VI. Funktionentheorie Eine komplexe Zahl z = x + iy ist gegeben durch zwei reelle Zahlen: Realteil x und Imaginärteil y. Eine komplexe Funktion f = f (z) hat daher die Form f (z) = u(z) + iv(z) oder f (z) = u(x, y) + iv(x, y) mit reellen Funktionen u = u(x, y) und v = v(x, y). Für die partiellen Ableitungen gilt ∂x z = 1 , ∂y z = i, also (Kettenregel) fx = f ′(z) und fy = f ′(z)i. y f ′(z) = fx = ux + ivx f ′(z) = −ify = −i(uy + ivy ) = vy − iuy Koeffizientenvergleich liefert die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen: ux = v y , uy = −vx Die Ableitung f ′(z) wird wie im Reellen definiert: f (z + h) − f (z) f ′(z) = lim . h→0 h Da die komplexe Zahl h von jeder Richtung aus gegen 0 streben kann, bedeutet die Existenz dieses Grenzwerts f ′(z) jedoch eine starke Einschränkung für die Funktion f . Man kann nämlich zeigen: Satz 14. Ist eine komplexe Funktion f = f (z) einmal differenzierbar, so ist sie auch beliebig oft differenzierbar. Mit diesen differenzierbaren komplexen Funktionen, die nach Satz 14 sogar beliebig oft differenzierbar (und, weil stetig, auch beliebig oft integrierbar) sind, befaßt sich die “Funktionentheorie”. Man nennt solche Funktionen auch holomorph (=formvollendet). Komplexe Zahlen stellt man nach Gauß in der Ebene dar (Gaußsche Zahlenebene), indem man den Imaginärteil auf der y-Achse abträgt: x + iy = reiϕ iy i r ϕ 1 x Die komplexe Exponentialfunktion überführt Polarkoordinaten (r = eu > 0, ϕ = v) in kartesische Koordinaten (x = r cos ϕ, y = r sin ϕ): eu+iv = eueiv = eu(cos v + i sin v) 2 Für z = reiϕ wird der Abstand r von 0 auch mit |z| bezeichnet (Betrag von z). Der Winkel ϕ heißt auch Argument arg z von z. Satz 15. Bei der Multiplikation komplexer Zahlen multiplizieren sich die Beträge und addieren sich die Winkel: reiϕ · seiψ = (rs)ei(ϕ+ψ). Da 2π den Vollwinkel darstellt, gilt e2πi = 1 und entsprechend e2πni = 1 für alle n ∈ Z. Die Zahlen eiϕ mit ϕ ∈ R befinden sich auf dem Einheitskreis: |eiϕ| = 1. Wegen der Eulerschen Formel eiϕ = cos ϕ + i sin ϕ cos ϕ hat also der Vektor sin ϕ ∈ R2 die Länge 1: cos2 ϕ + sin2 ϕ = 1. Nach Satz 15 besteht die Multiplikation mit einer komplexen Zahl z = reiϕ in einer Drehstreckung: Streckung um r, Drehung um den Winkel ϕ. 3 Aus der Eulerschen Formel ergibt sich cos ϕ = eiϕ +e−iϕ 2 sin ϕ = , eiϕ −e−iϕ 2i Mit diesen Formeln kann man sin z und cos z auch für komplexe Zahlen z (statt ϕ) berechnen. Wegen eu+iv = eueiv bildet die e-Funktion den Streifen v 2πi 0 6 v < 2π u 0 der Breite 2π bijektiv auf C r {0} ab. Die Umkehrfunktion (Logarithmus) hat daher diesen Streifen als Wertebereich: ln(reiϕ) = ln r + iϕ Dies folgt aus der Formel ln(ab) = ln a + ln b welche zur Gleichung ea+b = eaeb äquivalent ist. Auch die allgemeine Potenzfunktion läßt sich aus der e-Funktion herleiten: ab = eb ln a 4