Paradigmenwechsel in der Geschichte des Islam 613(?)–632: Wirken des Propheten Muhammad (*ca. 570) ur-islamisches Gemeinde-Paradigma 622 Hijra = 1 632–661: »Goldenes Zeitalter«: Medina –Mekka 1. islamisch-christliche Konfrontation: Byzanz »Die vier rechtgeleiteten Kalifen«: 1. Eroberungswelle: 635: Damaskus 638: Jerusalem 639–642: Ägypten / Persien / Kyrenaika Abu Bakr, Umar, Uthman, C Ali C früh-islamisches Kalifats-Paradigma (Sunniten) C 661–750: Umaiyadisches Kalifat: Damaskus 2. Konfrontation: Spanien 2. Eroberungswelle: 711: Spanien, Industal 715: Südrussland 732: Schlacht bei Poitiers arabisches Reichs-Paradigma 750–1258:Abbasidisches Kalifat: Baghdad 8.–11.Jhd.: um 850: 878: 10.Jhd.: 10.–12.Jhd.: 11.Jhd.: 11.–13.Jhd.: 13.Jhd.: ab 1258: 13.–15.Jhd.: Umaiyaden in Spanien Zeugnisse vom Islam in Indonesien u. China Verschwinden des 12. schiitischen Imam Beginnende Islamisierung der Türken in Zentralasien Fatimiden in Ägypten (Azhar-Moschee) Beginn der islamischen Herrschaft in Indien Seldschuken-Reich Ausbreitung mystischer Orden Mongolen- u. Timuriden-Invasionen (-15.Jhd.) Mameluken-Reich Schiiten <—> Sunnitischer Islam 3. Konfrontation: Kreuzzüge Recht (7.–9,Jhd.) Philosophie (9.–12.Jhd.) Mystik (ab 9.Jhd.) al-Gazzali (12.Jhd.) mittelalterliches Weltreligions-Paradigma 4. Konfrontation: Osman. Expansion 16.–19.Jhd.: 3 neue Großreiche: 1453: Ende von Byzanz 1492: Fall von Granada Safawiden-Reich (Schiitisierung Irans): Isfahan Mogulreiche in Indien: Agra-Delhi ModernisierungsParadigma 17.–20.Jhd.: Europäische Gegenoffensive: 1683: 2. erfolglose Belagerung Wiens 1798: Napoleon in Ägypten: erste Kontakte des Islam mit europäischer Wissenschaft 19.Jhd.: Gründung europäischer Kolonien und Protektorate: Indien – Ägypten – Norafrika 1917: Balfour-Erklärung Nach Weltkireg I: 5. Konfrontation: Kolonialismus Panarabismus arabischer Nationalismus Islamischer Traditionalismus Türkische Republik; neue Königreiche Islamischer Modernismus arabischer Sozialismus Zeitgenössisches Paradigma (nach-modern) ? Nach Weltkireg II: Staat Israel; Isl. Rep. Pakistan; Unabhängigkeit islamischer Staaten; Vordringen d. Islam in Afrika Die bleibende Glaubenssubstanz des Islam Die Botschaft: »Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist sein Prophet«. Das entscheidende Offenbarungsereignis: die Besiegelung der bisherigen (christlichen u. jüdischen) durch die dem Propheten widerfahrene Offenbarung. Das unterscheidend Islamische: Der Koran als Gottes Wort und Buch. Das wechselnde Paradigma (Makromodell von Gesellschaft, Religion, Theologie) »eine Gesamtkonstellation von Überzeugungen, Werten, Verfahrensweisen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft geteilt werden« (Thomas S. Kuhn). CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Blatt 1 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Der Prophet Muhammad (1) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 280-282) ca. 570 ca. 595 ca. 610 ca. 613 ca. 619 622 September 622 ca. Februar 624 März 624 März 625 April 627 März 628 Januar 630 Okt.-Dez. 630 März 632 8. Juni 632 Geburt Muhammads in Mekka Heirat mit Hadiga Erste Offenbarung Beginn der öffentlichen Verkündigung Tod der Ehefrau und des Onkels Abu Talib Emigration nach Medina: Beginn der Ära der Higra (16. Juli 622 = Tag 1 des Jahres 1 der islamischen Zeitrechnung) Ankunft in Medina Änderung der Gebetsrichtung (qibla) von Jerusalem nach Mekka (Kaaba) Siegreiche Schlacht von Badr Niederlage in der Schlacht von Uhud Belagerung von Medina Waffenstillstandsvertrag von alHudaybya bei Mekka Friedliche Eroberung von Mekka; Sieg über Taif bei Hunayn Kriegszug nach Tabuk Abschiedswallfahrt nach Mekka Tod in Medina Um 570 wird Muhammad aus dem Stamm der Quraish und dem Clan der Hashim in Mekka geboren. Ursprünglich Vollwaise, vom Großvater und dann vom Onkel und Clanoberhaupt aufgezogen, wird er Geschäftsführer einer reichen Kaufmannswitwe und schließlich mit 25 Jahren ihr Ehemann. Große Handelsreisen durch die Wüste bis nach Palästina und Syrien führt er für sie durch. Doch immer öfter zieht er sich aus dem Geschäft in die Einsamkeit des Gebirges zurück. Wichtiger als der CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Handel mit all den Kostbarkeiten werden ihm im Laufe der Jahre Gebet und Meditation. Es gab ja damals im vorislamisch-heidnischen Arabien mit seinen Göttern, Göttersöhnen und -töchtern nicht wenige »Gottsucher« (hanif), die