Können wir unserem Gedächtnis trauen? Frühe

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Können wir unserem Gedächtnis trauen?
Frühe Traumatisierung im Spannungsfeld
zwischen Erinnerung und Pseudoerinnerung
Dr. med. Rainer Jung
Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie
Trauma-Netzwerk Niedersachsen | 3. Fachtagung in Königslutter am 13. Juni 2013
Authentische Begebenheiten oder Phantasien?
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Authentische Begebenheiten oder Phantasien?
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Kontroverse wissenschaftliche Diskussion und Glaubenskrieg
Jennifer Freyd
Elizabeth Loftus
Judith Herman
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Kontroverse wissenschaftliche Diskussion und Glaubenskrieg
Das hier erwähnte Thema wird seit etwa 20 Jahren nicht nur wissenschaftlich diskutiert, sondern
auch hoch polemisierend und polarisierend ausgefochten.
1992 kam es in den USA auf Initiative des Elternpaares Pamela und Peter Freyd, das durch die
eigene Tochter des Missbrauchs beschuldigt wurde, zur Gründung einer Selbsthilfevereinigung
(FMSF), die im Laufe der Zeit auch Dependancen in anderen Ländern bildete. Kernaussage dieser
Vereinigung: Wiederentdeckte Erinnerungen gibt es nicht; sie sind entweder erlogen oder
therapeutisch suggeriert worden.
Einige Jahre später erschien ein gut verkauftes populärwissenschaftliches Buch: „Secret Survivors“
von Sue Blume, in dem eine Vielzahl unspezifischer seelischer und körperlicher Probleme von
Frauen mit möglicher Weise nicht erinnerbarem frühen sexuellen Missbrauch in Verbindung gebracht werden.
Die drei auf der vorherigen Folie abgebildeten Personen sind Professorinnen und renommierte
Wissenschaftlerinnen im Bereich der Gedächtnis- oder Traumaforschung: Jennifer Freyd zeigte als
junge Frau ihre Eltern wegen sexuellen Missbrauchs an und initiierte dadurch indirekt die Gründung der FMSF. Elizabeth Loftus forscht seit langem über die Suggestibilität der Psyche und wird
gerne als schwere Kritikerin der Validität wiedererlangter Erinnerungen zitiert. Judith Herman,
Begründerin der Konzeption der „Komplexen PTBS“, bezeichnete einmal die FMSF als „Schutzorganisation“ von Kinderschändern.
Ergänzung zur Folie 4
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Interdisziplinäre Fragestellung
und weitere …
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Übersicht

Basiswissen Gedächtnis

Gedächtnis und Trauma

Spektrum der „Recovered” und „False Memories“

Forensische Aspekte

Umgang mit der Ungewissheit
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Gedächtnis: Zentrale Aufgaben
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Gedächtnis: Speichermetapher
 Wachstafel (Platon, ca. 366 v. Chr.)
 Taubenschlag (Platon, ca. 366 v. Chr.)
 Haus (James, 1890)
 Zimmer in einem Haus (Freud, 1924)
 Grammophon (Pear, 1922)
 Wörterbuch (Loftus, 1977)
 Tonband, Datenbank, Computerspeicher …
nach Roediger (1980)
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Gedächtnisforschung
 Pionier der experimentellen
Gedächtnisforschung:
 Hermann Ebbinghaus (1850-1906):
 z. B. (Selbst-)Versuche zu Lernvorgängen;
Vergessenskurve
 Einige weitere Meilensteine:
 Lashley (1929): Gedächtnisfunktionen befinden sich nicht in einem einzigen
Hirnteil, sondern das Gehirn ist als Ganzes beteiligt.
 Bartlett (1932): Gedächtnisprozesse sind eher eine Rekonstruktion als eine
Reproduktion.
 Hebb (1949): Neuroplastizität des Gehirns
 Campbell & Spear (1972): Physiologische infantile Amnesie
 Squire et al. (1987): Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in Subsysteme
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Gedächtnisforschung
 Methoden der Gedächtnisforschung:
 Gedächtnisexperimente an Gesunden und Kranken
 Untersuchungen an strukturell hirngeschädigten Patienten
 Funktionelle Bildgebung (z. B. fMRT und PET)
 Elektrophysiologische Untersuchungen (z. B. EEG und EKP)
 Molekularbiologie
 Computersimulationen
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Gedächtnis: Mehrspeicher-Modell
Information
Sensorische Register
Ultrakurzzeitgedächtnis
(Millisekunden)
Aufmerksamkeit
Wiederholung
Elaborierung
Kurzzeitgedächtnis
Arbeitsgedächtnis
(max. wenige Minuten)
Speicherung
Festigung
Informationsaufnahme
über Sinneskanäle
Filterung:
Wichtig? Bekannt?
Informationsverarbeitung
Abruf
Langzeitgedächtnis
(theoretisch unbegrenzt)
Informationsspeicherung
(in verarbeiteter Form)
Atkinson & Shiffrin (1968)
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Gedächtnis: Mehrspeicher-Modell
Information
Sensorische Register
Ultrakurzzeitgedächtnis
(Millisekunden)
Aufmerksamkeit
Wiederholung
Elaborierung
Kurzzeitgedächtnis
Arbeitsgedächtnis
(max. wenige Minuten)
Speicherung
Festigung
Informationsaufnahme
über Sinneskanäle
Filterung:
Wichtig? Bekannt?
Informationsverarbeitung
Abruf
Langzeitgedächtnis
(theoretisch unbegrenzt)
Informationsspeicherung
(in verarbeiteter Form)
Atkinson & Shiffrin (1968)
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Flaschenhals zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis
 Kurzzeitgedächtnis: Begrenzte Kanalkapazität
Information
 Es können immer nur ca. 7 Informationselemente (+/- 2)
gleichzeitig verarbeitet werden.
 Miller (1956): „The Magical Number Seven …“
 Chunking : Zusammenziehen einzelner Informationselemente zu (höhergradigen) Sinneinheiten
 Ziel: Steigerung der Erinnerungsleistung
 Problem: Kann aber u. U. auf Kosten der Präzision und
der Detailtreue der Informationsübertragung gehen.
 Einspeicherung und Rekonstruktion sind potentiell
störanfällig!
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Differenzierung des Langzeitgedächtnisses
Langzeitgedächtnis
Explizites G.
Deklaratives G.
Wissensgedächtnis
Implizites G.
Nicht-Deklaratives G.
Verhaltensgedächtnis
Semantisches
Gedächtnis
Episodisches
Gedächtnis
Prozedurales
Gedächtnis
Kontextfreies
Welt-Wissen
Erlebte
Ereignisse
Fertigkeiten
Gewohnheiten
(Autobiographie)
dem Bewusstsein zugänglich
und „erzählbar“
aber: infantile Amnesie
vor dem 2.-3. Lebensjahr
Priming
Konditionierung
Nichtassoziatives
Lernen
Bahnungseffekte
Motorische
und
emotionale
Reaktionen
Habituation
Gewöhnung
dem Bewusstsein (eher) nicht zugänglich
Squire (1987), Squire & Zola (1996), Tulving (1995), Markowitsch (2003, 2005)
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Gedächtnis: Repräsentanzen im Gehirn
 Kein statischer Speicher, sondern dynamisches Netzwerk:
 Beteiligung nahezu aller Hirnregionen
 Mit „Gedächtnis verarbeitenden“ Schwerpunktarealen
 Ohne Existenz spezieller neuronaler „Gedächtniszellen“
 Neuroplastizität: Eigenschaft von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen
Hirnarealen, sich in Abhängigkeit von der Verwendung in ihren Eigenschaften
zu verändern (Hebb, 1949)
 Komplexe dynamische biochemische und elektrophysiologische Vorgänge in
den Neuronen
 Verknüpfung bis auf zelluläre und molekulare Ebene
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Gedächtnis: Repräsentanzen im Gehirn
basales
Vorderhirn
präfrontaler
Cortex
mediodorsale
Kerne
 Limbisches System:
 Funktionelle Schnittstelle
zwischen Hirnrinde und
subkortikalen Hirnregionen
 Zentrale Filterstrukturen für
Gedächtnisbildung und
emotionale Bewertung
 Hippocampus: Wichtigster
Organisator der autobiographischen (expliziten)
Gedächtnisfunktionen
Amygdala
Hippocampus
© Pinel (2007)
inferotemporaler
Cortex
Cerebellum
 Amygdala: Zentrale Schaltstelle
der emotionalen (impliziten)
Gedächtnisfunktionen
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Gedächtnis: weniger Reproduktion, mehr Rekonstruktion
 Vergessen:
 Vergänglichkeit: Verfall nicht benutzter Informationen
 Abblocken: Mangelnder Zugriff auf gespeicherte Informationen
 Geistesabwesenheit: Mangelnde Aufmerksamkeit
 Verzerren:
 Fehlattribution: Verwechseln von Informationsquellen
 Beeinflussbarkeit: Suggestibilität
 Systematischer Fehler: Erinnerungsprägung durch aktuelle Überzeugungen
 Aufdrängen:
 Persistenz: Unfähigkeit, vergessen zu können
Normale Funktionen, nicht zwangsläufig pathologisch!
Schacter (2001): Seven Sins of Memory; Übersetzung nach Myers (2007)
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Übersicht

Basiswissen Gedächtnis
 Gedächtnis und Trauma

Spektrum der „Recovered” und „False Memories“

Forensische Aspekte

Umgang mit der Ungewissheit
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Neurobiologie und -physiologie bei traumatischem Stress
 Physiologische Stressregulation (HHN-Stressachse):
 Ausschüttung von spezifischen Neurotransmittern und Hormonen (u. a.
Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol) mit dem Ziel: Schutz und Anpassung des
Organismus
Hypothalamus
Hypophyse
Nebennierenrinde
© totalpict.com
z. B. Cortisol
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Neurobiologie und -physiologie bei traumatischem Stress
 Emotional hoch besetzte Erlebnisse bleiben in der Regel besser erinnerbar
als neutrale Erlebnisse.
 Der zentrale Fokus bleibt dabei besser erinnerbar als periphere Details.
 Traumatischer Stress kann jedoch Gedächtnisfunktionen
beeinflussen:
 Gefahr komplexer Störungen der physiologischen Regelkreise sowie langfristiger
schädlicher Folgen für das Gehirn:
 Dysregulation der HHN-Stressachse
 Unterfunktion des Hippocampus (Beeinträchtigung der autobiographischen
Gedächtnisspeicherung im expliziten Gedächtnis)
 Übererregung der Amygdala (erhöhte Abspeicherung sensorischer und
emotionaler Details im impliziten Gedächtnis: „heißes Gedächtnis“)
 Mögliche Einflüsse genetischer Unterschiede (Hippocampusgröße?)
Van der Kolk et al. (1996); weiterer Überblick z. B. bei Kapfhammer (2011)
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Traumatischer Stress: Hypermnesie und/oder Amnesie
 Hypermnesie („übermäßige Erinnerung“):
 Einspeicherung der sensorischen Eindrücke der schlimmsten Momente in
unverarbeiteter und fragmentierter „Rohform“
 Persistenz dieser „heißen“ sensorischen Eindrücke („Hot Spots“)
 Entladung durch Flashbacks: unkontrollierbare Triggerung „heißer“ Erinnerungen
 Flashbacks: oft Mischungen von realen und befürchteten Erlebnissen („Worst FearSzenario“; Schacter, 1999)
 Mangelnde Ausbildung und Abspeicherung von Narrativen (zusammenhängende
erzählbare Erinnerungsbilder)
 Dissoziation zwischen explizitem und implizitem Gedächtnissystem
 Ausbildung eines autonomen „Furcht-Netzwerkes“
Metapher des „Unaufgeräumten Schrankes“ oder des „Erinnerungs-Abszesses“
Van der Kolk et al. (1996 u. 2000); Kirsch (2001); weiterer Überblick bei Kapfhammer (2011)
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Traumatischer Stress: Hypermnesie und/oder Amnesie
 Amnesie (fehlende oder lückenhafte Erinnerung):
 Dissoziative oder psychogene Amnesie (Janet, ca. 1900): Vergessen wichtiger
persönlicher Informationen; nicht erklärbar durch gewöhnliche Vergesslichkeit,
körperliche Erkrankungen oder Intoxikationen
 Spezialfall: (peri-)traumatische dissoziative Amnesie
 Meistens kurz andauernd, selektiv, rasch remittierend, einmalig
 Beschrieben und belegt werden allerdings auch Fälle persistierender dissoziativer
Amnesien, tlw. mehrere Jahre oder ganze Lebensabschnitte betreffend, u. U. mit
generalisierendem Charakter.
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Persistierende dissoziative Amnesie
 Coons & Milstein (1992)
 Henning-Fast et al. (2008)
 Markowitsch et al. (1997)
 Brand et al. (2009)
 Repetto et al. (2007)
 Reinhold et al. (2009)
 Wenige Studien auf der Grundlage zuverlässiger Anamnesen und
neuropsychologischer und bildgebender Verfahren
 Jeweils nur kleine Fallzahlen
 Keine klaren Aussagen zur Häufigkeit (überwiegende Auffassung: „selten“)
 Aber: Wenn vorhanden, dann auffallend hohe Assoziation zu biographisch
frühen und wiederholten Traumaerfahrungen sowie weiteren schweren
psychosozialen Problemen
Cave: Keine Monokausalität zwischen Dissoziation und Trauma!
Übersicht bei Eckhardt-Henn & Hoffmann (2004); Kapfhammer (2011)
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Persistierende dissoziative Amnesie
 Weitere Bedingungsfaktoren:
 Differentialdiagnostische Überlegungen:
 Intentionales Vergessen-Wollen
 Folge von Scham („Nicht-darüber-sprechen-Wollen“)
 Folge von Bedrohung / Einschüchterung („Nicht-darüber-sprechen-Dürfen“)
 Exakte (klinische) Differenzierung oftmals nicht möglich
 Psychosoziale Rahmenbedingungen:
 Junges Lebensalter, familiäre Vernachlässigung, weitere Traumatisierungen?
 Förderung rascheren Vergessens durch Schweige-Gebot bzw. Rede-Tabu
Eckhardt-Henn & Hoffmann (2004); Fiedler (2004)
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Übersicht

Basiswissen Gedächtnis

Gedächtnis und Trauma
 Spektrum der „Recovered” und „False Memories“

Forensische Aspekte

Umgang mit der Ungewissheit
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Erst „Vergessen“, dann „Wiedererinnern“
 Herman & Schatzow (1987)
 Williams (1994)
 Widom & Morris (1997)
 Della Femina et al. (1990)
 Elliot & Briere (1995)
 Williams & Banyard (1997)
 Briere & Conte (1993)
 Scheflin & Brown (1996)
 Schneider & Sack (2000)
 Loftus et al. (1994)
 Elliot (1997)
 Unklare Angaben in Studien zur Häufigkeit und Ausprägung:
 Anfängliches Nicht-Erinnern bei Missbrauchsopfern: 19-77 % (Ergebnisse aus
vorwiegend retrospektiven klinischen Studien)
 Erinnerungen an allgemeine Aspekte, aber keine Erinnerungen an Details, wenn
Ereignis > 10 Jahre zurückliegend (Ergebnisse aus prospektiven Studien von
Della Femina et al. 1990; Williams, 1994)
 Insgesamt nur geringe Vergleichbarkeit der Studien (kritisierbare Designs)
Übersicht bei: Eckhardt-Henn & Hoffmann (2004); Fiedler (2004); Stang & Sachsse (2007)
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Erst „Vergessen“, dann „Wiedererinnern“
 Recovered Memories – mögliche Ursachen:
 Mobilisierung (Triggerung) durch Situationen, die hohe Ähnlichkeit mit dem
ursprünglichen Schlüsselerlebnis aufweisen (state dependent learning), z. B. durch:
 Erneutes Erleben einer vergleichbaren Situation (Retraumatisierung)
 Gespräche oder Medienberichte über kritische Themen
 Hierbei Möglichkeit der Modifikation des Schlüsselerlebnisses durch
Überarbeitungsprozesse (Schacter, 2001)
 Eher nicht durch (schädliche) Einflüsse einer Psychotherapie erklärbar (Daten?)
 False Memories - mögliche Ursachen:
 Intentionale Lüge
 Suggestion (Eigen- oder Fremdsuggestion, absichtlich oder unabsichtlich)
 Körperliche Erkrankungen und Intoxikationen
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Suggestion
 Falsche Erinnerungen können „implantiert“ werden:
 Eine Vielzahl von Laborversuchen belegt, dass Erinnerungen von außen und
von innen beeinflusst und verzerrt werden können.
 Das individuelle Ausmaß der Suggestibilität hängt von verschiedenen Faktoren
ab (z. B. Lebensalter, Ich-strukturelle Störungen).
 Kontroverse Diskussion: Sind Laborversuche mit realen schweren Traumatisierungen vergleichbar?
 Beispiele aus der Fachliteratur:
 Piaget (1962): Kindheitserinnerung an seine versuchte Entführung
 Loftus & Coan (1994), Hyman et al. (1995): „Lost-in-a-Shopping-MallExperiment“
Übersicht bei: Stoffels & Ernst (2002); Eckhardt-Henn & Hoffmann (2004)
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Suggestion
 Beispiele aus den allgemeinen Medien:
 Der Fall „Binjamin Wilkomirski / Bruno Dössekker“ (Buch „Bruchstücke –
Aus einer Kindheit 1939-1948“, Suhrkamp 1995)
 Flora Rheta Schreiber, Buch „Sybil“ (Neue Schweizer Bibliothek 1973)
Folge von
Autosuggestion
Folge von
Heterosuggestion
Stoffels & Ernst (2002); Pross (2005); Knecht (2005, 2006)
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Suggestion: Faszinosum des Trauma-Themas
 Faszinosum Opferstatus:
 Christlich-abendländisches Phänomen (?)
 Soziokultureller Wandel: „Opfer haben Hochkultur“ (Giesen in der FAZ, 2002)
 Reduktion der komplexen Wirklichkeit auf Gut und Böse
 Aufmerksamkeit, Zuwendung, Mitleid, Entschädigung, Bewunderung
 Traumaopfer: Neue Identität und Gruppensolidarität
 „Traumatherapie ist der Rolls-Royce der Psychotherapie.“
Stoffels & Ernst (2002); Pross (2005); Rudolf (2012)
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Übersicht

Grundfunktionen des Gedächtnisses

Gedächtnis und Trauma

Spektrum der „Recovered” und „False Memories“
 Forensische Aspekte

Umgang mit der Ungewissheit
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Glaubhaftigkeitsbegutachtung
 Hypothesengeleitete und systematische Prüfung:
 Beruht die Aussage auf einem tatsächlichen Erlebnishintergrund?
 Oder: Beruht die Aussage auf einer intentionalen Falschaussage?
 Oder: Ist die Aussage Folge auto- oder heterosuggestiver Einflüsse?
 Ausgangspunkt („Nullhypothese“): „Die Aussage ist unwahr.“
 Inhaltsanalytischer Ansatz:
 Tatsächlich erlebte Aussagen weisen bestimmte Elemente auf, die sich in
unwahren Darstellungen nicht finden.
 „Undeutsch-Hypothese“ (Undeutsch, 1967; Steller, 1989)
 Systematische Suche nach Merkmalen glaubhafter Aussagen (Realkennzeichen)
 Überprüfung von Aussagequalität, Aussageentstehung und Aussagekonstanz
Volbert, Steller & Galow (2010)
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Stellenwert neurophysiologischer Untersuchungen
 Derzeit noch keine forensische oder klinische Anwendbarkeit
 Erste Hinweise auf mögliche Differenzierbarkeit von Aussagen mittels
„Ereigniskorrelierter Potentiale“ (EKP) im EEG und funktioneller Bildgebung
 Sehr aufwendige und fehlerträchtige Untersuchungen
 Noch auf der Ebene von Grundlagenforschung
Übersicht bei: Galow & Tamm (2008); Markowitsch & Kühnel (2009); Volbert, Steller & Galow (2010)
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Polygraphische Untersuchung: „Lügendetektor“
Erstaunliches Urteil des Amtsgerichts Bautzen (April 2013)
(forensisch-psychologische sowie juristische Bewertung derzeit offen)
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Übersicht

Grundfunktionen des Gedächtnisses

Gedächtnis und Trauma

Spektrum der „Recovered” und „False Memories“

Forensische Aspekte
 Umgang mit der Ungewissheit
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Umgang mit der Ungewissheit: Klinische Kriterienlisten
 Haaken (1995)
 Brenneis (1998)
 Stoffels & Ernst (2002)
 Friedman (1997)
 Porter et al. (1999)
 Volbert (2004)
 Brandon et al. (1998)
 Birck (2002)
 Stompe (2011)
 Bewertung:
 Geringe Vergleichbarkeit der Publikationen
 Unterschiedlicher Umfang (2-16 Items)
 Unterschiedliche Zielgruppen
 Tlw. sehr schulenbezogene, subjektiv anmutende Konzeptionen ohne Belege
 Tlw. tendenziöser und dogmatischer Charakter
 Gut zu kennen, aber nur sehr vorsichtig anzuwenden
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Umgang mit der Ungewissheit: Klinische Kriterienlisten
 Haaken (1995)
 Brenneis (1998)
 Stoffels & Ernst (2002)
 Friedman (1997)
 Porter et al. (1999)
 Volbert (2004)
 Brandon et al. (1998)
 Birck (2002)
 Stompe (2011)
 Extrahierte Kernaussagen: Vorsicht ist geboten bei
 Aktiver Suche nach Erinnerungen an anfangs nicht zugängliche Erlebnisse
 Hohem Erwartungsdruck
 Stattgefundener Erinnerungsförderung durch Einsatz suggestiver Verfahren
 Bericht von immer facettenreicher ausgestaltetem Erinnerungsmaterial
 Bericht expliziter Erinnerungen vor dem 2. Lebensjahr
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Umgang mit der Ungewissheit: Leitsätze
 Traumatische Erfahrungen werden gewöhnlich vollständig oder
zumindest teilweise erinnert.
 Traumatische Erfahrungen können auch vergessen und erst später
wieder erinnert werden!
 Anerkenne dabei, dass das Gedächtnis rekonstruktiv arbeitet!
 Denke an die „Sieben Sünden des Gedächtnisses“!
 Beachte den potentiell suggestiven Charakter des therapeutischen
Settings!
 Beachte den potentiell suggestiven Charakter einer vermuteten
Traumatisierung!
 Beachte den potentiellen Selbstverführungscharakter der Helfer- bzw.
der Therapeutenrolle!
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Umgang mit der Ungewissheit: Leitsätze
 Leite niemals aus aktuellen körperlichen und psychischen Symptomen
(einschl. Trauminhalten) eine Missbrauchserfahrung ab!
 Vermeide suggestive Interventionen:
 Keine geschlossenen Fragetechniken
 Keine hypnotischen Techniken zur Erinnerungsmobilisierung
 Vorsicht bei der Interpretation von Störeffekten bei
Imaginationsübungen
 Erhebe eine umfangreiche Anamnese!
 Denke differentialdiagnostisch in alle Richtungen!
 Empfehle keine strafrechtlichen Schritte ohne konkrete Anhaltspunkte!
 Empfehle Betroffenenliteratur nur, wenn Du Sie selber kennst!
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Umgang mit der Ungewissheit: Leitsätze
 Anerkenne die Qual der Ungewissheit und benenne den Segen des
Nicht-Erinnern-Könnens!
 Beziehe eine klare und begrenzende Position, wenn Dein Patient
aufdeckende Therapie wünscht!
 Bilde Dich regelmäßig weiter und nutze Intervision und Supervision!
 Beachte die fachlichen und ethischen Grundsätze Deines Fachgebietes!
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Zu guter Letzt …
„Glück ist nichts weiter
als Gesundheit und ein
schlechtes Gedächtnis.“
Albert Schweitzer (1875 – 1965)
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Klinik für
Allgemeinpsychiatrie und
Psychotherapie
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
- Literaturverzeichnis beim Verfasser Kontakt:
Dr. med. Rainer Jung
Ltd. Oberarzt
Tel. 05353 – 90 0
[email protected]
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