Allgemeine Psychologie 2 kompakt

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Leseprobe aus: Horstmann, Dreisbach, Allgemeine Psychologie 2 kompakt, ISBN 978-3-621-27812-6
© 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-621-27812-6
Leseprobe aus: Horstmann, Dreisbach, Allgemeine Psychologie 2 kompakt, ISBN 978-3-621-27812-6
© 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel
4 Gedächtnis
Was Sie in diesem Kapitel erwartet
Der Wecker klingelt, Sie stehen auf, gehen ins Bad, bereiten sich anschließend Ihr Frühstück zu und begeben sich auf den Weg zur Uni. Im Treppenhaus begegnen Sie einem Nachbarn, mit dem Sie kurz über
das Wetter plaudern. Unterwegs machen Sie noch
schnell bei der Bank halt, um Geld abzuheben. An der
Uni angekommen, gehen Sie in den Computerraum
des Rechenzentrums, fahren einen Rechner hoch, geben Ihr Passwort ein und schreiben an Ihrer Hausarbeit weiter.
Damit Sie alle diese Aktivitäten vernünftig durchführen können, brauchen Sie unter anderem ein intaktes Gedächtnis. Im Gedächtnis ist z. B. eine kognitive
Karte Ihrer Wohnung und Ihrer Universität gespeichert (sonst müssten Sie morgens nicht nur den Weg
zur Uni suchen, sondern auch Küche und Bad), es ist
gespeichert, wo sich das Kaffeepulver und die Tassen
befinden. Ihr Gedächtnis ermöglicht es Ihnen, Ihren
Nachbarn wiederzuerkennen und auf dem Weg daran
zu denken, dass Sie Geld abheben müssen. Auch die
PIN für den Bankautomaten und das Passwort für den
Rechner sind im Gedächtnis abgelegt. Wiewohl wir im
letzteren Fall tatsächlich mitunter erfahren müssen,
dass unser Gedächtnis fehlbar ist. Es ist übrigens ein
Kuriosum, dass viele Menschen (und nicht nur Politiker vor dem Untersuchungsausschuss) sich mit fröhlicher Bekennermiene über ihr schlechtes Gedächtnis
beklagen, wohingegen andere kognitive Mängel kaum
freiwillig zugegeben werden (Baddeley, 2009). In diesem Kapitel werden Sie verschiedene Gedächtniskonzeptionen und -modelle kennenlernen. Sie werden
lernen, wovon es abhängt, ob wir etwas erfolgreich lernen und dann später auch wieder abrufen können.
Und schließlich werden wir uns auch mit dem Vergessen beschäftigen und aufzeigen, dass Vergessen nicht
nur ein Fluch, sondern mitunter auch ein Segen ist.
Langzeitgedächtnis
Arbeitsgedächtnis
Vergessen
Gedächtnis
Klassisches
Konditionieren
Psychophysiologische
Theorien
Verhaltenstheorien
Evaluatives
Konditionieren
Lernen
Allgemeine
Psychologie Emotion
Instrumentelles
Konditionieren
Beobachtungs
lernen
Appraisaltheorien
Evolutionstheoretische
Ansätze
Dimensionale
Theorien
Motivation
Emotion
und
Kognition
Volition
Triebtheorie
Feldtheorie
Erwartung-Wert
Theorien
4.1 Wie das Gedächtnis verstanden werden kann
4.1.1 Gedächtnis als Prozess
Gedächtnis kann als eine Abfolge von drei Prozessen verstanden werden, nämlich Enkodierung,
Speicherung und Abruf (s. Abb. 4.1).
Abbildung 4.1 Gedächtnisprozesse: Das Gedächtnis kann in
jeder der drei Phasen versagen. An den Prozessen sind jeweils unterschiedliche Gehirnstrukturen beteiligt
146 |
4 Gedächtnis
Enkodierung
Physikalischer Input
ins ZNS
Speicherung
Dauerhafte mentale
Repräsentation
Abruf
Auffinden der
Repräsentation
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Unter Enkodierung wird die Aufnahme von Information verstanden, Speicherung heißt, dass
die Information dauerhaft im Gedächtnis abgelegt wird und Abruf bezeichnet das erfolgreiche
Wiederfinden der abgespeicherten Information. Wie wir sehen werden, stellen alle drei Prozesse
spezifische Anforderungen an das kognitive System und bei allen drei Prozessen können Fehler
unterlaufen. Und natürlich sind die Prozesse auch nicht unabhängig voneinander, sondern interagieren. Was nie richtig enkodiert wurde (weil es zum Beispiel einfach nicht beachtet wurde),
kann auch nicht gespeichert werden. Und dass etwas gespeichert wurde, heißt noch lange nicht,
dass wir es im richtigen Moment auch tatsächlich abrufen können. Allerdings kann man im Alltag nicht ohne weiteres erkennen, an welcher Stelle das Gedächtnis versagt. So lässt sich z. B.
aus dem beobachtbaren Verhalten, dass ein Student in der mündlichen Prüfung keine Antwort
auf die Frage nach dem Experiment von Sperling hat, nicht eindeutig schließen, ob er das Experiment nie gelernt hat oder ob ihm nur im Moment der Prüfung der Abruf aus dem Gedächtnis misslingt. Prüfer halten sich in dieser Situation übrigens typischerweise an behavioristische
Grundsätze und berücksichtigen und benoten ausschließlich die beobachtbare Performanz.
4.1.2 Gedächtnis als Speicher
Häufig wird das Gedächtnis auch als Speicher beschrieben, wobei sich die unterschiedlichen Modelle dahingehend unterscheiden, wie viele verschiedene Speicher postuliert werden und wie
sich die Speicher unterscheiden. So ist es zum einen möglich, die Speicher hinsichtlich der Verweildauer der darin beinhalteten Information zu unterscheiden (von Sekunden über Jahre), oder
aber hinsichtlich der Art der gespeicherten Information (visuell vs. semantisch, abstrakt vs. konkret, implizit vs. explizit usw.). Wie wir im weiteren Kapitel noch sehen werden, gibt es für beide
Arten von Konzeptualisierungen Vor- und Nachteile.
Henry L. Roediger III. (1980), einer der großen Gedächtnispsychologen unserer Zeit, hat die in der Literatur verwendeten Metaphern des Gedächtnisses zusammenzutragen, wovon wir hier nur einen kleinen
Teil auflisten möchten:
Wachstafel
U-Bahn-Karte
Haus
Werkbank
Räume in einem Haus
Wörterbuch
Bibliothek
Kuhmagen
Mülleimer
Kassettenrekorder
So hilfreich solche Metaphern mitunter sein mögen,
so irreführend sind doch häufig ihre Implikationen.
Die meisten Metaphern suggerieren, dass es sich beim
Gedächtnis um einen passiven Speicher handelt (Wörterbuch, Bibliothek usw.), und dass das Gedächtnis
eine klar umrissene Struktur (im Gehirn) hat. Beide
Annahmen haben sich mittlerweile als falsch herausgestellt.
4.2 Hermann Ebbinghaus’ Gedächtnisexperimente
4.2.1 Wie alles begann
Wie Sie im Kapitel Lernen bereits erfahren haben, war die Lernpsychologie zu Beginn des letzten Jahrhunderts insbesondere durch behavioristische Annahmen geprägt. Nur beobachtbares
Verhalten zählte, ob und was sich möglicherweise in unseren Gedanken abspielt, war nicht relevant – weil nicht objektiv beobachtbar und messbar. Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909) gilt zu
Recht als der Psychologe, der die experimentelle Gedächtnispsychologie aus der Wiege hob. »Die
4.2 Hermann Ebbinghaus’ Gedächtnisexperimente
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Psychologie hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte«, schrieb er kurz vor
seinem Tod 1908. Und tatsächlich beschäftigen psychologische Fragestellungen die Menschen
seit Urzeiten, und doch ist die systematische experimentelle Forschung in diesem Bereich noch
sehr jung. Ebbinghaus untersuchte als erster systematisch (s. Kasten) die Gedächtnisleistung in
Abhängigkeit von der Menge des Lernstoffs, der Anzahl der Wiederholungen und der Zeit, die
seit dem letzten Lernen verstrichen war.
Kritik und weitere Forschung. Obwohl seine Vorgehensweise heutigen experimentellen Ansprüchen nicht in allen Punkten genügt, haben Ebbinghaus’ Ergebnisse bis heute Bestand. Der Hauptkritikpunkt an seiner Forschung betraf auch weniger seine Art der experimentellen Herangehensweise, sondern dem Umstand, dass er sich ausschließlich mit sinnlosen Silben beschäftigte,
um Vorwissen auszuschließen. Sir Frederic Bartlett (1932), einer der Mitbegründer der sogenannten Schema-Theorie des Gedächtnisses, kritisierte die Forschung Ebbinghaus’ genau aus diesem Grund, nämlich weil das Vorwissen einen entscheidenden Einfluss auf das menschliche Gedächtnis habe. Das Gedächtnis sei eben kein passiver Speicher, der nur darauf warte, mit neuen
Informationen gefüllt zu werden, sondern das bereits vorhandene Wissen beeinflusse alle Stufen
des Gedächtnisprozesses von der Enkodierung zur Speicherung bis zum Abruf. Erste empirische
Unterstützung für diese Annahmen fand Bartlett in Versuchen, in denen er seinen Versuchspersonen Geschichten aus fremden Kulturen zu lesen gab und sie anschließend um Nacherzählung
bat. Dabei fiel ihm auf, dass die Versuchspersonen sich an die Details der Geschichte so erinnerten, dass sie vor ihrem kulturellen Hintergrund einen Sinn ergaben, auch wenn dadurch manches
hinzugedichtet wurde, was in der Originalgeschichte gar nicht vorkam und anderes weggelassen
wurde, was nicht logisch erschien. Heutzutage sind sich die meisten Forscher einig, dass Vorwissen, Einstellungen und aktuelle Bedürfnisse maßgeblich beeinflussen, welche Information bevorzugt enkodiert, gespeichert und abgerufen wird. Für Studierende lässt sich daraus die (hoffentlich) beruhigende Botschaft ableiten, dass mit zunehmendem psychologischem Fachwissen das
Aneignen neuer Theorien und experimenteller Befunde immer leichter fällt, weil das neue Wissen mit dem bereits vorhandenen verknüpft werden kann.
Die Forschung von Hermann Ebbinghaus
Ebbinghaus, ein deutscher Philosoph und Psychologe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, war der erste,
der experimentell etwas scheinbar nicht Beobachtbares wie das Gedächtnis untersuchte. Als Lernmaterial
verwendete er sinnlose Silben (Buchstabentriplets der
Art Konsonant-Vokal-Konsonant wie REK, MIS, TOF
usw.), um Vorwissen auszuschließen und so – jedenfalls war das seine Annahme – den reinen Gedächtnisprozess unbeeinflusst von bereits vorliegenden Assoziationen (s. Abschn. 4.6.1) untersuchen zu können.
Aus den sinnlosen Silben stellte er dann Listen unterschiedlicher Länge zusammen und dokumentierte akribisch genau, wie viele Lerndurchgänge er benötigte,
bis er eine Liste vollständig und fehlerfrei aufsagen
konnte. Ebbinghaus war selbst seine einzige Versuchs-
148 |
4 Gedächtnis
person (!). Sein erstes Ergebnis war die sogenannte
Gesamtzeit-Hypothese, die einen linearen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Wiederholungen und
der Gedächtnisleistung 24 Stunden später beschreibt.
Das heißt, je häufiger er die Lernliste wiederholte,
desto besser war die Gedächtnisleistung (»You get
what you pay for«, Baddeley, 2009). Eine weitere wichtige Entdeckung von Ebbinghaus ist die sogenannte
Ersparnismethode. Hierbei untersuchte Ebbinghaus
den Vorteil beim Wiedererlernen einer Liste, die er zuvor bereits durch mehrfaches Lernen vollständig korrekt wiedergeben konnte. Dabei fand er, dass mit zunehmendem Abstand zwischen der ersten Lernphase
und dem Wiederholen der Listen die Ersparnis immer
geringer wurde. Benötigte er z. B. für eine Liste von
16 Silben in der ersten Lernphase 30 Wiederholun-
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gen, benötigte er einen Tag später nur noch 20 Wiederholungen bis zur korrekten Wiedergabe, was einer Ersparnis von 33 Prozent gleichkommt. Ebenso
konnte er mit dieser Methode den Einfluss der Zeitspanne zwischen Lernphase und Wiederholen auf das
Vergessen untersuchen. Dabei fand er zuverlässig, dass
der größte Gedächtnisverlust (um 70 %) in den ersten zehn Stunden nach dem Lernen auftritt und dann
einen asymptotischen Verlauf annimmt. Diese sogenannte Vergessenskurve konnte bis heute in zahlreichen Experimenten mit unterschiedlichen Lernmaterialien jenseits von sinnlosen Silben repliziert werden.
4.2.2 Ebbinghaus’ Erbe
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die von Ebbinghaus gefundenen Zusammenhänge zwischen Lernhäufigkeit und Leistung nicht nur für das Lernen einfacher Silben, sondern auch
für Fähigkeiten wie kreatives Schreiben (Johnstone et al., 2002) oder Musikinstrumente spielen (Ericsson et al., 1993) gelten. Allerdings ist bei dieser Regel zu beachten, dass verteilte Übung
(mehrmals am Tag kürzere Übungsintervalle) zu besseren Gedächtnisleistungen führt als massierte Übung (einmal am Tag ein langes Intervall ohne Unterbrechung). Dazu muss man fairerweise sagen, dass bei verteilter Übung zwar das Verhältnis von reiner Lernzeit zu Gedächtnisleistung am besten ist, massierte Übung aber im Einzelfall zu schneller sichtbaren Fortschritten
führt – auch wenn das Gesamtverhältnis von Lernzeit zu Gedächtnisleistung schlechter ist. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Student, der nur eine Woche Zeit hat, sich auf eine
Prüfung vorzubereiten, lernt täglich acht Stunden (7 Tage à 8 Stunden = 56 Stunden). Hätte der
Student zwei Wochen zu Verfügung, würden möglicherweise 3 Stunden täglich (und damit in der
Summe nur 42 Stunden) genügen, um die gleiche Leistung zu erzielen. Es ist leicht vorstellbar,
dass nicht nur im studentischen Alltag die Rahmenbedingungen häufig die Lernrate bestimmen.
Wir werden darauf an späterer Stelle zurückkommen.
4.2.3 Spacing
Wie wir gesehen haben, hat Ebbinghaus sich intensiv mit dem Zeitintervall zwischen Lernen und
Abruf beschäftigt. Umso erstaunlicher mutet es an, dass das sogenannte Spacing (also die systematische Untersuchung des Abstandes zwischen Enkodierung und Abruf) über jahrzehntelange
Forschung nur für sehr kleine Zeitintervalle untersucht wurde. Neuere Arbeiten von Pashler
und Kollegen (2007) machen nicht nur die für Gedächtnispsychologen unrühmliche Feststellung, dass Spacing in der überwiegenden Anzahl der Untersuchungen mit Zeitintervallen kleiner
als 24 Stunden untersucht wurde. Dies scheint mit dem Anspruch des »nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir«-Prinzips nicht so recht zusammenzupassen. Um diesen Mangel
zu beheben, führten die Forscher zahlreiche Untersuchungen mit verschiedensten Lernmaterialien (Fremdsprachen, Problemlösen, Definitionen von unüblichen bzw. seltenen Worten, Kartenlernen) durch und variierten die Abstände zwischen Enkodierung und Abruf von wenigen Stunden über Tage, Wochen und Monate. Es zeigt sich, dass die Lernleistung am besten ist, wenn der
Abstand zwischen den Testungen zehn bis 20 Prozent des angestrebten Behaltensintervalls entspricht. Soll z. B. eine Information noch zehn Wochen später korrekt wiedergegeben werden,
wäre demnach ein Abstand zwischen den Lernphasen von ein bis zwei Wochen ideal. Im Studium finden Leistungsüberprüfungen typischerweise zum Semesterende (also nach drei bis vier
Monaten) statt. Der Lernstoff sollte demnach in Abständen von im Durchschnitt etwa zwei Wochen wiederholt werden.
4.2 Hermann Ebbinghaus’ Gedächtnisexperimente
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!
Wichtig ist, dass dem Lernenden Feedback über mögliche Fehler gegeben wird, da sonst kein Lernen stattfinden kann. Informiertes Feedback scheint hierbei sogar zu größeren Lernfortschritten zu führen als
eine zusätzliche Lerneinheit (Pashler et al., 2007). Und
da das Wissen natürlich auch über den Zeitpunkt der
Prüfung hinaus verfügbar bleiben sollte, erscheint es
darüber hinaus ratsam, sich in größeren Zeitabständen immer mal wieder abzufragen.
4.2.4 Der Einfluss von Lernen und Abfragen
Die Bedeutung von Lernen versus Testen wurde in einer Arbeit von Karpicke und Roediger
(2008) untersucht. Die Autoren verglichen die Gedächtnisleistung beim Vokabellernen (40 Englisch-Swahili-Wortpaare) zwischen vier verschiedenen Bedingungen: Sie unterschieden jeweils
eine Studierphase S, in der das Wortpaar gezeigt wird und eine Testphase T, in der das englische Wort gezeigt wird und die Swahili Vokabel ergänzt werden muss. In einer Bedingung wurden immer alle Wörter sowohl in der Studier- als auch in der Testphase gezeigt (ST), unabhängig davon, ob die Vokabel bereits erfolgreich gelernt war. In einer zweiten Bedingung wurden die
bereits gelernten Wörter in S nicht mehr gezeigt, aber noch abgefragt (SnT). In einer dritten Bedingung wurde – umgekehrt – ein bereits gelerntes Wort zwar noch in S gezeigt, aber nicht mehr
abgefragt (STn). Und in der letzten Bedingung schließlich wurde eine bereits gelernte Vokabel
weder weiter gezeigt noch abgefragt (SnTn, s. Tab. 4.1). Die letzte Methode entspricht übrigens
der bislang empfohlenen Praxis von sogenannten Vokabeltrainern. Direkt nach der letzen Lernphase unterschieden sich die Gedächtnisleistungen in den vier Bedingungen nicht: Alle Gruppen
erreichten das Ziel und konnten alle 40 Vokabeln korrekt erinnern. Nach einer Woche jedoch
zeigte sich, dass nur in den zwei Gruppen, in denen auch bereits gelernte Vokabeln weiter getestet wurden (ST und SnT), die Erinnerungsrate weiterhin bei respektablen 80 Prozent lag, während in den beiden anderen Gruppen (STn und SnTn), in denen bereits gelernte Vokabeln nicht
mehr getestet wurden, die Erinnerungsleistung dramatisch einbrach und nur noch etwa 35 Prozent betrug. D. h., das Studieren von bereits gelernten Vokabeln brachte überhaupt keinen weiteTabelle 4.1 Anzahl an Vokabeln in den vier Lern- / Testdurchgängen in Abhängigkeit von der Versuchsbedingung in der Studie von
Karpicke und Roediger (2008) und die Ergebnisse im Gedächtnistest eine Woche später. (ST = alle Vokabeln werden gelernt und
abgefragt, SnT = nur die noch nicht gelernten Vokabeln werden weiter gelernt, alle werden abgefragt, STn = alle Vokabeln werden
gelernt, nur die noch nicht erinnerten werden abgefragt; SnTn = nur die Vokabeln, die noch nicht korrekt erinnert wurden, werden
gelernt und abgefragt)
Gruppe
1
ST
S
T
S
T
S
T
S
Sn
T
Sn
T
Sn
T
S
Tn
S
Tn
S
Sn
Tn
Sn
Tn
Sn
40
SnT
40
STn
40
SnTn
40
150 |
2
40
40
40
40
40
26.8
40
21.1
4 Gedächtnis
Summe
Test
T
320
81 %
Sn
T
236.8
81 %
Tn
S
Tn
243
36 %
Tn
Sn
Tn
154.8
33 %
3
40
40
27.9
21.1
40
8.0
40
8.8
4
40
40
11.8
8.8
40
2.0
40
1.5
40
40
3.3
1.5
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ren Gedächtnisvorteil. Offenbar kommt es in erster Linie auf das Üben des Abrufs an! Wie man
weiterhin in Tabelle 4.1 sehen kann, zeigt sich der Vorteil zwischen der ST-Gruppe, in der immer alle Vokabeln gelernt und getestet wurden, und der SnT-Gruppe darin, dass letztere deutlich weniger Lerndurchgänge benötigt, um genau die gleiche sehr gute Gedächtnisleistung von
80 Prozent nach einer Woche zu zeigen. Demgegenüber zeigt die STn-Gruppe, die sich etwa genauso lange mit den Vokabeln befasst hat wie die SnT-Gruppe, eine deutlich schlechtere Leistung
bei gleichem Aufwand. Es sei an dieser Stelle auch nochmals darauf hingewiesen, dass Feedback,
also die Rückmeldung über die Güte der Antwort, einen entscheidenden positiven Einfluss auf
die Lernleistung hat. Wenn Sie sich also auf die nächste Prüfung vorbereiten, sollten Sie unbedingt berücksichtigen, den Abruf immer wieder zu üben und dabei natürlich die Korrektheit Ihrer Antwort zu überprüfen (bzw. überprüfen zu lassen).
Die Bedeutung und der Praxisbezug der Ergebnisse von Karpicke und Roediger sind unmittelbar
ersichtlich. Klassische Vokabeltrainer (z. B. mittels Karteikarten) empfehlen häufig Vokabeln, die
bereits korrekt wiedergegeben werden konnte, nach hinten zu sortieren (unter »Gelernt« ablegen,
was der SnTn Methode im Experiment entspricht). Tatsächlich kommt man damit bei einem unmittelbaren Vokabeltest, der sich dieser Art der Lernphasen direkt anschließt, sehr weit und benötigt dabei sogar weniger Zeit als mit jeder anderen Methode. Aber es ist damit zu rechnen, dass
ein Großteil der Vokabeln bereits nach einer Woche wieder vergessen ist, sodass das wiederholte
Abfragen auch bereits korrekt erinnerter Vokabeln (SnT Methode) unbedingt anzuraten ist.
Nachdem wir uns in den vorangegangenen Abschnitten mit den Anfängen der Gedächtnispsychologie nach Ebbinghaus beschäftigt haben, wenden wir uns im nun folgenden Abschnitt verschiedenen Gedächtniskonzeptionen zu und diskutieren die empirischen Befunde, die jeweils für
oder gegen ein Modell sprechen.
4.3 Das Mehrspeicher-Modell von Atkinson und Shiffrin
Das Mehrspeicher-Modell von Atkinson und Shiffrin (1968), obwohl in Teilen mittlerweile ergänzt, ist zur Veranschaulichung der Grundlagen des menschlichen Gedächtnisses immer noch
sehr hilfreich (s. Abb. 4.2). Wir werden uns die im Modell angenommenen drei Speicher zu-
Kontrollprozesse
Rehearsal, Chunking,
Elaboration
Sensorische Register
(visuell, auditorisch)
Aufmerksamkeit
Speicherung
Kurzzeitgedächtnis
Abruf
Schneller Zerfall nicht
beachteter Information
Proaktive und retroaktive
Interferenz
Langzeitgedächtnis
(deklarativ =
episodisch/semantisch
vs. nicht-deklarativ)
Interferenz, Inhibition,
fehlende Abrufhinweise,
Spurenzerfall
4.3 Das Mehrspeicher-Modell von Atkinson und Shiffrin
Abbildung 4.2
Das Mehrspeicher-Modell von
Atkinson und
Shiffrin (1968)
inklusive neuerer
Erweiterungen
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nächst im Einzelnen näher anschauen, wobei die Art der Information, die Menge der Information und die Verweildauer der Information im jeweiligen Speicher berücksichtigt wird. Dabei
werden auch neuere Entwicklungen und Erkenntnisse an jeweiliger Stelle aufgegriffen.
4.3.1 Sensorisches Gedächtnis
George Sperling (1960) gelang es erstmals, die Existenz des ikonischen Gedächtnisses (sensorisches Gedächtnis für visuelle Information) nachzuweisen. Dies gestaltet sich nämlich weniger trivial als es klingt, weil ein Hauptmerkmal der sensorischen Register darin besteht, dass die
Information schneller zerfällt als man üblicherweise verbal über eine Gedächtnisleistung Auskunft geben kann. In einem mittlerweile zu den Klassikern der experimentellen Psychologie zählenden cleveren Experiment bekamen Versuchspersonen sehr kurz ein Dia mit zwölf Buchstaben gezeigt (s. Abb. 4.3). In einer Versuchsbedingung, dem sogenannten Vollberichtsverfahren,
sollten die Versuchspersonen unmittelbar nach Verschwinden des Dias so viele Buchstaben wie
möglich benennen. Typischerweise werden hier maximal vier bis fünf Buchstaben korrekt wiedergegeben. Daraus hätte man nun leicht den Schluss ziehen können, dass das ikonische Gedächtnis nicht mehr als vier bis fünf Buchstaben fasst. Dies wäre allerdings ein voreiliger und
auch falscher Schluss gewesen, wie die zweite Versuchsbedingung zeigt: Hier wird den Versuchspersonen unmittelbar nach dem Erscheinen des Dias durch einen hohen, mittleren oder tiefen Ton signalisiert, welche Buchstabenreihe sie reproduzieren sollen. Mit diesem sogenannten
Teilberichtsverfahren gelingt die vollständige Reproduktion der entsprechenden Buchstabenzeile
meist fehlerfrei. Da die Versuchspersonen beim Erscheinen des Dias nicht wissen konnten, welche Buchstabenreihe sie später reproduzieren sollten (der Hinweisreiz in Form des Tons kam ja
erst danach), kann man annehmen, dass die Versuchspersonen sich kurzfristig alle Informationen merken konnten, diese Information aber so schnell zerfällt, dass bereits während der Reproduktion (also dem Aussprechen der einzelnen Buchstaben) ein Teil der Information wieder verloren geht. Entsprechend verschlechtert sich die Leistung im Teilberichtsverfahren bereits, wenn
der Ton, der die zu reproduzierende Buchstabenzeile angibt, eine halbe Sekunde nach Erscheinen
der Buchstaben präsentiert wird. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das ikonische Gedächtnis ein Bindeglied an der Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis ist, für sehr
kurze Zeit relativ viel Informationen aufnehmen kann und damit der kurzfristigen Aufrechterhaltung sensorischer Information dient.
Vollbericht: Möglichst viele Buchstaben korrekt wiedergeben
X M R J
C N K P
V F L B
50 ms
Abbildung 4.3 Vollund Teilbericht im Experiment von Sperling
(1960)
152 |
4 Gedächtnis
X, N, K, L …
 Im Mittel werden
4-5 Buchstaben
korrekt wiedergegeben
Teilbericht: Tonnach Präsentation zeigt an, welche Zeile
wiedergegeben werden soll
C, N, K, P …
Hoch
X M R J
Mittel
C N K P
Tief
V F L B
 Im Mittel werden 3–5
50 ms
Buchstaben korrekt
wiedergegeben
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4.3.2 Kurzzeitgedächtnis (KZG)
Vorweg sei darauf hingewiesen, dass der Begriff Kurzzeitgedächtnis (KZG) sehr unscharf definiert ist und sich darüber hinaus sein wissenschaftlicher Gebrauch deutlich vom Alltagsverständnis unterscheidet. Im Alltag klagen wir häufig über unser schlechtes Kurzzeitgedächtnis, etwa,
wenn wir vergessen, auf dem Heimweg bei der Post vorbeizufahren, obwohl wir den Brief nun
schon seit Tagen mit uns herumtragen. Nicht nur Atkinson und Shiffrin sprechen hier allerdings
bereits von Langzeitgedächtnis, da es keinen Unterschied macht, ob Informationen mehrere Minuten, Stunden, Tage oder Jahre behalten werden (womit selbstverständlich nicht gemeint ist,
dass die Gedächtnisleistung nicht auch hier im Laufe der Zeit abnimmt). Erinnerungen innerhalb dieser Zeitspannen gehören nach gedächtnispsychologischem Verständnis aber bereits zum
Langzeitgedächtnis. Von KZG sprechen wir in der Gedächtnispsychologie nur, wenn es sich um
sehr klar umrissene Aufgaben handelt, die sofort abgefragt werden.
Selbstversuch
Testen Sie Ihre Gedächtnisspanne
Bitten Sie eine Freundin, Ihnen die nebenstehenden Zahlenreihen jeweils einmal vorzulesen und versuchen Sie, die Zahlen direkt im Anschluss nachzusprechen.
Den meisten Menschen gelingt es, etwa sieben Ziffern
korrekt wiederzugeben.
1–2
3–9–8
7–2–1–7
9–4–3–7–6
2–5–4–9–1–3
4–6–2–7–8–4–6
4–5–1–8–7–4–9–3
5–7–1–3–5–7–6–7–9
1–5–4–7–2–4–9–8–3–7
Nach Atkinson und Shiffrin (1968) gelangt Information vom sensorischen Gedächtnis nur dann
in das KZG, wenn der Information Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im KZG bleibt die Information für kurze Zeit (wenige Sekunden) erhalten, kann aber durch das sogenannte Rehearsal (inneres Wiederholen) aufrechterhalten werden. Viele kennen das vom Einkaufen, wenn wir uns die
drei Positionen, die wir auf keinen Fall vergessen dürfen, immer wieder vorsprechen. Die Kapazität des KZG wird als begrenzt angenommen, in zahlreichen Experimenten konnte gezeigt werden, dass die Gedächtnisspanne beim Menschen offenbar 7 + / – 2 Informationseinheiten beträgt,
d. h., so viele Informationen (zum Beispiel Ziffern) können wir uns auf einmal kurzfristig merken.
George A. Miller (1956) sprach in diesem Zusammenhang gar von der Magical Number 7, mit dem
die Robustheit und Universalität des Effekts zum Ausdruck gebracht werden sollte. Bei genauerer
Betrachtung erscheint das allerdings eine recht geringe Menge von Informationen zu sein.
4.3.3 Wie gehen wir mit dieser geringen Kapazität um?
Chunking. Vermutlich haben Sie im Selbstversuch festgestellt, dass Sie sich tatsächlich etwa sieben Ziffern merken konnten, bis sich die ersten Fehler einschlichen. Und beim Versuch, sich eine
längere Zahlenfolge wie etwa 1914193319451989 zu merken, würden Sie womöglich sehr schnell
aufgeben. Vielleicht haben Sie aber auch überhaupt gar kein Problem, sich diese Zahlenfolge auf
Anhieb zu merken, nämlich wenn Sie die Zahlen folgendermaßen lesen: 1914 – 1933 – 1945 – 1989.
Jetzt stehen hier nämlich nicht mehr 16 zufällige Ziffern, sondern vier Jahreszahlen, die eine besondere Bedeutung in der deutschen Geschichte haben. Die Kurzzeitgedächtniskapazität beträgt
4.3 Das Mehrspeicher-Modell von Atkinson und Shiffrin
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