nach einem reineren Glauben verlangten, dem Glauben an den einen Gott. Und doch welche Überraschung, als der jetzt Vierzigjährige eines Tages auftritt mit der Mitteilung, von Gott Offenbarungen erhalten zu haben! Nur im Familien- und Freundeskreis verkündet er sie. Und hier gewinnt er schließlich eine kleine Gruppe von Gläubigen. Erst mit der Zeit gewinnt er Klarheit darüber, was sein prophetischer Auftrag alles umfaßt. Denn er erhält immer neue Offenbarungen, die er seiner Gefolgschaft vorträgt, rezitiert. Aber als Muhammad die Offenbarungen nach drei Jahren öffentlich verkündet, wird er als »Warner« und »Mahner« fast allgemein abgelehnt, ja, lächerlich gemacht. Und dies aus zwei begreiflichen Gründen: Mitten in der geschäftigen Handelsstadt Mekka an der Weihrauchstraße tritt Muhammad – in einer Zeit der Hochkonjunktur des Karawanenhandels vom Jemen bis nach Gaza und Damaskus – für ein Ethos der Gerechtigkeit ein. Seine Mitbürger konfrontiert er mit dem kommenden Gericht, droht scharfe Strafen im Jenseits an und fordert Umkehr und soziale Solidarität. Bedrohlich für den Egoismus und Materialismus der reichen Kaufleute und Händler! Zweitens kommt hinzu: Muhammad tritt ein für eine Unterwerfung unter den einen und einzigen Gott, den Gerechten und Barmherzigen. Bedrohlich für den Götterkult und den Kommerz um die Kaaba, den ganzen Wallfahrtsbetrieb und damit Mekkas Finanz- und Wirtschaftssystem. Ja, die Einheit und das Prestige seines Stammes, der Blatt 2 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Der Prophet Muhammad (2) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 280-282) Quraish, ist gefährdet. Die soziale und die religiöse Problematik sind nun einmal eng ineinander verwoben. Wirtschaftsleben und Sozialstruktur einerseits und Religion und Moralvorstellungen andererseits bilden ein kaum unterscheidbares Ineinander von Ideen und Institutionen. Trotzdem bildet sich eine muslimische Gemeinde, deren Basis nicht ein bestimmter sozialer Status ist, sondern der gemeinsame Glaube, das Ritualgebet, die endzeitlich bestimmte Frömmigkeit sowie das Ethos der Gerechtigkeit. Ein zehnjähriger bitterer Konflikt ist die Folge. Die Situation des Propheten in Mekka wird schließlich unhaltbar. Seine Frau war gestorben, kurz darauf auch sein Onkel und Beschützer. Ein anderer Onkel, der eine Frau aus dem Muhammad feindlich gesinnten Klan der Umayya geheiratet hat, stellt sich gegen ihn. Die Suche nach einem Zufluchtsort außerhalb seines Stammes in Mekkas Umgebung bleibt erfolglos. Es bleibt nur ein Ausweg: die Emigration, die Hidjra. Im Jahr 622 – das wird später zum Jahr 1 der neuen, islamischen Zeitrechnung – emigriert der Prophet nach Yathrib, das später Medina (alMadina – »Stadt« des Propheten) genannt werden sollte. Medina: weniger wie Mekka eine Stadt des Handels, der Wallfahrten, des Marktes als vielmehr eine Oase der Dattelpalmen und des Getreides, der Landwirtschaft also, wie sie hier effektiv vor allem von jüdischen Stämmen betrieben wird. Hier in Medina aber liegen mehrere Stämme und Sippen miteinander im Streit: Sie brauchen einen Schiedsrichter und Friedensstifter. Aus dieser 300 Kilometer nördlich gelegenen Stadt hatten sich schon früher zur Wallfahrtszeit Männer in Mekka eingefunden, die sich im geheimen mit Muhammad trafen und sich auf seine Botschaft festlegten. In kleinen Gruppen ziehen die Muslime jetzt CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam weg: Auszug aus dem eigenen Stamm und Abbruch der Beziehungen zur eigenen Sippe – um des Glaubens willen! Wahrhaftig, der Übergang in eine andere Welt: Nicht mehr die Stammesverwandtschaft zählt, sondern die Glaubensgemeinschaft, nicht mehr die alten Götter, sondern der eine Gott. Die Gemeinde der Araber wird zur Gemeinde der Muslime. In Medina begründet der Prophet die erste muslimische Gemeinde, die Umma, die der Kern ist der späteren großen muslimischen Gemeinschaft, die bis heute ebenfalls Umma genannt wird. Sie ist von Anfang an beides: religiöse Gemeinschaft und politische Gemeinde. Keine Trennung also von Religion und Staat! Der islamische Staat ist von Haus aus »Theokratie«, »Herrschaft Gottes«. Doch Muhammads Enttäuschung ist groß: Gerade die drei jüdischen Stämme in Medina lehnen seinen Prophetenanspruch ab; er ist für sie kein Prophet. Muhammads Judenbild wendet sich ins Negative. Er zwingt zwei dieser Stämme zur Emigration, den dritten liefert er dem Massaker