WISSENSCHAFT Ernährung Verschleppter Kampf Wegen Jodmangels sind Millionen Chinesen geistig zurückgeblieben. Auch die Deutschen nehmen zuwenig Jod zu sich. D In den Jahren 1993 und 1994 hat der Rostocker Mediziner Rainer Hampel in der bisher größten Jodstudie 6800 Menschen in ganz Deutschland untersucht. Bei jedem zweiten Getesteten diagnostizierten seine Mitarbeiter eine vergrößerte Schilddrüse, einen für medizinische Laien meist unsichtbaren Kropf. Der Mangel ist nicht so extrem, daß den Deutschen wegen des fehlenden Spurenelements Verblödung drohte. „Einen Fall von Kretinismus habe ich hier in 35 Jahren noch nicht gesehen“, sagt Pfannenstiel. Doch bei rund 15 Millionen Menschen sei die Schilddrüse krankhaft verändert. Über 90 000 Kröpfe werden jedes Jahr operiert. Jodbedingte Schilddrüsenerkrankungen kosten das deutsche Gesundheitssystem jährlich 2,2 Milliarden Mark. Dieser Betrag wäre leicht einzusparen. Zwar kaufen viele Haushalte mittlerweile jodiertes Speisesalz, dennoch nehmen die Deutschen zuwenig Jod zu sich: im Schnitt nur 70 Mikrogramm, weniger als die Hälfte der Menge, die Medizinern der WHO als Mindeststandard gilt. Die USA haben per Gesetz alles Haushaltssalz mit Jod anreichern lassen. Erfolg: Kröpfe sind dort nahezu verschwunden. Die Bonner Politiker konnten sich zu einer solchen gesetzlichen Regelung nicht durchringen. „Es ist absurd“, klagt Experte Pfannenstiel, „das Freiwilligkeitsprinzip in der Verfassung verhindert eine Schutzmaßnahme, von der alle profitieren würden.“ Daß man den Jodmangel durch geeignete Diät ausgleichen müsse, war den Ärzten im fernen China offenbar bereits vor 3000 Jahren klar. Gegen den Kropf empfahlen die Urväter der chinesischen Medizin in ihren Schriften den Verzehr von jodreichem Seetang. Aber solche Weisheiten gingen verloren, und in diesem Jahrhundert hat China den Kampf um das Mangelelement dramatisch verschleppt. Die Pekinger Bürokraten „haben das Jodproblem irgendwie übersehen“, wundert sich die New York Times. Erste Bemühungen, dem Speisesalz Jod beizumischen, haben in den sechziger Jahren nur wenige Menschen in dem großen Land erreicht. In den Wirren der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 gingen die meisten Projekte unter. Mit Hilfe der Weltbank und der Vereinten Nationen will die Kommunistische Partei Chinas nun die staatliche Salzindustrie umrüsten. Zwei Drittel des Speisesalzes sollen mittlerweile jodiert sein, aber dessen Anteil am Konsum sinkt schon wieder: Das mit Jod versetzte Salz kostet mehr als gewöhnliches Salz vom Schwarzmarkt. ™ P.E. TAYLOR / NEW YORK TIMES er Schwachsinn hat Wangjiashan im Griff wie eine Seuche. In der Grundschule des staubigen Dorfes 800 Kilometer südlich von Peking fallen drei von vier Kindern durch. Viele Familien können ihre Äcker nur mit fremder Hilfe bestellen – sie selber sind dafür nicht helle genug. Von den rund 500 Dorfbewohnern sind 270 geistig behindert. Weitere 58 Jahrmillionen wurden die leicht löslichen Jodverbindungen aus dem Erdreich ausgeschwemmt. Daß in ihrem Lande die Mangelsituation besonders drastisch ist, wird den chinesischen Behörden erst langsam bewußt. Nach einer Schätzung des Pekinger Gesundheitsministeriums sind mindestens zehn Millionen Chinesen wegen Jodmangels geistig behindert. Hunderttausende wurden zu Kretins, Millionen und Abermillionen sind zwar nicht auffällig, aber ihre Intelligenz ist herabgesetzt – ein unermeßlicher volkswirtschaftlicher Verlust. Zu den geistig Behinderten kommen noch Verunstaltete und chronisch Kranke: Ungezählte Chinesen tragen einen Kropf mit sich herum. Fehlfunktionen der Schilddrüse treten in vielen Regionen gehäuft auf. „Jodmangel ist in China nicht mehr nur eine Gesundheitsfrage“, sagt ein Uno-Angestellter in Peking. „Es ist eine Frage der industriellen Entwicklung geworden.“ Von jeder Generation fällt ein übergroßer Geistig behinderter chinesischer Junge*: Mangel im Mutterleib zeigen das Vollbild des sonst äußerst seltenen Kretinismus: Sie sind debil, viele taubstumm, ihre Körper unterentwickelt und verwachsen. Wangjiashan ist ein „Idiotendorf“, wie chinesische Gesundheitsberater es unverblümt nennen. Ortschaften, in denen der Dorftrottel fast schon der Normalbürger ist, finden sich in Zentralchina und im Bergland in großer Zahl. Auf tragische und leicht vermeidbare Art haben Millionen von Chinesen einen Teil ihres Verstandes eingebüßt: Schon im Mutterleib und im Säuglingsalter haben sie einen akuten Jodmangel erlitten. Das Spurenelement Jod ist ein Grundbaustein für zwei Hormone der Schilddrüse. Wenn sie fehlen, können sich Körper und Gehirn nur unvollständig entwickeln. Normalerweise nimmt der menschliche Organismus über Trinkwasser und Nahrung genügend natürlichesJod auf. Doch in allen Erdteilen – auch in Europa – gibt es Jodmangelgebiete: Über 176 DER SPIEGEL 25/1996 Teil wegen des Jodmangels für hochwertige Arbeitsplätze und Bildungsprojekte aus. Ein Viertel der Schulkinder auf dem Lande, das ergaben Studien aus den achtziger Jahren, ist geistig zurückgeblieben. Ihre Intelligenzquotienten liegen zwischen 51 und 69 Punkten. Extremer Jodmangel plagt auch Indien, Nepal und Laos, doch nirgendwo ist die Lage so prekär wie in China: 500 Millionen Menschen sind unterversorgt, fast die Hälfte der 1,2 Milliarden Chinesen. Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation WHO, den Jodmangel der Menschheit bis zum Jahr 2000 zu beseitigen, gilt Experten schon jetzt als illusorisch. Die Industriestaaten haben das Jodproblem im allgemeinen gut im Griff – mit einer Ausnahme: „Deutschland“, urteilt der Wiesbadener Internist Peter Pfannenstiel, „ist in dieser Hinsicht ein Entwicklungsland.“ * Im Dorf Daxin in Zentralchina.