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Zentrum für Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
HEFT 121
DAS ULMER MODELL MEDIZINETHISCHER LEHRE
SEQUENZIERTE FALLDISKUSSION FÜR DIE PRAXISNAHE VERMITTLUNG VON
MEDIZINETHISCHER KOMPETENZ (ETHIKFÄHIGKEIT)
Gerlinde Sponholz, Gebhard Allert, Frieder Keller,
Diana Meier – Allmendinger, Helmut Baitsch
Dr. rer. biol. hum Dr. med. Gerlinde Sponholz, Abt. Rechtsmedizin, Universität Ulm
1
Dr. med. Gebhard Allert, Abt. für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Univ. Ulm,
Prof. Dr. med. Frieder Keller, Sektion Nephrologie, Universität Ulm
Dr. med. Diana Meier - Allmendinger, Psychiatrische Klinik, CH-Rheinau
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Helmut Baitsch, Abt. Medizinische Genetik, Universität Ulm
cand. med. Andreas Uhl, Arbeitskreis Ethik in der Medizin
cand. med. Claudia Lensing, Arbeitskreis Ethik in der Medizin
DAS ULMER MODELL MEDIZINETHISCHER LEHRE
Gerlinde Sponholz, Gebhard Allert, Frieder Keller, Diana Meier – Allmendinger, Helmut
Baitsch:
Sequenzierte Falldiskussion für die praxisnahe Vermittlung von medizinethischer
Kompetenz (Ethikfähigkeit)
1. Lernziel Ethikfähigkeit
2
2. Die Fallmethode und die sequenzierte Fallstudie
7
3. Evaluation, Rückblick und Ausblick
25
Exkurs 1: The moral event (Pellegrino)
27
Exkurs 2: Kommunikative Ethik (Apel, Habermas, Benhabib)
30
Exkurs 3: Dewey und die Folgen: „Learning by doing” und “Clinical Pragmatism”
32
Exkurs 4: Kommunikative Ethik: 25 Stimmen von Lernenden
33
Andreas Uhl, Claudia Lensing:
Perspektiven und Gedanken zur medizin-ethischen Ausbildung
1. Gedanken zur medizinethischen Ausbildung
2. Arbeitskreis Ethik in der Medizin der Universität Ulm
3. Fallbeispiel
4. Erfahrungen und Fazit
41
45
48
51
Herausgeber:
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Herbert Viefhues
Prof. Dr. med. Michael Zenz
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum
Ruhr-Universität
Gebäude GA 3/53
44780 Bochum
TEL (0234) 32 22750/49
FAX +49 234 3214 598
Email: [email protected]
Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/zme/
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des
ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren
verantwortet.
Schutzgebühr:
Bankverbindung:
€ 6,00
Sparkasse Bochum
Kto.Nr. 133 189 035
BLZ: 430 500 01
ISBN 3-931993-02
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DAS ULMER MODELL MEDIZINETHISCHER LEHRE
SEQUENZIERTE FALLDISKUSSION FÜR DIE PRAXISNAHE VERMITTLUNG
VON MEDIZINETHISCHER KOMPETENZ (ETHIKFÄHIGKEIT)
Gerlinde Sponholz, Gebhard Allert, Frieder Keller, Diana Meier – Allmendinger, Helmut
Baitsch
EINLEITUNG
Medizin- "Ethik ist.... nicht ein 'Fach' wie die Physik oder die Jurisprudenz, in denen Experten
verbindliche Auskunft und entsprechende Anweisungen geben können. Sie ist offen und darin
verwundbar, dass ihre Begründungen 'weich' (logisch geurteilt) und auch vielfältig sind und
vor allem, dass im Grunde alle verantwortlichen Menschen eingeladen sind, mitzureden.
Genauer gesagt, darf und soll bei der Medizinethik mitreden, wer 1. zumindest eine klare
Kenntnis der anstehenden Sachfragen hat (was auch ohne Medizinstudium durchaus möglich
ist), 2. die ethische Reife besitzt, verantwortungsvoll und vorurteilsfrei ein komplexes
ethisches Problem (eines Patienten, einer Gesetzgebung, einer Forschungsplanung u.ä.)
anzugehen, 3. bereit ist, für die Folgen seiner ethischen Entscheidung voll einzutreten und die
Verantwortung dafür zu übernehmen" (Ritschl. 1996).
Diese Sätze, von Ritschl (1996) formuliert, könnten als eine übergeordnete
Programmatik für unsere Ulmer Lehr-Lern-Konzeption angesehen werden.
Der Arbeitskreis "Ethik in der Medizin" der Universität Ulm führt seit 1989 im
Ausbildungsprogramm des Medizinstudiums Lehrveranstaltungen durch mit dem Thema
"Ethik in der Medizin im ärztlichen Alltag" (Allert, 1994). Diese Seminare gehören nicht zum
Pflichtprogramm des Studiums, dennoch nimmt mehr als ein Drittel der Studierenden schon
des ersten Studienjahres derzeit an ihnen teil.
Die Probleme und Konflikte der modernen Medizin werden von den von uns befragten
Ärztinnen und Ärzte im Praktikum sowie gleichermaßen von den Studierenden der Medizin
wahrgenommen: 95 % der befragten Ärztinnen und Ärzte im Praktikum (n>420) geben an,
dass sie regelmäßig mit ethischen Konfliktsituationen konfrontiert sind; und mit annähernd
der gleichen Häufigkeit antworten Studierende der Medizin (n>650) der Universitäten
Heidelberg, Mainz und Ulm, dass sie im ärztlichen Alltag ethische Entscheidungskonflikte
regelmäßig zu erwarten haben. Wir müssen uns fragen, ob die jetzt schon als Ärzte tätigen
Kolleginnen und Kollegen angemessen auf die Problem- und Konfliktlösung vorbereitet
worden sind, die Antwort auf diese Frage muss uns Lehrende beschämen: über 75 % der von
uns befragten Ärztinnen und Ärzte im Praktikum geben an, dass sie in ihrem Studium und
gleichermaßen während ihrer bisherigen ärztlichen Tätigkeit nicht gelernt haben und auch
3
nicht entsprechend angeleitet worden sind, angemessen problemlösend mit diesen
Entscheidungskonflikten umzugehen (Sponholz et al. 1991, 1994 und 1997).
Diese Defizite in unserer ärztlichen Aus- und Weiterbildung sind längst bekannt (vgl.
hierzu Heister 1987 sowie den Sammelband "Ethik in der Medizin" herausgegeben von
Schlaudraff 1987). Sie werden seit Jahren angemahnt, die kritischen Stimmen werden immer
zahlreicher: Wissenschaftsrat (1992), Murrhardter Kreis (Robert Bosch 1995) und
Ärztekammern (1996) äußern sich zum Teil fordernd, immer kritisch auf die Defizite
hinweisend. Dennoch halten sich unsere Ausbildungsstätten an die notorisch rückständigen
Ausbildungsordnungen, in denen Pflichtveranstaltungen zur Ethik in der Medizin nicht
vorgesehen sind (siehe 7. Novelle der ÄAppO). Glücklicherweise gibt es an einigen
Universitäten (und es werden immer mehr) Ansätze, dieses Defizit zu beheben (siehe hierzu
beispielhaft die Artikel von v. Engelhardt, Heubel, Wiesemann, Schwarz, alle in einem
Themenheft zu Unterrichtsmodellen zur Ethik in der Medizin 1994 erschienen, sowie Frewer
1993 u. 1994). Dabei wird eine Vielfalt von didaktischen Modellen eingesetzt, die Akzeptanz
von Seiten der Studierenden ist recht unterschiedlich. Insgesamt zeichnet sich eine Tendenz
dahingehend ab, dass praxisnahe und fallorientierte Arbeit in kleinen Gruppen die Methode
der Wahl darstellt; diese Tendenz entspricht der internationalen Entwicklung.
1. LERNZIEL ETHIKFÄHIGKEIT
Der Begriff "Ethikfähigkeit" wird von Fuchs (1987) formuliert in einem Vortrag
anlässlich der Konferenz "Medizinische Ethik - wie funktioniert denn das?", eingeladen von
der Evangelischen Akademie Loccum; diese Tagung bedeutete insofern einen Markstein, als
mit ihr in Deutschland zum ersten Mal, weitaus später als in der Mehrzahl der übrigen
europäischen Länder und vor allem in den USA (zum Stand in den USA, siehe auch Allert,
1989), die Fragen und Probleme der Aus- und Weiterbildung des Querschnittbereiches Ethik
in der Medizin grundlegend diskutiert wurden. Einleitend greift Seidler in seinem Geleitwort
diesen Begriff implizit auf indem er formuliert: "Lernen und Erfahren ethischer Probleme in
der Medizin beruhen daher auf der Fähigkeit des einzelnen, diese wahrzunehmen und
gewissensfähig zu werden. Alle am Patienten Handelnden ....müssen rechtzeitig dafür
sensibel gemacht werden." Seidler fährt dann im kritischen Hinblick auf die LehrLernsituation in Deutschland resümierend fort: "... die entsprechenden Informations- und
Ausbildungsstrukturen dafür zu finden, ist eine in der bundesdeutschen Situation noch
ungelöste und schwierige Aufgabe".
"Erziehung zur Ethikfähigkeit. Verantwortung für die medizinische Ausbildung"
überschreibt Fuchs seinen Artikel mit deutlicher Akzentuierung der konkreten Aufgaben, die
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sich den Institutionen und der in ihnen Lehrenden stellt. Der dann folgende Text enthält zwar
keine systematische Auflistung dessen, was in dem Konstrukt "Ethikfähigkeit" detailliert an
Wissen (knowledge), an Fertigkeiten bzw. Fähigkeiten (skills) und Einstellungen, Werten
(attitudes, beliefs, values) enthalten sein soll. Doch finden sich im Text an vielen Stellen (S.
28-30) entsprechende Begriffe und Formulierungen, die als Lernziele zu verstehen sind:
Erklärung, Verantwortung und Herausforderung des eigenen Wertesystems der Studierenden;
das
Denken
in
komplexen
Zusammenhängen;
Förderung
der
Analyse-
und
Entscheidungskompetenz; genannt werden des weiteren als konkrete Lernziele das Einüben
affektiver und kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten wie aufmerksames Beobachten,
hellhöriges Aufnehmen, einfühlsames Verstehen von Ängsten und Sorgen der Patienten,
Nutzung des ärztlichen Gesprächs als diagnostisches und therapeutisches Instrument,
Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen, Umgang mit der eigenen Hilflosigkeit. Implizit
vertritt somit Fuchs wie wohl die Mehrzahl der Autoren des Tagungsberichtes die
Auffassung, dass es nicht Aufgabe und Ziel der Ethikausbildung sei, den Studierenden eine
theoretische Moralphilosophie zu vermitteln; Ziel müsse es vielmehr sein, eine
praxisorientierte und praxisnahe Förderung medizinethischer Kompetenz in Gang zu setzen
und zu trainieren, wobei unterstellt wird, dass im Grunde jeder Studierende die
Voraussetzungen hierfür mitbringt.
Auch andere Autoren beschreiben das Lernen in Bezug auf Medizinethik als
vielschichtigen Faktor, der in der medizinischen Aus- und Fortbildung geübt werden muss.
Kahlke u. Reiter-Theil (1995) regen an, die Studierenden für die Ethik zu sensibilisieren,
eigenständiges Orientieren sowie Entscheidungs- und Handlungskompetenz zu vermitteln.
Sass (1996) beschreibt die vielfältigen Wege und Hilfsmittel wie Medizinethik in die Ausund Fortbildung der Ärzteschaft integriert und durchgeführt werden kann; er nennt hier als
unverzichtbar unter anderem die Fallstudien.
Die von vielen Autoren geforderten
Fähigkeiten, die im Rahmen des Ethikunterrichtes vermittelt werden sollen, sind auch in
anderen Fachbereichen als sog. Schlüsselqualifikationen beschrieben (vgl. hierzu Kaiser
1992).
DIE FÄLLE UND IHRE ERZÄHLUNGEN
Eine 75jährige Dame wird während eines Besuchs bei einer eng befreundeten
Nachbarin plötzlich bewusstlos. Die Nachbarin benachrichtigt telefonisch den Notdienst.
Dieser trifft schon nach 7 Minuten ein; die Patientin ist weiterhin bewusstlos, sie atmet flach.
Was ist zu tun? Wie geht es weiter?
5
So könnte, in kürzester Form, eine Fallgeschichte formuliert sein, die ein Notarzt als
Referent in einem Ethikseminar vorträgt; es könnte auch ein sog. paper-case sein, der in
seiner scheinbaren Unkompliziertheit eine schnelle Entscheidung fordert, zu der etwa in einer
mündlichen Prüfung eine solche ad-hoc-Entscheidung vom Prüfling erwartet und provoziert
wird.
Diese Fallgeschichte kann auch anders erzählt werden: Die besonderen Umstände, die
bekannte Vorgeschichte; die erreichbaren oder nicht erreichbaren Angehörigen; die angeblich
irgendwo liegende Patientenverfügung; das Reden mit der Freundin über das Sterben und die
dem Sterben vorausgehenden besonderen Umstände, das darüber vorhandene Wissen und
Nichtwissen; der erreichbare (oder nicht erreichbare) Hausarzt; die vorhandenen und die neu
erhobenen Befunde, die Diagnosen und Prognosen; die kontroversen Meinungen darüber, was
zu tun und was zu unterlassen sei. Nach jeder Frage, deren Antwort eine Entscheidung
erfordert - etwa nach der Entscheidung des Notarztes eine Behandlung einzuleiten und den
Transport in die Klinik zu veranlassen - immer dann beginnt eine neue Geschichte mit neuen
Fragen, Problemen und neuen Personen, die an den folgenden Entscheidungen beteiligt sind.
Solcherart sind die Erzählungen über die Fälle, wie sie zum Alltag der Patientinnen
und Patienten, der Ärztinnen und Ärzte, der Pflegekräfte und nicht zuletzt den Angehörigen in
der Klinik und in der Arztpraxis gehören (siehe hierzu Hunter 1991). Dann sind auch die
Klinikverwaltungen mittelbar an vielen dieser Entscheidungen und ihren Folgen beteiligt, die
Versicherungsunternehmen
als
die
Finanzierungsquellen,
letztlich
auch
die
Arzneimittelhersteller und - distributoren, kurz: der ganze medizinisch-industrielle Komplex
hat mittelbaren und unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidungen der Patienten, ihren
Angehörigen, der Ärzte und Pflegenden, der Verwaltungen und Organisationen.
Allen diesen Entscheidungen gehen immer Abwägungsprozesse voraus, sie laufen in
der alltäglichen Praxis mehr oder (meist?) minder bewusst und rational ab. In diese
Abwägungsprozesse
gehen
medizinische
Fakten
und
ihre
Bewertung
sowie
die
Auswahl/Selektion und Bewertung naturwissenschaftlichen Wissens ein; persönliche
Wertvorstellungen aller Beteiligten, aber auch institutionelle sowie gesellschaftliche und
allerlei Standesnormen werden mehr oder weniger bewusst in die Entscheidungsprozesse
verwoben (vgl. hierzu beispielhaft Allert et al. 1998).
ÜBER DIE KOMPLEXITÄT DER FÄLLE UND ENTSCHEIDUNGSSITUATIONEN
Erinnert werden wir angesichts der komplexen Mehrdimensionalität solcher
Entscheidungsstrukturen an die hellsichtige Diagnose, die Jonsen (1994) formuliert hat: "...in
moral discourse, problems are not at all like the elegantly clean lines of a mathematical
6
problem. They are rather messy concoctions of many details, some salient, others obscure, but
all calling for attention. A moral problem is rather like a detective story in which the details,
the facts of the case, are crucial." (S. 16).
Die Struktur der dann anschließenden Prozesse einer ethischen Analyse und
Entscheidungsfindung beschreibt Jonsen mit milder Ironie anhand dieser Detektivmetaphorik
wie folgt: "The great detectives of fiction rarely invoke principles; they stalk clues. At the
end, however, they can, sometimes with wondrous ingenuity, relate the clues to principle.
Thus, the problem of clinical ethics is how to view the principles in the light of the multiple
details of particular cases." (S. 16).
Viel spricht dafür, dass die hier von Jonsen angesprochene Komplexität medizinischer
und medizin-ethischer Entscheidungen und Entscheidungsprozesse im Verlauf individueller
Krankengeschichten den allgemeinen und nicht den Sonderfall beschreibt. Insbesondere aber
ist zu erwarten, dass die Entwicklungen der modernen Medizin, wie sie in den letzten Jahren
zu beobachten sind, diese Komplexität nicht nur noch vergrößern werden; die Vermutung ist
realistisch, dass diese Zunahme an Problemkomplexität sehr viel eher die Regel als die
Ausnahme sein wird. Es wird, so zeichnet es sich ab, eine Komplexität sein, in der die Zahl
der nicht nur denkbaren sondern auch schon realisierbaren Entscheidungsmöglichkeiten
zunimmt (jetzt schon erkennbar zugenommen hat); die Ziele und die Wege zu diesen Zielen
werden vielfältiger, kontroverser und mit unterschiedlichen, häufiger unscharf erkennbaren
Werten und Risiken verbunden sein. Die Teilnehmer an diesen Entscheidungsprozessen
werden in Abhängigkeit von ihren individuellen Wertkonzepten (diskursiv oder monologisch,
intentional oder unbewusst) nicht nur unterschiedliche Ziele und unterschiedliche Wege zu
diesen Zielen wählen können; sie werden auch in diesen Entscheidungsprozessen
interagieren, ihre Interaktionen werden bestimmt sein von rationalen und irrationalen
Erfahrungen, von Ängsten, Sympathien und Antipathien, von Vorurteilen, Zynismen,
Abwehrmechanismen,
Niederlagen
und
Versagen,
geglückten
und
missglückten
Entscheidungen - ganz generell von Lernerfahrungen aus früheren und vielleicht sehr frühen
Begegnungen mit komplexen Problemen und Entscheidungsdilemmata.
Cohen, March und Olsen (1972) haben schon früh nachgedacht über die von ihnen so
genannte
organisierte
Anarchie
in
solchen
komplexen
und
unübersichtlichen
Entscheidungssituationen, sie schlagen hierfür ein sehr bildhaftes Modell vor: "... one can
view a choice opportunity as a garbage can into which various kinds of problems and
solutions are dumped by participants as they are generated. The mix of garbage in a single can
depends on the mix of cans available, on the labels attached to the alternative cans, on what
garbage is currently being produced, and on the speed with which garbage is collected and
7
removed from the scene" (S. 2). (Gute Literaturübersicht über "Decision Making and Problem
Solving in Nursing" bei Baumann und Deber (1989); dort auch Erörterung des Garbage-CanModel in medizinischen Entscheidungsprozessen; vgl. hierzu auch Roth (1995) im Kapitel
Problem-Solving in Garbage Cans (S. 104) sowie Olsen (1973)).
Das Garbage-Can-Model finden die Autoren vor allem in solchen Organisationen
realisiert, in denen die Entscheider häufig wechseln, in denen die Interessen der jeweils
wechselnden Entscheider variieren und/oder mehr oder minder undurchsichtig sind und den
Entscheidungsprozess
mitbestimmen,
in
denen
hierarchische
Abhängigkeiten
eine
wesentliche Rolle im Entscheidungsprozess spielen, in denen die Zielvorstellungen
individuell stark variieren, die Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen, die
Zahl der Variablen (Fakten, Ziele, Interessen, Interessenten, Werte usw.) undurchsichtig ist.
Cohen et al. finden diese Merkmalskonstellation, die typisch ist für das Garbage-Can-Model,
vor allem in Universitäten und ihren Gremien realisiert. Baumann und Deber orten das
Garbage-Can-Model: "In medicine and nursing this model has potential application to critical
care, which indeed characterized by busy employees in a fluid situation and by considerable
uncertainty." (S. 3).
Das Garbage-Can-Model reduziert Komplexität mehr oder minder unkontrolliert; es
begegnet uns noch immer und auch immer wieder in der alltäglichen ärztlichen/klinischen
Praxis. Mehrfach war es in unseren Seminaren ein lehrreiches Beispiel dafür, welche Folgen
die Vernachlässigung nicht erkannter oder scheinbar unwichtiger Details haben kann. Die
sequenzierte Fallanalyse mit ihrer betont aktiven Beteiligung der Lernenden folgt der
Konzeption, wie sie bildhaft Jonsen formuliert hat, wenn er die komplexe moralische
Problematik vergleicht mit einer Detective Story, in welcher die Vielzahl der Details und der
Fakten entscheidend ist: die Lernenden portionieren und linearisieren die verwickelten
Einzelheiten und die komplexen Strukturen des Falles, indem sie in einzelnen analytischen
Schritten diskursiv jede Sequenz bearbeiten und dabei ihr eigenes Wertsystem reflektierend in
Bezug setzen zu den erkennbaren oder vermuteten Wertsystemen der Patienten, Ärzte,
Pflegekräfte, Angehörigen usw. Widersprüche und Unsicherheiten der Situation und der
Bewertungen werden hierdurch offen gelegt, sie beeinflussen damit nicht mehr unerkannt den
Entscheidungsprozess.
Hilfreich ist bei diesem analytischen Lernprozess zum einen die betont supportive und
zugleich zurückhaltende Assistenz der Lehrenden. Bewährt hat sich als technische Hilfe in
diesem sequenzierten Lernprozess neben den allen Beteiligten ausgehändigten Materialien
auch der Bochumer Arbeitsbogen (Sass, Viefhues 1988) vor allem deshalb, weil er mit seiner
Fülle von Fragen den analytischen Prozess fördert und aufzeigt, dass medizinethische und
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medizinisch-naturwissenschaftliche Fragen zusammengehören (siehe hierzu auch Seedhouse,
1998). In der Anwendungspraxis erweist es sich deshalb als sinnvoll, entsprechend der
Sequenzierung des Falles mehrfach den Schritt von den medizinischen Fakten zur ethischen
Bewertung zu wiederholen. Denn wie oben schon mehrfach betont, müssen in der Regel in
einem Fall nach jeder wichtigen Entscheidung die neuen medizinischen Fakten erneut
bewertet werden, "nach jeder Entscheidung beginnt eine neue Geschichte" (Luhmann 1996).
Sehr verkürzt könnte somit eines unserer zentralen Lernziele dahingehend beschrieben
werden,
dass
das
Garbage-Can-Model
in
seiner
verallgemeinernden
Form
des
"Schnellschusses aus der Hüfte" lernend abgelöst wird durch ein Entscheidungsmodell hoher
Komplexität, das wir im internen Jargon das "messy concoctions" oder "Detektiv-Modell"
genannt haben.
2. DIE FALLMETHODE UND DIE SEQUENZIERTE FALLSTUDIE
"Hierbei bearbeiten Lerner einzeln oder in Gruppen in Akten rekonstruierte
Praxisfälle, um sich Wissen über die betreffende Praxis anzueignen und ihre Urteils- und
Entscheidungsfähigkeit auszubilden" (Flechsig, 1996, S. 63).
Diese allgemeine Definition, dem entsprechenden Kapitel aus seinem kleinen
Handbuch didaktischer Modelle vorangestellt, enthält Lernziele, die auch für die von uns
erprobte "sequenzierte Fallstudie" zutreffen: Aneignung von Wissen und Ausbildung der
Urteils- und Entscheidungsfähigkeit. Flechsig gliedert das Modell nach mehreren
Schnittlinien auf; wir verwenden dieses Gliederungsschema im folgenden Text und erweitern
die Inhalte, da die von uns entwickelte sequenzierte Fallstudie zum einen den Lernzielkatalog
erweitert und, damit zusammenhängend, sowohl im Setting als auch im Ablauf das klassische
Modell der Fallmethode variiert (siehe hierzu auch die bei Flechsig auf S. 68 und 69
erwähnten Varianten).
DIE DIDAKTISCHEN PRINZIPIEN DER SEQUENZIERTEN FALLSTUDIE SIND
• Praxisnahes Lernen, d.h. Lernen an konkreten Beispielen, die nicht aus Akten (z.B.
geschriebenen
Krankengeschichten)
entnommen
sind,
sondern
von
unmittelbar
Beteiligten vorgetragen werden;
• Lernen, mit komplexen Sachverhalten umzugehen:
Erkennen und Analysieren der
Komplexität/der "messy concoctions....."
Ordnen und zeitliche Abfolge des Entstehens der Komplexität rekonstruieren
9
• Problemlösendes
Lernen,
d.h.
Lernen
an
Beispielen
mit
offenen
Entscheidungsalternativen
• Lernen im Diskurs mit anderen Lernenden
LERNAUFGABEN BEI DER SEQUENZIERTEN FALLSTUDIE
Die Lerner werden dazu animiert und angeleitet,
• im Diskurs miteinander schrittweise Probleme und Entscheidungsnotwendigkeiten zu
erkennen und zu formulieren,
• Optionen, Entscheidungen und Lösungen für die jeweilige Situation zu finden, zu begründen und zu präsentieren, sowie
• im Zusammenwirken mit den Fallreferenten die vorgeschlagenen/gefundenen Lösungen
und Entscheidungen mit den tatsächlich getroffenen Entscheidungen zu vergleichen.
KOMPETENZEN
Die sequenzierte Fallstudie ist zunächst auf die Entwicklung von eher unspezifischen
Handlungs- und Entscheidungskompetenzen gerichtet; hinzu kommen ethik-spezifische, aber
auch mehr unspezifische Kompetenzen, wie die schon eingangs ausführlicher erörterte
Ethikfähigkeit, die ihrerseits ein komplexes Konstrukt von ethik-unspezifischen und ethikspezifischen Kompetenzen darstellt (hierher gehören u.a. die Reflexion über das eigene
Wertsystem und die Fähigkeit, über das eigene und die Wertsysteme der Anderen zu kommunizieren). Spezielle Sachkompetenzen (u. a. Methoden des Umgangs mit rechtlichen
Normen und Vorschriften, mit Standesnormen, mit unterschiedlichen ethnischen und
religiösen Wertsystemen) müssen von Fall zu Fall angesprochen werden.
DIE SEQUENZIERTE FALLSTUDIE ALS DIDAKTISCHES MODELL GLIEDERT
SICH WIE FOLGT:
Die Vorbereitungsphase umfasst folgende Schritte:
• Die Suche nach einem Fallreferenten, der aus seinem Arbeitsbereich einen passenden Fall
präsentieren kann. Als Fallreferenten kommen Ärztinnen, Ärzte, Pflegekräfte,
gelegentlich auch Studierende höherer Semester, Seelsorgerinnen/Seelsorger sowie
Patientinnen/Patienten in Frage. Der Aufbau eines Netzwerkes von Referenten, die schon
mehrfach diese Rolle übernommen haben und die bereit sind, mehr oder minder
regelmässig zur Verfügung zu stehen, erleichtert die am Anfang meist zeitaufwendige
Suche. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass der Aufbau eines derartigen Netzwerkes etwa
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drei bis vier Jahre erfordert. Eine weitere wichtige Erfahrung hängt eng damit zusammen:
erfahrene Referentinnen/Referenten wirken ihrerseits im jeweiligen Arbeitsbereich in
Richtung einer Veränderung des Arbeitsklimas, z. B. auf der Station.
• In der Vorbesprechung ca. zwei Wochen vor dem Seminartermin wird mit den jeweiligen
Fallreferenten der Fall und das Prozedere detailliert besprochen. Besprechungspunkte sind
insbesondere die eingehende Erörterung des Falles und seiner Präsentation, die
Vereinbarung der Spielregeln und der Aufgaben: der Referent ist Berichterstatter, nicht
Dozent und Prüfer, er/sie gibt keine Werturteile ab über den Fall, urteilt nicht über
Aussagen/Wertungen/Verhalten der Studierenden.
Spielregeln gelten für alle Teilnehmenden; sie werden mit den Fallreferenten in der
Vorbesprechung und mit den Seminarteilnehmenden zu Beginn eines Seminars diskutiert; wir
erbitten ihre Zustimmung, manchmal erinnern wir während des Seminars an die Spielregeln,
aber nur sehr selten ist dies erforderlich. Dies sind die Spielregeln:
Jede Person wird respektiert,
Jede/jeder hat gleiche Rechte.
Es können jederzeit Fragen gestellt werden,
es gibt keine „dummen“ Fragen.
Bei der Falldiskussion am Fall bleiben!
Zuhören können.
Für den Fallreferenten gilt zusätzlich:
Nicht dozieren, nicht abfragen!
Keine vorschnellen Werturteile äußern.
Die Moderatoren bemühen sich um
Geduld und
Aufmerksamkeit.
Nicht tadeln!
Die Referenten werden ersucht, den Fallbericht in einem betont narrativen Stil zu
präsentieren, abstrakte Verkürzungen und Vereinfachungen des Falles sollen vermieden
werden, desgleichen formale Strukturierungen, mit denen der Fallreferent den Studierenden
die Analyse erleichtern will. Die Referenten werden vorab unterrichtet über den formalen und
zeitlichen Ablauf und über die Rolle der Moderatoren (s. u.).
• In die Vorbereitungsphase gehören auch die Besetzung und die Einweisung der übrigen
Rollen: Moderatoren, Hilfskräfte, teilnehmende Beobachter und Gäste sowie die
technischen Vorbereitungen: Bereitstellen/Anfertigung der Arbeitsmappe (s. Anhang),
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Vorbereitung der Räume und der Technik (Raumreservierung, Bestuhlung im Kreis,
Tageslichtprojektor,
Tafel,
Namensschilder
und
Bewirtung,
Vorbereitung
der
Evaluationsbögen usw.).
• Im weiteren Sinne gehört zur Vorbereitungsphase auch das Moderatorentraining; die
Rolle der Moderatoren sei hier in Kürze beschrieben:
Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, dass zwei Moderatoren das Seminar begleiten. Ihre
Aufgaben sind vielfältig: ständige begleitende Aufmerksamkeit, stets supportives
Verhalten; die Moderatoren regen an, ohne direktiv zu sein; sie organisieren
unaufdringlich die Redefolge, sie sind besorgt um einen angst- und "herrschaftsfreien"
Umgangston; sie mischen sich nicht in die Sachdiskussion ein, sie halten Distanz und sind
zugleich immer in das Geschehen eingebunden, sie sind kognitiv sowie affektiv wach und
präsent. Im Zusammenwirken mit den Seminarteilnehmern unterbrechen sie den
Fallreferenten in seinem Bericht an solchen Stellen, an denen Entscheidungen bzw.
Konflikte erkennbar sind; sie unterbrechen den linearen Ablauf dann, wenn
Entscheidungen zweckmäßigerweise in kleineren Gruppen diskutiert, Optionen definiert
und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln sind. Derartige Unterbrechungen sind auch
dann sinnvoll, wenn der Teilnehmerkreis in seiner Mitwirkung sich stark asymmetrisch
entwickelt, wenn einige Teilnehmer im Diskurs stark dominieren und andere Teilnehmer
sich daraufhin betont zurückhalten.
Außerdem stehen die Moderatoren als Ethikexperten zur Verfügung, wenn Seminarteilnehmer solche Auskunft einfordern. Als Antwort werden etwa folgende Fragen an die
Lernenden zurückgegeben: um welche Konflikte handelt es sich, welche Entscheidungen
stehen an, welche Handlungsoptionen gibt es? Wer muss entscheiden und wer soll an den
Entscheidungen mitwirken? Was sind die Wünsche und die Willensäußerungen der
Patienten, der Angehörigen, des Pflegeteams, des Ärzteteams, welche Prinzipien/Regeln
usw. sind tangiert? Hierbei hat es sich als sehr zweckmäßig erwiesen, dass die Lernenden
in ihren Arbeitsunterlagen, die jedem von ihnen ausgehändigt wurden, auch den
Bochumer-Arbeitsbogen vorfinden; die obigen Fragen und eine Fülle weiterer derartiger
Fragestellungen sind in diesem Arbeitsmittel enthalten. An geeigneter Stelle des Diskurses wird auf dieses Hilfsmittel verwiesen.
Die Moderatoren sind besorgt, dass der Diskurs immer wieder auf den konkreten Fall
bezogen wird und Abschweifungen ins Allgemeine alsbald zurückgeführt werden auf den
konkreten Fall; den Moderatoren sind die Lernziele präsent, sie lenken den Diskurs im-
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plizit, manchmal auch explizit auf diese Lernziele hin. Dabei achten sie darauf, dass sie
soweit wie immer möglich nondirektiv bleiben.
• Festzulegen sind vorab die Teilnehmerzahl und der Zeitumfang:
Eine maximale Gruppengröße von insgesamt 20 Personen sollte nicht überschritten
werden. Darin sind enthalten ein bis zwei Fallreferenten (Ärzte, Schwestern, Patienten
usw.), ein bis drei Moderatoren und maximal 15 Teilnehmer/Teilnehmerinnen.
Der Zeitumfang sollte nicht zu knapp bemessen werden. Als zweckmäßig hat sich erwiesen, an einem Wochenende (Freitagabend und Samstagvormittag) insgesamt acht bis neun
Stunden bereitzuhalten, in denen zwei Fälle bearbeitet werden. Für eine sequenzierte
Fallstudie sind 3 bis 3 ½ Stunden zu veranschlagen. Geübte Gruppen, die schon mehrfach
derartige Fälle bearbeitet haben, kommen mit 2 bis 2 ½ Stunden aus, wenn der Fall nicht
ungewöhnlich kompliziert gelagert ist.
Die Durchführungsphase lässt sich grob gliedern in drei Phasen, die nicht nur einmal
aufeinander folgen, sondern vielmehr in einem zirkulären Prozess sich mehrfach wiederholen:
In den Rezeptionsphasen bearbeiten die Lerner das Fallmaterial, interpretieren den Fall und
beschaffen sich zusätzliche Informationen; in Interaktionsphasen werden ggf. kleinere
Lerngruppen gebildet mit unterschiedlichen Aufgaben und mit unterschiedlichen Rollen;
Lösungsmöglichkeiten werden durchgespielt und kritische Entscheidungsdiskurse können in
improvisierten Rollenspielen geführt, Optionen definiert und probehalber Entscheidungen
gefällt werden. In der Bewertungsphase werden die einzelnen Lösungen aus den
Kleingruppen vorgestellt und diskutiert; am Ende dieser Phase wird die konkrete Lösung des
Falles vom Fallreferenten vorgestellt und im Plenum erörtert.
ROLLEN DER LERNER
Die Lerner, in erster Linie sind dies die Studierenden, versetzen sich in diesem
didaktischen Modell immer wieder in die Rolle von real handelnden Personen bzw.
Entscheidungsträgern, wobei sie wissen, dass sie von den Zwängen sowie von der
Verantwortung realer Handlungsträgerschaft entlastet sind. Lerner müssen dabei in der Lage
sein, komplexe Zusammenhänge zu überblicken und sich selbständig Informationen zu
beschaffen. Wichtig erscheint uns vor allem im Nachhinein, dass auch die Fallreferenten und
die Moderatoren Lerner waren und sind; in diesem Sinne ist etwa die Rückmeldung einer
Fallreferentin zu bewerten, die einmal bemerkte, dass sich auf ihrer Station etwas verändert
habe, seit sie in den Seminaren mit den Studierenden intensiv ihre Problemfälle diskutierte.
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Zusammenfassend gibt das nachfolgende Schema einen abstrakten Überblick über
Struktur und Ablauf einer sequenzierten Falldiskussion, rekonstruiert aus einem Ethikseminar
mit Erstteilnehmern.
Begrüßung der Teilnehmenden, Vorstellung der Veranstalter, des Fallreferenten und des
Arbeitskreises “Ethik in der Medizin” der Universität Ulm. Die Anredeformen werden
vereinbart,
Namensschilder und Arbeitsmappen für die Teilnehmenden werden ausgeteilt.
Erläuterungen zum Ablauf des Seminars: zeitlicher Ablauf, struktureller Ablauf.
Die Spielregeln, die für das Seminar gelten sollen, werden besprochen.
Kurze Einführung in die Ethik mit Hilfe der Arbeitsmappe, die jeder Teilnehmer in
Händen hat:
Definition, Konfliktfelder in der Medizin, Hinweis auf ethische Prinzipien, Tugenden,
Pflichten, Einführung in die Komplexität der Fälle, Interessenskonflikte in der konkreten
Entscheidungssituation. Erläuterung der Hilfsmittel zur Analyse und Lösung von
medizinethischen Konflikten (Bochumer Arbeitsbogen usw., befinden sich in der
Arbeitsmappe).
Chronologische Fallvorstellung durch den Referenten.
Unterbrechungen durch die Teilnehmenden zur Klärung von Verständnisfragen.
Erste Entscheidungssituation in der Fallgeschichte.
Unterbrechung der Fallvorstellung durch die Moderatoren.
Situationsanalyse, unter Verwendung der Arbeitsmappen:
- Klärung der medizinischen Sachfragen.
- Klärung der medizinethischen Sachfragen und Konflikte.
Diskussion der ersten Entscheidungssituation.
- Erarbeitung der bekannten Sichtweisen und Beurteilungen der am Fall beteiligten
Personen.
- Erarbeitung der Sichtweisen und Beurteilungen der Teilnehmenden.
- Entwicklung von Entscheidungsoptionen.
- Begründung der Optionen und Versuch der Konsensfindung.
(Je nach Gruppenkonstellation und Diskussionsfreude der Teilnehmenden wird diese
Phase in Kleingruppen durchgeführt, die Ergebnisse werden der Gesamtgruppe
vorgetragen oder mit Hilfe eines kurzen Rollenspiels vorgestellt.)
Bericht des Fallreferenten, wie im konkreten Fall an dieser Stelle entschieden wurde.
14
Diskussion der getroffenen Entscheidung, Begründung der Entscheidung.
Fortsetzung der Fallvorstellung durch den Referenten.
Unterbrechung durch die Teilnehmenden zur Klärung von Verständnisfragen.
Je nach realem Fallverlauf kann die Fallgeschichte in mehrere solcher Sequenzen
aufgeteilt werden.
Entscheidungssituation am Ende des Falles
Situationsanalyse:
- erneut Klärung der medizinischen Sachfragen.
- erneut Klärung der medizinethischen Sachfragen
Diskussion der Entscheidungssituation.
- Die im Fall schon getroffenen Entscheidungen werden retrospektiv nochmals
durchleuchtet
und ihre Bedeutung für die jetzige Situation durchdacht.