aus. Auch dies ist ein Charakteristikum des arabischen Propheten: Er ist zugleich Staatsmann und Heerführer. Gegen seinen Heimatstamm führt er sechs Jahre lang Krieg. Im Jahre 630 aber zieht er als Sieger friedlich in Mekka ein und residiert dann wieder in Medina. Hier findet sich das ursprüngliche Modell aller Moscheen. Es ist jenes Haus, das Muhammad selber in Medina bauen ließ: ein quadratischer Hof, von Lehmmauern umgeben, darin zwei Hallen mit Schattendecken, auf Palmenstämmen ruhend, mit einem Zeichen für die Gebetsrichtung nach Mekka und einer einfachen Kanzel; anliegend an der Ostmauer befinden sich Hütten aus Palmenzweigen für den Propheten und seine Frauen. Blatt 3 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die Berufung des Propheten (aus: W. M. Watt, Der Islam, Bd. I, S. 53) »Zuletzt kam unerwartet Die Wahrheit zu ihm und sagte: O Muhammad, du bist der Gesandte Gottes. Der Gesandte Gottes sagte: Ich hatte gestanden, doch ich sank auf meine Knie; dann kroch ich davon, und meine Schultern zitterten; dann betrat ich Hadigas Zimmer und sagte: Hüllet mich ein, hüllet mich ein, bis die Angst von mir gelassen hat. Dann kam er zu mir und sagte: O Muhammad, du bist der Gesandte Gottes. Er (Muhammad) sagte: Ich hatte daran gedacht, mich von einer Felsenklippe herabzustürzen, aber während ich so dachte, erschien er mir und sagte: O Muhammad, ich bin Gabriel, und du bist der Gesandte Gottes. CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Dann sagte er: Trag vor. Ich sagte: Was soll ich vortragen? Er (Muhammad) sagte: Dann nahm er mich und preßte mich dreimal heftig, bis Erschöpfung mich befiel; dann sagte er: Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat. Und ich trug vor. Und ich kam zu Hadiga und sagte: Ich bin voller Angst um mich, und ich erzählte ihr mein Erlebnis. Sie sagte: Freue dich! Bei Gott, niemals wird Gott dich in Schande stürzen; du tust den Deinen Gutes, du sprichst die Wahrheit: du gibst zurück, was man dir anvertraut hat; du erduldest Mühen; du bewirtest den Gast; du hilfst den Helfern der Wahrheit.« Blatt 4 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die Kaaba in Mekka ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ Kubusförmiges rechteckiges Gebäude (10x12 Meter) mit dem berühmten Schwarzen Stein (Basalt oder Lava, möglicherweise meteoritischen Ursprungs). Zur Zeit des Propheten Kult- und Wallfahrtszentrum zahlreicher lokaler und überregionaler Gottheiten. Im Jahre 630 Von Muhammad »gereinigt« und zum »Haus Gottes« erklärt. Seither bedeutendstes Heiligtum des Islam und Ziel der großen Wallfahrt. Gebetsrichtung der Muslime ist jetzt nicht mehr Jerusalem, sondern Mekka. Nach muslimischer Auffassung wurde die Kaaba schon von Abraham und Ismael, ja von Adam (zu Beginn der Schöpfung!) begründet. CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Blatt 5 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Der Koran Sure 1 Die Eröffnung (al-Fatiha) zu Mekka, 7 Verse 1 Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. 2 Lob sei Gott, dem Herrn der Welten (oder: Weltenbewohner), 3 dem Erbarmer, dem Barmherzigen, 4 der Verfügungsgewalt besitzt über den Tag des Gerichtes. 5 Dir dienen wir, und Dich bitten wir um Hilfe. 6 Führe uns den geraden Weg, 7 den Weg derer, die Du begnadet hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen. (Zit. nach: Der Koran, Übersetzung von A. Th. Khoury, Gütersloh 1987) Der Koran (arb. Qur’an = »Rezitationsbuch«) enthält die Botschaft, die Muhammad im Laufe seines prophetischen Wirkens zwischen 610 und 632 verkündet und als Gottes Offenbarung ausgegeben hat. Nach muslimischem Verständnis ist er die Abschrift eines Originals, das bei Gott selber liegt und auf den Propheten herabgekommen ist (vgl. Sure 3,7, 13,39, 43,2-4, 56,77-80, 85,20-21). Muhammads Botschaften waren anfangs nicht schriftlich fixiert; sie wurden zunächst auswendig gelernt und im Gottesdienst rezitiert. Der Prophet selber soll weder schreiben noch lesen gekonnt haben (angeblicher Beweis dafür, daß ihm die Offenbarungen unmittlbar vom Erzengel Gabriel eingegeben wurden). Einige seiner Begleiter bemühten sich aber, Teile seiner Botschaft auf Zetteln, Holzstücken, Palmblättern, Leder, Seidentüchern, Schulterknochen etc. aufzuschreiben. CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Nach der Wanderung von Mekka nach Medina (622) betraute Muhammad Schreiber mit der Aufgabe, seine Botschaft schriftlich zu fixieren. Die erste Urausgabe des Koran ist der Überlieferung zufolge unter dem Kalifen Umar (634-644) angefertigt worden; sie ist die Grundlage aller späteren Fassungen des Koran. Der Koran beinhaltet ungefähr dieselbe Textmenge wie das Neue Testament. Er ist aufgeteilt in 114 Kapitel (Suren), von verschiedener Länge. Zur Reziation während des Fastenmonats Ramadan ist der Koran in 30 etwa gleiche Teile aufgeteilt: ein Teil für jeden Tag. Die Suren umfassen insgesamt 6.348 Verse. Mit Ausnahme der Eröffnungssure (fatiha = »Eröffnung«), einem kurzen Gebet, entspricht die Reihenfolge der Suren in etwa ihrer Länge: Sure 2 ist die längste, die letzten Suren sind die kürzesten. Die langen Suren sind in der Regel der späteren Periode von Muhammads Wirken zuzuordnen: die jüngeren Suren finden sich also eher am Anfang des Koran, die älteren (kürzeren) eher am Ende. Jede Sure trägt eine Überschrift, die folgende Elemente beinhaltet: 1. den Titel, der aus einem beliebigen markanten Begriff der Sure besteht (»Die Frauen«, »Die Kuh« etc.) und der keine Rückschlüsse auf ihren deren eigentlichen Inhalt zuläßt; 2. die Gebetsformel (basmala): »Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen«; 3. die Angabe, ob die Sure in Mekka oder Medina geoffenbart wurde; 4. die Anzahl ihrer Verse; 5. manchmal Anmerkungen zu Stellen, deren Überlieferung zweifelhaft ist. (Vgl. A. Th. Khoury, Art. Koran, in: Islam-Lexikon, hrsg. v. A. Th. Khoury – L. Hagemann – P. Heine, Bd. II, Freiburg 1991) Blatt 6 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die Fünf Säulen des Islam Das Glaubensbekenntnis (shahada) Das Fasten (saum) »Ich bekenne, daß es keinen Gott außer Gott gibt und daß Muahmmad der Gesandte Gottes ist.« »Der Monat Ramadan ist es, in dem der Koran herabgesandt wurde als Rechtleitung für die Menschen … Wer nun von euch in dem Monat anwesend ist, der soll in ihm fasten. Und wer krank ist oder sich auf einer Reise befindet, für den gilt eine Anzahl anderer Tage.« (Sure 2,185) Das tägliche Ritualgebet (salat) »Preis sei Gott, wenn ihr den Abend und wenn ihr den Morgen erreicht! Und Lob sei Ihm in den Himmeln und auf der Erde, am Abend, und wenn ihr den Mittag erreicht!« (Sure 30,17-18) Die Armenabgabe (zakat, sadaqa) »Sie fragen dich, was sie spenden sollen. Sprich: Das Entbehrliche.« (Sure 2,219) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Die Wallfahrt nach Mekka (hadjj) »Das erste Haus, das für die Menschen errichtet wurde, ist gewiß dasjenige in Mekka … Und Gott hat den Menschen die Pflicht zur Wallfahrt nach dem Haus auferlegt, allen, die dazu eine Möglichkeit finden.« (Sure 3,96-97) Blatt 7 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die schönsten Namen Gottes (nach: Abu Hurayra, Tirmidhi) GOTT Der Erbarmer, der Barmherzige, Der König, der Heilige, der Inbegriff des Friedens, Der Stifter der Sicherheit, der alles fest in der Hand hat. Der Gewaltige, der Stolze. Der Schöpfer, der Erschaffer, der Bildner (Koran, Sure 59,22-23). Der voller Vergebung ist (38,66; 39,5; 40,42). Der bezwingende Macht besitzt (12,39; 13,16; 14,48). Der Freigebige (3,8: 38,9.35), der Unterhalt beschert (51,58). Der wahrhaft richtet, der Bescheid weiß (34,26). Der bemessen zuteilt, der großzügig zuteilt (2,245). Der niedrig macht, der erhöht (56,3). Der Macht verleiht, der erniedrigt (3,26). Der alles hört, der alles sieht (17,1; 40,20.56; 42,11). Der Richter, der Gerechte. Der Feinfühlige, der Kenntnis von allem hat (6,103; 21,63). Der Langmütige (3,105), der Majestätische (2,255). Der voller Vergebung ist, der sich erkenntlich zeigt (35,30.34; 42,11). Der Erhabene, der Große. Der Hüter (11,57; 34,21), der alle Dinge umsorgt und überwacht (4,85), der abrechnet (4,6.68; 33,39). Der Erhabene, der Ehrwürdige (55,27.78). Der Wächter, der bereit ist, zu erhören (11,61). Der alles umfaßt, der Weise (4,130). Der Liebevolle (11,90; 85,14), der der Ehre würdig ist (11,73). Der wiedererweckt. Der Zeuge, der Wahrhaftige, der Sachwalter. Der Starke, der Feste. CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Der Freund, der des Lobes würdig ist, der (alles) erfaßt. Der (die Schöpfung) am Anfang macht, der (sie) wiederholt (85,13; 10,4.34; 39,19). Der lebendig macht, der sterben läßt (3,156; 15,23). Der Lebendige, der Beständige (3,2). Der ins Dasein ruft, der Hochgelobte. Der Eine, der Undurchdringliche (112,2). Der Mächtige, der Allmächtige. Der (die Dinge) vorausschickt, der (sie) zurückstellt. Der Erste, der Letzte, der Sichtbare, der Verborgene (57,3). Der Schutzherr (13,11). Der Transzendente (13,9). Der Gütige. Der sich gnädig zuwendet (2,37.54.128). Der sich rächt (32,22; 43,41; 44,16). Der voller Verzeihung ist (4,43.99.149 usw.), der Mitleid hat (2,143; 24,20). Der über die Königsherrschaft verfügt (3,26). Der Erhabenheit und Ehrwürdigkeit besitzt (55,27.78). Der gerecht handelt, der versammelt. Der auf niemanden angewiesen ist (2,263; 10,68), der reich macht. Der (die Dinge) abwehrt (oder: der Schutz gewährt). Der Schaden bringt, der Nutzen bringt. Das Licht, der rechtleitet. Der Schöpfer ohnegleichen (2,117; 6,101). Der Bestand hat, der alles erbt (15,23). Der den rechten Weg weist (oder: Der zum rechten Wandel führt). Der voller Geduld ist. (in: A. Th. Khoury, Der Koran. Arabisch – Deutsch, Bd. I, Gütersloh 1990, S. 150-151) Blatt 8 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Kalligraphie: Allah und Muhammad (nach: H. Küng, Spurensuche, S. 277) M A H L A L M A D H Muhammad CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Allah Blatt 9 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Das Ritualgebet Alle Muslime sollen fünfmal täglich zu bestimmten Zeiten das Gebet vollziehen, möglichst in der Gruppe, öffentlich aufgefordert vom Gebetsrufer, dem Muezzin: ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ Anschließend werden weitere Koranstellen rezitiert. Es folgt die Verbeugung und der erneute Lobpreis Gottes. »Gott ist größer.« »Preis sei meinem Herrn, dem Majestätischen.« »Gott erhört den, der ihn lobt.« »Gott, unser Herr, Lob sei Dir!« am Morgen, am Mittag, am Nachmittag, bei Sonnenuntergang, am Abend. Das Gebet ist genau festgelegt in seinem Ablauf. Jeder Muslim kann dabei als Vorbeter, als Imam, auftreten. Vor dem Gebet bedarf es der rituellen Reinigung, Waschen des Gesichts, der Hände, Unterarme und Füße: zur Beseitung von Verunreinigung durch Notdurft, Geschlechtsverkehr, Menstruation und Schlaf. Symbolisch dient sie auch der inneren Reinheit: der inneren Ruhe, der Reue und der Abkehr von Sünde. Der Ablauf Als Zeichen seiner totalen Hingabe an Gott, arabisch »Islam«, kniet dann der Beter. Er legt seine Stirn auf den Boden und preist Gott erneut. Die Niederwerfung wird mehrmals wiederholt, weitere Gebete können hinzugefügt werden. »Gott ist größer.« »Preis sei meinem Herrn, dem Höchsten!« »Gott ist größer.« »Mein Gott, vergib mir, erbarme dich meiner, leite mich recht, bewahre mich und gib mir meinen Lebensunterhalt.« Das Gebet endet schließlich mit dem Friedensgruß. Zum Gebet muß sich der Betende zur heiligen Moschee nach Mekka ausrichten. Er beginnt mit dem Ausruf »Gott ist größer«; dann folgt der Lobpreis Gottes und die Eröffnungssure des Koran (1,1-7): »Der Friede sei über euch und die Barmherzigkeit Gottes!« »Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, der Verfügungsgewalt besitzt über den Tag des Gerichtes. Dir dienen wir, und Dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, die Du begnadet hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen.« CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Blatt 10 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die große Wallfahrt (hadjj) »Das erste Haus, das für die Menschen errichtet wurde, ist gewiß dasjenige in Mekka … Und Gott hat den Menschen die Pflicht zur Wallfahrt nach dem Haus auferlegt, allen, die dazu eine Möglichkeit finden.« Zumindest einmal im Leben soll sich der Muslim über mehrere Tage von der Welt ab- und ganz Gott zuwenden: Mit dem Hadjj, der großen Wallfahrt nach Mekka. ◗ Nachdem sich die Pilger durch Waschungen und Anlegen einfacher Kleidung in den Weihezustand gebracht haben, beginnt die Pilgerfahrt mit der achtfachen Umrundung der Kaaba. ◗ Nach dem siebenfachen Lauf zwischen den Hügeln Safa und Marwa – in Erinnerung an Hagars Suche nach Wasser für ihren Sohn Ismael – sammeln sich die Pilger zum Gebet in der großen Moschee. ◗ Zentraler Ritus – obligatorisch am 9. Tag der Pilgerfahrt – ist der Besuch des Gnadenberges Rahma zur Vergebung der Sünden. ◗ An den folgenden Tagen erfolgt die symbolische Steinigung des Teufels – als Steinsäulen dargestellt. ◗ In Gedenken an das Opfer Abrahams finden anschließend Tieropfer statt: Hunderttausenden von Opfertieren für Millionen von Pilgern werden mit Blick nach Mekka die Kehlen durchgeschnitten. ◗ Die Pilgerfahrt endet mit dem erneuten Umschreiten der Kaaba und dem Schlußgebet in der großen Moschee. (Sure 3,96-97) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Blatt 11 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Das gemeinsame Grundethos von Juden, Christen und Muslimen (aus: H. Küng, Das Christentum, S. 56) Das gemeinsame Grundethos Der jüdisch-christliche Dekalog (Ex 20,1-21) Der islamische Pflichtenkodex (Sure 17, 22-38) Ich bin der Herr, dein Gott. Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Du sollst keine andern Götter neben mir haben. Setz nicht (dem einen) Gott einen anderen Gott zur Seite. Du sollst Dir kein Gottesbild machen. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen. Und dein Herr hat bestimmt, daß ihr ihm allein dienen sollt. Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heilig haltest. Ehre deinen Vater und deine Mutter. Und zu den Eltern (sollst du) gut sein. Und gib dem Verwandten, was ihm zusteht, ebenso dem Armen und dem, der unterwegs ist. Du sollst nicht töten. Und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! ... Und tötet niemand, den (zu töten) Gott verboten hat. Du sollst nicht ehebrechen. Und laßt euch nicht auf Unzucht ein! Du sollst nicht stehlen. Und tastet das Vermögen der Waise nicht an. Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren nach dem Hause deines Nächsten. Du sollst nicht begehren nach dem Weibe deines Nächsten, nach seinem Sklaven oder Sklavin, nach seinem Rinde oder seinem Esel, nach irgendetwas, was dein Nächster hat. (Übersetzung Zürcher Bibel) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Und erfüllt die Verpflichtung (die ihr eingeht). Und gebt, wenn ihr zumeßt, volles Maß und wägt mit der richtigen Waage! Und geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Und schreite nicht ausgelassen auf der Erde einher! (Übersetzung von Rudi Paret) Blatt 12 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog CD-ROM „Spurensuche“ M ag reb Kairouan Tripolis Tunis Rom Materialienblatt zum Islam Neapel Medina Residenzstadt der Kalifen Eroberungen der Umaiyaden (bis 750) Eroberungen der 4 Kalifen (bis 661) Grenzen des Kalifats 632 s We O stsla Barqa 642 Alexandria Athen wen 638 nr Mekka Aden Basra Bagdad Tiflis e Kufa Medina Jerusalem 635 Aleppo as Damaskus es Ch e ar Aksumitisches Reich Assuan Fustat ch inis t n a z y B Reich Konstantinopel ts n Arabische Eroberungen Fez Tanger Lyon FrankenReich n we la we 711 Jerez Cordoba Toledo Oviedo 732 Poitiers Tours Aachen la ds B Paris n re Sü ulg a h ic ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ Isfahan Sasani denr eich Buchara Samarkand Kabul Arabische Eroberungen (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 291) Blatt 13 von 17 © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Jerusalem – heilige Stadt für Juden, Christen und Muslime (aus H. Küng, Das Judentum, S. 687) Jerusalem Die heilige Stadt dreier Weltreligionen. Ort der Begegnung Abrahams mit Melchisedek und der Bindung seines Sohnes. Die Stadt Davids (seit ca. 1000 v. Chr.) und des Tempels Salomos. Jeruschalajim – die Stadt Israels. Hierosolyma – die Stadt der Christen. Al-Quds – die Stadt der Muslime. Tempelberg: Ort der gnädigen Gegenwart Gottes. Golgota und Auferstehungskirche: Ort des Leidens, Sterbens und der Auferweckung Jesu Christi. Heiliger Felsen: Ort der Entrückung des Propheten Muhammad in den Himmel (632: »Miradsch«). Seit 70/135: Ort der Trauer und Klage über die Zerstörung des Tempels und der Stadt. Seit 30: Heimat der Urgemeinde. Seit 638 islamischer Besitz: Errichtung von Felsendom 691 und Akscha-Moschee – nach Mekka und Medina drittwichtigste Pilgerstätte. 11./12. Jh.: Judenverfolgungen infolge der Kreuzzüge. Kreuzzüge: 1099 Massaker an Juden, orientalischen Christen und Muslimen. Christenverfolgungen: 1099 Einreißen der Auferstehungskirche. 19. Jh.: Verstärkte jüdische Rückwanderung. Einsetzung eines jüdischen Oberrabbinats. 19. Jh.: Errichtung anglikanischer und preußischprotestantischer Kirchen (1841) und eines lateinischen Patriarchats (1847). 19. Jh.: Entwicklung der Stadt aufgrund türkischer Reformen und Erstarken Ägyptens. 1917 Balfour-Erklärung: »nationales Heim in Palästina« zugesagt. 1920 britisches Mandatsgebiet. 1918 Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und Ende muslimischer politischer Oberhoheit. 1948 Gründung des Staates Israel: Teilung der Stadt.1967 israelische Eroberung der Altstadt und des Ostens der Stadt. 1964 Treffen Papst Pauls VI. und des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras. Nach 1948: Fünf jüdischarabische Kriege: Teilung und Verlust der Stadt. Stadt der Verheißung: Ziel jüdischer Sehnsucht: Ende aller Zerstreuung und Ort messianischer Vollendung. Stadt der Verheißung: das »irdische Jerusalem« Vorbild des »himmlischen Jerusalem«. Ort der Wiederkunft Christi. Stadt der Verheißung: Ort des Endgerichts und der Öffnung des Tores zum Paradies. CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Blatt 14 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die Sunna (Hadith) Neben dem Koran ist die Sunna die zweite Hauptquelle des Islam. Es ist die Überlieferung des »Weges« (sunna ) des Propheten: Berichte und Erzählungen (hadith) verschiedener Gewährsleute über »die Art und Weise, wie Muhammad inmitten seiner Gemeinde lebte und seine Pflichten als vorbildlicher Muslim erfüllte, wie er die Gläubigen auf den Wegen Gottes führte und die erforderlichen Regeln festlegte.« Der Hadith enthält folgende Kategorien von Überlieferungen: ◗ Anweisungen, Verordnungen, Feststellungen, Wertung, Stellungnahmen des Propheten zu verschiedenen Fragen. ◗ Verhalten, Handlungsweisen bei der Anwendung bestimmter religiösen Richtlinien. ◗ Haltung gegenüber dem, was seine Gemeinde tat (Billigung, Mißbilligung, Duldung, Empfehlung, Verbote). Wichtigste Hadith-Sammlungen: ◗ Bukhari, Sahih (Bukhari 810-870) ◗ Muslim, Sahih (Muslim 817/821-875) ◗ Abu Dawud, Sunan (Abu Dawud 817-888) ◗ Tirmidhi, Sunan (Tirmidhi 815-892) ◗ Nasa’i, Sunan (Nasa’i 830-915) ◗ Ibn Madja, Sunan (Ibn Madja 824-886) (Vgl. A. Th. Khoury, Art. Hadith, in: Islam-Lexikon, hrsg. v. A. Th. Khoury – L. Hagemann – P. Heine, Bd. II, Freiburg 1991) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Blatt 15 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Der klassische Islam (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 293f) Die frühe Abbasidenzeit (ab 750) – und gleichzeitig im maurischen Spanien die Herrschaft der dorthin geflohenen Umaiyaden von Cordoba – gilt bis heute als die Epoche, in welcher der Islam seine klassische Form erreicht: Arabien ist jetzt wirtschaftlich und politisch peripher, zentral ist Mesopotamien, stark der Einfluß Persiens. Der Islam ist jetzt eine Weltreligion im eigentlichen Sinn. Im Rahmen dieses Weltreligionsparadigmas (P III) gestaltet sich eine spezifisch islamische Kultur aus: Begründet auf dem klassischen Arabisch, auf persischer Lebensart und hellenistischer Philosophie und Wissenschaft, ist sie der frühmittelalterlichen Kultur des christlichen Europas weit voraus. Schon Jahrhunderte vor der Entfaltung des römischen Kirchenrechts und der scholastischen Theologie entwickelt sich die islamische Rechtswissenschaft und dann die theologische Scholastik – beide bücherreich. Islamisches Recht In der frühen Abbasidenzeit formt sich das klassische islamische Recht (fiqh). Damals setzen sich die strengeren »Traditionarier«, die sich für jede Frage auf irgendeine mündliche Prophetenüberlieferung, die höhere »Sunna des Propheten«, berufen, im Prinzip gegen die freieren alten Rechtsschulen durch . Mit der Zeit formieren sich die bis heute bestehenden vier klassischen Rechtsschulen: die strenge malikitische (später auch die hanbalitische) und die großzügigere hanafitische, schließlich die vermittelnde shafiitische. Shafii vor allem sorgt dafür, daß die Tradition zum Universalprinzip erhoben wird, was auf längere Sicht Unbeweglichkeit und Starrheit zur Folge haben muß. Erst jetzt wird das Religionsgesetz, die Scharia, jene CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam Gesamtheit der kanonischen Gesetzesvorschriften, umfassend ausgestaltet und durchstrukturiert. Für traditionell denkende Muslime ist sie bis heute maßgebend. Islamische Theologie Die islamische Theologie (kalam) ist gegenüber dem sakralen Recht zweitrangig, doch erreicht sie in der Abbasidenzeit ebenfalls ihre klassische Form. Eine Schultheologie oder Scholastik entsteht, die sich alle Mühe gibt, das Wesen des Islam der Vernunft gemäß zu erklären. … Früher hatte man gesagt, der Koran sei weder Schöpfer noch geschaffen. Jetzt aber produziert die prononcierte These von der Geschaffenheit des Koran (da nichts Gott gleich sei) die scharfe Gegenthese, der Koran sei »unerschaffen«, »ewig«, »vollkommen«. Und selbst die vom Kalifen Mamun angewandten inquisitorischen Mittel helfen nichts. Am Ende der großen Auseinandersetzung zwischen rationaler Theologie und Traditionswissenschaft um den Vorrang von Offenbarung (Koran und Sunna) oder Vernunft (Philosophie) siegt wie in der Rechtswissenschaft so auch in der Theologie das Traditionsprinzip der HadithGelehrten. Was im 9. Jahrhundert der große Rechtsgelehrte Shafii im islamischen Recht bewirkt hat, das bewirkt im 10. Jahrhundert der große Theologe Ashari in der islamischen Theologie: Er begründet und entfaltet die Position der Traditionsbewahrer mit der rationalen Argumentation der damaligen »Modernen« – nicht unähnlich der Methode des Thomas von Aquin im 13.␣ Jahrhundert, der die traditionelle Theologie Augustins mit den Mitteln der »modernen« aristotelischen Philosophie untermauerte und differenzierte. Blatt 16 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Islamische Mystik: die Sufis (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 296-298) Immer mehr Muslime und Muslimas waren unbefriedigt vom allzu nüchternen Gesetzesstudium und Gesetzestum der Ulama. Lieber folgten sie dem mystischen Pfad. »Mystiker«, arabisch »Sufis« genannt, waren ursprünglich einfach Asketen. Gekleidet waren sie in ein Bußgewand aus grober Wolle, arabisch »suf«, wie dies schon bei christlichen Mönchen üblich war. Oft wurden sie auch die »Armen« genannt: der »Arme« heißt im Arabischen faqir, im Persischen darwesh, wovon die deutschen Worte Fakir und Derwisch stammen. Es waren Einzelpersonen, Männer und Frauen …. Mystik im eigentlichen Sinn jedoch meint mehr als Askese, meint ein Streben nach direkter innerer Erfahrung von Gottes Wirklichkeit. Mystik ist nicht ur-islamisch. Es gibt sie vielmehr erst seit dem späten 9. Jahrhundert, der Abbasidenzeit, bei einzelnen »Freunden Gottes«, die damals noch ein gesellschaftliches Randphänomen bilden. Nicht die Traurigkeit des asketischen Verzichts wird von ihnen gepflegt, sondern Freude, Liebe, Vereinigung mit Gott und Bleiben in Gott zelebriert! … ◗ Zunächst einmal Musik: So wird Brüderlichkeit gepflegt und das Gefühl der Gottesliebe geweckt und gesteigert. ◗ Dann der ritualisierte Tanz: Durch sich intensivierende Bewegung soll die innere Ergriffenheit zum Ausdruck kommen bis hin zur Trance. ◗ Und bei all dem am wichtigsten das Gedenken Gottes, der Dhikr Allah: Unaufhörlich wird Allah angerufen und seine vielen Namen, wird seine Größe und Ewigkeit litaneiartig gepriesen. Alles in allem ein Weg des einzelnen Gläubigen vom islamischen Gesetz (sharia) auf dem mystischen Pfad (tariqa) hin zur Wahrheit (haqiqa), zu Gott: ein inneres Verständnis der Religion, eine CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Islam starke psychologisch orientierte »Wissenschaft vom Inneren«, eine »Lehre von Werken des Herzens«. Die völlige Einheit mit Gott freilich, gar Selbstvergottung kommt für Muslime nicht in Frage; diese letzte Grenze zwischen Mensch und Gott darf nicht überschritten werden, der Respekt vor Gottes Transzendenz nicht verlorengehen. Wohl aber darf Gemeinschaft mit Gott angestrebt werden, um in der Welt ein Leben aus Gott zu führen. So soll das egoistische Streben des Menschen vom Feuer der göttlichen Liebe verwandelt werden. Der Asket, der als arm, faqir, vor Gott gilt, vollzieht asketische Übungen, demonstriert manchmal allerdings auch Messerkünste und Giftschlucken, was einen westlichen Beobachter eher an Jahrmarktattraktionen als an »Wunder« erinnert. Mystischer Hintergrund ist der Gedanke, daß der von Gottes Kraft erfüllte Mensch gegenüber körperlichen Schmerzen unempfindlich werden kann, ja, über wunderwirkende Fähigkeiten verfügt. Erst vom 10. bis 14. Jahrhundert, besonders in der kalifenlosen Konstellation, entwickelt sich die Sufi-Bewegung zu einer Massenbewegung mit eigener Theologie, eigenen religiösen Praktiken und Institutionen. Jetzt bilden sich eigentliche sufische Bruderschaften. Unter einem Scheich als geistlichem Führer sind sie ordensmäßig organisiert, mit Ordensregeln, Ordensoberen, Ordenstracht, auch manchmal Ordensstreitigkeiten. Auf vielen Gebieten überflügeln diese Bruderschaften die Gesetzesschulen. Nach dem Modell der Ribats werden überall sozial-caritativ und missionarisch tätige Sufi-Zentren (Hospiz, Lodge) gebildet, oft ein ganzes Netzwerk. Indien, Indonesien, Schwarzafrika und Albanien sind in dieser Zeit weithin von Sufi-Predigern islamisiert worden. Blatt 17 von 17 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog