Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur... 165 Orsolya Rauzs (Szeged) Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur des letzten Jahrzehnts: neue Thesen, alte Probleme, weitere Forschungsdesiderate 1. Einleitung Die Negation ist ein grundlegender Themenbereich der germanistischen Linguistik, es sind zahlreiche theoretische Beiträge wie auch korpusbezogene Untersuchungen ausgewählter Phänomene auf diesem Gebiet entstanden. Aspekte der Negation werden in allen Lexika der Sprachwissenschaft und Grammatiken, vielen Monographien bzw. Artikeln behandelt, sodass die Negationsliteratur kaum zu überblicken ist (Eroms 2000: 444). Die Heterogenität und Undurchsichtigkeit, die für die Negationsforschung dank der vielfältigen Annäherungsweisen (z.B. pragmatischer Ansatz) in den 1980-90er Jahren kennzeichnend waren (Adamzik 1987: IX-XII, Nussbaumer / Sitta 1986: 58, 81), sind im 21. Jahrhundert immer noch präsent. Im vorliegenden Artikel werden einige zentrale Themen der linguistischen Literatur bezüglich der Negation ab 2000 geschildert, indem ohne Anspruch auf Vollständigkeit ausgewählte Darstellungen herangezogen werden. In diesem Rahmen werden kontrastive und angewandte Arbeiten ausgeklammert. Als Ziel wird gesetzt, den Lesern in die Themenbereiche Einblick zu gewähren, in denen die meisten Diskussionen geführt werden oder im letzten Jahrzehnt neue Thesen präsentiert wurden. Es wird auch versucht aufzuzeigen, welche Forschungsaspekte besonders problematisch sind bzw. in welchen Bereichen noch Untersuchungen nötig wären. 2. Zentrale Themen der Negationsliteratur 2.1. Der Begriff Negation Dass die Negation eine zwar grundlegende, aber komplexe sprachliche Kategorie ist, zeigt, dass sie nicht einheitlich, sondern nach verschiedenen Aspekten jeweils unterschiedlich definiert wird. Nach morpho-syntaktischem Aspekt wird als Negation das Erscheinen von bestimmten Affixen (un-, -los) und Wörtern (nicht, 166 Orsolya Rauzs nie) betrachtet, welche z.B. die Basiseinheit in ihr Gegenteil verkehren, oder mit denen ausgedrückt wird, dass etwas nicht zutrifft (vgl. Duden-Grammatik 2009: 905, Strecker 2007: 565). Problematisch ist diese Bestimmung in den Fällen, wo negative Formen und negative Inhalte sich nicht entsprechen, z.B. bei rhetorischen Fragen (Ist es nicht schön hier?) oder bei der Häufung negativer Elemente (Es ist nicht unvorstellbar.), die eher etwas Positives andeuten. Semantisch betrachtet umfasst die Negation Elemente, die inhaltliche Gegensätze zum Ausdruck bringen, z.B. schön hässlich (Duden-Grammatik 2009: 905). Bei Eisenberg (2006: 219) findet sich eine semantisch-logische Annäherung, die besagt, daß ein Satz f1 die Negation eines Satzes f2 ist genau dann, wenn f1 und f2 immer verschiedene Wahrheitswerte haben. f1 ist wahr, wenn f2 falsch ist und umgekehrt. Demgemäß ist diese Relation symmetrisch. Alle Sätze sind damit zugleich negiert und nicht negiert, denn jeder Satz ist natürlich die Negation von irgendwelchen Sätzen (Eisenberg 2006: 219). Diese Definition kann man zwar als logisch betrachten, ist aber für empirische Untersuchungen wenig brauchbar. Nach Blühdorn (2011) sollen negierte Sätze nach verschiedenen Kriterien semantisch ausdrücken, dass ein Sachverhalt nicht der Fall ist, eine Proposition nicht wahr ist, oder ein Sprechakt [...] im gegebenen Interaktionskontext nicht erwünscht ist (Blühdorn 2011: 10). Pragmatisch-kommunikativ lassen sich alle Äußerungen (auch ohne morpho-syntaktische Negationselemente) als Negationsinstanzen bestimmen, die Ablehnung, Widerspruch, Nichtexistenz oder Ähnliches ausdrücken. Laut Strecker (2007: 565) kann die Negation kommunikativ drei Informationen ausdrücken: Sie kann Gesagtes, soweit es in ihren Skopus fällt, pauschal zurückweisen. Sie kann zusätzlich einen Aspekt des Zurückgewiesenen aufgreifen und ihn als Auslöser der Zurückweisung zu erkennen geben. Sie kann eine Revision des Zurückgewiesenen in Form einer existentiellen Generalisierung zulassen. Zufriedenstellend ist diese Annäherung auch nicht, denn abhängig vom passenden Kontext kann man jede Äußerung als Ablehnung, Widerspruch oder Korrektur auffassen. In der Fachliteratur kommen neben Negation auch die Termini Negierung und Verneinung vor. Meist erscheinen sie als Synonyme, doch einige Wissenschaftler legen bei ihrer Verwendung inhaltliche Unterschiede fest, um dadurch die verschiedenen Aspekte der Negation besser differenzieren zu können. So unterscheiden Helbig und Buscha (2005) Negation als morpho-syntaktische Kategorie von Negierung als kommunikative Kategorie des Zurückweisens, Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur... 167 Verbietens, Verneinens. Bei Engel (2004: 444-447) stehen Negation und Verneinung in einer Menge-Teilmenge-Relation: Negation ist die größere Kategorie mit der Funktion, Sachverhalte allgemein in Abrede zu stellen, die je nachdem unterteilt wird, was gerade in Abrede gestellt wird. Verneinung ist dagegen nur eine der fünf Untergruppen von Negation, bei der das Gegenteil von affirmativen Sätzen angegeben wird. Die Vielfältigkeit der Definitionsversuche ergibt auf der einen Seite ein umfassendes Bild über die Negation. Auf der anderen Seite ist es problematisch, da sie auch dazu führt, dass die Fachliteratur hinsichtlich der theoretischen und empirischen Behandlung der Negation heterogen ist1 und Forschungsergebnisse häufig wenig kompatibel miteinander sind. Das alles hat zum Ergebnis, dass Negation als Kategorie mit ihren Erscheinungsformen immer noch unklar ist, und von jedem selbst für die eigenen Untersuchungs- bzw. Forschungszwecke definiert werden muss (vgl. Eisenberg 2006: 219). 2.2. Klassifizierung der syntaktischen Negationstypen Was die Negationstypen angeht, so werden allgemein Satz- und Sondernegation unterschieden, bei deren Bestimmung man sich auf die Begriffe Skopus und Fokus stützt. Als Skopus wird der Wirkungs- oder Geltungsbereich eines Negationsträgers definiert.2 Unter Fokus wird der Teil eines Satzes verstanden, den 1 2 Das spiegelt sich z.B. auch in der uneinheitlichen Klassifizierung der Negationsmittel wider (vgl. Bußmann 2002: 461, Duden-Grammatik 2009: 905-907, Helbig / Buscha 2005: 544-558): Bestimmte Sprachzeichen werden allgemein als Negationsträger aufgefasst (z.B. Affixe, Konjunktoren, Adverbien), andere werden dagegen nicht in allen Darstellungen aufgenommen (z.B. Antonyme, Wendungen, Konjunktiv II). Unterschiede tauchen auch bei der Einstufung einiger Negationsträger auf: nicht erscheint z.B. sowohl als syntaktisches als auch als lexikalisches Negationsmittel. Um den Skopus festzustellen, werden verschiedene Umformulierungstests herangezogen, wie Es ist nicht der Fall, ... / Es trifft nicht zu, dass ...: Anna hat das Buch leider nicht gelesen. → Es ist leider nicht der Fall, dass Anna das Buch gelesen hat. (Duden-Grammatik 2009: 907, vgl. auch Blühdorn 2011: 2-3). Der Skopus ist der dass-Satz, andere Satzteile des Ausgangssatzes stehen nicht im Geltungsbereich des Negationsmittels. Es gibt Elemente des Satzes, die auf jeden Fall im Skopus stehen, und solche, die immer außerhalb des Skopus liegen (vgl. Eroms 2000: 456-457, Pröll 2011: 440). Nach Blühdorn (2011: 3-5) haben z.B. Zeitangaben und epistemische Angaben Skopus über Negationsmittel, denn negierte Sätze sind wie folgt paraphrasierbar: Nach dem Konzert war Otto nicht müde. → Nach dem Konzert war es nicht der Fall, 168 Orsolya Rauzs man korrigieren sollte, um den Satz zutreffend zu machen. Der Fokusbereich umfasst meist nur einen Teil des Skopus, sie können aber auch den gleichen Umfang haben: (Fokus unterstrichen): Leider hat nicht ein Abgeordneter persönlich geantwortet, sondern die Fraktionen haben sich geäußert. (Duden-Grammatik 2009: 908-909, vgl. auch Pröll 2011: 418). Bei der Satznegation (totale Negation, Verbalklammer-Negation) steht das ganze Prädikat (auch mit anderen Satzteilen zusammen) im Fokus des Negationsträgers: Otto hat glücklicherweise nicht die Schere in den Müll geworfen (sondern den Schraubenzieher in die Schublade gelegt), bei der Sondernegation (Satzgliednegation, partielle Negation, Konstituentennegation, Fokus-Negation, Kontrast-Negation, Wortnegation) umfasst der Fokus der Negation nur ein einzelnes Satzglied oder sogar nur einen einzelnen Bestandteil eines Satzglieds: Otto hat glücklicherweise nicht die Schere in den Müll geworfen (sondern nur Papierfetzen). (Duden-Grammatik 2009: 908-909). Laut Eroms (2000: 457) bezieht sich die Negation dabei auf ein einzelnes Element, eine Paraphrasierung mit Es ist nicht der Fall, ... ist aber auch in diesem Fall möglich. Das Prädikat muss bei Sondernegation affirmativ aufgefasst werden. Diese Art der Negation kann man dank einer Fortsetzung mit sondern / aber oder spezifischer Stellungs- und Intonationsmuster identifizieren (Eisenberg 2006: 220, Eroms 2000: 457). Ein Nachteil der Satznegation-versusSondernegation-Auffassung ist, dass die Unterscheidung vor allem bei nicht oder kein problematisch ist, denn ihre Positionen bei den zwei Negationstypen fallen häufig zusammen, wie z.B. in Otto hat glücklicherweise die Schere nicht in den Müll geworfen (vgl. Duden-Grammatik 2009: 908-909). Zu dieser traditionellen Aufteilung wurden im letzten Jahrzehnt einige Alternativen3 vorgeschlagen: Zemb (2004: 384, 388) weist bezüglich der Begriffe Satznegation und Gliednegation darauf hin, dass die Wörter Satz und (Satz)glied definitorisch ziemlich unklar sind, folglich könnte man z.B. unter 3 dass Otto müde war. (vgl. Blühdorn 2011: 4) oder Offenbar ist Otto nicht müde. → Offenbar ist es nicht wahr, dass es zum Sprechzeitpunkt der Fall ist, dass Otto müde ist. (vgl. Blühdorn 2011: 7). Zu Skopusverhältnissen der Negation bei Modalverben mit Vollverben (z.B. Der Bewerber muss nicht gut Spanisch können.) vgl. Ehrich (2001: 150-151). Die in Strecker (2007) dargestellte Dreier-Gliederung mit pauschaler, kontrastierender und fokussierter Negation wurde schon in der IdS-Grammatik (1997) präsentiert, kann also nicht als neue Alternative erwähnt werden, umso weniger, da auch in früheren Arbeiten zwar innerhalb der Sondernegation eine Unterscheidung zwischen kontrastierender und nicht-kontrastierender Negation gemacht wurde (vgl. Jacobs 1991: 385-386). Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur... 169 Satznegation zweierlei Phänomene verstehen (er spricht nicht und [spricht er?] Nein!). Deswegen ergänzt er die von ihm als negatio bezeichnete Satznegation und die als privatio genannte Satzglied- bzw. Wortnegation mit der recusatio, welche die negative Reaktion auf eine Äußerung (z.B. Nein.) bedeutet (Zemb 2004: 384-385, 389-390). Dieser Vorschlag lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass man Äußerungen nicht nur satzintern negieren kann, und dass Negation häufig als Reaktion im Dialog erscheint. Dieser Aspekt wird bei der Satz-versusSondernegation-Unterscheidung nicht in Betracht gezogen. Blühdorn (2011: 1819) dagegen beschreibt die Satznegation als einen Fall der Konstituentennegation, da der Satz eigentlich die komplexeste syntaktische Konstituente ist. Anhand dieser Auffassung könnte man die zwei traditionellen Negationstypen auf eine Klasse reduzieren, wodurch die Einstufung von problematischen Sätzen mit nicht und kein (s.o.) zumindest auf den ersten Blick gelöst wäre. Jedoch wären die Fokusunterschiede bei ambigen Sätzen auch dann nicht wegzudenken, sodass die morpho-syntaktisch und pragmatisch bedingten Stellungsregularitäten der Negationszeichen nicht viel einfacher beschrieben werden könnten. Bei der Disambiguierung kann bekanntlich die Intonation helfen, jedoch nur begrenzt, da sie im Falle von geschriebenen Texten nicht vorhanden ist. Da wäre es meines Erachtens von Vorteil, wenn die Forscher nicht einzelne, von ihnen selbst kreierte Sätze, sondern längere authentische Texte als Beispiele anführen würden, denn es soll eigentlich aus dem Kontext eindeutig sein, was negiert wird. Eine weitere Lösung wäre, statt schriftlicher Texte mündliche Äußerungen zu analysieren und so zu fundierten Feststellungen zu kommen. 2.3. Die Wortart von nicht Wegen seiner morphologischen und semantischen Eigenheiten (Strecker 2007: 555) ist das meist behandelte Negationsmittel der Negator nicht, wobei vor allem seine Wortartzugehörigkeit zur Debatte steht. Während nicht häufig als Modaladverb (Bußmann 2002: 461, Eisenberg 2006: 219) eingestuft wird, bildet es für viele Linguisten als Negationspartikel eine eigenständige Wortklasse. In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, ob nicht in w-Exklamativsätzen und Entscheidungsfragen als Negationspartikel oder Abtönungs-/Modalpartikel aufzufassen sei. Strecker (2007: 557-560) argumentiert dafür, dass nicht als Negationspartikel zu interpretieren ist, wobei es in verschiedenen Satzmodi (Aussage-, Frage-, Aufforderungs-, Wunsch-, Heische- und Exklamativmodus) auftreten kann. Die Duden-Grammatik (2009: 915), Engel (2004: 132) sowie Helbig und Buscha (2005: 559) bezeichnen nicht als Abtönungspartikel in Ausrufesätzen (Was haben 170 Orsolya Rauzs wir nicht alles zusammen gemacht!) und rhetorischen Fragen (Ist das nicht wunderbar?). Beweis für die Expletivität von nicht ist, dass man solche Fragen mit Ja. beantworten kann, im Vergleich zu nicht-rhetorischen negativen Fragen (z.B. Haben Sie das Geschäft nicht gefunden?), wo man mit Doch. eine positive Tatsache feststellt (Engel 2004: 46, 132). Roguska (2007) unterscheidet aufgrund der Kombination mit alles und der Betonung von nicht Exklamativsätze mit Standardnegation (Wen du NICHT kennst!, Was du alles nicht isst!) und solche mit nicht-negierendem nicht (Wen DU nicht kennst!, Was du nicht alles isst! / Was isst du nicht alles!), wobei nicht alles als Operator interpretiert wird (Roguska 2007: 165). Im zweiten Satztyp soll nicht keine negierende Kraft aufweisen, denn man kann noch einen Negationsträger in den Satz einbauen (Was du nicht alles nicht gelesen hast!), jedoch kein negativ-polares Lexem4 (*Wovon du nicht alles die geringste Ahnung hast!) (Roguska 2007: 125-129, 164). Auch in wieAusrufesätzen (Wie groß sie nicht ist!) lasse sich das nicht nur nicht-negierend auffassen (Roguska 2007: 209). Mir scheint die Modalpartikel-Hypothese fundierter zu sein, denn Modalpartikel signalisieren Sprechereinstellungen oder die vorausgesetzte Einstellung des Gesprächspartners zu der geäußerten Proposition (Molnár 2009: 164). Das nicht in w-Exklamativsätzen und Entscheidungsfragen erfüllt diese Funktion: Eine Frage wie Ist das Baby nicht hübsch? signalisiert die Sprechereinstellung und soll auch die Einstellung des Gesprächspartners determinieren. Daneben wäre es unlogisch, wenn Exklamativsätze wie Was du alles isst!, Was du nicht isst! und Was du nicht alles isst! sowohl ohne, als auch mit nicht als Negationspartikel fast dasselbe bedeuten würden. Im Fall der Fragen könnte die Funktion von nicht in einem größeren Kontext erläutert werden, indem es in Sätzen wie Ist es nicht schön?, Es ist schön, nicht? mit Sätzen wie Es ist schön, nicht wahr / oder etwa nicht / gell? (vgl. Engel 2004: 49) in paradigmatische Relation gesetzt betrachtet würde. Die verschiedenen Formen drücken nämlich meines Erachtens dasselbe aus. Ein weiteres Forschungsdesiderat ist die diachrone Untersuchung von Exklamativ- und Interrogativsätzen, deren Ergebnisse die Herausbildung einer modalen Funktion von nicht untermauern könnten. 4 Negativ-polare Lexeme kommen in abwärtsmonotonen Äußerungen (sog. negativen Kontexten) vor, in denen aus einem Oberbegriff auf Unterbegriffe gefolgert werden kann, aber nicht umgekehrt: Satznegation ist demgemäß abwärtsmonoton, denn Peter mag kein Gemüse. bedeutet zugleich Peter mag keinen Spinat., aus dem zweiten Satz folgt jedoch nicht (zwingend) der erste (vgl. Wouden 1997: 90). Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur... 171 2.4. Diachrone Entwicklungen Im sprachhistorischen Bereich sind die zentralen Themen die Herausbildung des Negationssystems und seine Entwicklungstendenzen, mit deren Beschreibung auch theoretische Fragestellungen verbunden sind. Als Ausgangspunkt dienen folgende unbestrittene Fakten: Im Althochdeutschen war das allgemeine Negationsmittel die Partikel ni (ne, no, na, nu, neo, en), die vor dem finiten Verb stand und mit ihm klitisiert werden konnte (Greule 2000: 1210, Jäger 2005: 227, Wolf 2000: 1355). Sie konnte auch vor Pronomen und Adverbien erscheinen, wobei die topologische Nähe zu diesen Wörtern häufig ebenfalls in Verschmelzungen resultierte, z.B. noh / nih auch nicht + ein: nohein, nihein, ni + wiht etwas, Ding: niwiht, ni + eo immer: nio (Schrodt 2004: 135). Was die syntaktische Verwendung der Negationswörter betrifft, waren die Einfachnegation mit ni und die Mehrfachnegation durch ni + negative Indefinita mit simpler Negationswirkung die meist verwendeten Negationstypen (Jäger 2005: 244, Schrodt 2004: 136). Im Mittelhochdeutschen wurde die Negationspartikel abgeschwächt (ne, en, -n, n-), und zwar nicht nur formal, sondern auch semantisch. Wegen der Abschwächung wurde sie häufig mit eindeutigen Negationswörtern kombiniert, wie negative Adverbien, Pronomen und niht (Jäger 2005: 228, Paul 2007: 391): daz iu nieman niht entuot (Hartmann von Aue zitiert in Paul 2007: 391). Die Negation durch ne + niht wurde zur Norm (Jäger 2005: 228, Wolf 2000: 1356), danach begann die alte Partikel zu verschwinden. Im Frühneuhochdeutschen verlor sie endgültig an Bedeutung, und die anderen Negationswörter übernahmen ihre Funktionsbereiche. Mehrfachnegation ohne nivellierende Wirkung verschwand in der Standardsprache erst im frühen Neuhochdeutschen (Ágel 2000: 1898). Dieser Prozess ist als Jespersens Zyklus bekannt (Jäger 2005: 229, Paul 2007: 389).5 5 Der Zyklus verläuft folgendermaßen (Jäger 2005: 229): Phase 1: Negation wird durch eine Partikel bewirkt. Diese Negationspartikel wird klitisiert und ihr wird ausgeholfen von einem indefiniten Morphem. → Phase 2: Negation wird ausgedrückt mit Klitikon + verstärkendem Morphem. Das Klitikon wird fakultativ und verschwindet. → Phase 3: Negation wird durch das allein gebliebene Morphem ausgedrückt. Es wird klitisiert, und der Zyklus beginnt von vorne. Im Deutschen lief der Prozess folgendermaßen ab (vgl. Donhauser 1996: 201-202): Althochdeutsch: ni + Vfin Spätalthochdeutsch: ni + Vfin + (niwiht) Mittelhochdeutsch: ne/en- + Vfin + niht Frühneuhochdeutsch: (ne) + Vfin + nicht ab dem 16. Jh.: Vfin + nicht 172 Orsolya Rauzs Als neue Interpretationsversuche gelten Beispiele für die Anwendung der Grammatikalisierungstheorie und der Generativen Grammatik auf bestimmte diachrone Phänomene. Die Entwicklung des verbalen Negators nicht wird von Szczepaniak (2008, vgl. auch Breitbarth 2009 und Jäger 2008) als Grammatikalisierungsfall betrachtet: Die althochdeutsche Zusammensetzung niwiht wurde in negativen Kontexten zuerst emphatisch verwendet (nicht irgendein Ding, überhaupt nichts), dann wurde sie ab dem Anfang des Mittelhochdeutschen durch die intensive Verwendung zu einem routinisierten, unmarkierten Wort. Die nominalen Negationswörter (z.B. nichts, niemand, nie, kein) haben sich dank der Abschwächung demgegenüber noch weiter verschmolzen und lexikalisiert (Szczepaniak 2008: 45-53). Nach der generativen Beschreibung von Jespersens Zyklus in Jäger (2008: 147-150) war der ganze Prozess ein Wechsel von der Realisierung der Negation in der Kopfposition zu einer in Spezifizierer-Position nach einer Übergangsphase, in der beide Positionen gefüllt waren. Als eine andere generative Erklärung für den Schwund des ursprünglichen Negators argumentiert Breitbarth (2009: 89-100) dafür, dass er nicht deswegen verschwand, weil er funktional redundant geworden wäre, sondern weil seine durch veränderte Lizenzierungsverhältnisse verursachte Ambiguität in seiner Reanalyse als Polaritätsmarker resultierte. Das soll u.a. beweisen, dass ne/en ab der 2. Phase des Zyklus allein nur in Exzeptivsätzen,6 in den Ergänzungssätzen von Verben negativen Sinnes (s.u.), in Komparativ- und Fragesätzen vorkam, wo es keine negative Kraft mehr gehabt haben soll. Bei der Charakterisierung der verschiedenen Sprachstadien werden in der Fachliteratur der deutschen Sprachgeschichte noch interessante Fälle hervorgehoben, wo Positives und Negatives vertauscht wurden: Als jahrhundertelang konsequent auftretende Beispiele der Vertauschung gelten Konstruktionen mit einer für das heutige Sprachgefühl pleonastischen Negation: In dass-Sätzen war nach Verben negativen Sinnes (verbieten, verhüten, unterlassen, abraten usw.) so eine Negation fakultativ, aber häufig (Paul 2007: 393): daz wil ich widerrâten ..., daz ir mich mit besemen gestrâfet nimmer mêr (Kudrun zitiert in Paul 2007: 393). Noch im früheren Neuhochdeutschen lassen sich ähnliche Belege beobachten, jedoch in abnehmender Häufigkeit. Eine schon verschwundene Negation gab es früher auch in Komparativ- und Superlativsätzen: Du bist schöner als ich nicht. Ein Negationswort kann man auch in Temporalsätzen mit bevor, bis, ehe finden: Ich rede nicht mit dir, bis du dich nicht entschuldigst. 6 Nebensätze, die z.B. im Mittelhochdeutschen ohne Subjunktor und mit Konjunktiv stehen und sich mit es sei denn-Sätzen paraphrasieren lassen. Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur... 173 Diese Subjunktoren ließen / lassen sich aber auch ohne Negation verwenden: Ich konnte nicht einschlafen, bis der Morgen graute. (Duden-Grammatik 2009: 916). Das Vorkommen des Negationszeichens wird folgenderweise geregelt: Beim nicht-negierten Typ besteht eine wenn / sobald / nachdem-Relation zwischen Hauptsatz und Nebensatz, die zeitlich in dieser Reihenfolge aufeinander folgen. Im negierten Fall gibt es Gleichzeitigkeit (solange-Relation) zwischen den zwei Handlungen, und der Nebensatz hat noch eine konditionale Nebenbedeutung (Duden-Grammatik 2009: 916). All die in diesem Absatz aufgezählten Negationserscheinungen scheinen in der gegenwärtigen Negationsliteratur vernachlässigt zu sein, obwohl gerade in diesem Bereich korpusbasierte Untersuchungen und detaillierte Beschreibungen der genauen Entwicklungsprozesse fehlen. Einige Versuche wurden von mir in Bezug auf die redundante Negation bei Verben negativen Sinnes unternommen. Die Faktoren, die dabei als Grundpfeiler eines Erklärungsansatzes zu betrachten wären, sind der syntaktische Integrationsgrad der Nebensätze, der Einfluss des Dialektraumes und der nähe/distanzsprachliche Charakter der Quellentexte (vgl. Rauzs 2009: 152-153, 157161 und Rauzs 2013). 3. Fazit Zusammenfassend lässt sich über die behandelten Bereiche der Negationsliteratur Folgendes sagen: Die Hauptthemen sind in den letzten zehn Jahren die gleichen geblieben wie davor. In allen wurden neue Ideen oder Alternativen zu älteren Theorien veröffentlicht, die jedoch in den meisten Fällen nur zu weiterer Heterogenität der Betrachtungsweisen beitrugen, anstatt die ausgewählten Aspekte der Negation einfacher oder adäquater zu beschreiben. Problematisch ist der in der Fachliteratur herrschende weitgehende Individualismus, wobei fast jeder sein eigenes Modell zur Negation zu entwickeln versucht. Wünschenswert wäre dagegen u.a. eine einheitliche terminologische Basis. Als Mangel vieler synchroner Darstellungen gilt, dass man seine Theorie aufgrund selbst konstruierter kontextentbundener Beispielsätze aufbaut, statt authentische Texte heranzuziehen, was der sprachlichen Realität jedoch besser entsprechen würde. Forschungsdesiderate ergeben sich wie schon erwähnt vor allem in Bezug auf die Wortartbestimmung von nicht und diachrone Phänomene. Daneben gibt es einige Negationsaspekte, die in der neueren Fachliteratur als marginale Themen gelten und auf die im vorliegenden Artikel aus Mangel an umfassenden Arbeiten nicht reflektiert wurde: die Wortbildung, der Zusammenhang zwischen Negation und Intonation sowie die Mehrfachnegation im Gegenwartsdeutschen.7 174 Orsolya Rauzs Literatur Ágel, Vilmos (2000): Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: HSK, S. 1855-1903 Adamzik, Kirsten (1987): Probleme der Negation im Deutschen. Studien zur zeitgenössischen Grammatikographie. Münster: Nodus Publikationen Blühdorn, Hardarik (2011): Faktizität, Wahrheit, Erwünschtheit: Negation, Negationsfokus und Verum-Fokus im Deutschen. http://www1.ids-mannheim.de/fileadmin/ gra/texte/blu_verumfokus.pdf (zuletzt gesehen: 16. 10. 2012) Breitbarth, Anne (2009): A hybrid approach to Jespersens cycle in West Germanic. 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Obwohl der Kontrastakzent in Bußmann (2002: 461) als intonatorisches Negationsmittel aufgefasst wird, wird die Rolle der Prosodie bei den syntaktischen Negationstypen am Rande behandelt (vgl. Duden-Grammatik 2009, Eisenberg 2006, Eroms 2000). Aspekte der Negation in der linguistischen Literatur... 175 HSK = Besch, Werner / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Teilbd. Berlin: de Gruyter (2. vollständig neubearbeitete und erweiterte Auflage, HSK 2.2) Jäger, Agnes (2005): Negation in Old High German. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 24:2, S. 227-262 Jäger, Agnes (2008): History of German Negation. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Molnár, Anna (2009): Grammatikalisierung oder Pragmatisierung?. In: Rita Brdar-Szabó / Elisabeth Knipf-Komlósi / Attila Péteri (Hrsg.): An der Grenze zwischen Grammatik und Pragmatik. 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