- Entwicklung von Entscheidungsoptionen, Begründung der Optionen und Versuch der
Konsensfindung.
(Je nach Gruppenkonstellation und Diskussionsfreude der Teilnehmenden wird diese
Phase in Kleingruppen durchgeführt, die Ergebnisse werden der Gesamtgruppe
vorgetragen oder mit Hilfe eines kurzen Rollenspiels vorgestellt.)
Bericht über den aktuellen Stand oder über den Ausgang des Falles.
Besprechung der eigenen subjektiven Betroffenheit. Analyse und Diskussion der im Fall
getroffenen Entscheidung.
Beurteilung des Fallverlaufs und der im Fall getroffenen Entscheidungen anhand von
ethischen Prinzipien, Normen und einer Folgenabschätzung (Schema: The moral event v.
Pellegrino).
Zusammenfassung der Problematik durch die Moderatoren.
Evtl. Vertiefung der Spezialproblematik (z.B. Sterbehilfe oder Informed Consent).
Abschlussbemerkungen der Teilnehmenden, des Referenten und der Veranstalter.
EINE REALE FALLDISKUSSION
Im Rahmen des Projektes "Ethik in der Medizin in frühen Phasen des
Medizinstudiums", gefördert vom Ministerium für Wirtschaft, Forschung und Kunst des
Landes Baden-Württemberg, wurde das Modell der sequenzierten Falldiskussion für
Studierende der Medizin weiterentwickelt. Dabei wurde die folgende Falldiskussion in einem
Wochenendseminar während des Sommersemesters 1995 durchgeführt:
15
Da es sich in diesem Seminar um eine Gruppe von Erstteilnehmenden handelte, wurde
das Seminar mit einer Einführung begonnen; im nachfolgenden Ablaufprotokoll wird auf die
Darstellung der Einführung verzichtet. Die Falldiskussion wurde mitprotokolliert, das
ursprüngliche Protokoll wurde zur besseren Lesbarkeit überarbeitet, gekürzt und anonymisiert.
Beginn der Fallvorstellung durch den Fallreferenten:
Die Moderatoren beobachten aufmerksam das Gruppengeschehen und regeln die Wortmeldungen.
Fallreferent
Studierende
Der Fallreferent ist seit 4 Jahren Assistenzarzt in der
Inneren Medizin. Seit 2 Jahren ist er auf einer
onkologischen Station. Er wurde vor 6 Monaten zu
einer konsiliarischen Beratung in die Chirurgische
Klinik gerufen. Ein Patient, 45 Jahre alt, wurde dort
wegen heftiger Hüftgelenkschmerzen operiert und es
wurde ein entdifferenziertes Rhabdomyosarkom am
Oberschenkel in der Nähe des Hüftgelenks festgestellt.
Das Rhabdomyosarkom ist ein bösartiger Tumor, der
vom Muskelgewebe ausgeht;
"entdifferenziert"
bedeutet, dass dieser Krebs den ursprünglichen
Muskelgewebszellen nicht mehr sehr ähnlich ist.
Vor 10 Jahren hatte der Patient Schmerzen in der
Hüfte. Es wurde eine Zyste im Hüftgelenkskopf
festgestellt, die operativ entfernt wurde. Ca. 5 Jahre
war der Patient schmerzfrei, dann traten wieder
Schmerzen auf. Der Hausarzt diagnostizierte eine
massive Abnutzung im Hüftgelenk und überwies den
Patienten in eine orthopädischen Klinik. Dort wurde
ein künstlicher Hüftgelenkskopf eingesetzt.
Die Vorerkrankungen steht in keinem Zusammenhang mit der jetzigen Erkrankung. Die Zyste
befand sich im Knochengewebe und die Operation
wurde am Oberschenkelknochen durchgeführt. Das
Rhabdomyosarkom entstand im Muskelgewebe,
somit aus einem anderen Gewebetypus.
Zwischenfrage zum Krankheitsbild
“Was ist ein Rhabdomyosarkom?"
Mehrere Fragen zur Krankengeschichte
Zwischenfragen, ob die Vorerkrankungen
Risikofaktoren für die jetzige Erkrankung
sein können.
In der Chirurgischen Klinik wird nun an den Fallreferenten die Frage gestellt, ob der Patient zu einer
Chemotherapie in die Internistische Abteilung
verlegt werden könnte.
Unterbrechung der Fallvorstellung und Strukturierung der Diskussion durch die Moderatoren:
- Abklärung der medizinisch naturwissenschaftlichen Fragen.
- Analyse der medizinethischen Befunde
- Entwicklung und Begründung einer Entscheidung.
16
Fallberichterstatter
Studierende
Der Patient hat nach der Operation bei anschließender
Chemotherapie und Bestrahlung eine 20%ige
Heilungschance. Er hat ein Risiko von 80 %, dass er ein
Rezidiv bekommt und nicht geheilt wird. Aus dieser
Risikogruppe, die ein Rezidiv entwickeln, leben nach 5
Jahren noch 30 %.
Die Nebenwirkungen einer Chemotherapie sind Übelkeit,
Haarverlust,
Infektionsanfälligkeit,
Durchfall,
Schädigung der Schleimhäute. Diese Nebenwirkungen
können sehr mild verlaufen, jedoch auch sehr heftig, sie
können zum Tod des Patienten führen. Dies ist vor der
Chemotherapie nicht voraussagbar. Bei Nichtbehandlung
wird der Patient in nächster Zeit versterben.
Der Patient hat bereits Lymphknotenmetastasen in der
Leiste und im kleinen Becken.
Die onkologische Station ist eine Spezialabteilung für
Krebserkrankungen und hat den höchsten Standard für
Krebspatienten zu bieten.
Fragen zur Prognose des Patienten.
Der Fallreferent hat die Information von seinem Kollegen
aus der Chirurgie, dass der Patient aufgeklärt sei und
sieht somit keinen Grund, den Patienten über seinen
Kenntnisstand zu befragen. In der ersten Begegnung mit
dem Patienten wird über die Verlegung in die Innere
Medizin diskutiert. Der Patient ist zuversichtlich, obwohl
er Schmerzen nach der Operation hat und die Wunde
schlecht heilt.
Über die Familie wird zu diesem Zeitpunkt nicht
gesprochen.
Der Patient möchte so schnell wie möglich eine Therapie.
Fragen zum Kenntnisstand
Patienten über seine Erkrankung.
Fragen zu Nebenwirkungen sowie
Chancen und Risiken der Chemotherapie
Fragen zur Tumorausbreitung
Fragen zur technischen Ausstattung
und Erfahrung der Mitarbeiter der
Klinik.
des
Fragen zur psychischen Verfassung
des Patienten
Fragen zum familiären Umfeld.
Fragen zum Wunsch des Patienten
Allgemeine Zustimmung zur Verlegung mit den Argumenten:
- Empfehlung der Experten
Patientenwunsch
- Spezialzentrum
Gruppenmeinung:
einzige Überlebenschance für den
Patienten
Bedingungen für die Verlegung
wurden nicht gestellt. Für die
Chemotherapie wurde von der Gruppe
jedoch gefordert, dass der Patient vor
der
Durchführung
vollständig
aufgeklärt wird, eventuell auch seine
Angehörigen.
Die Entscheidung erfolgt zum Wohl
des Patienten, im Interesse des
Patienten und der Ärzte, jedoch muss
das Risiko der Chemotherapie in Kauf
genommen werden.
17
Die Moderatoren leiten zur Fortsetzung der Fallschilderung über.
Fallberichterstatter
Der Patient wird nach Rücksprache mit den
Oberärzten der chirurgischen und internistischen Stationen in die Innere Medizin
verlegt. Ab diesem Zeitpunkt ist der Fallreferent
der behandelnde Arzt.
Es erfolgt am Tag der Verlegung ein ausführliches Gespräche mit dem Patienten. Er ist
sehr aufmerksam, kann sehr differenziert seine
Wünsche darstellen und weiß um die Risiken
der Chemotherapie. Jedoch will er zu diesem
Zeitpunkt nur an seine Heilung glauben.
Die Chemotherapie wird angeordnet und kann
nun am gleichen Tag schon beginnen.
Studierende
Frage, ob der Patient nun über seine Erkrankung
vollständig aufgeklärt wurde.
Die Moderatoren unterbrechen die Fallschilderung für intensiven Diskurs in der Gruppe.
Der Patient ist verheiratet und hat zwei Kinder
(12 und 14 Jahre alt)
Seine Ehefrau war am Tag der Verlegung noch
nicht beim Patienten und somit dem
Behandlungsteam nicht bekannt.
Der Patient nimmt von einem Heilpraktiker
Medikamente ein, die keinen Einfluss auf die
Chemotherapie haben. Es werden keine
weiteren Behandlungsalternativen angeboten,
da nach Prüfung der neuesten Literatur, für
diesen Patienten eine Chemotherapie die beste
Chance bietet.
Die Station lehnt die zusätzlichen Medikamente
vom Heilpraktiker nicht ab. "Viele Patienten
nehmen bei einer Krebserkrankung zusätzlich
Vitamine oder homöopathische Mittel."
Fragen und Diskurs zu folgenden Themen:
Warum Entscheidung zur Chemotherapie
so schnell? Gibt es Alternativen? Wieviel
Bedenkzeit hatte der Patiert? Wurde die
Familie einbezogen?
Fragen zum familiären Umfeld des Patienten.
Fragen zu Möglichkeiten der Alternativmedizin
Frage zur Akzeptanz des Behandlungsteams.
Über die Aufklärung und Zustimmung des
Patienten zur Chemotherapie erfolgte eine
längere Diskussion.
Konsens in der Gruppe zu:
Behandlung nur mit Zustimmung des Patienten.
Dissens in der Gruppe:
Radikalität der Aufklärung, Verschweigen von
Tatsachen, Hoffnungen zerstören.
Skepsis in der Gruppe über Fähigkeiten der
Ärzte, gute Aufklärungsgespräche zu führen.
18
Zeitdruck in der Klinik.
Einige Gruppenmitglieder würden die Therapie
erst nach einer gemeinsamen Rücksprache mit
dem Patienten und der Ehefrau beginnen.
Begründung: Kenntnisstand des Patienten muss
nochmals überprüft werden “hat er alles
verstanden?”. Voraussetzung zum Informed
Consent.
Fortsetzung der Fallschilderung.
Fallberichterstatter
Studierende
Der Patient willigt sofort in eine Chemotherapie
ein, am Abend nach der Verlegung aus der
Chirurgischen
Klinik
wird
mit
der
Chemotherapie begonnen.
Die Ehefrau des Patienten kommt am nächsten
Tag in die Klinik. Der Patient hat ausdrücklich
gewünscht, dass seine Frau aufgeklärt und in
alle Entscheidungen mit einbezogen wird. Sie
jedoch konnte an diesen ersten Tagen nicht über
die Erkrankung ihres Mannes reden, sie war so
betroffen, dass sie die ganze Zeit über weinte.
Die Moderatoren unterbrechen die Fallschilderung und regen eine Diskussion an. Sie beziehen die
Arbeitsmappe ein und geben einige Fragen zur Bewertung und Beurteilung an die Gruppe zurück.
Diskussion um die Rolle von Angehörigen:
Wieviel können Angehörige verkraften, haben
sie ein Recht auf Nichtwissen?
Haben sie eine Pflicht zum Beistand?
Wer ist jetzt in dieser Situation alles Patient?
Die Ehefrau beruhigt sich langsam, ist nunmehr
mit der Behandlung voll einverstanden.
Zwischen Patient und Ehefrau finden lange
Gespräche statt;
das Behandlungsteam hat keine Kenntnis über
den Inhalt der Gespräche.
Die Chemotherapie verursacht beim Patienten
kaum Nebenwirkungen, er kann sogar nach
einigen Tagen aufstehen. Das erste Etappenziel
war die Chemotherapie und danach "nach
Hause gehen". Das Therapieziel insgesamt ist
zu dieser Zeit die Heilung des Patienten.
Frage ob das Ärzteteam in die Gespräche
einbezogen waren.
Kommentar: Recht auf Privatsphäre der
Patienten.
Am zweiten Wochenende auf der Station gibt es
einen Zwischenfall. Der Fallreferent hat
dienstfrei und war verreist.
Am Montag ist der Patient nicht auf der Station,
eine Krankenschwestern informiert das
Ärzteteam, dass der Patient am Wochenende
verlegt wurde. Er hatte hohes Fieber entwickelt
19
und wurde wegen der Notwendigkeit einer
engmaschigen
Betreuung
auf
eine
Aufnahmestation verlegt.
Die Entscheidung trifft der diensthabende
Oberarzt. Dieser kennt den Patienten nicht.
Nach der Vormittagsvisite werden Informationen eingeholt und auf eine Rückverlegung
gedrängt, die am späten Vormittag auch erfolgt.
Der Patient ist niedergeschlagen und er zweifelt
an der Kompetenz der Klinik; er sagt dem Arzt
(Fallreferent),
der inzwischen wieder den Dienst aufgenommen hat, man habe ihm (bei der Visite?)
gesagt, "dass bei ihm alles umsonst sei". In der
Akte war vermerkt, dass die Chemotherapie am
Wochenende abgesetzt wurde und eine
Weiterführung für nicht sinnvoll angesehen
wurde.
Frage, wer die Entscheidung getroffen hat.
Unterbrechung des Fallberichts durch die Moderatoren, da einige Gruppenmitglieder Empörung
äußerten.
Die Moderatoren regen die Analyse der Situation an.
Fallberichterstatter
Der Fallreferent sucht den Oberarzt alsbald auf.
Die Rücksprache findet auf dem Flur statt, sie
ist emotional aufgeladen. Eine ruhige
Aussprach ist nicht möglich, Vorwürfe kommen
von beiden Seiten und die Gesprächspartner
trennen sich im Streit.
Studierende
Diskurs
Streites.
über
mögliche
Formen
eines
Frage nach den Beweggründen der Entscheidung dieses Oberarztes.
Die Argumente von Seiten des Oberarztes: der
Patient ist schwerkrank, er kann nicht
mitentscheiden, die Situation war kritisch, die
Behandlung
der
Infektion
stand
im
Vordergrund, Zweifel an der Richtigkeit der
Entscheidung zur Chemotherapie wurden
ausgesprochen, der Fallreferent bekommt zu
hören, dass er "wohl um jeden Preis therapieren
wolle".
Frage nach Einbeziehung des Patienten
Diskussion über Struktur des Gesprächs mit
dem
Oberarzt,
Herausarbeitung
der
verschiedenen Argumente von Oberarzt,
betreuendem Arzt und Patient. Unterschiedliche
Sichtweisen und Interpretation von ethischen
Prinzipien: Wohl des Patienten, im Interesse des
Patienten
und
seine
Autonomie,
Schadensvermeidung,
Wahrhaftigkeit
und
Vertrauen.
Informationen nochmals zu den Heilungs-
20
chancen und zur unterschiedlichen Bewertung
der Chancen durch den diensthabenden
Oberarzt, durch den Patienten und durch das
Behandlungsteam.
Herausarbeitung der Gründe die den Fallreferenten veranlassten emotional zu reagieren:
Verletzung der Kollegialität, seine Kompetenz
wurde angezweifelt, das Handeln des
Oberarztes entsprach nicht seinem Arztbild, das
Vertrauensverhältnis zum Patienten wurde
gestört durch den Oberarzt (dies ärgerte ihm am
meisten).
Gemeinsame Reflexion der Gruppe und des
Fallreferenten über diese Situation.
Pause von 20 Minuten
Zusammenfassung der Ergebnisse und Kommentare durch die Moderatoren zu den Konfliktsituationen im Fall.
Dann Fortsetzung des Fallberichts
Fallberichterstatter
Studierende
Nach Rücksprache mit seinem Kollegen
(Stationsarzt) und dem zuständigen Oberarzt
aus
dem Behandlungsteam wird
die
Entscheidung (Abbruch der Chemotherapie)
rückgängig gemacht und die Fortsetzung der
Chemotherapie für den Abend geplant. Mit dem
Patient wird für den Nachmittag ein
ausführliches Gespräch vereinbart, das dann
auch zwischen dem Fallreferenten und dem
Patienten stattfindet.
Der Patient ist zuerst sehr empört, er beruhigt
sich im Laufe des Gesprächs wieder.
Insgesamt ist dieses Gespräch sehr offen und
kooperativ; der Patient entwickelt seine Ziele
und Wünsche, der Patient will weiterhin eine
Maximaltherapie auch mit dem Risiko von
Zwischenfällen, er drängt auf eine Fortsetzung
der Chemotherapie; er möchte die Hoffnung
noch nicht aufgeben, bei Zwischenfällen will er
wiederbelebt werden, er will nur auf dieser
Station behandelt werden und nur im Notfall
auf die Intensivstation verlegt werden. In der
Patientenakte werden die Wünsche des
Patienten deutlich vermerkt.
Die Chemotherapie wird wieder angesetzt.
Frage nach der Weiterführung der Chemotherapie.
Frage zur Betreuung des Patienten
Frage, ob sich der Patient beschwert hat.
Bemerkung: "Der Zwischenfall hat letztendlich
auch einiges geklärt."
Nach dem ersten Behandlungszyklus wird
festgestellt, dass der Tumor auf die Behandlung
nicht angesprochen hat; das Tumorwachstum
ist unter der Therapie sogar fortgeschritten und
es haben sich zusätzlich Metastasen im Gehirn
21
gebildet.
Die Heilungschance, auch durch eine veränderte Chemotherapie, ist nun äußerst gering
geworden.
Der Patient wird hierüber voll aufgeklärt.
Der Fallreferent erklärt das Prinzip der zweiten
Chemotherapie.
Je nach Zustand und nach häuslicher Betreuung
kann der Patient zeitweise oder ganz nach
Hause entlassen werden.
Frage, ob es noch eine Heilungschance gibt .
Frage, ob noch eine weitere Chemotherapie
durchgeführt werden kann?
Frage, ob der Patient nach Hause gehen kann?
Frage, wer entscheidet, ob eine
Chemotherapie durchgeführt wird.
weitere
Unterbrechung der Fallschilderung durch die Moderatoren. Die Frage wird an die Gruppe
weitergegeben. Strukturierung der Diskussion mit Hilfe der Arbeitsmappe. Anregung, die
Äußerungen und Bewertungen zu begründen.
Fallberichterstatter
.
Studierende
Diskurs in der Gruppe über Betroffenheiten und
Entscheidungskompetenzen:
Patient: ist betroffen, Selbstbestimmung
Arzt: Fachexperte.
Chefarzt: Fachexperte und Verantwortlicher für
die Station.
Ehefrau: sie ist ebenfalls betroffen, trägt einen
Teil der Folgen.
Jurist: kennt die Richtlinien (war in der Gruppe
sehr umstritten).
Pflegekräfte (wurden erst auf Anregung der
Moderatoren einbezogen): sie kennen den
Zustand des Patienten besser als der Arzt.
Seelsorger: (war in der Gruppe umstritten)
sollte nur auf Wunsch des Patienten einbezogen
werden.
Konsens in der Gruppe, dass der Patient zu
diesem Zeitpunkt entscheiden soll.
Der Patient und seine Ehefrau wünschen eine
weitere Chemotherapie. Der Patient hat immer
noch Hoffnung und sein sehnlichster Wunsch
ist, nach Hause zu gehen.
Stationsärzte, Oberarzt und Pflegekräfte sind
eigentlich gegen eine weiter Chemotherapie.
Die Heilungschancen sind zu gering, die
Nebenwirkungen zu hoch. Sie geben aber zu
bedenken, ob dem Patienten die “letzte Chance”
nicht doch gegeben werden sollte.
Konsensfindungsprozess vorgeschlagen:
gemeinsames Gespräch mit Patient, Ehefrau,
Stationsärzte, Pflegekräfte und Chefarzt. Alle
haben gleiche Rechte und alle Informationen
sollen allen zugängig sein.
In der Klinik hat ein solches Gespräch nicht
stattgefunden. Da der Patient sehr gedrängt hat
22
und das Behandlungsteam dem "jungen
Patienten" helfen wollte, wird die Therapie
eingeleitet. Zuvor werden noch die Kosten mit
der Verwaltung geklärt
Kommentar: Die Verwaltung hat hier kein
Mitspracherecht.
Eine erhitzte Debatte entsteht über Ressourcenallokation: Konsens in der Gruppe
“Sparen in diesem konkreten Fall ist unmoralisch".
Die Moderatoren verweisen auf zwei Bereiche (Ethikkomitees und Ressourcenallokation), die nach
der Falldiskussion nochmals vertieft werden sollen. Sie lenken die Gruppendiskussion auf die
Fallarbeit zurück.
Fallberichterstatter
Die zweite Chemotherapie erbringt eine
subjektive Besserung beim Patienten. Er hat
weniger Schmerzen und die Schwellung am
Oberschenkel geht zurück. Zahl und Größe der
Metastasen haben jedoch zugenommen. Der
Patient und seine Ehefrau sind über jeden
Befund voll informiert. Die Ehefrau hat im
Behandlungszeitraum mehr und mehr die
Entscheidungen mitgeprägt. Beide sind über die
Ergebnisse
der
zweiten
Chemotherapie
enttäuscht. Bei einem Gespräch mit dem
Fallreferenten wünscht der Patient nun eine
weitere dritte Chemotherapie.
Studierende
Frage: ob noch eine weitere Chemotherapie
möglich ist.
Unterbrechung der Falldarstellung durch die Moderatoren. Anregung, die Situation zu analysieren
und die Vorentscheidungen miteinzubeziehen. Klärung der medizinischen Fragen und Klärung der
medizinethischen Sachverhalte.
Fallreferent
Eine weitere Chemotherapie könnte technisch
durchgeführt werden, doch sie beinhaltet keine
reelle Überlebenschance für den Patienten.
Der Wohnort des Patienten ist weit entfernt von
der Klinik und es ist Schulzeit. Die Kinder sind
nur am Wochenende zu Besuch, sie werden nie
in die Gespräche über die Behandlung
miteinbezogen.
Die Ehefrau will noch nicht aufgeben. Sie
wünscht für ihren Mann eine weiter Chemotherapie.
Dies
entspreche
auch
den
Einstellungen und Wünschen des Patienten.
Studierende
Frage nach den Kindern
Frage nach der Position und Rolle der Ehefrau
Diskussion in der Gruppe:
Wie und wer kann mit dem Patienten sprechen?
Welche Rolle kann die Ehefrau haben? Sollte
das Thema Sterben angesprochen werden?
Konsens in der Gruppe, dass je ein bis zwei
Personen vom Ärzte und Pflegeteam mit der
Ehefrau und dem Patienten reden sollten. Es
sollte, nach Meinung der Gruppe, keine weitere
Chemotherapie durchgeführt werden, da das
23
Wohl des Patienten nun neu gesehen und mit
ihm definiert werden muss. Die Sterbephase zu
akzeptieren war ein dringliches Anliegen der
Gruppe.
Das Behandlungsteam überlegt sich in dieser
Phase, ob es für die Familie besser ist, wenn der
Patient in eine heimatnahe Klinik verlegt wird:
Alle im Behandlungsteam sind sich nunmehr
einig,
keine
weitere
Chemotherapie
durchzuführen, man will noch warten, bis der
Patienten soweit ist, dies zu akzeptieren. Diese
Diskussion ist geprägt von der Sorge um den
Patienten und seine Familie. Die Belastung für
die Familie ist durch die Entfernung der Klinik
zum Wohnort sehr groß. Bei einer heimatnahen
Klinik könnten weitere Familienmitglieder und
vor allem die Kinder den Patienten häufiger
besuchen.
Die Versorgung zuhause wird von der Ehefrau
und dem Patienten abgelehnt, sie haben Angst
vor Komplikationen.
Medizinisch kann der Patient in der heimatnahen Klinik sehr gut versorgt werden.
Der Fallberichterstatter bringt zögerlich das
Argument, dass die Klinik eine Spezialklinik sei
und viele Patienten einen Platz brauchen. Dieser
Patient
braucht
diese
Art
von
Maximalversorgung nicht mehr.
Nach einem langen Gespräch willigen letztendlich der Patient und die Ehefrau in die
Verlegung in eine heimatnahe Klinik ein.
Der Fallreferent hat die Verlegung organisiert.
Er verabschiedet sich vom Patienten, was ihm
nicht leicht fällt, da es so endgültig ist.
Die Verlegung erfolgte vor zwei Wochen.
Der Fallreferent hat bis heute keine weitere
Nachricht vom Patienten; er hat mit der Klinik
vereinbart, dass sie ihn über den weiteren
Verlauf informieren werden.
Fragen, ob diese Diskussion hinter dem Rücken
des Patienten stattfand und warum der Patient
nicht in der Klinik bleiben kann.
Frage: kann der Patient nach Hause gehen.
Frage nach der optimalen Versorgung des
Patienten.
Die Gruppe ist gegen eine Verlegung. Begründungen: der Patient möchte in der Klinik
bleiben, der Patient kennt die betreuenden
Menschen und hat Vertrauen zu ihnen,
Sterbebegleitung in einer vertrauten Umgebung.
Kommentare: Schwierigkeiten in der Entscheidungsfindung, da keine eindeutig gute
Lösung zu finden ist. Die Komplexität der
Entscheidung wird erkannt.
Die Moderatoren ermuntern die Studierenden, ihre spontanen Gedanken zu äußern. Frage an die
Runde, was sie am meisten beeindruckt bzw. nachdenklich gemacht hat.
Nach dieser Phase der Entlastung werden die Äußerungen gesammelt und strukturiert. Eine
Gesamtanalyse des Fallverlaufs wird in der Gruppe durchgeführt. Informationen zu Bereichen, die
in der Falldiskussion zurückgestellt wurden ( hier z.B. über klinische Ethikkomitees,
Ressourcenallokation, Sterbebegleitung) werden nun eingebracht.
24
Diese Fallbesprechung wurde von zwei studentischen Hilfskräften (Elke Kohler und
Michael Strößler) protokolliert; ein Zeitraster von 5 Minuten war vorgegeben. In vorgefertigte
Protokollbögen und Tabellen wurden die Gesprächsinhalte und die Teilnehmer eingetragen,
die den jeweiligen Gesprächsbeitrag geliefert haben. Bei der Auswertung des Protokolls
wurden die Gesprächsinhalte nach folgenden Gruppen und Zeitabschnitten klassifiziert:
Fallvorstellung,
Fragen
und
Antworten,
Steuerungsanteile,
Zusammenfassungen,
Konfliktlösungsbeiträge.
Grobes Zeitraster des Ablaufs: die Einführung vor der eigentlichen Falldiskussion
dauerte 20 Minuten. Der Zeitbedarf für die Fallschilderung beanspruchte insgesamt 40
Minuten, die Unterbrechungen und Diskussionen sind in dieser Zeit nicht mitgerechnet. Die
Diskussion innerhalb der Gruppe und die zugehörigen Erläuterungen und Beiträge von Seiten
der Moderatoren nehmen mit 125 Minuten den größten Umfang ein. Einschließlich einer
Pause von 20 Minuten dauerte die Fallbesprechung somit 3 1/2 Stunden.
VERTEILUNG DER WORTMELDUNGEN
Studierende:
insgesamt
71
Einzelwortmeldungen,
darüber
hinaus
5
Diskussionsrunden, deren Redebeiträge nicht im einzelnen registriert wurden. 22 Fragen
beziehen sich allgemein auf die Medizin, 24 Fragen speziell auf die Medizinethik; 25
Beiträge betrafen Vorschläge und Anmerkungen zur Konfliktlösung.
Die 63 Redebeiträge der Fallreferenten verteilen sich wie folgt: 7 mal Beginn bzw.
Weiterführung der Fallschilderung, 47 Antworten auf Fragen, 5 Gegenfragen, 4 Statements.
Die 44 Redebeiträge der beiden Moderatoren gliedern sich wie folgt: 28
Steuerungsbeiträge, 5 Zusammenfassungen, 3 Beiträge allgemein zu Ethiktheorien, 8 Beiträge
zur Ethik bezogen sich unmittelbar auf den Fall.
Anzahl, Art der Redebeiträge und Zeitanteil der Studierenden sprechen für eine hohe
studentische Aktivität bei der Fallbearbeitung: alle Studierenden haben geredet. Wie immer
beteiligten sich einige Studierende stärker als andere, doch gab es keine starke Asymmetrie
derart, dass einer kleinen Gruppe von “Aktiven” eine große Gruppe von “Passiven” gegenüberstand. Der Fallreferent hatte zwar viele Fragen der Studierenden zu beantworten; die Zahl
seiner Wortmeldungen ist jedoch geringer als die der Studierenden, allerdings war seine
Redezeit pro Wortmeldung höher als die der Studierenden: die Fallschilderung als solche und
die zum Teil umfangreichen Antworten zum Krankheitsbild und zu möglichen
Therapieformen haben absolut und relativ viel Zeit beansprucht.
25
Die Moderatoren waren in erster Linie mit der Steuerung des Diskurses befasst.
Sowohl ihre Anzahl der Redebeiträge als auch ihre Gesamtredezeit im Rahmen der
Falldiskussion (die Einführung mit der Erläuterung der Spielregeln nicht gerechnet) liegen
deutlich unterhalb der Beiträge der Studierenden.
3. EVALUATION, RÜCKBLICK UND VORAUSSCHAU
Eine Woche nach dem Wochenendseminar wurden an die 13 Studierenden (2. bis 6.
Semester) Evaluationsbögen ausgegeben; neun der Teilnehmenden haben ihre Bögen wie
vereinbart vier Wochen später ausgefüllt zurückgegeben. Ihre Auswertung ergibt in Kürze
Folgendes: der Fall wurde von den Studierenden verstanden, der komplizierte medizinische
Sachverhalt hat sie nicht überfordert; die Konfliktsituationen waren gut nachzuvollziehen;
besonders gut gefallen hat die offene und angstfreie Atmosphäre während des ganzen
Seminars; Kritik wurde nicht geäußert; die Studierenden waren positiv überrascht über diese
für sie neue Lehrveranstaltung. Alle Teilnehmenden geben an, dass sie über die Inhalte und
das Seminar mit anderen Menschen gesprochen haben, alle wollen im folgenden Semester
wieder an einem Seminar teilnehmen. Die Lernziele “Sensibilisierung für ethische Fragen”
und “Motivierung” scheinen gut erreicht zu sein. Die aktive und engagierte Teilnahme am
Diskurs sowie die Ernsthaftigkeit, mit der die Studierenden die bestmöglichen Lösungen für
den Patienten suchten, sprechen für diese Bewertung.
Der vorgestellte Fall stammt aus dem Jahr 1995. Zu dieser Zeit war eine über vier
Jahre dauernde Experimentierphase schon abgeschlossen, in der Lehr-Lern-Konzepte
experimentell erprobt und einzelne Elemente dieser Konzepte mehrfach überprüft und
verändert wurden. In dieser Phase waren uns die kritischen Rückmeldungen der Studierenden
von unschätzbarem Wert; nicht wenige dieser Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die damals
ihre ersten Semester des Medizinstudiums absolvierten, haben die Entwicklung unseres LehrLern-Modells über Jahre hinweg aktiv begleitet, zuletzt als Tutoren und Moderatoren. Inzwischen sind sie Ärztinnen und Ärzte, Doktoranden mit einem medizin-ethischen Thema und
vereinzelt sogar Fallreferenten aus eigener ärztlicher Tätigkeit.
Einen wesentlichen Teil der Erfahrungen in der Experimentierphase (1989-1993)
haben wir mit unseren Seminaren im Rahmen der AiP-Fortbildungen gesammelt; über dieses
seinerzeit singuläre Modell haben wir berichtet. Die überaus positiven Erfahrungen waren
aber für die Schriftleitung der Zeitschrift "Ethik in der Medizin" Anlass, in einer
redaktionellen Fußnote leise Zweifel anzumelden hinsichtlich der positiven Bewertungen
durch die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte (Sponholz et al. 1991). Inzwischen liegen
weitere Untersuchungen/Berichte über AiP-Fortbildungen vor, die methodisch der Ulmer
26
Konzeption entsprechen und die gleichermaßen von einer großen Akzeptanz sprechen (KleinLange und Schlaudraff, 1997 sowie Neitzke 1998).
Nach Abschluss der Experimentierphase, in der die Grundformen unserer Seminare
entwickelt wurden, beginnt 1994 das Projekt "Ethik in der Medizin in frühen Phasen des
Medizinstudiums", gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
des Landes Baden-Württemberg. Zeitlich parallel erfolgten Befragungen von Studierenden
der Universitäten Heidelberg, Mainz und Ulm zu ihren Einstellungen, die sie zu Beginn des
Studiums zum großen Thema "Ethik in der Medizin" haben (Sponholz et al. 1997). Die
Ergebnisse waren insofern überraschend, als erste Befragungen von Ulmer Studierenden, die
ja schon Erfahrungen mit Ethikseminaren gemacht hatten, im Wesentlichen bestätigt wurden
durch die Aussagen der Heidelberger und Mainzer Medizinstudenten. Ein zentrales Ergebnis
ist wohl, dass über 90 % der Befragten den Bereich "Ethik in der Medizin" als wichtig für das
Studium einschätzen. Dieses Ergebnis widerlegt schlagend die häufig gehörte Meinung,
Studierende der Medizin seien überwiegend an der Ethik uninteressiert. Ein weiteres
wichtiges Ergebnis dürfte sein, dass die Mehrzahl der Befragten ein studienbegleitendes
Angebot von Lehrveranstaltungen mit medizin-ethischer Thematik wünscht. Die hohe
Akzeptanz unserer Seminare spricht nunmehr wohl dafür, dass es gar nicht auf das "ob",
sondern auf das "wie" ankommt, wie also Ethik im Medizinstudium vermittelt wird (Sponholz
et al. 1995).
Seit 1994 sind nunmehr über 80 Seminare mit über 1000 Teilnehmern in dem
vorgestellten Grundmuster durchgeführt worden: Die "Fälle" sind jeweils neu, berichtet von
einem Stamm erfahrener Referentinnen und Referenten, der kontinuierlich erweitert wird. Die
Moderatoren gehören überwiegend zu der Kerngruppe des Arbeitskreises, den Autoren dieses
Berichts, sie werden ergänzt durch erfahrene und im Moderatorentraining geschulte
Studierende und Pflegekräfte. Durch diese Variabilität der Akteure ergeben sich von Fall zu
Fall und von Seminar zu Seminar durchaus erwünschte Modifikationen, die aber das
Grundmuster, wie es inzwischen entwickelt wurde, nicht entscheidend verändern. Auch
einige Erfahrungen, nicht zuletzt gestützt auf die ständig weitergeführte Evaluation, haben im
Detail zu Modifikationen geführt (so wurde etwa das Reihumabfragen, das anfangs einige
Male geübt wurde, als regelwidrig im Hinblick auf die Spielregeln des "herrschaftsfreien"
Diskurses schnell wieder aufgegeben).
Zu den zentralen Erkenntnissen gehört die Forderung, dass derartige Seminare
zwingend studienbegleitend durchgeführt werden müssen. Diese Forderung wird immer
wieder auch von den Studierenden erhoben, die diesen Wunsch dadurch unterstreichen, dass
sie mehrfach an Seminaren teilnehmen. Entsprechend bietet der Arbeitskreis regelmäßig
27
neben den Seminaren für Erstteilnehmer auch solche Seminare an, die sich an
Fortgeschrittene wenden. In diesen Seminaren ist der Ablauf insofern modifiziert, als die
Einführung wesentlich verkürzt werden kann, die Rolle der Moderatoren vereinfacht sich
wesentlich.
Das Modell der sequenzierten Fallstudie haben wir inzwischen auch auf unser
klinisches Ethikforum angewendet. Dort werden katamnestisch Fälle von betroffenen
Ärztinnen/Ärzten, Pflegekräften und anderen klinisch Tätigen diskutiert. Das Modell ist
generalisierbar und hat sich als flexibel anwendbar bewährt (Keller 1998).
Parallel zu den Seminaren wurde in informellen Gesprächsrunden und individueller
Arbeit die Analyse der Seminare und ihrer Evaluation sowie die theorieorientierte
Durchführung der Konzeption fortgesetzt; die eigenen Lernprozesse sind ein "Work in
Progress". Die folgenden vier Exkurse reflektieren einige dieser Inhalte unseres fortgesetzten
Lernens; sie sind gewissermaßen Schnittlinien im hyperkomplexen System der Theorie und
Praxis des Lehrens und Lernens einer Ethik in der Medizin:
Exkurs I behandelt "The moral event" von Pellegrino als ein didaktisches Hilfsmittel,
um sich im Dickicht der Theoriekonzepte anhand eines konkreten Falles zurechtzufinden.
Exkurs II geht ausführlicher ein auf die Weiterentwicklung der Diskursethik (Apel,
Habermas) durch Benhabib.
Exkurs III verknüpft pädagogisches Denken Deweys, wie wir es mit dem "Learning
by doing" in unseren Seminaren praktizieren, mit dem ebenfalls mit Dewey begründeten
klinischem Pragmatismus nach Fins, Miller und Bacchetta, 1998.
Exkurs IV zitiert beispielhaft 25 Äußerungen aus Evaluationsbögen von Seminaren,
die im Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/1995 stattgefunden haben; die
Äußerungen sind mit dem Fokus "Kommunikative Ethik" ausgewählt. Dieser Begriff wird im
Fragebogen nicht als Item verwendet; vielmehr wird nur sehr allgemein danach gefragt, was
"am Seminar gefallen" habe. Die Äußerungen bleiben unkommentiert, die Interpretationen
wollen wir der narrativen Phantasie der Leser dieses Berichtes überlassen.
DER ERSTE EXKURS
The moral event: Pellegrino
Gelegentlich werden wir gefragt, welche philosophische Theorie wir den Studierenden
vermitteln; der Unterton der Frage ist meist unüberhörbar: Zuerst müsse eine stringente
Theorie der Ethik vorhanden sein als Grundlage jeglicher medizin-ethischer Praxis; die
Begriffe müssten geklärt sein, um darüber reden zu können, was z. B. Autonomie sei, was
richtig und falsch, gut und schlecht, Verantwortung für was und wen und gegenüber wem und
warum und wie begründet. So und ähnlich haben wir Fragen und Meinungen im Ohr. Der
28
leicht kritisch abfällige Unterton, den die Frager gelegentlich anklingen lassen, provoziert
dann auch in gespielter philosophischer Attitüde statt einer Antwort eine Gegenfrage etwa der
Art: Wie viele Medizinstudierende haben Sie denn in Ihrer akademischen Laufbahn bislang
unterrichtet, mit dem Ziel, deren Ethikfähigkeit hinreichend gut auszubilden? Wurden diese
Lehrveranstaltungen angemessen evaluiert? Solche Diskurse (wenn es überhaupt welche sind)
nehmen nach derartigem Fragenaustausch in aller Regel ein schnelles Ende.
Doch der Hintergrund, vor dem sich solch akademisches Geplänkel abspielt, ist unter
theoretischen und vor allem unter praktischen Aspekten zu bedeutsam, als dass er leichthin
übergangen werden könnte. Zum einen geht es tatsächlich um die allgegenwärtige
Problematik der Theorie-Praxis-Relation im Allgemeinen (Medizinethik und ihre
Begründungen im Gesamtgefüge aller Ethiken) und im Besonderen (im Kontext etwa dieses
Berichtes über die Lehr-Lern-Konzeption des Ulmer Arbeitskreises). Zum anderen sind damit
so schwerwiegende Probleme angesprochen wie die Formulierung von Lernzielen und die
noch schwerer wiegende Frage, wie und mit welchen Mitteln und Verfahren diese Lernziele
erreicht werden können. Diese Fragenkomplexe sind nun in der Tat bislang noch kaum
ausformuliert, noch weniger im Diskurs bearbeitet, kaum je in der Realität experimentell
angegangen und erprobt/geprüft.
Die betont narrativ und kasuistisch angelegte Lehr-Lern-Praxis der Ulmer Schule folgt
nicht (kann nicht folgen!) einer einzigen theoretischen Ethikkonzeption; sie ist z. B. nicht
primär utilitaristisch orientiert oder der Tugendethik allein verpflichtet. Auch die vier
Prinzipien der mittleren Ebene (Beauchamps und Childress, 1989), so brauchbar sie wegen
ihrer unstreitigen Allgemeingültigkeit auch sind, können nicht die differenzierte Vielfalt des
"Falles" in seiner jeweiligen Einzigartigkeit befriedigend abbilden (vgl. hierzu auch die
Diskussionen in DuBose, Hamel, O´Connell. A Matter of Principles (eds) 1994).
Bei der Suche nach passenden Modellen, die unserem Konzept eines narrativen
Pragmatismus entgegenkommen (s. hierzu auch Benhabib, 1995, und Fins et al., 1996, 1997,
1998, auf die wir in diesen Exkursen noch ausführlicher eingehen werden), schien uns das
von Pellegrino (1995) entworfene Schema "The moral event" besonders hilfreich. Wir
benutzen es als ein didaktisches Hilfsmittel, indem wir uns bei der Analyse eines "Falles"
orientierend fragen (hierzu verwenden die Moderatoren gerne die Formulierung "Jetzt lehnen
wir uns einmal zurück"), an welchem Ort des Schemas, in welcher ethischen
Theoriekonzeption, in welcher Begriffswelt usw. wir uns bewegen, wie und wo das konkrete
moralische Ereignis (the moral event) zu orten ist.
The Moral Event
Agent
Theories
virtue
Foci
character
intention
desire
choice
will
accountability
caring
Act
deontology
right
good
duty
rule
maxim
Circumstance
particularizing theories
caring for this person
or group in this place,
time, etc.
narrative, culture
uniqueness of the person
experience
"situation ethics"
casuistry
Aus: Pellegrino E. D.: Toward a Virtue-Based Normative Ethics for the
Kennedy Institute of Ethics Journal 5/3: 253-277, 1995
Consequence
teleology
outcomes
harms/goods
pain/pleasure
utility calculus
Health Professions.
Beispielhaft lässt sich dies an folgendem Fall zeigen, der auch insofern recht
instruktiv ist, als bei seiner sequenzierten Bearbeitung in einem Seminar die Bedeutung und
29
das Gewicht der diagnostizierten Fakten und Merkmale, Prinzipien und Tugenden sich
mehrfach wandeln.
HIERARCHIE, VORBILD UND MEDIZINETHIK
Eine Studentin berichtet in einem Wochenendseminar folgendes Erlebnis: Am Beginn
einer Famulatur an der Klinik X in der Stadt Y wird sie von den beiden Ärzten der Station,
auf der sie bei der Famulatur arbeiten soll, über den Chefarzt aufgeklärt: er sei cholerisch,
neige zu Wutausbrüchen, es sei nicht ratsam, ihm zu widersprechen. Einige Tage später erlebt
sie ihn bei der sog. Chefvisite zusammen mit den beiden Kollegen (Oberarzt und Stationsarzt)
bei einer Patientin, die aufgrund einer Trigeminusneuralgie an starken Schmerzen leidet. Der
Chefarzt erkundigt sich nach dem Befinden. Die Patientin berichtet, dass sie weiterhin starke
Schmerzen habe. Auf die Frage, ob sie denn die Medikamente genommen habe, antwortet
Frau M., dass sie die Medikamente regelmäßig einnimmt und trotzdem noch sehr starke
Schmerzen hat. Der Chefarzt macht Frau M. Vorhaltungen, es sei unmöglich, dass sie
weiterhin Schmerzen haben könne, er wirft Frau M. vor, es treffe nicht zu, dass sie das
Medikament genommen habe. Frau M. fühlt sich ungerecht behandelt; sie beginnt zu weinen,
nachdem der Chefarzt sie lautstark der Lüge bezichtigt. Die Visite wird abrupt beendet. Ärzte
und Famulantin verlassen das Krankenzimmer. Kurze Zeit später, nach Beendigung der
Visite, geht der Stationsarzt zusammen mit der Famulantin zurück zu Frau M. um sie wegen
des Vorfalls zu trösten.
Im Diskurs in der Seminargruppe werden zunächst besonders hervortretende
Charakteristika (z. B. Aspekte der Tugendethik, bezogen z. B. auf den Chefarzt) in ihrer
Bedeutung relativiert und kompliziert durch tugendethische Zuschreibungen auf andere
Beteiligte (Oberarzt, Stationsarzt, Famulantin): Wie mutig sollen und können sie sein? Wie
tief sitzt die Scham? Wie deutlich kann Empörung geäußert werden? Im weiteren Diskurs,
nachdem die Famulantin die Erzählung des Falles weitergeführt hat, treten neue Aspekte in
den Vordergrund: Die Frage, "Wer ist betroffen?" lenkt die Aufmerksamkeit der
Seminarteilnehmer zunehmend mehr auf die Patientin, wenngleich in unterschiedlicher Weise
im Vergleich mit den vier anderen Beteiligten. In diesem Diskurs werden Aspekte der
Prinzipienethik angesprochen: Autonomie, Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Schaden vermeiden,
Gutes tun. Fragen werden gestellt, wie die seelische Verletzung der Patientin wieder geheilt
werden kann, ob Heilung überhaupt möglich sei; was muss (soll) ich tun, wenn ich in eine
solche Situation (noch) einmal kommen würde? Was kann ich tun, welche Konsequenzen
hätte ich zu erwarten? Wir kommen damit auf einen konsequentialistischen Ansatz zu
sprechen. In einer neuen Schnittlinie sprechen wir über die Entscheidungen, die in diesem
Fall tatsächlich getroffen worden sind und die hätten getroffen werden können; dem ersten
Einwand, es habe ja gar keine Entscheidungen gegeben, wird im Diskurs sofort entgegnet,
dass mehrfach Entscheidungen getroffen worden sind, wenngleich stillschweigend und nicht
diskursiv: stillschweigend, allenfalls nonverbal durch Blickkontakte Einvernehmen
herstellend, wird vom Oberarzt, dem Stationsarzt und der Famulantin entschieden, dass keine
Intervention erfolgen soll/darf, dass also geschwiegen werden soll und in dieser gespannten
Situation auch eine nonverbale Reaktion nicht tunlich sei. Daraus entwickelt sich nun ein
neuer Diskurs im Seminar; sein Thema lautet: wäre nicht doch, angesichts der massiven
Kränkung der Patientin durch den Chefarzt, eine Intervention notwendig, im Interesse der
Patientin? Wer aber könnte (mit welchem Risiko?) intervenieren, wem ist ein Risiko (welches
Risiko?) zuzumuten? Mit anderen Worten: Wer hat angesichts der Abhängigkeitsverhältnisse
hinsichtlich seiner Handlungsmöglichkeiten in der gegebenen Situation das höchste/höhere
Risiko, d. h. mit welchen Folgen hat er/sie objektiv und oder subjektiv zu rechnen, wenn
er/sie (in welcher Form?) interveniert? Wir hätten zu nahezu allen diesen Fragen
unterschiedliche Antworten finden können mit unterschiedlichen Handlungsoptionen, jede
nachfolgende Entscheidung hätte zu neuen Problemen, Optionen, weiteren Konsequenzen
geführt.
30
Wir brechen an dieser Stelle das Beispiel ab; das verblüffende Ergebnis des Diskurses,
mehrfach auch in Rollenspielen erprobt und variiert, wird an anderer Stelle veröffentlicht. Es
möge genügen darauf hinzuweisen, dass die Beteiligten an diesem Diskurs offensichtlich
jenen wichtigen Schritt getan haben, auf den es uns in diesem Exkurs beispielhaft ankommt:
Das Beispiel zeigt, dass die große Mehrzahl der Fälle des medizinischen Alltags mehrere (oft
sogar viele) Facetten aufweist, die wir als moralische/ethische Ereignisse interpretieren
müssen, wenn wir den Fall, was zwingend notwendig ist, nur sorgfältig genug analysieren.
Das Schema "The moral event" von Pellegrino können wir dazu als didaktisches
Hilfsmittel/Instrument benutzen, wenn wir wissen wollen, wo und in welchem System
ethischer Theorie die von uns beobachteten Konflikte zu orten sind. Diese Form synoptischer
und differenzierender Analysen hat das Ziel, die Vielfalt und bisweilen Einzigartigkeit der
beobachteten Phänomene besser zu verstehen. Dass dieses Lernziel wenigstens ansatzweise
erreicht worden ist, möge daraus erschlossen werden, dass der Fall "Alexandra" noch heute,
Jahre später, immer wieder von den damals beteiligten Studierenden (die heute schon als
Ärzte tätig sind) im Gespräch erinnert wird.
Zum Thema "Vorbild" sei abschließend nur noch angemerkt, dass das vor allem in der
früheren Literatur über das Lehren und Lernen des Gegenstandes "Ethik" immer wieder
bemühte Modell des guten oder schlechten Vorbildes (vgl. hierzu in der neueren
einschlägigen Literatur Hufnagel, 1993) in unseren Seminaren eine auffallend seltene Rolle
spielt; darüber wird an anderer Stelle zu berichten sein.
DER ZWEITE EXKURS
Kommunikative Ethik: Apel, Habermas, Benhabib
Seyla Benhabib setzt sich in ihrem Aufsatz "Im Schatten von Aristoteles und Hegel"
(deutsch: 1995) konstruktiv mit Apel's Strategie der Letztbegründung und mit Habermas´
Strategie eines "schwachen transzendentalen Arguments" auseinander. Die von dieser Autorin
in kritischer Weiterentwicklung formulierte kommunikative Ethik sehen wir sowohl in ihrer
philosophischen Begründung als vor allem in ihrer pragmatischen Ausformulierung als
wichtigen theoretischen Hintergrund und als praktische Leitlinie unseres eigenen Lehrens und
Lernens. Einige Zitate aus dem Werk Seyla Benhabib's mögen hierzu einen Einblick
vermitteln; sie sind mit wenigen Kommentaren versehen. Die Zitate sind der
Aufsatzsammlung "Selbst im Kontext" (1995) entnommen; die Seitenzahlen beziehen sich auf
die deutsche Ausgabe.
Eine zentrale Aussage: "Kommunikative Ethik nimmt gedanklich gewaltlose
Strategien zur Lösung von Konflikten voraus, sie ermutigt Problemlösungen auf der Basis
von Kooperation und Assoziation" (S. 66). "In einem solchen Dialog bringt man die eigenen
Vorannahmen in das Gespräch ein, modifiziert sie entsprechend der Antwort des Anderen,
formuliert neue Fragen und so fort." (S. 287).
Im folgenden Text spricht Benhabib mit den Argumentationsregeln einige in der
Kommunikativen Ethik wichtige Verfahrensgrundsätze an, wie wir sie in unseren Seminaren
als "Spielregeln" mit den Seminarteilnehmern vereinbaren:
"Natürlich unterliegen praktische Argumentationen einigen Beschränkungen - etwa
der Gleichheit und symmetrischen Verteilung der Chance, Diskussionen und Debatten in
Gang zu bringen u.s.f. - die man als "deontologisch" bezeichnen kann. Es handelt sich dabei
um grundlegende Argumentationsregeln, die ein faires Ergebnis gewährleisten sollen, in dem
sie für ein faires Verfahren sorgen. In diesem Sinne unterliegt in der Kommunikativen Ethik
das "Gute", auf das sich die Teilnehmer einer praktischen Argumentation möglicherweise
einigen, einer Einschränkung durch das "Richtige", d. h. durch die Bedingungen fairer
Argumentation und fairer Debatte" (S. 297).
Deshalb, so fährt Benhabib fort, bleibt die Kommunikative Ethik notwendig eine
deontologische Theorie; im Gegensatz zu Habermas handelt es sich jedoch um eine
"schwache deontologische" Auffassung, was bedeutet, "Dass Fragen der Gerechtigkeit ebenso
31
wie Fragen des guten Lebens, Normen so gut wie Werte einer diskursiven Debatte unterzogen
werden können, dass sie in einem fortwährenden Gespräch geprüft werden können, das nicht
einen Konsens aller erstrebt, sondern eine Verständigung erreichen will" (S. 297).
Wir begegnen hier der in unseren Seminaren recht regelmäßig auftretenden Phase im
Diskurs mit den Studierenden, wenn sie uns (die Lehrenden) fragen, was denn nun in diesem
Fall, in dieser speziellen Konfliktsituation das Gute, das Richtige sei. Wir antworten, es sei
nicht unsere Aufgabe (und auch nicht unsere Kompetenz), diese Entscheidung allein zu
treffen; vielmehr müssen wir uns gemeinsam im Diskurs darüber verständigen, was hier und
jetzt, in diesem Fall und in dieser speziellen Entscheidungsproblematik das Gute, das Richtige
sei; nicht immer aber gebe es darüber Konsens. Benhabib sieht sich in dieser Unsicherheit
nicht beunruhigt: "Ich halte weder das Nebeneinander vieler verschiedener Auffassungen vom
Guten, mit denen wir in einer entzauberten Welt zu leben haben, noch den Verlust der letzten
Gewissheit in der Moraltheorie für einen Grund zur Beunruhigung." Sie begründet dies wie
folgt: "Eine moderne Moraltheorie kann uns höchstens einige sehr allgemeine Kriterien an die
Hand geben, mit deren Hilfe wir uns der eigenen Intuitionen hinsichtlich der grundlegenden
Werthaftigkeit bestimmter Handlungsweisen in der Integrität bestimmter Werte versichern
können" (S. 85).
An anderer Stelle (in: Über das Urteilen und die moralischen Grundlagen der Politik
im Denken Hannah Arendts, 1995) formuliert Benhabib praxisnäher: "Je mehr Perspektiven
verschiedener Menschen wir in unser Verständnis einer Situation einbauen können, um so
eher werden wir deren moralische Relevanz und ihre moralische Bedeutung erkennen können,
um so eher werden wir in der Lage sein, die möglichen Beschreibungen unserer Handlungen
durch andere richtig einzuschätzen. Und schließlich: je eher wir im Stande sind, den
Standpunkt anderer einzunehmen, um so lebhafter werden wir uns die narrative Geschichte
anderer vorstellen können."
Wir können an dieser Stelle eine Brücke schlagen zum ersten Exkurs, in dem die
etwas polemische Frage gestellt war, welche ethische Theorie wir den Studierenden
vermitteln. Nunmehr können wir diese Frage dahingehend umformulieren, welches
philosophische Gerüst wir unserem Lehren und Lernen zugrunde legen: wir arbeiten mit einer
Form der Kommunikativen Ethik, wie sie Apel und Habermas ausformuliert haben und wie
sie dann von Seyla Benhabib weiterentwickelt wurde. Dabei möchten wir mit Benhabib den
Anschluss an die hinter uns liegende Moderne nicht vermissen:
"Zu den Hinterlassenschaften der Moderne, die wir heute zwar neu überdenken, aber
nicht 'in die Vergangenheit hinab versenken' sollten, zählt der moralische und politische
Universalismus mit seinen gegenwärtig 'altmodisch', ja geradezu suspekt erscheinenden
Idealen der Achtung vor dem Menschen als Menschen; der moralischen Autonomie des
Einzelnen; der ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit; der aktiven
Teilnahme am demokratischen Prozeß; der größtmöglichen bürgerlichen und politischen
Freiheit, soweit sie mit den Prinzipien der Gerechtigkeit vereinbar ist; der Bildung
menschlicher Gemeinschaften auf der Grundlage von Solidarität." (S. 8) (Siehe zur
kommunikativen Ethik auch Ott 1993).
Der vierte Exkurs wird einigen Aufschluss darüber geben, wie die Lernenden das
Lernen einer Kommunikativen Ethik beurteilen.
DER DRITTE EXKURS
Dewey und die Folgen: "Learning by Doing" und "Clinical Pragmatism"
Es wird berichtet, das Buch "How we Think" (1910) von Dewey (1859-1952)
sei über Jahrzehnte hinweg das einflußreichste Buch an den amerikanischen Hochschulen für
Lehrerbildung gewesen. Deweys Hoffnung aber, das reformierte Schulwesen bilde den
Ausgangspunkt für die Herbeiführung einer demokratischen Gesellschaft, schwindet im Alter:
"Es ist meines Erachtens unrealistisch anzunehmen, dass die Schulen eine Hauptagentur zur
Produktion des geistigen und moralischen Wandels werden können, die zur Herbeiführung
32
einer neuen gesellschaftlichen Ordnung notwendig wird", schreibt der fast 80jährige Dewey
(Schreier 1991).
Dennoch: Seine Maxime des "Learning by Doing", wohl aus den Jahren um die
Jahrhundertwende, also vor drei Generationen formuliert, hat heute gleichermaßen wie
damals seine Gültigkeit. Dies gilt auch und gerade für die Ausbildung der künftigen Ärzte,
nicht zuletzt in Deutschland. Die Auseinandersetzung um eine neue Approbationsordnung,
die nun schon seit Jahren in einem Prinzipienstreit zwischen Reformern und Traditionalisten
nahezu in einer Agonie verharrt, läßt sich an dieser Maxime messen: Die Reformvorschläge
des Wissenschaftsrates (1992), des Murrhardter Kreises (1995), des Berliner
Reformstudienganges (Burger und Scheffner,1993), aber auch die aus der Lehrpraxis
erwachsenen Modelle, wie Ethik in der Medizin gelehrt und gelernt werden kann - im Kern
und im Detail folgen sie der Dewey´schen Maxime des "Learning by Doing". Die
Projektmethode und die Arbeit an Fällen, von Dewey sozusagen neu erfunden (zur Historie
siehe Frey 1996, dort Übersicht), müssen heute nicht mehr um ihre Legitimation kämpfen;
dass sie sich in der alltäglichen Praxis medizinischer Ausbildung und in den
Ausbildungsordnungen noch immer nicht allgemein durchsetzen können, ist wohl nicht
besseren pädagogischen Wissens, sondern eher dem Fächeregoismus und der Angst vor dem
Verlust von Privilegien anzurechnen. Vielleicht war es für die Berichterstatter des Ulmer
Ethik-Lehr-Modells sogar von Vorteil, dass sie ihre Konzeption abseits von Fächeregoismus
und kleinlichem Streit um Kompetenzen und Zuständigkeiten entwickeln und erproben
konnten, gewissermaßen im Stillen und doch auch in offener Konkurrenz zu dem
herkömmlichen Frontalunterricht und dem Pauken von abfragbarem Wissen.
Die große Akzeptanz bei Studierenden gleichermaßen wie bei den Lehrenden sorgte
schnell für das Bekanntwerden dieses Modells über die engeren Grenzen hinaus; Gäste aus
anderen Universitäten, Lernende und Lehrende, haben erfahren, daß das "Learning by Doing"
auch und gerade für den fächerübergreifenden Querschnittsbereich einer Ethik in der Medizin
unverzichtbar ist: die Beteiligten an diesem Prozess lernen gemeinsam das Handeln, wie
ethische Konflikte im Diskurs entschieden werden (s. hierzu den zweiten Exkurs). Der ethische Diskurs stellt so etwas dar wie kommunikatives Handeln.
"Clinical Pragmatism" nennen Fins, Bacchetta und Miller (1996 - 1998) ihre Methode
des Lösens moralischer/ethischer Probleme, die inspiriert ist durch die Philosophie von John
Dewey: "Clinical pragmatism treats moral rules and principles as hypothetical guides that
identify a range of reasonable moral choices for the deliberations of patients, families, and
clinicians." Die Autoren beziehen sich dabei auch auf Moreno (1995), der im Hinblick auf
komplexe Entscheidungen bei ethischen Konflikten die Frage stellt: "How is moral consensus
possible and how do small groups help create or distort consensus processes?". In ihrem
Aufsatz "Clinical Pragmatism: John Dewey and "Clinical Ethics" (1996) greifen Miller, Fins
und Bacchetta auf eine frühere Maxime Dewey's zurück: "... we see Dewey's basic social
ideal of democracy as a way of life as an orienting perspective for the reform of clinical
practice, both with respect to the clinician-patient (or surrogate) dyad and various institutional
dimensions of health care. The pragmatic method of inquiry and problem-solving and the
democratic model represent the two pillars of an approach to clinical ethics that we call
´clinical pragmatism´" (S. 29).
In den Conclusions ihres den "clinical pragmatism" begründenden Artikels gehen die
Autoren kurz auf Aspekte der Ausbildung ein; und mit den nachstehenden Sätzen leiten wir
über zu dem von uns erprobten Modell des Lehrens und Lernens, das wir mit dem
vorliegenden Aufsatz ausführlicher vorstellen: "Dewey saw education as a major instrument
of social reform. We will examine how clinical pragmatism can be taught to medical and
nursing students and to clinicians with the aim of integrating ethics into clinical practice." (S.
51).
Wir kehren zurück zum ersten und zweiten Exkurs; dort haben wir das "Learning by
Doing" beschrieben, wie wir es dem Pädagogen Dewey folgend in den Seminaren mit den
33
Studierenden zusammen üben. Im klinischen Pragmatismus (Clinical Pragmatism nach Fins et
al.) ist der Philosoph und Ethiker Dewey, Mitbegründer des Amerikanischen Pragmatismus,
die richtungweisende Leitfigur. Das Ulmer Modell des Lehrens und Lernens einer
pragmatisch orientierten medizinischen Ethik verbindet nun das pädagogische Erbe Dewey's
mit dem Modell einer kommunikativen Ethik, wie sie von Seyla Benhabib aus der
Diskursethik von Apel und Habermas entwickelt wurde. Beiden, Benhabib und Dewey, ist
gemeinsam die fundamentale "Achtung vor dem Menschen als Menschen" (Benhabib) und
die soziale Gerechtigkeit und Gleichheit sowie das Ideal der "Democracy as a way of life"
(Dewey). Diesen Idealen fühlen auch wir uns mit unserem Lehren und Lernen verpflichtet.
DER VIERTE EXKURS
Kommunikative Ethik: 25 Stimmen von Lernenden
"Die zentrale Prämisse der Diskursethik schreibt fest, dass nur diejenigen Normen und
normativen institutionellen Regelungen gültig sind, denen alle Betreffenden in einer
speziellen Argumentationssituation, die als "Diskurs" bezeichnet wird, zwangsfrei zustimmen
können. Das ist die Metanorm der moralischen Autonomie innerhalb der Diskursethik"
(Benhabib 1999).
In unseren Ethikseminaren für Studierende der Medizin in der Universität Ulm
sprechen wir mit Beteiligten im "herrschaftsfreien Diskurs" (Habermas, Apel), im
"Sokratischen Gespräch", (Nelson 1996, Heckmann 1993, Birnbacher 1996) über
medizinethische Konflikte und daraus sich ergebende Entscheidungen, um zu
Problemlösungen zu kommen; über die theoretischen Begründungen der Diskursethik, wie
überhaupt über ethische Theorien, sprechen wir nur sehr wenig, fast überhaupt nicht, und
wenn, dann nur auf mehr oder minder ausdrücklichen Wunsch der Studierenden (manchmal
und selten etwas mehr).
Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer an den Seminaren füllt am Ende der 8 bis 10
Stunden des intensiven Diskurses in den Klein- und den Kleinstgruppen einen
Evaluationsbogen aus, in dem u. a. auf die offene Frage "Was hat Ihnen gut am Seminar
gefallen?" Antworten erbeten werden. Aus einer Stichprobe (Seminare vom Sommersemester
1994 und vom Wintersemester 1994/95) der insgesamt rund 1000 Evaluationsbögen suchten
wir Antworten heraus, die sich auf Merkmale der kommunikativen Ethik beziehen. Wir
wollen nur hören, was die Lernenden uns zu sagen haben, deshalb lassen wir die 25
Äußerungen unkommentiert; die Studierenden sollen das letzte Wort haben:
1.
"... Die gute Atmosphäre in der Gruppe. Jeder konnte sich durch eigene
Gesprächsbeiträge beteiligen."
2.
"... Jeder konnte offen seine Meinung sagen; aktive Mitarbeit statt Vortrag."
3.
"... dass man in kleinen Gruppen gearbeitet hat und sich jeder beteiligen konnte."
4.
"... Ruhige Atmosphäre, kein Konkurrenzdruck."
5.
"... Ich fand die offene Diskussion in der Gruppe sehr wichtig - man konnte die eigene
Position zu einer Problematik neu überdenken und mit Hilfe der Anregungen anderer
Teilnehmer ggf. korrigieren."
6.
"... Offenheit, mit der die eigene Meinung geäußert werden konnte."
7.
"... Offene Gespräche unter Gleichgestellten und dadurch Beleuchtung der Konflikte
aus unterschiedlichen Perspektiven."
8.
"... Ich fand es besonders wichtig, viele verschiedene Positionen zu einer Problematik
kennenzulernen und dabei festzustellen, dass fast alle irgendwo vertretbar aber auch
anfechtbar sind."
34
9.
"... Offene Auseinandersetzung; ruhige, klare Gespräche unter klarer zurückhaltender
Moderation."
10.
„... Beleuchtung vieler Facetten eines Problems, Hören konträrer Meinungen und
Argumente.“
11.
"... wie immer die gemeinsame Erarbeitung von Problemen, das Herauskristallisieren,
das Nachvollziehen von Gedanken, Anregungen von anderen in der Gruppe."
12.
"... Die Themen wurden von allen Seiten beleuchtet, es war immer genug Zeit, darüber
nachzudenken und mitzudenken."
13.
"... Respektvoller Umgang miteinander - einander zuhören."
14.
"... Das Aufeinandertreffen teilweise sehr unterschiedlicher Meinungen und das
Auseinandersetzen mit diesen oft von der eigenen Meinung abweichenden Themen
erweiterte den Blickwinkel hinsichtlich gewisser Probleme."
15.
"... Ich habe für mich persönlich meinen "Denkhorizont" erweitert, neue Probleme erkannt, werde bestimmt auch noch weiter darüber nachdenken."
16.
"... Die intensive Beschäftigung mit einem ethischen Konflikt, in diesem Fall der
Sterbehilfe ... sehr interessant, dass doch relativ unterschiedliche Meinungen
vorhanden waren."
17.
"... Ich habe mich ernst genommen gefühlt, konnte mich frei äußern. Ich hatte die
Möglichkeit, Fragen zu stellen, wenn mir etwas unklar war."
18.
"... Neue Meinungen, Ideen, Vorstellungen der anderen, die ich in meine
Vorstellungen einbauen konnte."
19.
"... Jeder Teilnehmer konnte zu jedem Zeitpunkt seine Meinung bzw. Fragen los
werden, konnte ausreden, wurde ernst genommen."
20.
"... Zahlreiche Meinungen und Gesichtspunkte werden zusammengebracht; man wird
sich gemeinsam der Komplexität bewusst und lernt sich auch in andere Personen
einzufühlen."
21.
"... Solidarität mit anderen bzw. ich stehe doch nicht alleine da."
22.
"... Anreiz zum eigenen Weiterdenken und entdecken."
23.
"... Gleichberechtigung aller Teilnehmer, Erlaubnis "dumme Fragen" zu stellen."
24.
"... Kommunikation war vorhanden, durch Einblick vieler Meinungen konnte der
Horizont erweitert werden."
25.
"... Spannende, sehr einfühlsame Schilderungen, auch genügend Theorie. Ganz klasse
fand ich, dass man soviel fragen konnte wie man wollte, d. h. es war z. B. nicht zu viel
und nicht zu wenig Theorie."
FAZIT
Der Arbeitskreis "Ethik in der Medizin" stellt mit diesem Bericht zum ersten Mal
ausführlicher die vom Arbeitskreis entwickelte Konzeption der sequenzierten Fallanalyse vor,
die ein Kernstück bildet in den seit vielen Jahren an der Universität Ulm durchgeführten
Seminaren zur "Ethik in der Medizin". Diese Seminare erfahren eine hohe Akzeptanz; die
Teilnahme erfolgt freiwillig; die Seminare gehören nicht zum Pflichtcurriculum.
35
Der Arbeitskreis wurde seit Beginn seines Bestehens (1989) vielfach unterstützt durch
die Universität Ulm, ihre Medizinische Fakultät, die Ulmer Universitätsgesellschaft sowie
durch großzügig bemessene Projektmittel durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung
und Kunst des Landes Baden-Württemberg. Dafür danken wir.
In diesem Bericht klingt mehrfach an, dass die Seminare nur in solcher Intensität und
in solchem Umfang durchgeführt werden konnten dank des hohen Einsatzes einer Vielzahl
von Mitgliedern der Universität, von Studierenden, Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und
auch Patientinnen und Patienten. Ebenfalls konnten wir sehr häufig Gäste begrüßen, die
entweder als Berichterstatter mit eigenen Fällen oder als aufmerksame Teilnehmer einen
Beitrag zum Gelingen unserer Seminare geleistet haben. Damit ist auch eine unseres
Erachtens zentrale Aussage von Ritschl zu wiederholen, die wir eingangs unseres Berichtes
zitiert haben: Medizinische Ethik ist "nicht ein Fach wie die Physik oder die Jurisprudenz, in
denen Experten verbindliche Auskunft und entsprechende Anweisungen geben können".
Vielmehr kann das Lehren und Lernen nur gelingen, wenn alle Beteiligten am medizinischethischen Geschehen den permanenten Lernprozess nicht nur passiv registrieren, miterleben
oder miterleiden; das aktive Mitgestalten an diesem Lernen und Lehren ist eine
Voraussetzung dafür, dass Ethik in der Medizin aus der randständigen Rolle in das Zentrum
der Medizin sich hineinentwickelt. Wir verbinden mit dieser Aussage eine Forderung: Die
Krise der modernen Medizin ist auch und vielleicht in erster Linie verknüpft mit Defiziten im
Lehren und Lernen des medizin-ethischen Diskurses; hieraus ergibt sich die dringende
Forderung, diesen Diskurs intensiver als bisher zu praktizieren. Der Lernprozess in kleinen
Gruppen anhand realer Fälle, die im medizinethischen Diskurs bearbeitet werden, leistet
hierzu einen Beitrag.
Abschließend sei noch eine Problematik angeschnitten, die sich mit dem schwierigen
Aspekt befasst, ob Ethik in der Medizin in einer künftigen Ausbildungsordnung ein
Pflichtfach werden soll. Sollte dies der Fall sein (einiges spricht nach dem Beratungsstand
dafür), dann darf uns Lehrende dies nicht von unseren Pflichten entbinden, eine dieser
Aufgabe angemessen aufwendige Lehr-Lern-Konzeption anzubieten; die sehr entmutigenden
Erfahrungen mit den sog. Pflichtfächern, wie sie noch immer, leider allzu oft, im Paukstil
exekutiert werden, sollten uns eine Lehre sein. Wir hoffen und wünschen uns, dass die hohe
Akzeptanz der von uns als freiwilliges Lehrangebot durchgeführten Seminare von uns selbst
(und vielleicht auch von anderen Lehrenden) als ein verpflichtender Qualitätsstandard verstanden wird, der auch für eine künftige Pflichtveranstaltung gelten muss.
36
DANKSAGUNG
Am Gelingen des erfolgreichen Unternehmens "Ethik in der Medizin" an der
Universität Ulm haben viele Menschen mitgewirkt. Sie waren als Moderatorinnen und
Moderatoren, Fall-referentinnen und Fallreferenten, Organisatorinnen und Organisatoren in
den letzten 5 Jahren tätig; Ihnen, den Schwestern und Pflegern, Studentinnen und Studenten,
Ärztinnen und Ärzten, Professorinnen und Professoren, Dozentinnen und Dozenten,
Patientinnen und Patienten, Biologinnen und Biologen, danken wir herzlich:
Birgit Abler, Annette Bauer, Helga Bauhard, Clemens Becker, Petra Blum, Maxi Braun,
Thomas Brummer, Annika Callsen, Elfriede Dehlinger, Michael Dippers, Axel Fetzer, Heinz
Fischer, Stefanie Fleischer, Gerhard Gaedicke, Regina Gaissmaier, Dieter Gerstner, Michael
Gommel, Markus Guhlich, Stefan Hamm, Helmut Harr, Hermann Heimpel, Katrin Herdegen,
Ingo Kennerknecht, Henrik Kessler, Sarina Kirchmann, Elke Kohler, Jörg Kustermann,
Claudia Lensing, Gert Liffers, Manfred Lutz, Regine Mayer-Steinacker, Elisabeth McAvinue,
Martina Muckel, Brigitte Munzert, Christoph Ochsenfahrt, Wolfgang Paulus, Friedemann
Pfäfflin, Martina Pfeiffer, Claudia Preuß, Angelika Rapp-Dvorak, Rosemarie Rau, Irene
Reinisch, Gerd Richter, Susanne Roller, Anne Rose, Julian Rosenthal, Margarethe Ruepp,
Armin Schaer, Margaretha Schlipf, Ursula Schluckebier, Michael Schmidt, Michael Schulte,
Andrea Seufferlein, Daniela Sigrist, Kim Spallek, Dorothee Speit, Günter Speit, Gaby Staib,
Jürgen Steinacker, Claudia Steinhauser, Michael Strößler, Stefan Thamasett, Andreas Uhl,
Walther Vogel, Gerhard Wech, Monika Weiss, Heidemarie Wiedeck, Kerstin Wiesmiller,
Hans-Joachim Winckelmann, Anja Wirth, Michael Wolf, Manfred Wolfersdorfer, Eylem
Yalcin, Alexandra Zagoura, Andrea Ziegler
37
LITERATUR
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40
ANHANG
Die Arbeitsmappe
Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer erhält zu Beginn des Ethikseminars eine Arbeitsmappe.
Diese wurde von Mitgliedern des AK "Ethik in der Medizin" erstellt, sie wird ständig
überarbeitet; die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden gebeten, die Mappe durch eigene
Materialien zu ergänzen.
Übersicht über die Inhalte der Arbeitsmappe
Texte zur Theorie:
Definitionen, Prinzipien, Zitate aus der Literatur.
Hinweise zur Falldiskussion:
Zusammensetzung der Gruppe,
Lernziele, Spielregeln.
Ethik in der Praxis:
Die Komplexität der Entscheidungssituationen,
Beispiele wichtiger medizinethischer Konfliktfelder,
Fragen zur Situation der Fort- und Weiterbildung,
Kodizes, Richtlinien, Deklarationen, Berufsordnungen.
Ausgewählte Literatur zur Bioethik,
Hinweise zu Literaturdankenbanken.
Hilfsmittel und Arbeitsbögen zur Analyse und zur Behandlung medizin-ethischer Konflikte
(z. B. Bochumer Arbeitsbogen).
Die Klassifikation von Lernzielen
(nach Krathwohl et al. 1978 sowie Piper 1993)
Haltungen, Einstellungen, Werte
(Values, Attitudes, Beliefs)
Empathie, Vertrauen,
Teamgeist, Lust am Lernen,
Verantwortung übernehmen usw.
Fähigkeiten und
Fertigkeiten (Skills)
Diskurskompetenz,
Problemlösungskompetenz,
klinische Fähigkeiten und
Fertigkeiten, Analysekompetenz, Urteilsfähigkeit usw.
Wissen
(Knowledge)
Faktenwissen,
Verfügungswissen usw.
Theorien, Normen, Regeln
Ordnungen usw.
"it is a call (this book) to rebalance the educational trilogy of values, knowlege, and skills.
Each is important; each is insufficient in isolation."
(Piper 1993, S. 10)
41
PERSPEKTIVEN UND GEDANKEN ZUR MEDIZIN-ETHISCHEN AUSBILDUNG
*
Andreas Uhl, Claudia Lensing
Arbeitskreis Ethik in der Medizin, Universität Ulm
1.
GEDANKEN ZUR MEDIZINETHISCHEN AUSBILDUNG
Bei der Ausarbeitung des Beitrages diskutierten wir die Frage: Warum der Bereich
Ethik wichtig und notwendig für das Medizinstudium ist?
Dem wollen wir folgende Überlegung voranstellen: Die Humanmedizin umfaßt
mehr als nur Naturwissenschaft. Sie bedient sich zwar natur-wissenschaftlicher
Methoden und Erkenntnissen, steht aber durch die Individualität der Patienten und
Ärzte immer wieder vor komplexen Fragestellungen und Lösungen.
Das Studium sollte Studierende darauf vorbereiten, daß sie in ihrem ärztlichen
Handeln nur selten monokausale Entscheidungsoptionen vorfinden, sondern vielmehr
mehrdimensionalen Entscheidungsprozessen gegenüberstehen. [1]
Sei es auf der kulturellen Ebene: Eine schwangere Muslime möchte von ihrem
Frauenarzt erfahren, welches Geschlecht ihr Kind (ca. 11. Schwangerschaftswoche) hat.
Sollte es ein Mädchen sein, so wird sie die Schwangerschaft unterbrechen. Sie hat schon drei
Töchter und ihr Mann akzeptiert nur noch einen schon lang ersehnten Sohn. Wie sollen wir
als zukünftige Ärzte mit diesen uns widerstrebenden Konflikten umgehen?
Oder auf der therapeutischen Ebene: Die heutigen Therapien der rheumatoiden
Arthritis können nur symptomatisch erfolgen, erzielen auf lange Sicht keine Besserung und
gehen mit vielen unerwünschten Wirkungen einher. Gleichzeitig ist bei jedem Patienten der
Krankheitsverlauf sehr unterschiedlich. Wie soll nun mit einem neuen, noch nicht erprobten
Therapiekonzept umgegangen werden?
Oder muß ein im sterben liegender Patient vor dem Verdursten mit einer Infusion
bewahrt werden? Ist es nicht möglich, daß wir den allgemein anerkannten Wert auf den
Sterbenden übertragen, daß es grausam ist, einen Menschen verdursten zu lassen? In der
Literatur gibt es Hinweise, daß auf hormoneller Ebene eine geringere Ausschüttung von
*
Der Beitrag entspricht inhaltlich dem Vortrag, den wir auf der Fachtagung „Nephrologie, Ethik und
Ziele der Medizin” am 13. September 1997 in Ulm gehalten haben. Ein Anliegen der Organisatoren der
Fachtagung war es, studentische Beiträge in ein hauptsächlich von Hochschullehrenden geprägtes Forum
einzufügen, um die Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden zu verkleinern. Wir griffen diesen Vorschlag
auf und erarbeiteten einen Vortrag, in dem wir unsere Erfahrungen darstellten, die wir in den letzten vier bis
fünf Jahren in Ethikseminaren gemacht hatten. Wir erleben in Ulm eine kontinuierliche Ausbildung in Ethik in
der Medizin und sind selbst als Studierende in der Ausbildung von Studierenden engagiert.
42
Schmerzantagonisten (Opioide) beim exsikkiert Sterbenden stattfindet und dadurch ein
weniger qualvoller Tod eintreten könnte.
Diese Beispiele sollen einen Einblick in die Vielfältigkeit von Konfliktfeldern geben,
die im ärztlichen Alltag auftreten können. Betrachten wir diese drei Beispiele genauer, so
stellen wir fest, daß immer ein übergeordnetes Wertesystem des einzelnen zu einer jeweils
individuellen Entscheidung oder Einstellung führt.
Das Medizinstudium bereitet auf die Tätigkeit als Arzt vor, d.h. die Qualtät der
ärztlichen Tätigkeit steht in einem direkten Zusammenhang mit der Ausbildung.
Aus diesem Grund ist es wünschenswert, daß das Studium auf folgende ethische Bereiche
vorbereitet:
•
Erkennen ethischer Konfliktfelder
•
Orientierung in der Pluralität medizin-ethischer Auffassungen
•
Problemlösungskompetenz
•
Kommunikation
Findet eine Vorbereitung auf die genannte Problematik nicht statt, werden Studierende
einem luftleeren Raum überlassen, der häufig nicht bewußt wahrgenommen wird. Erst im
Praktischen Jahr oder in der Zeit als Arzt im Praktikum, wenn konkrete Probleme im Umgang
mit Patienten, Angehörigen oder Kollegen entstehen, wird dieses Defizit erkannt.
Wie sieht die gegenwärtige Vorbereitung aus? Dozierende, Ärzte und Forscher stellen
in unserer Ausbildung, also im Sozialisierungsprozeß zum Arzt, Orientierungspunkte und
Vorbilder dar. Wir als Studierende werden über Jahre hinweg durch deren Verhalten und
Einstellungen geprägt. In keiner Lehrveranstaltung wird jedoch gefordert, das eigene
Wertesystem, geschweige denn das der Dozierenden zu reflektieren oder zu hinterfragen.
Statt dessen übernehmen wir unbewußt die vorgelebten Einstellungen (und die sind nicht
immer die allerbesten!).
Wir leben in einem offenen System. Auf die Medizin bezogen bedeutet dies, daß sich
beispielsweise durch den medizintechnischen Erkenntniszugewinn auch die jeweiligen
ethischen Fragestellungen wandeln. Folglich sollten Studierende in ihrer Ausbildung darauf
vorbereitet werden. Die folgende Überlegung verdeutlicht dies: Vor 40 Jahren war es
unwahrscheinlich, Beiträge mit der Überschrift zu lesen, wie „Der Mensch hat ein Recht zu
sterben”[2]. Heute werden Artikel dieser Art häufiger veröffentlicht, da der medizinische
Fortschritt eine Vielfalt an lebensverlängernden Maßnahmen ermöglicht und durch die neue
Situation wiederum andere Probleme entstehen. Werden diese lebensverlängernden
Maßnahmen bejaht, stellt sich ab einem bestimmten Punkt die Frage nach der Lebensqualität.
43
Dem Erlernen der oben aufgeführten Fähigkeiten steht ein Ziel voran: Das Wecken
der Bereitschaft, medizinische Sachverhalte und Zusammenhänge selbständig auf ethische
Aspekte zu untersuchen und die eigene moralische Grundhaltung zu reflektieren.
Bei einer Umfrage unter Medizinstudierenden in der Vorklinik beobachtete Sohr, daß
„ein Ruf nach mehr menschlichen Qualitäten” laut wird und oft die Meinung vertreten wird,
daß „gute Ärzte nicht nur durch fachliche Fähigkeiten brillieren”[3]. Von Ärzten wird das
Beherrschen von Operationstechniken erwartet ebenso moralisches Handeln. Es stellt sich die
Frage, ob ethische Kompetenzen nicht selbstverständliche fachliche Fähigkeiten sind?
Unsere Erfahrungen spiegeln sich in einer Befragung von Ulmer Studierenden der
Medizin am Ende des ersten Semesters wieder [4]. 60% der Studierenden hatten zu diesem
Zeitpunkt an einem Ethikseminar teilgenommen. Die Ergebnisse dieser Befragung zeigen,
daß die große Mehrheit dieser Gruppe der Auffassung ist, Ethik in der Medizin sei ein
wichtiger Lehrgegenstand und Studierende sollten schon früh auf das Erkennen und
Bearbeiten ethischer Konfliktsituationen vorbereitet werden. Alle Studierenden, die an einem
Wochenendethikseminar teilgenommen hatten, wünschten, daß Veranstaltungen zur Ethik in
der Medizin studienbegleitend angeboten werden, wobei die Mehrheit fallorientierte
Kleingruppenseminare bevorzugt. Die Gruppe derer, die keine Ethikveranstaltung besucht
hatten, unterschied sich zum Teil deutlich in ihren Aussagen. Nur ca. 55% der Studierenden
dieser Gruppe meinte z.B., daß die Vorbereitung auf das Erkennen und Bearbeiten ethischer
Konflikte schon in den ersten Semestern stattfinden sollte. Ebenso stimmten auffallend
weniger Studierende einem studienbegleitendem Angebot zu.
Gerade in der Vorklinik sind Studierende hoch motiviert. Hier sollten Impulse von
Seiten der Lehrenden gesetzt werden. Lind untersuchte bei deutschen Studierenden die
Änderung der moralischen Urteilskompetenz während des Studiums [5]. Die Studierenden
wurden in 2 Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe von Medizinstudierenden und eine Gruppe
anderer Studierender, worunter sämtliche andere Fächer fallen. An der Studie haben über den
gesamten Zeitraum 104 Medizinstudenten und 604 Studenten anderer Studiengänge
teilgenommen. Der C score hat einen Intervall von 0 bis 100 Prozent, wobei 0% die
Abwesenheit moralischer Urteilskompetenz und 100% die perfekte Urteilskompetenz
bedeutet.
Als Ergebnis konnte, wie auch untenstehende Grafik zeigt, festgestellt werden, daß
Medizinstudierende im Vergleich zur Gruppe der anderen Studierenden mit einer deutlich
größeren moralischen Urteilskompetenz zu studieren beginnen. Diese Kompetenz läßt im
Verlauf des Studiums deutlich nach. Im Vergleich mit der Gruppe der anderen Studierenden
wird die Urteilskompetenz nach 13 Semestern sogar kleiner.
44
Ände rung de r moralische n Urte ilskompe te nz be i de utsche n Me diz instude nte n
49
C Score (%)
47
45
43
41
1
5
9
1 Semester =0,5 Jahre
13
Medizinstudenten
Andere Studierende
Grafik freundlichst überlassen von Georg Lind; Konstanz [5]
Welche Schlüsse können aus der Studie von Lind gezogen werden? Unseres Erachtens
ist es zunächst wichtig, das Interesse an moralischen Fragen zu fördern, um die Entwicklung
gegenläufig zu beeinflussen oder das hohe Maß an Idealismus in professionelle
Handlungsoptionen für den klinischen Alltag umzuwandeln. Was für Gründe gibt es für das
Nachlassen der moralischen Urteilskompetenz im Verlauf des Medizinstudiums? Liegt es an
der Konfrontation mit der Realität oder daran, daß im Rahmen des bisherigen Studienplans
keine Reflexion der Erfahrungen im Klinikalltag stattfindet?
Ein weiterer Aspekt, warum es zu einer Änderung der moralischen Urteilskompetenz
bei Medizinstudenten während dem Studium kommt, könnte auch sein, daß ein medizinisch
guter Arzt viel Wissen benötigt, um dem Patienten eine möglichst gute Behandlung
zukommen zu lassen und somit beim Medizinstudenten der Wissensbereich in den
Vordergrund tritt und andere Bereiche wie die Ethik nur noch von unter geordnetem Interesse
sind. Eine Forderung an eine neue Approbationsordnung ist, diesem Dilemma gerecht zu
werden,
in
dem eine
Verknüpfung
der
verschiedenen
Bereiche
stattfindet
und
studienbegleitend Ethik in der Medizin unterrichtet wird.
2. ARBEITSKREIS ETHIK IN DER MEDIZIN DER UNIVERSITÄT ULM
Der Arbeitskreis „Ethik in der Medizin“ ist ein Zusammenschluß von Pflegekräften,
Ärztinnen und Ärzten, Studierenden der Medizin und Biologie, Naturwissenschaftlern,
Juristen, Psychologinnen und Pädagogen, die überwiegend an der Universität Ulm tätig sind.
Ein Hauptziel dieser Gruppe ist die Einübung und Förderung der Ethikfähigkeit für Alle die
45
im Gesundheitswesen und / oder in der Forschung tätig sind. Derzeit hat der Arbeitskreis 60
Mitglieder.
Die Ethikkurse sind freiwillig, die Teilnahme und der Erfolg eines Seminars beruht
auf dem Engagement des Einzelnen. Die Herausarbeitung der Konfliktfelder hängt im
wesentlichen davon ab, wie sich die Teilnehmer einbringen, der Moderation fällt die Aufgabe
zu, einzelne Impulse zu setzen, Ideen beizusteuern.
Statistisches zum Arbeitskreis
In der Zeit vom Sommersemester 1994 bis Ende Wintersemester 1997/98 wurden vom
Arbeitskreis Ethik in der Medizin 56 Seminare mit insgesamt 750 Teilnehmern durchgeführt.
Seminare, die im Rahmen des Praktikums der Berufsfelderkundung und innerhalb der
Erstsemestereinführung der Fachschaft Medizin veranstaltet wurden, sind hier nicht
eingerechnet. Die Zahl der Teilnehmenden pro Semester stieg von ca. 40 im Sommersemester
1994 auf ca. 150 im Wintersemester 1997/1998. Zum Vergleich: Einem Jahrgang gehören
260 bis 300 Studierende an. Welche Erfahrungen gibt es in bezug auf ethische Ausbildung in
den ersten Semestern des Medizinstudiums?
1996 wurde eine Befragung unter Studierenden der Medizin der Universität Ulm des
1. Studienjahres durchgeführt (n=250; dies entspricht 96% des Jahrgangs) [6]. Die Aussage
„Als Unterrichtsform eignet sich am besten die fallorientierte Kleingruppenarbeit” wurde zu
77% als zutreffend und nur zu 6% als nicht zutreffend bewertet. 16% gaben an, es nicht zu
wissen.
Eine Befragung von 661 Erstsemester in der Medizin des Jahrgangs 1995/96 der
Universitäten Heidelberg, Mainz und Ulm ergab folgende Ergebnisse: Ca. 90% der Befragten
wünschten sich ein frühes Vorbereiten auf das Erkennen und Bearbeiten ethischer Konflikte.
So gut wie alle (ca. 96%) stimmten der Aussage zu, daß Ethik in der Medizin ein wichtiger
Sind Sie der Auffassung, daß Ethik in der Medizin ein wichtiger
Lehrgegenstand ist? N = 661, Mainz n = 206, Ulm n = 250, Heidelberg n = 205
100
Rel. Häufigkeit in %
80
Mainz
Ulm
60
Heiddelberg
40
20
0
Ja
Nein
Keine Angabe
Lehrgegenstand sei.
46
Aufbau und Ablauf der Ethikseminare:
Die Seminare finden in aller Regel am Freitag Abend und am Samstag Vormittag statt.
Dieser für eine universitäre Veranstaltung ungewöhnliche Zeitrahmen wird von studentischer
Seite begrüßt, weil dadurch die Seminare sich vom sonstigen Uni- Alltag abgrenzen. In der
Regel stellt am Freitagabend eine ärztliche Referentin oder ein ärztlicher Referent aus der
Klinik, seltener ein(e) Patient(in), ein Mitglied des Pflegepersonals, ein(e) Angehörige(r)
eines Patienten oder ein (e) Klinikseelsorgerin, einen selbst erlebten Fall in sequenzierten
Abschnitten vor [7]. Der Referent beschränkt sich auf die Berichterstattung und fungiert als
Experte für die Beantwortung von Fachfragen. Vor dem Seminar werden die ReferentInnen
durch die ModeratorInnen mit den Lernzielen vertraut gemacht (siehe unten: Spielregeln).
Die Aufgabe der Moderatoren - ärztliche Mitglieder und studentische TutorInnen des
Arbeitskreises - umfaßt neben der Steuerung und Moderation des Seminars insbesondere das
Wecken und Fördern medizinethischer Kompetenzen der Studierenden durch gezielte
Intervention an der passenden Stelle. Zur Erläuterung der medizinethischen Komponenten
kann
von
den
Moderatoren
Kleinstgruppenarbeit,
eine
Rollenspiele
Arbeitsmappe
oder
Planspiele
herangezogen
können
werden.
Diskursfähigkeit
Durch
und
praxisorientiertes Handeln intensiv geübt werden.
Spielregeln für alle Seminarteilnehmenden
• Einander zuhören
• Am konkreten Fall bleiben
• FRAGEN KÖNNEN JEDERZEIT GESTELLT WERDEN
• Alle haben gleiche Rechte
FÜR DIE MODERATOREN/REFERENTINNEN GELTEN ZUDEM NOCH ERWEITERTE
SPIELREGELN
• Personale Trennung von Fallbericht und Moderation
• Kein Dozieren und Monologisieren
• Vermeiden vorschneller moralischer Bewertungen
• Geduld
• Vermeiden von Tadel
47
Eine wichtige Rolle spielen die Kaffeepausen und das gemeinsame Frühstück am
Samstagmorgen. Dadurch wird die Möglichkeit für ein ungezwungenes Gespräch unter den
Teilnehmern und Kontakt zwischen Lernenden und Lehrenden hergestellt.
Am
Ende
des
Seminars
werden
unter
den
studentischen
Teilnehmern
Evaluationsbögen verteilt. Auf diese Art und Weise bekommen die Moderatoren eine direkte
(anonyme) Rückmeldung über das Seminar. Ein wichtiger Punkt sind die freien Äußerungen,
durch die es möglich wird, einzelne Gesichtspunkte kritisch zu überarbeiten.
Ziele der Ethikseminare
In den Ethikseminaren in Ulm wird versucht ein Gleichgewicht zwischen den drei
Bereichen Wissen (knowledge), Fähigkeiten (skills), Werte (values, beliefs, attitudes)
herzustellen. Piper bezeichnet dies als Voraussetzung für ein sinnvolles und effektives Lernen
[8]. Fuchs beschreibt dies im Zusammenhang mit Ethik auch als üben der Ethikfähikeit [9].
Trilogie des Lernens
Werte / Einstellungen
Fähigkeiten
Wissen
Die Vorlesungen und Praktika des Pflichtlehrplans decken hierbei den Bereich Wissen
ab. In den Ethikseminaren liegt der Schwerpunkt auf den Bereichen Fähigkeiten und Werte,
denn „...das Übergewicht an Wissensvermittlung vernachlässigt nicht nur die Fertigkeiten,
sondern in besonderer Weise die Werte, Einstellungen und Haltungen, die für den ärztlichen
Beruf unabdingbar sind” [10]. Daraus leiten sich die konkreten Lernziele der Seminare ab:
Ausbildung und Training von Kompetenzen zur Erkennung, Benennung und Lösung von
ethischen Konflikten, sowie Einüben von Diskurs- und Reflexionsfähigkeit [11]. Hierbei wird
bewußt auf einen belehrend-paternalistischen Vorlesungsstil verzichtet, und statt dessen eine
aktive Teilnahme am Seminargeschehen gefördert: Zwischenfragen sind jederzeit erlaubt und
nach jedem Berichtsabschnitt des Referenten können wir Studierende unsere Vorstellungen in
der Gruppe diskutieren. Wir üben das Sokratische Gespräch.
3. FALLBEISPIEL
48
Der
folgende
Fall
verdeutlicht
die
oben
dargestellten
Lernziele
und
Rahmenbedingungen. Um den sequenzierten Ablauf zwischen Fallberichtschilderung und
Diskussion im Forum herauszustellen haben wir die Fallschilderung bzw. die Unterbrechung
durch die Moderatoren hervorgehoben.
Erste Fallschilderung durch den Referenten
Der Leiter der Sektion Nephrologie der Universität Ulm, berichtete von einer 34jährige Patientin, die sich bei ihm zunächst ambulant wegen Schmerzen im Bereich der
Nieren und Kopfschmerzen vorgestellt hat. Zur Vorgeschichte: 1979 wurde der Patientin
wegen eines Hydrocephalus ein Ventil zur Ableitung des Liquors implantiert. Die Operation
verlief komplikationslos jedoch entwickelte die Patientin postopertiv häufig Kopfschmerzen
und bekam deshalb vom Hausarzt Schmerzmittel wie Paracetamol verschrieben. Die jetzt
aufgetretenen Flankenschmerzen könnten auf eine Schädigung der Nieren hinweisen, die
wiederum durch den regelmäßigen Gebrauch von Schmerzmittel bedingt sein könnten.
Unterbrechung
Die Moderatoren Helmut Baitsch und Gerlinde Sponholz unterbrachen den
Fallbericht, um zunächst medizinische Fragen im Plenum zu klären. Da die Teilnehmer im
wesentlichen aus den frühen Semestern kamen, wurden zunächst medizinisch grundlegende
Fragestellungen geklärt, wie z. B.: Was ist ein Nephrologe? Was ist ein Hydrocephalus? Was
ist Paracetamol? Welche Organe werden durch Schmerzmittel wie Paracetamol geschädigt?
Schon bei der Klärung medizinischer Inhalte zeigte sich die grundlegende
Schwierigkeit, daß die meisten Teilnehmer es nicht gewohnt sind, Fragen zu stellen. Eine
Frage zu stellen bedeutet in gewisser Weise, daß man sich nicht sicher ist oder etwas nicht
weiß – und die wenigsten von uns wurden dazu erzogen, Unsicherheit und Nichtwissen preis
zu geben. In einer solchen Situation sind Fragen die von Moderatoren gestellt werden
wichtig. Um die Fragen zu strukturieren benutzten wir den Bochumer Arbeitsbogen.
Was für einen Eindruck hinterlies die Patientin beim Referenten? Der Referent
beschrieb die Patientin als intelligent und aufgeschlossen, jedoch in bezug auf den
Schmerzmittelgebrauch zeigte er sich ihren Angaben gegenüber eher skeptisch. Er hatte den
Eindruck, daß die Patientin sehr viel mehr Schmerzmittel einnahm, als sie ihm gegenüber
angab.
Die Moderatoren fragten, ob aus der bisherigen Fallschilderung des Referenten schon
ethische Konflikte zu erkennen sind?
In der Gruppe gab es ein buntes Bild an Meinungen. Ein Teilnehmer stellte die Frage,
was diese Fallschilderung mit Ethik zu tun hätte, er könne hierin keinen Konflikt sehen.
Andere sahen ein Problem in der Arzt-Patientenbeziehung, da der Arzt nur begrenzt Zeit für
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einen Patienten aufbringen kann und diese in diesem Fall nötig sei, um bei der Patientin die
Einsicht bezüglich der Schmerzmedikamenteneinnahme zu ändern. Ein weiterer Teilnehmer
war erstaunt, daß ein Medikament dem Patienten schaden kann. Dabei stellte sich die Frage,
wie sich der Patient selbst schützen kann und wie der Patient seitens der Gesellschaft
geschützt werden kann?
Die Aufgabe der Moderatoren bestand darin ethische Konfliktfelder zu fokussieren,
um somit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen roten Faden in die Hand zu geben.
Eine Hilfestellung waren hier die in der Ulmer-Ethikmappe enthaltenen ethischen Prinzipien.
Prinzipien der „mittleren” Ebene nach Beauchamp
und Childress erweitert nach Maßgabe unserer
Erfahrungen [12]
• Gutes tun
• nicht schaden
• Wahrhaftigkeit
• Gerechtigkeit
• Verschwiegenheit
• Glaubwürdigkeit
• Verantwortung
• Vertrauen
• Autonomie und Selbstbestimmung
Jedoch stellte sich hier schon bei der Bearbeitung des ersten Prinzips die Frage, wie
sieht dieses „Gutes tun” aus? Jeder Teilnehmer brachte seine eigenen Werte und
Vorstellungen mit, die geprägt sind durch Erziehung, Bildung und eigenes Nachdenken.
Fortsetzung der Fallschilderung
Die Patientin wurde stationär aufgenommen. Die Nierenretentionswerte (z. B.
Kreatinin) der Patientin stiegen im Laufe der nächsten Tage stark an. Es wurde vermutet, daß
die Patientin trotz der Gespräche weiterhin und in hohem Maße nierenschädigende
Medikamente einnahm bzw. die Niere schon so stark geschädigt war, daß der jetzige Verlauf
durch alleiniges Absetzen der Medikamente nicht mehr aufzuhalten war.
Referent und Patientin einigten sich darauf, daß sich die Patientin konsiliarisch in der
Schmerzambulanz vorstellt, um das weitere Procedere hinsichtlich der Schmerzmedikation
und der eventuell schmerzmittelinduzierten Kopfschmerzen abzuklären.
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Unterbrechung
Es wurden zunächst wieder medizinische Fragen geklärt. In die anschließende
Diskussion streuten die Moderatoren folgende Themen ein:
1. Wie ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin?
2. Ist die Autonomie der Patientin gewährleistet?
3. Welche Handlungsoptionen hat der Arzt?
Einige Teilnehmer sahen das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient
beeinträchtigt, indem die Problematik mit der Patientin in die Schmerzambulanz verlagert
wurde. Andere Teilnehmer sahen das Vertrauensverhältnis dadurch eher gestärkt, weil der
behandelnde Arzt Kompetenzen abgeben konnte und sich mit anderen Fachärzten gemeinsam
für das Wohlergehen der Patientin einsetzte. Der Schritt wurde auch als ein Zugewinn an
Autonomie seitens des Patienten gewertet, da sie sich mehrere Meinungen anhören konnte.
Fortsetzung der Fallschilderung
Die Nierenretentionswerte sowie die Elektrolyte der Patientin stiegen im weiteren
stationären Verlauf stark an, so daß sich das Vollbild einer terminalen Niereninsuffizienz
entwickelte, welches ohne ein ärztliches Eingreifen mittels einer Dialyse für die Patientin
tödlich enden würde. Die Nieren der Patientin war zu diesem Zeitpunkt irreversibel
geschädigt.
Unterbrechung
Im Verlauf der Diskussion kamen wir auf den Punkt ”mangelnde Ressourcen” zu
sprechen, der im Krankheitsverlauf für Patientin und Ärzte an Bedeutung zunehmen könnte.
Es wäre denkbar, daß die Nierenschädigung so gravierend ist, daß über eine
Nierentransplantation nachgedacht werden muß. Da in Deutschland der Bedarf an
Spendernieren, um ein Vielfaches größer ist als das Angebot fragten wir uns, nach welchen
Kriterien entschieden werden soll, welcher Patient eine Niere bekommen soll. Soll sie
grundsätzlich der jüngere Patient bekommen? Was aber, wenn der Jüngere seine Nieren mehr
oder weniger selbstverschuldet, wie in diesem Fall durch Schmerzmittelabusus, geschädigt
hat. Sollte sie dann doch der Ältere bekommen, der z.B. eine neue Niere aufgrund eines
angeborenen Defektes benötigt und bisher ein gesundes Leben geführt hat?
Für die Moderation bestand die Schwierigkeit, die Diskussion nicht ins allgemeine
abgleiten zu lasssen, sondern immer wieder zu fragen, welche konkrete Bedeutung und
Konsequenz ein allgemein oder gesellschaftspolitisch formulierter Gedanke für die Patientin
hat?
51
4.
ERFAHRUNGEN UND FAZIT
Als im Sommersemester 1994 erstmals Ethikseminare für Studierende der frühen
Semester angeboten wurden, befanden wir uns in der angesprochenen Zielgruppe. Wir
meldeten uns als Interessenten und nahmen im folgenden Semester an zwei weiteren
Seminaren teil. Dabei blieb es jedoch nicht. Die Seminare begeisterten uns, so daß wir weitere
Seminare besuchten. Was waren die Gründe für diese Begeisterung?
Die Seminare unterscheiden sich in vieler Hinsicht von den üblichen Veranstaltungen
der Universität. Folgende Aussagen von Studierenden beschreiben diese Situation umfassend:
•
„Atmosphäre, Verhalten der Dozenten (nicht von oben herab, nehmen einen ernst, hören
zu), andere Art der Lernform, aber doch viel effektiver als Vorlesung”.
• „...Ermutigung alles sagen zu dürfen und zu fragen...”.
• „Kein Frontalunterricht sondern Unterrichtsgespräch mit Möglichkeit zur aktiven
Beteiligung und Fragestellung”.
• „Der Weg zur Selbständigkeit in ethischen Fragen ist lang. Ich darf nicht erst nach dem
Studium, wenn ich plötzlich mit ethischen Fragen konfrontiert werde, anfangen, mich damit
auseinanderzusetzen”.
Den Zitaten aus den Evaluationsbögen schließen wir uns an. Rückblickend können wir
feststellen, daß es sinnvoll ist, sich mit den anfangs aufgeführten Lernzielen und
Kompetenzen auseinanderzusetzen. Hierbei ergaben sich im Laufe der Semester verschiedene
Schwerpunkte: Zu Beginn stand die Entwicklung und Festigung unseres eigenen
Wertesystems im Vordergrund. In der Schule wurden wir eher darauf trainiert, Wissen
aufzunehmen, ohne dieses zu hinterfragen. Bei den Diskussionen in den Ethikseminaren
geschieht etwas ganz anderes: Wir werden mit Werte-systemen anderer konfrontiert,
beginnen das eigene zu reflektieren und kommen so zu Entscheidungen, für die wir
Verantwortung übernehmen können.
Im Entwurf zur 8. Novelle der ÄAppO 1995 wurde erstmals der Bereich Ethik in der
Medizin explizit als Lehr-/Lerngegestand vorgesehen. Der Arbeitskreis beschäftigt sich mit
der Frage, wie Ethik gelehrt und gelernt werden könnte. Bei diesen Überlegungen sollten
diejenigen zu Wort kommen, die Erfahrungen in medizinethischer Ausbildung gesammelt
hatten. Zunächst wurde grundsätzlich eine praktische, anwendungsorientierte ethische
Ausbildung während des Studiums gefordert. Sie sollte in Form von Kleingruppenseminaren
stattfinden, wie wir sie vorher beschrieben haben. Vorlesungen wurden nicht befürwortet. Die
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eine Hälfte der Befragten wünschte sich die Ethikseminare als Pflichtveranstaltung für alle,
während die andere Hälfte Wahlpflichtfächer bevorzugte, in denen z.B. die ethischen Themen
gewählt werden könnten. Als Problem wurde immer wieder genannt, daß durch eine
Pflichtteilnahme die offene Atmosphäre zerstört werden könnte. Vielen Studierenden war es
wichtig, daß eine kontinuierliche Ausbildung während des Studiums stattfindet. Eine
einmalige Veranstaltung würde als nicht ausreichend angesehen. Prüfungen wurden von so
gut wie allen Studierenden abgelehnt. Falls jedoch geprüft werden müßte, sollte diese Prüfung
in Form einer mündlichen Gesprächsrunde mit Falldiskussion stattfinden. Strikt abgelehnt
wurden Multiple-choice-Prüfungen, sowie das reine Abfragen ethischer Lehrsätze.
Es zeigte sich dagegen, daß die Vermittlung ethischer Theorie gewünscht wurde. Es
ist jedoch wichtig, daß sie sich immer auf den jeweiligen Fall bezieht. "Theorie von Anfang
an beim jeweiligen Fallbeispiel einstreuen" lautet eine Aussage.
Der Wunsch nach einer ethischen Ausbildung beruht bei vielen Studierenden darauf,
daß sie schon vor dem Studium ethische Problem im ärztlichen Bereich (z.B. während des
Krankenpflegepraktikums oder Zivildienstes) erlebt hatten. Sie äußern, genauso wie viele
junge Ärzte, daß sie unvorbereitet mit Konflikten konfrontiert wurden, denen sie nicht
gewachsen waren. Durch diese Erlebnisse steht bei vielen das Erlernen der Fähigkeit zum
Diskurs mit Patienten, Angehörigen, Pflegepersonal und ärztlichen Kollegen im Vordergrund
der ethischen Ausbildung [7].
Im Laufe der Zeit wurde uns die zentrale Stellung der Sprache bewußt. Wir erlebten
und erleben sie als den Schlüssel zum Erwerb der oben angesprochenen Kompetenzen. Wie
ist das zu verstehen? Sprache hat vier Funktionen:
•
Expressive
•
Deskriptive
•
Argumentative
•
Kommunikative [13]
Bei der Bearbeitung eines Falles werden alle vier Funktionen benötigt. Die Analyse
eines Konflikts basiert auf einer Beschreibung der jeweiligen Situation. Die Vorbereitung und
Durchführung eines Rollenspieles verlangt Diskurs-, Verbalisierungs-, Bewertungs- und
Begründungskompetenz. Am grundlegendsten erscheint uns jedoch die vierte Funktion: das
miteinander Kommunizieren. Dies setzt die aktive Teilnahme aller voraus. Aktiv sein
bedeutet z.B. auch, bei Unklarheiten nachzufragen; wo bekommen wir die Fähigkeit gelehrt,
zuzugeben, etwas nicht zu wissen oder nicht verstanden zu haben? Weiterhin sind wir durch
das aktive Kommunizieren in Prozesse involviert, in denen wir mit unserem eigenen
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Wertesystem konfrontiert werden. In einem solchen Rahmen können wir zu Entscheidungen
kommen, die nicht nur von unseren herkömmlichen Wertmaßstäben geprägt sind.
Um besser verständlich zu machen, warum uns die ethische Ausbildung, wie wir sie
erleben, wichtig ist, müssen wir einen kurzen Blick auf den Studienplan in der Ausbildung
zum Humanmediziner werfen. Innerhalb von 10 Semestern werden sämtliche Einzelfächer
unabhängig von einander gelehrt. Dies bedeutet, daß anschließend naturwissenschaftliches
Wissen vorhanden ist, die Anwendung auf die praktische Arbeit mit einem Patienten jedoch
nicht erlernt wurde. In den Ethikseminaren lernen wir uns aktiv in einen Lernprozeß zu
integrieren, teilzunehmen und uns selbst und unser Umfeld kritisch zu betrachten.
Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, es sei überflüssig, naturwissenschafliche
Fakten zu lehren und zu lernen, dagegen die ethische Ausbildung das “Ein-und-Alles” im
Medizinstudium sei.
Es ist nicht vorstellbar, den technischen Bereich einer Diagnose auszuklammern oder
einem Patienten aufgrund mangelnden Wissens Behandlungsoptionen vorzuenthalten.
Genausowenig aber darf der ethische Bereich fehlen, da hier Fähigkeiten vermittelt werden,
mit
Wissen
und
medizinischen
Können
verantwortungsvoll
mit
dem
Patienten
zusammenarbeiten zu können. Wir wünschen uns eine Ausbildung, in der die drei Bereiche
Wissen, Fähigkeiten und Werte / Einstellungen gleichberechtigt und miteinander erworben
werden können.
Wir denken, daß die Universität neben der Aufgabe der Wissensvermittlung, die
kompetente Ärzte hervorbringen soll, auch die Verantwortung hat, Studierenden ein
“Handwerkszeug” mitzugeben, um im späteren medizinischen Alltag, sei es als
praktizierender Arzt oder Forscher, ethische Konflikte erkennen und entsprechend
verantwortungsbewußt handeln zu können.
Wir, und das sind alle Studierende, die im Arbeitskreis engagiert sind, haben diese
Unterichtsform als eine erlebt, die Studierende in Begeisterung und Staunen versetzen kann.
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LITERATUR:
1. Keller F: Mehrwertige Logik bei der medizinischen Entscheidungsfindung. Internistische
Welt, 11:281-284, 1998
2. Jonas H: Technik, Medizin und Ethik. Suhrkamp, 242 ff, 1985
3. Sohr S: Menschenkenntnis als Lernziel? Auf der Suche nach dem „guten“ Arzt.
Psychomed. 7. 93 – 95, 1995
4. Sponholz G, Kohler E, Gommel M, Callsen A, Bauer A, Meier-Allmendinger D, Allert G,
Keller F, Baitsch H: Ethik in der Medizin - Sind Studierende daran interessiert? Medizinische
Ausbildung 13/2:103 - 110, 1996
5. Lind G: Are helpers always moral? Empirical findings from a longitudinal study of
medical students in Germany. Invited paper to be presented at the reginal conference of the
International Council of Psychologists (ICP), Padua, July 1997
6. Sponholz G, Kohler E, Blum P, Kümmel WF, Bauer AW, Baitsch H: Aus der Forschung,
Keinmal, einmal, viele mal? Ethik im Medizincurriculum – Wünsche der Studierenden.
Zeitschrift für medizinische Ethik, 43:161, 1997
7. Gerlinde Sponholz G, Allert G, Keller F, Meier – Allmendinger D, Baitsch H: Das Ulmer
Modell der medizinethischen Lehre - sequenzierte Falldiskussion für die praxisnahe
Vermittlung medizinethischer Kompetenz (Ethikfähigkeit), Zentrum für medizinische Ethik,
Medizinethische Materialien Heft 121, Bochum 1999
8. Piper TR: Rediscovery of Purpose: The Genesis of the Leadership, Ethics, and Corporate
Responsibility Initiative. In: Piper TR, Gentile MC, Parks SD (eds) Can Ethics be Taught?
Harvard Business School, Boston (1993)
9. Fuchs C: Erziehung zur Ethikfähigkeit. Verantwortung für die medizinische Ausbildung:
In: Schlaudraff U. (Hrsg.) Ethik in der Medizin. Tagung der evangelischen Akademie
Loccum vom 13. – 15. 12 1985. Springer Berlin Heidelberg New York, S. 27-33, 1987
10. Sponholz G, : Ethik in der Medizin in der neuen ÄAppO – was Studierende sich
wünschen. Zeitschrift für medizinische Ethik, 41/3:237, 1995
11. Sponholz G, Baitsch H, Keller F, Allert G, Meier-Allmendinger D: Ethik in der Medizin die Fallstudie, Modell für die fächerintegrierende Lehre. Medizinische Ausbildung, 1/5, S. 8
ff, 1996
12. Beauchamp TC, Childress JF: Principles of biomedical ethics. Oxford University Press,
Oxford 1979
13. Kahlke W., Reiter-Theil S.: Ethik in der Medizin, Enke Verlag, 17 ff, 1995
EIN WORT DES DANKES
Zunächst möchten wir den Herausgebern dieses Heftes danken, die es ermöglichten
den Beitrag interessierten Lesern und Leserinnen zur Verfügung zu stellen. Besonderer Dank
gilt den Initiatoren des Arbeitskreises Ethik in der Medizin an der Universität Ulm, die es
durch Ihren Einsatz ermöglichten, daß wir als Studierende eben die beschriebene Lernform
kennen lernten; darüber hinaus danken wir für die interessanten Diskussionen, Anregungen,
die den Beitrag in die Form gebracht haben, in der er jetzt vorliegt.
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ZUSAMMENFASSUNG:
Die Autoren stellen den Ulmer Ansatz eines narrativen und diskursiven Unterrichtsmodells in
medizinischer Ethik vor, sowohl aus studentischen Perspektive (Uhl, Lensing) als aus der
Unterrichtenden (Sponholz, Allert, Keller, Meier-Allmendinger, Baitsch). Die mit Fallstudien
arbeitende didaktische Methode ist praxisnah und diskursiv.
ABSTRACT:
The authors present a narrative and discursive model of teaching medical ethics, from the
perspecrtive of medical students (Uhl, Lensing) and from the group of teachers who have
developed this model (Sponholz, Allert, Keller, Meier-Allmendinger, Baitsch). This Ulm
diadactical method is discursive and close to clinical practice.
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Zentrum für Medizinische Ethik
Medizinethische Materialien
Sehr geehrte Damen und Herren,
an dieser Stelle befindet sich in der gedruckten Version die Auflistung unserer
Veröffentlichungen aus der Reihe "Medizinethische Materialien."
Da es sich bei den PDF- Dokumenten zum Teil um ältere Veröffentlichungen handelt und die
darin aufgeführte Liste der "Medizinethischen Materialien" daher nicht mehr auf dem
aktuellen Stand ist, bitten wir Sie, sich im Internet auf unserer Homepage über neue
Veröffentlichungen zu informieren.
www.medizinethik-bochum.de
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