung verstehen. Die Evolutionstheorie schließt die Existenz Gottes nicht aus, und wenn wir uns nicht der von Freud unterstellten Kränkung hingeben,
haben wir vielleicht sogar eine Chance, uns auch in der heutigen, ach so aufgeklärten Zeit mit
Fragen des Glaubens und der Moral zu beschäftigen.
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