Dritte Folge 02 Frankfurter MontagsVorlesungen Politische Streitfragen in zeitgeschichtlicher Perspektive Auf dem Weg zu zwei, drei, vier Kurdistans? Egbert Jahn 2. Mai 2016 Adresse des Autors: Prof. em. Dr. Egbert Jahn Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften Institut für Politikwissenschaft Theodor W. Adorno-Platz 6 D-60323 Frankfurt Tel.: +49-69-798 36653 (Sekretariat) E-mail-Adresse: [email protected] http://www.fb03.uni-frankfurt.de/46500384/ejahn © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 2 Zusammenfassung Das Land der Kurden, Kurdistan, ist kein Staat, sondern ein recht geschlossenes, mehrheitlich von Kurden bewohntes Siedlungsgebiet, das zum größten Teil bis 1920 zum Osmanischen Reich gehörte und dann auf drei Staaten aufgeteilt wurde: Türkei, Irak und Syrien. Die Grenzen dieses Gebiets haben sich häufig geändert und sind im einzelnen unbekannt. Der Osten des kurdischen Siedlungsgebietes gehört seit Jahrhunderten zum Iran. Das Verlangen nach einem kurdischen Nationalstaat wird durch mehrere Faktoren geschwächt. Es gibt bis heute keine gemeinsame kurdische Hoch- und Schriftsprache, außerdem ist das Stammes- und Regionalbewußtsein unter den Kurden weitaus stärker als das gesamtkurdische Nationalbewußtsein. Vor allem aber müßte sich eine gesamtkurdische Nationalbewegung gleichzeitig gegen vier Staaten und gegen den internationalen Konsens zur Bewahrung des staatlichen Status quo durchsetzen. Kurdische nationale Bestrebungen haben sich deshalb in den letzten Jahrzehnten mehr auf die Erlangung von Minderheitenrechten, territorialer Autonomie oder föderativer Staatlichkeit innerhalb der bestehenden Staaten konzentriert. Diese Bestrebungen stoßen jedoch bei der Mehrheitsbevölkerung der vier Staaten auf die Befürchtung und den Verdacht, nur Übergangscharakter zur vollständigen staatlichen Unabhängigkeit besitzen zu sollen. Testfall für eine föderative Integration der Kurden wird in den nächsten Jahren der Irak sein, nachdem die US-amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten das Land verlassen haben. Die Grenzen der Autonomen Region Kurdistan sind bis heute heftig umstritten. Insbesondere ist die Zugehörigkeit der erdölreichen Provinz At Tamim mit Kirkuk ungeklärt. Viel hängt dabei auch von der Kurdenpolitik der Türkei ab, die in den letzten Jahren erste vorsichtige Schritte zur Anerkennung kultureller Bedürfnisse ihrer eigenen Kurden unternommen hat, aber die Verselbständigung der Autonomen Region Kurdistan im Irak entschieden ablehnt. Die Entstehung des sunnitischen Islamischen Staates in Teilen Iraks und Syriens hat die Kurdenfrage in völlig neuer Brisanz auf die Tagesordnung der internationalen Politik gebracht. Trotz des Auseinanderbrechens der multinationalen Staaten Osteuropas sollte nach Formen der Autonomie und Föderierung gesucht werden, die die Gefahr des Zerfalls bestehender Staaten minimieren. Die Stärkung kommunaler Autonomie kann ein bescheidener Schritt zur Anerkennung der ethnischen Identität der Kurden sein. Im Irak sind die ethno-religiöse Nationalisierung der Parteien und die Autonomie der Kurdenregionen wohl nicht mehr revidierbar, vielleicht neuerdings auch in Syrien. Es ist eine offene Frage, ob die Kurden wie die Araber, die Südslawen und die Deutschen sich in mehrere Nationen auseinanderentwickeln oder sich auf die Dauer doch noch zu einer Nation einigen werden. © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 3 1 Der Streit um Minderheitenrechte, Autonomie und nationalstaatliche Unabhängigkeit Das Land der Kurden, Kurdistan, ist kein Staat, sondern ein recht geschlossenes, mehrheitlich von Kurden bewohntes Siedlungsgebiet, das sich über rund 500.000 qkm erstreckt, also etwa so groß wie Frankreich ist.1 Die Grenzen dieses Gebiets haben sich häufig geändert und sind im einzelnen unbekannt, weil es keine Volkszählungen gibt, die nach der ethnischen Zugehörigkeit der Bevölkerung fragen. Auch außerhalb des kurdischen Siedlungsgebiets leben in der Diaspora Millionen Kurden, zum Teil erst seit wenigen Jahren und Jahrzehnten, so in Istanbul und im Westen der Türkei, in Deutschland und mehreren anderen Ländern der Europäischen Union, zum Teil aber auch in älteren Exklaven wie im Zentrum Anatoliens oder im Nordosten Irans. Weiterhin leben 150.000 Kurden in den südlichen Nachfolgerstaaten der Sowjetunion, außerdem viele im Libanon. Schätzungsweise gibt es rund 30-35 Millionen Kurden. Die Kurden sprechen keine gemeinsame Sprache, in der sie sich untereinander verständigen könnten. Sie haben auch keine gemeinsame Schriftsprache wie die Araber oder die HanChinesen, die sich mündlich ebenfalls nicht untereinander verständigen können, wenn sie aus weit auseinander liegenden Gebieten zusammenkommen. Man unterscheidet drei, vier oder fünf kurdische Sprachen oder Hauptdialekte, in denen eigene Literaturen entstanden sind. Sie gehören zu den indoeuropäischen Sprachen des westiranischen Zweiges, sind also weder mit dem Türkischen noch mit dem Arabischen verwandt.2 Das Kurmanci mit etwa 8-10 Millionen Sprechern ist vor allem in der Türkei, aber auch in den Nachbarländern verbreitet, das Sorani mit etwa 5 Millionen Sprechern vor allem im Irak und im Westiran. Manche Autoren unterscheiden dann noch das Gorani, das Dımıli (Zazaki) und das Luri (dessen Sprecher sich nicht für Kurden halten). Kommunikationshindernd wirkt auch, daß die kurdischen Sprachen/Dialekte in unterschiedlichen Schriften geschrieben werden: Lateinisch, Arabisch und Kyrillisch. Nicht wenige Kurden sprechen überhaupt kein Kurdisch, sondern nur Türkisch, Arabisch oder Farsi. Die Kurden gehören größtenteils der sunnitischen, zum kleineren Teil auch der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Außerdem gibt es viele kurdische Aleviten3 und Jesiden (Êzîdî).4 Der größte Teil des kurdischen Siedlungsgebiets war seit Beginn des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich vereinigt, sieht man von dem Gebiet ab, das sich seit 1639 im Iran befindet.5 1920 wurde das osmanische Kurdengebiet zwischen der Türkei, Irak und Syrien aufgeteilt. In der Türkei leben etwa 15 Millionen Kurden, im Irak etwa 4,5 Millionen, im Iran 4 bis 4,5 Millionen und in Syrien etwa 1,2 Millionen,6 wobei diese Zahlen jedoch auf ungefähren und umstrittenen Schätzungen beruhen, nicht auf Volkszählungen. © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 4 Die staatliche, sprachliche, religiöse und kulturelle Zersplitterung der Kurden sowie starke Stammes- und Regionaltraditionen haben bisher die Entstehung eines breiten gemeinsamen Nationalbewußtseins verhindert.7 Außerdem ist der kurdische Nationalismus noch relativ jung. Seine Wurzeln reichen lediglich in das frühe 20. Jahrhundert zurück.8 Somit hatten kurdische ethnonationale Bestrebungen meist einen nur regional begrenzten Charakter und mußten sich den jeweiligen politischen Bedingungen in den Staaten anpassen, in denen sie leben. Nicht selten haben kurdische Stämme und auch moderne politische Parteien untereinander Krieg geführt. Somit finden sich in der kurdischen Bevölkerung zahlreiche Abstufungen der gesellschaftspolitischen Grundhaltung von völliger Assimilationsbereitschaft über Äußerungen ethnischen, sprachlich-kulturellen Selbstbewußtseins bis zu politischen Forderungen nach Minderheitenschutz, nach territorialer Autonomie oder föderativer Staatlichkeit oder gar nach völliger staatlicher Unabhängigkeit. Diese Forderungen werden oft mit friedlichen Mitteln verfolgt, aber nicht selten auch im bewaffneten Aufstand. Die erwähnten Grundhaltungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder geändert, mal radikalisiert und mal gemäßigt, meist abhängig vom gesellschaftspolitischen Unterdrückungsgrad oder von Zeichen wachsender Tolerierung durch die staatlichen Machtorgane und die gesellschaftlichen Organisationen der staatlichen Mehrheitsbevölkerung. Auch die internationalen weltpolitischen Konstellationen und die Einspannung kurdischer Bestrebungen zu mehr Eigenständigkeit in die zwischenstaatlichen Rivalitäten zwischen der Türkei, Irak, Iran und Syrien nehmen immer wieder Einfluß auf die Stärkung oder Schwächung kurdischer nationaler Bewegungen. Die Staaten der Region schüren zwar hin und wieder die kurdische Opposition im rivalisierenden Nachbarland, sie haben aber dennoch keinerlei Interesse, daß diese Opposition in einem der vier Länder allzu stark wird, so daß sich von ihm ein unabhängiges Kleinkurdistan abspalten könnte. Denn jeder unabhängige kurdische Kleinstaat könnte zum Kristallisationkern für die kurdische Opposition in anderen Ländern werden. Der „Verrat“ an den kurdischen Verbündeten ist also stets in das regionale, internationale System eingebaut. Die bittere Erfahrung von vielen blutig niedergeschlagenen, bewaffneten Aufständen im 20. Jahrhundert verweist die meisten national bewußten Kurden auf bescheidenere Zielsetzungen als die nationalstaatliche Unabhängigkeit: einen effektiven Minderheitenschutz als Minimalziel und eine territoriale Autonomie oder eine föderative Staatlichkeit innerhalb des bestehenden Staates. Dennoch spielt das Streben nach kurdischer nationalstaatlicher Unabhängigkeit, vorwiegend erst einmal vom eigenen bestehenden Staat, seltener auch staatenübergreifend auch von den Nachbarstaaten, eine nicht ganz unbedeutende Rolle, so daß solche Bestrebun© 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 5 gen von den vier Staaten gern zur Legitimation der Unterdrückung auch geringerer Zielsetzungen von kurdischen Parteien und Organisationen genutzt werden können. Damit kann sich der politische Extremismus von Kurden immer wieder mit dem Extremismus von Türken, Arabern und Persern wechselseitig aufschaukeln. Seit den 1980er Jahren zog über viele Jahre hinweg vor allem die kurdische nationale Bewegung in der Türkei internationale Aufmerksamkeit auf sich, weil der extrem gewaltsame Umgang der Türkei mit ihrer kurdischen Bevölkerung, terroristische Anschläge der Kurden und bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen in Ostanatolien gewichtige Argumente gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union lieferten. Seit dem zweiten Golfkrieg 1991 trat jedoch die Kurdenfrage in Irak zunehmend in den Vordergrund internationaler Aufmerksamkeit. Die Bildung einer Flugverbotszone und einer Schutzzone der Vereinten Nationen im Norden Iraks leitete die Eigenständigkeit der Verwaltung und der Streitkräfte der kurdischen Gebiete in Irak ein. Im dritten Golfkrieg 2003 wurden die kurdischen bewaffneten Verbände Peschmerga (d. h. „Die dem Tod ins Auge Sehenden“) faktisch zu Verbündeten der USTruppen. Sie sichern ein weitgehend selbständiges kurdisches Staatswesen in Irak, das aber in den Gesamtstaat eingebunden bleibt.9 Doch seitdem im zerfallenden Irak10 und Syrien im Juni 2014 der Islamische Staat die Wiedererrichtung des sunnitischen Kalifats erklärt hat und auf einen wachsenden internationalen militärischen Widerstand trifft, haben die kurdischen Streitkräfte im Nordirak und auch in Nordsyrien11 an politischer Bedeutung gewonnen. Die vielleicht wichtigste Streitfrage war im neuen Irak das Verlangen der Kurden nach einer Zugehörigkeit der Stadt und der Provinz Kirkuk, wo sich ausgedehnte Erdölfelder befinden, zur Autonomen Region Kurdistan, die bislang aus drei der 18 Provinzen Iraks besteht. Eine kurdische Kontrolle über die Erdölfelder würde die Chancen einer finanziellen staatlichen Selbständigkeit und im Extremfalle auch Abspaltung der Kurdengebiete beträchtlich erhöhen.12 Beides versuchten nicht nur die arabischen politischen Parteien Iraks, sondern auch die Türkei, Iran und Syrien zu verhindern. Der Machtverlust der Regierung in Bagdad über große Teile Iraks und der international unterstützte Widerstand der nordirakischen Kurden gegen den Islamischen Staat bot ersteren im Juni 2014 die Gelegenheit, Kirkuk zu erobern, ob auf Dauer muß dahingestellt bleiben. Der Nordwesten Iraks ist bereits seit Jahren Rückzugsgebiet der terroristischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ PKK, die sich im Bürgerkrieg mit der Regierung der Türkei befindet. Wiederholt sind türkische Truppen zur Bekämpfung der PKK in den Nordirak eingedrungen. Sollte die Föderative Republik Irak nach einem endgültigen Rückzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten zerfallen, so kann weder ein ausgedehnter türkisch© 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 6 kurdischer Krieg im heutigen Nordirak, noch ein gemeinsamer arabisch-türkischer Krieg gegen die Kurden gänzlich ausgeschlossen werden. Die Kurdenpolitik der Türkei hängt damit sehr eng mit derjenigen Iraks zusammen. Umgekehrt hat auch die Türkeipolitik der PKK gewisse, wenn auch keineswegs konfliktfreie Verbindungen mit der Irakpolitik der beiden dortigen, großen kurdischen Parteien. Nicht gänzlich einflußlos bleiben die Einflüsse des Irans und auch der iranischen Demokratischen Partei Kurdistans auf die irakische Innenpolitik. 2 Innerstaatliche Konfliktregulierung oder Sezession Millionen Kurden mußten im 20. Jahrhundert alle Schattierungen und Abstufungen der ethnischen und nationalen Unterdrückung erleben, von der schlichten Leugnung ihrer bloßen Existenz und der Unterdrückung ihrer Sprache, Kultur und Bürgerrechte über die Ausbürgerung bis zur massenhaften Vertreibung und Ermordung sowie zur Vergasung von Tausenden ihrer Kinder, Frauen und Männer. Kurdische Terroristen und Bürgerkrieger haben aber auch zahllosen Arabern, Türken und Persern sowie auch Kurden mit abweichenden politischen Zielsetzungen den Tod gebracht oder sie ins Elend gestürzt. Die vielen Vorstellungen, wie im und um das kurdische Siedlungsgebiet herum dauerhafter Frieden hergestellt werden kann, sind nach wie vor unvereinbar und werden es wohl noch jahrzehntelang bleiben. Folgende drei grundsätzliche Positionen zur Kurdenfrage lassen sich mit mehreren Varianten ausmachen, eine national-sezessionistische, eine national-teilstaatliche und eine ethnischzivilgesellschaftliche. 1. Die extremste Position verlangt einen gesamtkurdischen Nationalstaat, der aus Gebietsteilen der erwähnten vier Staaten zu bilden ist. Sie beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die These, daß die Kurden ein Volk seien. Andere extreme politische Kräfte konzentrieren sich allein auf eine kurdische Sezession in dem Staat, in dem sie heute leben, ohne die Frage aufzuwerfen, ob später einmal noch andere kurdische Staaten daneben entstehen werden, mit denen sie sich irgendwann vereinigen könnten oder auch nicht wie Deutschland und Österreich, Albanien und Kosovo oder Rumänien und Moldau. Sie tragen der Tatsache Rechnung, daß sich die nationalen Bewegungen in den nordkurdischen Gebieten (Türkei) unter ganz anderen historischen und gegenwärtigen Bedingungen entwickeln mußten als in den anderen beiden ex-osmanischen, südkurdischen (Irak) und westkurdischen (Syrien), sowie insbesondere in den ostkurdischen Gebieten (Iran). 2. Zur innerstaatlichen Konfliktregulierung werden zwei Grundpositionen vertreten. Die erste strebt irgendeine Form eigener kurdischer nationaler Staatlichkeit an, sei es eine territoriale © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 7 Autonomie, sei es eine föderative Gliedstaatlichkeit innerhalb des bestehenden, international anerkannten Staates. Dies macht verfassungsrechtliche Veränderungen des Status quo erforderlich. Hierzu können viele europäische Vorbilder dienen: die schwedische Autonomie in Finnland, die deutsche in Italien, die katalanische in Spanien, die wallonische in Belgien usw. Die Föderalisten sind seit 2003 besonders stark im Irak vertreten und erhalten auch eine breite internationale Unterstützung. Sie wollen die seit 1970 bestehende Autonome Region Kurdistan im Nordosten Iraks ausdehnen und als einen von drei oder mehr föderierten Gliedstaaten dauerhaft etablieren. Auch in der Türkei gibt es seit langem Verfechter einer föderativen Umgestaltung des derzeitigen Zentralstaates, ohne daß es klare und übereinstimmende Vorstellungen von der Anzahl der föderativen Einheiten gibt. Autonomisten begnügen sich mit einer spezifischen kurdischen territorialen Autonomie, ohne die hegemoniale Stellung der Türken, Perser und Araber in den bestehenden Staaten in Frage zu stellen. Ob es nennenswerte Verfechter auch einer personal-kulturellen Autonomie gibt, ist nicht ersichtlich.13 3. Die zweite Grundsatzposition zur innerstaatlichen Konfliktregulierung fordert vor allem die Verwirklichung der bestehenden Bürger- und Menschenrechte, die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die rechtliche Verankerung von ethnischen Minderheitenrechten. Sie macht zwar einige gesetzliche, aber keine größeren verfassungsrechtlichen Veränderungen nötig. Sehr stark ist zweifellos das Verlangen nach einem Minderheitenschutz, der kurdischen Gruppen größerer Anzahl gewisse Sprachen- und Selbstorganisationsrechte sowie öffentliche Ämter gewährt. Am meisten verbreitet sind schlichte liberale, zivilgesellschaftliche Forderungen nach faktischer Gewährung der Rechte und Freiheiten, die an sich die Verfassung und die völkerrechtlichen Vertragsverpflichtungen der bestehenden Staaten vorsehen und die oft nur Angehörige der dominanten oder Titularethnie wahrnehmen können. Dazu gehört auch, daß Kurden ihre traditionellen Familien- und selbst Vornamen sowie Ortsnamen benutzen dürfen und daß ihre bloße Existenz als Kurden nicht vom Staat oder der Mehrheitsgesellschaft bestritten wird. Im Falle Syriens gehört die Rücknahme der Ausbürgerung der einheimischen Kurden zu solchen bescheidenen politischen Zielsetzungen, die 2011 Teilerfolge hatten. 3 Schwankungen in den kurdischen ethnischen und nationalen Bewegungen Man spricht wohl sinnvoller von mehreren kurdischen Nationalbewegungen als von einer, weil diese Bewegungen sich nur selten auf das gesamte, relativ geschlossene kurdische Siedlungsgebiet bezogen haben, sondern meist auf Teilgebiete. Aber bisher haben sich noch keine stabilen, ausgeprägt partikularen kurdischen Nationalismen sprachlicher oder regionaler Art © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 8 gebildet. Drei Gründe lassen sich für die relative Schwäche der kurdischen Nationalbewegungen anführen. Erstens können sich Kurden nicht auf einen großen kurdischen Staat, ein kurdisches Königreich in der Vergangenheit berufen. Als Ersatz für einen Reichsmythos dient den Kurden, daß sie ein sehr altes, ortsansässiges Volk sind und schon lange in ihrem jetzigen Siedlungsgebiet lebten, ehe Türken, Araber und Perser sie fremden Reichsgewalten unterwarfen. Der Name Kurdistan („Kurdenland“) taucht erst im 12. Jahrhundert im Seldschukenreich als Bezeichnung für ein Verwaltungsgebiet auf, das im heutigen Iran liegt. Das kurdische Siedlungsgebiet wurde schließlich im Jahre 1639 zwischen dem Persischen und dem Osmanischen Reich geteilt. Die damals gezogene Grenze ist weitgehend bis heute gültig geblieben. Die Mehrheit der Fürsten der sunnitischen Kurden hatte es letztlich vorgezogen, sich den sunnitischen Osmanen und nicht den schiitischen Persern zu unterwerfen. Im Osmanischen Reich gab es von 1847-1864 eine Provinz (Vilayet) Kürdistan mit wechselnden Grenzen, das dann in die Vilayets Diyarbekir und Van aufgelöst wurde. Van war später auch ein Zentrum der armenischen Nationalbewegung in Anatolien. Im Osmanischen Reich besaßen die kurdischen Fürsten und die kleineren Herrscher lange Zeit ein hohes Maß an Selbständigkeit oder Autonomie, abgestuft nach der Lage zur Landesgrenze und der Macht der kurdischen Herrscher. Die meisten Kurden (ohne die Aleviten) gehörten auch insofern zur privilegierten Bevölkerung, als sie unter der osmanischen Scharia, dem religiösen Gesetz, als Sunniten zur herrschenden Gruppe der Moslems gehörten und nicht zu den minderberechtigten dhimmi („Schutzbefohlenen“, also „Buchbesitzern“ wie die Christen, Juden) oder gar zu den besonders diskriminierten kafır („Heiden“, d.h. Jesiden u.a.). Die rechtliche Gleichsetzung der türkischen und kurdischen Sunniten behinderte aber auch die Ausbildung einer eigenen kurdischen kollektiven Identität. Das ging so lange gut, als das Osmanische Reich sich islamisch, und dann seit 1839 auch weltlich-osmanisch legitimierte. Damals wurde im Grundsatz die rechtlich-politische Gleichheit der osmanischen Untertanen eingeführt und versucht, ein osmanisches Staatsbewußtsein zu erzeugen. Die halbherzigen Reformen, mit denen die osmanischen Herrscher ein modernes Staatswesen schaffen wollten, schlossen auch die Beseitigung der Autonomie der kurdischen Fürsten und kleineren Herrscher mit militärischer Gewalt in den Jahren 1826-1849 ein. Dennoch setzten sich nationale Sezessionen mit Unterstützung der Großmächte fort. Der griechischen (1830) folgte die rumänische, serbische und montenegrinische (1876) Sezession sowie die britische Eroberung Ägyptens (1882). Danach drohte auch eine bulgarische, mazedonische, albanische, armenische sowie eine arabische Abspaltung, so daß nun eine türkische Nationalbewegung (die © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 9 „Jungtürken“ des Komitees für Einheit und Fortschritt, İttihad ve Terakki Fırkası) entstand, die das Reich durch einen Militärputsch 1908 radikal von einer absolutistischen in eine konstitutionelle zu reformieren und als pantürkischen Staat zu erneuern trachtete. Einige Jungtürken träumten sogar von einer kompensatorischen Ausdehnung des Reiches nach Nordosten, als noch im selben Jahr Bulgarien und Bosnien-Herzegowina sowie Kreta verloren gingen. Der türkische Nationalismus untergrub endgültig die islamische Einheit im Reich, rief aber vorerst nur eine schwache kurdische Nationalbewegung unter einigen Adeligen hervor (Kurdischer Verein für gegenseitige Hilfe und Fortschritt, Kürt Teavun ve Terakki Cemiyeti 1909) da es noch keine breite, städtische kurdische Intelligenz gab und die islamische Einheit auf dem Land noch funktionierte. Auch der gemeinsame Gegensatz zu den christlichen Armeniern in vielen ostanatolischen Vilayets dürfte größere Konflikte zwischen Türken und Kurden verhindert haben. So waren auch viele Kurden an den umfangreichen Massakern an den Armeniern 1915 und danach beteiligt. Die Niederlage der Mittelmächte und damit auch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg führte nicht nur zur Zerstückelung des Reiches, sondern auch des kurdischen Siedlungsgebietes. Nach Vorstellung der Siegermächte sollten gemäß dem von ihnen oktroyierten Friedensvertrag von Sèvres vom 10. August 1920 Mesopotamien (der spätere Irak) als britisches und Syrien als französisches Mandatsgebiet abgetrennt und das von Griechen besiedelte Küstengebiet Kleinasiens an Griechenland abgetreten werden. Außerdem sollte ein Staat Armenien in Nordostanatolien sowie ein autonomes Gebiet Kurdistan in Südostanatolien gebildet werden. Schließlich war vorgesehen, große Teile des türkischen Siedlungsgebietes in Mittelund Westanatolien und auf den ägäischen Inseln für einige Zeit durch britische, französische und italienische Truppen zu besetzen. Für das anatolische Kurdistan wurde eine äußerst vage Option der staatlichen Unabhängigkeit und sogar der Ausdehnung auf kurdische Gebiete im mesopotamischen Vilayet Mossul eröffnet. So hieß es in Art. 64: „Wenn innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Vertrage die kurdische Bevölkerung ….sich an den Rat des Völkerbundes wendet und beweist, daß eine Mehrheit der Bevölkerung in diesen Regionen von der Türkei unabhängig sein will, und wenn der Rat dann annimmt, daß diese Bevölkerung dieser Unabhängigkeit fähig ist, und wenn er empfiehlt, sie ihr zuzugestehen, verpflichtet sich die Türkei, sich künftig nach dieser Empfehlung zu richten und auf alle Rechte und Besitztitel über die Region zu verzichten…. Wenn und falls der Verzicht erfolgt ist, wird von den Hauptalliierten keinerlei Einwand erhoben gegen den freiwilligen Anschluß der Kurden, die in dem Teil von Kurdistan wohnen, der bis © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 10 heute zum Vilayet Mossul gehört, an dieses unabhängige Kurdistan.“14 Im Unterschied zu den sonstigen definitiven Entscheidungen der Siegermächte wurde also ein unabhängiges Kurdistan an sechs kaum einzulösende Bedingungen geknüpft: 1. die Bildung einer alliierten Kommission zur Ausarbeitung eines Autonomieprojektes (die dann niemals entstand), 2. die Bildung einer kurdischen politischen Vertretung, 3. ein Referendum in Kurdistan innerhalb eines Jahres, 4. eine Entscheidung des Völkerbundrates über die Reife der Kurden zur Unabhängigkeit und über eine entsprechende Empfehlung an die Türkei, wobei zu beachten ist, daß diese Reife den Arabern der Mandatsgebiete nicht zugebilligt wurde, 5. eine Einhaltung der Verpflichtung der Türkei, auf Kurdistan tatsächlich zu verzichten, 6. eine Wahl zu einer „legitimen Führung“ oder ein Referendum in den Kurdengebieten Nordmesopotamiens. Der Friedensvertrag wurde zwar von der osmanischen Regierung unterzeichnet, aber auf Druck der türkischen Nationalbewegung unter Führung des Generals Mustafa Kemal nie ratifiziert. Seine Truppen konnten bald danach ganz Anatolien unter türkischer Herrschaft vereinigen, die osmanische Herrschaft stürzen und einen neuen Friedensvertrag in Lausanne (24. Juli 1923) aushandeln, in dem von Kurdistan wie von Armenien keine Rede mehr war. Politisch-moralisch hat die Erwähnung eines autonomen und potentiell unabhängigen Kurdistans (wenn auch ohne manche kurdischen Gebiete im Iran, in Syrien und in der verkleinerten Türkei) für die kurdische Nationalbewegung bis heute eine gewisse Bedeutung behalten. In den kritischen Jahren des Kampfes um einen neuen türkischen Staat sprach Mustafa Kemal wiederholt von den türkischen und kurdischen Brudervölkern, vor allem auch, um den türkischen Anspruch auf das erdölreiche Vilayet Mossul zu untermauern, auf das die Türkei schließlich in einem gesonderten Vertrag mit Großbritannien verzichten mußte, nachdem kurdische Aufstände sowohl in Anatolien als auch in Nordmesopotamien von den Türken und Briten niedergeschlagen worden waren. Wäre der Nordirak mit der Türkei vereinigt worden, dann wären die meisten Kurden Bürger der Republik Türkei geworden, die somit viel deutlicher ein türkisch-kurdischer Staat in seiner ethnischen Zusammensetzung geworden wäre. Die Dreiteilung des osmanischen Kurdengebiets hingegen erleichterte die repressive Kurdenpolitik seit dem Sieg der türkischen Nationalbewegung und dem Frieden von Lausanne. Das neue türkische Nationsverständnis orientierte sich stark an dem Frankreichs von der zentralistischen Einheit des Staates und der Nation, die keine nationalen oder ethnischen Minderheiten kennen will. Allerdings ist die Durchführung dieses Grundsatzes in der Türkei weitaus rigider als die in Frankreich. Es wurden nicht nur die Bürger der Republik zu Türken erklärt, was im gleichen Sinne in allen Staaten geschieht, die einen sprachlich-ethnischen Staatsna© 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 11 men tragen. Das gilt außer für Frankreich auch für Polen und Deutschland und viele andere. Über diese Entscheidung hinaus wurden aber in der Türkei über Jahrzehnte hinweg die Existenz von Kurden, einer kurdischen Sprache und Kultur geleugnet und diejenigen Bürger der Türkei schwer bestraft, die diese Existenz behaupteten und die kurdische Sprache öffentlich gebrauchten. Dementsprechend wurden kurdische Vereine und Parteien verboten und unterdrückt, auch nachdem bereits türkische Parteien neben der ursprünglichen Einheitspartei erlaubt worden waren, also seit 1946. Die Türkei ist ein extrem nationalisierender Staat, wie es Rogers Brubaker nennt,15 der seine Bürger ethnisch homogenisieren möchte. Die Auslöschung auch nur der bescheidensten Ausdrucksformen ethnischer Besonderheit wie des öffentlichen Gebrauchs von kurdischen Orts-, Familien- und Vornamen war lange Zeit und ist zum Teil auch heute noch Ziel einer extremistischen ethnonationalen Assimilierungspolitik. Dennoch konnten immer wieder kurdische Vereinigungen und Parteien unter verschleiernden Bezeichnungen entstehen, die sich an den repressiven gesetzlichen Vorgaben orientieren. Außerdem konnten die türkischen Behörden nicht die Entstehung illegaler Parteien verhindern, die unter einem nicht unerheblichen Teil der kurdischen Bevölkerung Resonanz fanden. International berühmt und als terroristische Vereinigung berüchtigt, in vielen Ländern auch illegalisiert wurde die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan, PKK) unter ihrem ersten Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Die ursprünglich nicht nur national-, sondern auch sozialrevolutionäre Partei wurde 1978 nach fünf Jahren organisatorischer Vorbereitung gegründet.16 Sie trägt seit einigen Jahren wechselnde Namen und hat auch Schwesterorganisationen in Irak, Iran und Syrien. 1984 begann sie einen äußerst blutigen Guerillakrieg in der Türkei, in dem bis heute etwa 40.000 Menschen umkamen, meist Kurden, aber auch zahlreiche ethnische Türken. In diesem Bürgerkrieg wurden von den türkischen Behörden auch kurdische „Dorfschützer“ unter Ausnutzung von Stammes- und Clanquerelen eingesetzt, die besonders brutal vorgingen. Tausende von Dörfern wurden in diesem Krieg dem Erdboden gleich gemacht, zahllose Menschen in die Flucht nach der mittleren und westlichen Türkei oder nach Westeuropa gejagt oder systematisch vertrieben. 1999 wurde Öcalan in Kenia verhaftet, an die Türkei ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt. Auf internationalen Druck wurde die Todesstrafe nicht ausgeführt. Er wird seither auf einer Insel im Marmarameer in Haft gehalten, besitzt jedoch noch eine beträchtliche Autorität unter den Kurden. 1999 verkündete er einen einseitigen Waffenstillstand der PKK, der 2004 wieder aufgekündigt wurde, nachdem die türkische Regierung nur geringe Konzessionen an ihre kurd-türkischen Mitbürger gemacht hatte. Seit dem zweiten Golfkrieg kann die PKK auch Rückzugsstellungen im Nordirak nut© 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 12 zen, mit zum Teil nur widerwilliger Duldung durch die irakischen Kurden und ihre Behörden. In den letzten Jahren hat die türkische Regierung der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan erstaunliche Schritte auf die Kurden hin gemacht. Aus den „Bergtürken“ sind inzwischen im offiziellen Sprachgebrauch wieder „Kurden“ geworden. Mit gemäßigten prokurdischen Parteien wie der 2005 gegründeten und 2007 im Parlament vertretenen Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP) wurden zeitweise Gespräche geführt, ehe sie 2009 verboten wurde.17 Seit Anfang 2009 gibt es einen staatlichen Fernsehsender mit kurdischsprachigem Programm, offenbar um ein Gegengewicht zum kurdischen Exilsender Roj-TV in Dänemark (seit 2004) herzustellen. Zwar sprachen mittlerweile führende türkische Politiker gelegentlich ein paar kurdische Sätze,18 aber noch immer wurden kurdische Politiker bestraft, wenn sie öffentlich ihre Sprache benutzen.19 Die repressive syrische Kurdenpolitik hatte bis 2011 viel mit der ehemaligen türkischen gemein. In einem Punkt war sie allerdings noch extremer. 1962 wurden rund 120.000 kurdische Syrer ausgebürgert und zu Staatenlosen in ihrer Heimat gemacht,20 die sozial besonders unter der Einparteienherrschaft der Baath-Partei („Auferstehung“, „Erneuerung“) im Namen der syrisch-arabischen Nation diskriminiert, zum Teil auch zwangsweise umgesiedelt wurden, um ihre Arabisierung zu erleichtern. Der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien bot den Kurden im Norden des Landes Gelegenheit, drei autonome Kantone mit eigenen Streitkräften zu bilden, die jedoch der Islamische Staat zu vernichten trachtete. Ihre Zukunft ist ungewiß. In völlig anderen Bahnen verlief die Kurdenpolitik in Iran. Im August 1941 besetzten Großbritannien und die Sowjetunion gemeinsam das Land, dessen Herrscher mit Deutschland sympathisierte. Nach dem Weltkrieg verweigerte die UdSSR jedoch den vereinbarten Rückzug aus Iran und nutzte die ethnischen Gegensätze, indem sie außer einer Aserbaidschanischen Volksregierung in Täbris auch eine Republik Kurdistan in Mahabad mit Präsident Qazi Mohammed von der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) im Januar 1946 gründete.21 Dieser erste kurdische Staat wurde jedoch bereits Ende des Jahres wieder von iranischen Truppen beseitigt. Die DPK-Iran ging 1953 in den Untergrund. Heute trägt noch eine der 30 Provinzen Irans den Namen Kordestān (29.000 qkm). Sie umfaßt jedoch nur einen Teil des kurdischen Siedlungsgebiets. Als das Regime Schah Mohammad Reza Pahlevis 1979 zusammenbrach, wurde befürchtet, daß der polyethnische Staat Iran auseinanderbrechen könne. Die kurdischen Gebiete erlangten zeitweise Autonomie, die ihnen jedoch in der sich konsolidierenden Islamischen Republik wieder genommen wurde. Die iranische Repression rief in den © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 13 letzten Jahren immer wieder kleinere kurdische Aufstände hervor, bei denen viele Menschen starben. Im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980-88) stachelte Saddam Hussein die iranischen Kurden zum Aufstand auf. Umgekehrt bemühte sich auch der Iran um einen Aufstand der irakischen Kurden gegen das Regime in Bagdad, der wiederum Saddam Hussein zur Vergasung Tausender irakischer Kurden in Helabdscha im März 1988 veranlaßte. Im Irak wiederum haben die Kurden in den vergangenen Jahrzehnten eine vergleichsweise starke politische Stellung erlangt, wohl vor allem deshalb, weil die Araber durch scharfe Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten gespalten sind. 1958 erklärte sich Irak als Staat zweier Nationen, der Araber und der Kurden. Unter Saddam Hussein wurde 1970 aus drei nordostirakischen Provinzen eine Kurdische Autonome Region (37.000 qkm) gebildet, die 2005 in (Autonome) Region Kurdistan umbenannt wurde. (Das Wort „Autonome“ fehlt in der irakischen Verfassung.) Sie hat sich inzwischen auf über 40.000 qkm vergrößert. Die Kurden verlangen jedoch noch weitere Gebiete. Vor allem die erdölreiche Provinz Kirkuk bleibt bis heute umstritten. Aus ihr hatte Saddam Hussein zahlreiche Kurden vertrieben, um dort viele Araber aus dem Süden anzusiedeln. In den letzten Jahren gab es erhebliche Rücksiedlungen beider Gruppen. Bei den Auseinandersetzungen um Kirkuk beansprucht die Türkei, die Interessen der dort lebenden turkmenischen Minderheit, die gelegentlich sowohl von Arabern als auch Kurden drangsaliert werden, zu vertreten.22 Vor allem aber geht es der Türkei darum, daß die Kurden mit den Erdölquellen keine wirtschaftliche Basis für einen unabhängigen kurdischen Staat erlangen. Gleichzeitig wird jedoch seit wenigen Jahren Gas und Erdöl aus der Region unter der Beteiligung türkischer Firmen nach Ceyhan in der Türkei geleitet.23 Politisch wurden die irakischen Kurden lange von der 1946 im Iran gegründeten Demokratische Partei Kurdistans (Partîya Demokrata Kurdistanê, PDK) unter der Führung Mustafa Barzanis vertreten, der 1964 einen Waffenstillstand mit der irakischen Regierung aushandelte. Dies führte zur Abspaltung der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) unter Dschalal Talabani, die sich im Osten des Kurdengebiets eine eigene Machtbasis (Zentrum Sulaimaniyya) schuf. Die PUK erhielt während des ersten Golfkrieges Unterstützung vom Iran, während die PDK von Saddam Hussein, unter dessen Herrschaft über 100.000 Kurden sterben mußten, in einem längeren Krieg zwischen den beiden irak-kurdischen Parteien (1994-1998) taktische Hilfe erhielt. Offenbar spielt auch der sprachliche Unterschied zwischen den KurmanciSprechern im Westen und den Sorani-Sprechern im Osten eine gewisse Rolle in diesem Parteienzwist.24 Nach dem zweiten Golfkrieg 1991 schufen die Alliierten eine Flugverbots- und Sicherheitszone im Norden Iraks. Dies ermöglichte faktisch die Bildung eines PDK-Staates in © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 14 Arbil und eines PUK-Staates in Sulaimaniyya mit starken, von den USA unterstützten kurdischen Truppen. Nach dem 3. Golfkrieg konnten die DPK unter Masud Barzani und die PUK unter Dschalal Talabani sich zu einem gemeinsamen Auftreten bei den ersten irakischen Wahlen im Januar 2005 einigen. Die Demokratische Patriotische Allianz Kurdistans erwirkte die Wahl Talabanis zum irakischen Staatspräsidenten25 und Barzanis zum Präsidenten der Region Kurdistan mit Sitz in Arbil (Hewlêr). Bei den Regionalwahlen im Juli 2009 erlangte eine neue Partei Goran („Wandel“) 23,8 % der Stimmen, die die Korruption in der bisher dominanten Elite angeprangert hatte.26 Die Region Kurdistan versteht sich als Teil der Bundesrepublik Irak, erhebt aber den Anspruch auf Unabhängigkeit im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, falls die irakische Verfassung gegen kurdischen Willen geändert werden sollte. 4 Die Autonome Region Kurdistan im Irak – ein Konfliktherd für die gesamte Region des Mittleren Ostens Es ist in allen vier Staaten immer wieder damit zu rechnen, daß lokale Ereignisse und staatliche oder gesellschaftliche Unterdrückungsmaßnahmen zu kurdischen Unruhen, Attentaten und Aufständen führen. Der gefährlichste Konfliktherd dürfte jedoch der Streit um die Angliederung kurdischer oder ehemals kurdischer Gebiete an die Autonome Region Kurdistan sowie um das Erdöl und Erdgas in diesen Gebieten sein. Außerdem könnten damit verbundene arabische Versuche zur Rezentralisierung des Staates einen furchtbaren Bürgerkrieg im Irak hervorrufen. Die dann zu erwartende Unabhängigkeitserklärung der Region Kurdistan könnte die Türkei veranlassen, nachhaltiger als bisher in der Region militärisch zu intervenieren, vermutlich mit dem Grund oder auch nur unter dem Vorwand, die kurdische Regionsregierung unterstütze die separatistischen Bestrebungen der bewaffneten Verbände der PKK massiv, übe also aggressive Handlungen gegenüber der Türkei aus.27 Nach dem Rückzug der US-Truppen fühlten sich die Extremisten in der Türkei zu einer stärker interventionistischen Politik im Nordirak ermutigt. Außerdem versuchte 2014/15 der „Islamische Staat“, kurdisches Gebiet im Irak und in Syrien zu erobern, stieß aber auf erbitterten Widerstand, der durch die USA und deutsche Waffenlieferungen und Ausbilder unterstützt wurde. Die kurdischen Truppen im Nordirak sind mittlerweile so stark, daß ein neuer Bürger- und Interventionskrieg in der Region außerordentlich blutig und langwierig sein dürfte. Im Lichte einer solch schrecklichen Perspektive dürften gemäßigtere, pragmatische Politiker auf allen Seiten versuchen, Kompromisse auszuhandeln, die kurdische ethnisch-kulturelle und nationalpolitische Interessen besser als bisher befriedigen, ohne die Integrität der bestehenden Staaten zu gefährden. © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 15 Am meisten können Kurden in der internationalen, aber vor allem auch in Teilen der türkischen, arabischen und iranischen Öffentlichkeit Verständnis und Unterstützung finden für zivilgesellschaftliche und politische Forderungen im Sinne einfacher Bürger- und Menschenrechte, vor allem wenn sie mit friedlichen Mitteln verfochten werden. Nur stellt sich immer wieder das Problem, daß gewaltlose Aktionen weit weniger internationale Aufmerksamkeit finden als Attentate, Terroraktionen und Aufstände, wie sich in den vergangenen Jahren wieder im Kosovo zeigte. Dennoch dürften sich mit der Urbanisierung und Alphabetisierung auch von vielen Kurden die Chancen des Erlernens von gewaltlosen oder gar gewaltfreien Aktionsformen erhöhen. Viel schwieriger sind kurdische politische Forderungen auf kollektiven Minderheitenschutz, auf personale und territoriale Autonomie oder gar auf föderative Staatlichkeit in der Türkei, in Iran und Syrien durchzusetzen. 5 Verschiedene Formen der Autonomie als Chance für eine friedliche Konfliktregulierung Nichts spricht dafür, daß die Kurden irgendwann einmal eine ähnlich günstige, internationale politische Situation erleben werden wie die Polen 1918, als die sie beherrschenden Staaten Österreich-Ungarn, Deutschland und Rußland gleichzeitig durch Niederlagen im Ersten Weltkrieg so geschwächt und die herrschende Meinung in den anderen Großmächten ihnen so günstig gesonnen war, daß ein polnischer Nationalstaat entstehen konnte. Ein vereinigtes, unabhängiges Gesamtkurdistan ist also völlig unwahrscheinlich, da eine gleichzeitige drastische politisch-militärische Schwächung der Türkei, Iraks, Irans und Syriens so gut wie undenkbar ist,28 selbst nicht in einem Dritten Weltkrieg. Auch die Sezession eines kleinen Kurdistans von einem der bestehenden Staaten wird voraussichtlich nicht ohne umfangreiches Blutvergießen möglich sein. Es ist nicht erkennbar, daß irgendeine Großmacht bereit wäre, eine kurdische Sezession von einem der vier Staaten Türkei, Irak, Iran oder Syrien zu unterstützen. Wenig spricht auch dafür, daß die Westmächte sich eines Tages für ein unabhängiges Kurdistan einsetzen werden, wie sie das 2008 für ein unabhängiges Kosovo getan haben. Völlig unklar ist hingegen, ob die Kurden selbst eine realistische Einschätzung ihrer internationalen Situation besitzen und wie viele unter ihnen eine friedliche und wie viele eine kriegerische Sezession wünschen oder gar unterstützen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß kurdische Sezessionswünsche sich häufig beträchtlich in Abhängigkeit vom Grade der jeweiligen Repression als auch von den Freiheiten zur nationalen politischen Artikulation und Organisation wandeln. Die Anzahl der Araber, Türken und Perser, die © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 16 wollen, daß sich ihre Staaten von den immer wieder rebellierenden, mehrheitlich kurdischen Gebieten trennen, um sich in ihren eigenen Kerngebieten friedlich entfalten zu können, so wie sich die meisten Engländer schließlich mit der Lostrennung Irlands abfanden, die meisten Tschechen mit der Lostrennung der Slowakei usw., dürfte noch lange sehr gering bleiben. Es spricht also alles dafür, daß die Kurden auf eine innerstaatliche Konfliktregulierung in den vier bestehenden Staaten angewiesen sind.29 Diese hängt jedoch nur zum kleineren Teil von ihnen selbst ab, sondern weit mehr von der Bereitschaft der bestehenden Staaten und ihrer Bevölkerungsmehrheit, die Kurden als gleichberechtigte Bürger und Ethnie oder auch Nation politisch und gesellschaftlich zu integrieren. Die größten Chancen bestehen hierzu derzeit im Irak durch eine noch auszubauende und zu stabilisierende föderative Staatsordnung. Sollte jedoch die Bundesrepublik Irak nicht auseinanderbrechen und sich stabilisieren, so gehen mit Sicherheit von dem Beispiel der Autonomen Region Kurdistan Impulse auf die Nachbarstaaten aus, ebenfalls auf kurdische Belange einzugehen. So hat sich die politische Lage der Kurden in Syrien durch die Krise des Assad-Regimes vorerst wesentlich gebessert. Denkbar wäre in den nächsten Jahren die Einrichtung von kommunaler, vor allem auch sprachlich-kultureller Selbstbestimmung, solange die Furcht vor regionaler Autonomie oder gar Föderierung noch mit dem Verdacht behaftet ist, Hebel und Vorstufe zur Sezession werden zu können. Dem könnte eine kleinregionale Selbstregierung der Provinzen bei gleichzeitiger Unterbindung des politisch-administrativen Zusammenschlusses der großen ethnischen Siedlungsgebiete folgen. Eine solche Regelung entspräche eher dem Modell Schweiz als dem Modell Spanien. Befriedend kann auch die Bildung von kurdischen Sektionen in den türkischen, iranischen und syrischen Parteien wirken. Auf der ideologischen Ebene schließt die einheitliche Bezeichnung der Staatsangehörigen mit dem Namen der ethnisch-sprachlich dominanten Gruppe (Titularethnie) und die Benutzung des Wortes Nation für alle Staatsangehörigen nicht die Anerkennung einer sekundären gesellschaftlichen oder gar einer politischen Identität als Ethnie aus. So wie man sich als katalanischer Spanier, arabischer Franzose, türkischer Deutscher verstehen und als solcher von der Mehrheitsbevölkerung anerkannt werden kann, so bleibt es nicht ausgeschlossen, daß es eines Tages selbstbewußte kurdische Türken, Iraker, Syrer und Iraner gibt, die als solche auch von anderen anerkannt werden. Für die Türkeikurden kann es ein sozialökonomischer Vorteil sein, die Chance einer EU-Mitgliedschaft zu haben, die sie in einem unabhängigen, ostanatolischen Kurdistan nie bekämen. Schon heute zwingt die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft die Türkei, sich schrittweise den europäischen minderheitspolitischen Mindest-Standards anzupassen. © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 17 6 Die Wahrscheinlichkeit fortgesetzter bewaffneter Auseinandersetzungen Eine umfassende Regulierung der Kurdenfrage in allen vier Staaten ist in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Deshalb muß immer wieder mit bewaffneten Auseinandersetzungen gerechnet werden, obwohl bisher kurdische Selbstmordattentate wie in Afghanistan, Pakistan und in den arabischen Teilen Iraks weitgehend vermieden wurden. Die möglicherweise ethnisch-kulturellen Gründe für dieses erstaunliche Phänomen wurden anscheinend bisher noch wenig ergründet.30 Andererseits haben die Kurden bisher noch keine ausgeprägte Kultur des gewaltlosen Widerstands entwickelt, wie sie bis 1987 die Kosovo-Albaner oder vor 1991 die baltischen Völker praktiziert hatten. Es bleibt abzuwarten, ob die Verstädterung und Europäisierung vieler Kurden zur Entwicklung einer gewaltlosen Aktionskultur führen wird, die eine breitere gesellschaftliche Basis und eine bessere internationale Resonanz gewährleistet. Mit großer Sicherheit wird eine vollständige sprachlich-ethnische Assimilation der Kurden durch die Mehrheitsbevölkerungen mit Zwang oder auch mit ökonomisch-politischen Anreizen nicht gelingen. Mit ebenso großer Sicherheit kann man annehmen, daß sich das kurdische Nationalbewußtsein mit den Fortschritten der Urbanisierung und Alphabetisierung in der Region weiter entfalten wird, wobei es noch offen bleiben muß, ob dieses Nationalbewußtsein in eher realistische, pragmatische Bahnen partikularer Staatlichkeit zu lenken ist oder ob doch noch ein starkes gesamtkurdisches Nationalbewußtsein entsteht. Letzteres dürfte eher zu den illusionären pannationalen Vorstellungen wie das „arabische“, das „slawische“ oder auch „jugoslawische“, das „pantürkische“ und das „skandinavische“ Nationalbewußtsein gehören, die bisher stets nur Übergangsstadien zu territorial und sprachlich-kulturell engeren „nationalen Identitäten“ waren. Die Ausbreitung der Schriftkultur dürfte auch einen spezifischen Soraniund einen Kurmanci-Nationalismus befördern. Am Anfang des 19. Jahrhunderts träumte noch mancher Deutsche von einem Deutschland als Nationalstaat von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Heute ist das damalige Deutschen-Land auf neun Staaten neben dem drastisch verkleinerten Deutschland verteilt, in denen die dort lebenden Deutschen sich überwiegend zur schweizerischen, österreichischen, luxemburgischen, belgischen, italienischen, französischen, dänischen, polnischen, litauischen, tschechischen Nation zugehörig fühlen, ohne aufzuhören, irgendwie immer noch kulturell Deutsche zu sein. Auch ein KurdenLand hat eine Zukunft als kurdisches Land, selbst wenn kein Teil davon ein unabhängiger Staat werden sollte, sondern wenn sich mehrere „Kurdistans“ mit kommunaler bzw. regionaler Autonomie oder mit föderativer Staatlichkeit innerhalb der heutigen Staatsgrenzen, entwickeln, die zusätzlich konföderativ über diese Grenzen hinweg vernetzt sein könnten.31 © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 18 1 Hilfreiche Karten zur Vorlesung finden sich unter https://de.wikipedia.org/wiki/Kurdische_Sprachen https://de.wikipedia.org/wiki/Kurdistan#/media/File:Autonome_Region_Kurdistan_%28Karte%29.png https://de.wikipedia.org/wiki/Republik_Mahabad#/media/File:Republic_of_mahabad_and_south_azerbaijan_194 5_1946.png https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_S%C3%A8vres_%28Osmanisches_Reich%29#/media/File:Treaty_se vres_otoman_de.svg https://de.wikipedia.org/wiki/Rojava#/media/File:Rojava_february2014.png https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Rojava_cities.png 2 Strohmeier, Martin/ Yalçin-Heckmann, Lale ²2003: Die Kurden. Geschichte. Politik, Kultur, München, S. 32; Schmidinger, Thomas (Hg.) 2011: Kurdistan im Wandel. Konflikte, Staatlichkeit, Gesellschaft und Religion zwischen Nahem Osten und Diaspora, Frankfurt u.a., S. 10. 3 Schmidinger, Thomas 2011: Alevitische ‚Identitäten’ – Eine heterodoxe Religionsgemeinschaft zwischen Islam und Pantheismus, türkischem, kurdischem und Zaza-Nationalismus, in: Schmidinger (Anm. 2), S. 53-62. Die Aleviten sind eine schiitische, recht undogmatische Glaubensrichtung aus dem 13,/14. Jahrhundert. Sie nicht zu verwechseln mit den Alawiten (Nusairern) in Syrien, die bereits Ende des 9. Jahrhunderts aus einer Abspaltung von den Schiiten entstanden. 4 Seit den Vernichtungsaktionen der Truppen des Islamischen Staates gegen die Jesiden im Sommer 2014 finden diese erstmals größere internationale Aufmerksamkeit. Doch sie waren schon zuvor Opfer von umfangreichen Terroranschlägen, siehe Ladurner, Ulrich 2007: Tod der kleinen Völker, in: Die ZEIT vom 23, August, S. 7. Siehe auch: Dietrich, Lars 2011: Die Yezidi. Von Kurdistan nach Europa, in: Schmidinger 2011 (Anm. 2), S. 3341. Die Jesiden sind eine spätestens im 12. Jahrhundert entstandene eigenständige Religionsgemeinschaft mit altiranischen, zoroastrischen Elementen, die keine heilige Schrift kennt. Ihre Glaubenslehren wurden mündlich, vor allem in Liedern und Gebräuchen tradiert. 5 Matuz, Josef 42006: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt, S. 167. 6 Manche Autoren schätzen die Zahl der Kurden in Syrien auf über zwei Millionen, Schmidinger, Thomas 2014: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava, Wien, S. 82. 7 Kartal, Celalettin 2002: Der Rechtsstatus der Kurden im Osmanischen Reich und in der modernen Türkei, Hamburg, S. 80-84. 8 Unterschiedliche theoretische Ansätze zum Verständnis der Entstehung des kurdischen Nationalismus in den einzelnen Ländern nach Auflösung des Osmanischen Reiches sind in einem Sammelband enthalten von Vali, Abbas (Hg.) 2003: Essays on the Origins of Kurdish Nationalism, Costa Mesa, CA. 9 Thumann, Michael 2003: Ein Staat wird demontiert, in: Die ZEIT vom 20. November, S. 9. 10 Die Stimmen, die im Westen für eine Dreiteilung Iraks plädieren, sind eindeutig in der Minderheit, siehe Nasse, Matthias 2006: Trennung an Euphrat und Tigris, in: Die ZEIT vom 24. August, S. 43. 11 Siehe hierzu die eingehende Darstellung der recht widersprüchlichen politischen Ziele zahlreicher kurdischer Parteien in Syrien von Schmidinger 2014 (Anm. 6). 12 Lerch, Wolfgang Günter 2009: Stabil und (fast) unabhängig. Der Norden des Iraks separiert sich nicht, agiert jedoch durchaus selbständig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Februar, S. 10. 13 Neuerdings können Äußerungen kurdischer Politiker in Syrien bei Schmidinger 2014 (Anm. 6) über die Autonomie der ethnischen und konfessionellen Minderheiten in Nordsyrien in diesem Sinne verstanden werden. 14 The Treaty of Sèvres, 1920: http://wwi.lib.byu.edu/index.php/Section_I,_Articles_1_-_260. 15 Brubaker, Rogers 2008: Nationale Minderheiten, nationalisierende Staaten und nationale Bezugsländer im neuen Europa, in: Jahn, Egbert: Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa, Bd. 1, Baden-Baden: Nomos, S. 146-150. 16 Der Zusammenhang zwischen Nationalismus und Sozialismus in der Blütezeit des internationalen Antikolonialismus und der Kritik am westlichen Imperialismus wie auch an den feudalen Eliten Kurdistans wird eingehend untersucht in: Gunes, Cengiz 2012: The Kurdish National Movement in Turkey. From Protest to Resistance, London, S. 81-100. 17 Noch vor dem Verbot der DTP wurde als Ersatzpartei die Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi. BDP) gegründet, deren 2011 gewählte Abgeordnete zur 2012 gegründeten linksorientierten Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) übertraten, die im Juni 2015 bei den Parlamentswahlen auch überraschend viele türkische Wähler für sich gewinnen konnte. Präsident Erdoğan ließ daraufhin im November 2015 Neuwahlen ausrichten und veranlaßte intensive militärische Aktionen gegen die PKK im Nordirak und Ostanatolien, die zu einer Erneuerung des Bürgerkrieges in der Türkei führten. 18 Thumann, Michael 2009: Wir können auch Kurdisch, in: Die ZEIT vom 26. März, S. 12. 19 Martens, Michael 2009: Provokation in einer unbekannten Sprache, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Februar, S. 3. © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 19 20 Die Zahl der staatenlosen Kurden beträgt heute bis zu 300.000 in Syrien, siehe Wierzbicka, Aleksandra 2011: Staatenlose KurdInnen in Syrien, in: Schmidinger (Anm. 2), S. 211. Im April 2011 wurden die registrierten Staatenlosen (ajanib) wieder eingebürgert, die nicht registrierten (maktumin) jedoch nicht, Schmidinger 2014 (Anm. 6), S. 82. 21 Romano, David 2006: The Kurdish Nationalist Movement. Opportunity, Mobilization, and Identity, Cambridge/ New York, S. 224-229. 22 Zu den jahrzehntealten Ansprüchen der Türkei auf nordirakisches Gebiet siehe Trautner, Bernhard J. 1997: Ungleiche Nachbarn. Die Türkei, der Irak und die Kurden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juni, S. 10. 23 Hermann, Rainer 2009: Irakisch-Kurdistan exportiert erstmals Erdöl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Juni, S. 13. 24 Bruinessen, Martin van 1997: Kurden zwischen ethnischer, religiöser und regionaler Identität, in: Borck, Carsten/Savelsberg, Eva/ Siamend, Hajo (Hg.) 1997: Ethnizität, Nationalismus, Religion und Politik in Kurdistan, Münster, S. 185. 25 Sein Nachfolger ist seit dem 24.7.2014 Fuad Masum. 26 Bei den Wahlen vom 21.9.2013 erlangte sie 24,2 % der Stimmen. 27 Hermann, Rainer 2007: Die PKK ist für viele nur der Vorwand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Oktober, S. 3; Žižek, Slavoj 2008: Im Takt des türkischen Marsches, in: Die ZEIT vom 3. Januar, S. 37. 28 Der Bürgerkrieg und Staatszerfall in Syrien und die weitgehende Ausschaltung der Sunniten aus dem politischen System Iraks unter dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri-al Maliki von 2006 bis August 2014 und die Entstehung des fragilen sunnitischen Islamischen Staats in beiden Ländern haben zur erheblichen Stärkung und Zusammenarbeit der kurdischen Minderheiten im Irak und Syrien geführt. Kurdische Proteste in der Türkei gegen die türkische Tolerierung und anfangs sogar Unterstützung des Islamischen Staats, der die Kurden im Norden Syriens seit Herbst 2014 zu unterwerfen und wohl auch vertreiben trachtete (Schlacht um Kobanê/Ain al-Arab), zeigten eine gewisse Entwicklung der gesamtkurdischen Solidarität an und verschärften die kurdischtürkischen ethnischen Beziehungen in der Türkei ganz beträchtlich. Dennoch sind gravierende gesellschaftspolitische Differenzen zwischen den kurdischen Parteien im Irak und in der Türkei nicht zu übersehen, die wiederum mit ihnen verbündete kurdische Parteien in Syrien gegeneinander in Stellung bringen. 29 Diese Ansicht vertritt auch Kieser, Hans-Lukas 2004: Verlierer der postosmanischen Ordnung. Die Kurden zwischen Assimilation, Ethnozid und Genozid, in: Schaller, Dominik J. u. a. 2004: Enteignet – Vertrieben – Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich, S. 409. 30 Eine Hypothese wäre, daß der Islam unter den Kurden weniger tief verankert ist und sich so unter ihnen der salafistische Islamismus weniger verbreiten konnte. Möglicherweise verhindert auch die Dominanz des säkularen Ethnonationalismus die Entstehung eines religiös legitimierten massenmordenden Märtyrertums von Selbstmördern, obwohl jener auch andere Formen der Terroranschläge hervorbringt, bei denen die Attentäter ein extrem hohes Risiko eingehen, selbst getötet zu werden, auch wenn sie sich nicht selbst töten. 31 Dieser Vorschlag, der die bestehenden Staatsgrenzen nicht in Frage stellt, sondern lediglich die innere Transformation der heutigen Staaten in Bundesstaaten vorsieht, wurde vorgebracht von Wolffsohn, Michael ²2015: Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf, München, S. 55. © 2016 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle