Praxis & Wissenschaft 13. IZZ-Presseforum am Universitätsklinikum Tübingen Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bei Kindern Nach Vorträgen von Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert, Prof. Dr. Dr. Jürgen Hoffmann, OA Dr. Dr. Christoph Leitner, OA Dr. Dr. Michael Krimmel, OA Dr. Dr. Dirk Gülicher, Dr. Dr. Steffen Kless, Dr. Martin Hairass „Die Mund-KieferGesichtschirurgie ist ein Erfolgsmodell, das die Kenntnisse von Zahnarzt und Facharzt verbindet – in den USA werden Lippen-KieferGaumen-Spalten beispielsweise ausschließlich von plastischen Chirurgen operiert“, sagte Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert, Ärztlicher Direktor und Oberarzt an der Poliklinik für MKG-Chirurgie am Universitätsklinikum Tübingen. Auf dem 13. IZZPresseforum am 15.Juni 2007 stellten die Tübinger Forscher vor, mit welchen modernen Methoden sie chirurgische Behandlungen im Kindesalter durchführen. Indizes: Blutschwämme Ektodermale Dysplasie Kieferfehlentwicklung Kindliche Kieferfrakturen Hämangiome Lippen-Kiefer-Gaumenspalten Schädeldeformitäten Zahnverletzungen im Kindesalter „Die optimale Aufbewahrung für Fragmente ist die Dent-osafe-Box, die eigentlich in alle Kindergärten, Schulen oder Schwimmbäder gehören sollte“, betonte Dr. Martin Hairass „Statistisch erleidet jedes dritte Kind bzw. Jugendliche ein dentales Trauma der Milchzähne oder bleibenden Zähne. Insbesondere sind dabei die mittleren und seitlichen Schneidezähne im Oberkiefer betroffen“, sagte Dr. Martin Hairass, © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Facharzt für Oralchirurgie an der Poliklinik in Tübingen. Man unterscheidet bei der Einteilung der Zahnverletzungen zwischen Zahnhartsubstanzverletzungen (Zahnfrakturen) und Dislokationsverletzungen, bei denen es von einer geringfügigen Erschütterung eines Zahnes bis hin zum vollständigen Herauslösen eines Zahnes aus seiner Alveole kommen kann. Wegen der oft weit reichenden Folgen sind Verletzungen der bleibenden Zähne junger Patienten mehr gefürchtet als Milchzahnverletzungen. Die häufigste Zahnhartsubstanzverletzung ist die Kronenfraktur ohne gleichzeitige Eröffnung der Pulpa. Ist bei Erstvorstellung des Patienten eine sofortige Restauration des betroffenen Zahnes aus zeitlichen Gründen nicht möglich, muss 1 Praxis & Wissenschaft Abb. 1 Prognosen bei Extrusion, lateraler Dislukation und Intrusion von Zähnen (nach Andreasen FM/ Vestergaard Pedersen B, Endod. Dent. Traumatology 1985 Oct.; 1(5): 160-169) Therapieempfehlungen für den avulsierten Zahn Abb. 2 Übersicht über die richtige Lagerung von frakturierten Fragmenten (Die Daten stammen unter anderem aus dem im Farbatlas der Traumatologie der Zähne Andreasen/Andreasen 1990, Deutscher Ärzteverlag) freiliegendes Dentin mit einem adhäsiven Dentinwundverband versorgt werden. Die definitive ästhetische und funktionelle Restauration bei einer Kronenfraktur gestaltet sich am einfachsten mittels adhäsiver Wiederbefestigung des frakturierten Fragments (falls vorhanden). Alternativ kann bei verloren gegangenem Fragment ein adhäsiver Kompositaufbau durchgeführt werden. Vitalerhaltung der Pulpa Das primäre Therapieziel bei Kronenfrakturen mit gleichzeitiger Eröffnung der 2 Pulpa ist die Vitalerhaltung der Pulpa. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen steht bei noch nicht abgeschlossenem Wurzel- und Kieferwachstum sowie bei weitlumigen Pulparäumen noch keine prothetische und implantologische Therapiemaßnahme zur Verfügung. So wird empfohlen, dass eine Pulpa die weniger als 48 Stunden Expositionszeit zur Mundhöhle aufweist, beim jungen Patienten mit einem Diamanten angefrischt wird und eine direkte Überkappung oder partielle Pulpotomie durchgeführt wird. Eine Pulpektomie ist bei noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum erst bei © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Praxis & Wissenschaft Vorliegen einer irreversiblen Pulpitis angezeigt. Die restaurative Versorgung erfolgt wie bereits beschrieben. Weit seltener kommt es zu einer Kronen-Wurzel-Fraktur ohne/mit Eröffnung der Pulpa. Die Versorgung dieser Verletzung erfolgt analog zur Kronenfraktur. Allerdings stellt sie den Behandler aufgrund der subgingivalen Frakturrandlage vor größere restaurative Probleme als die Kronenfraktur. Eine chirur- Abb 3 Kronenfraktur der Zähne 11 und 21 gische Darstellung des Defektes kann ebenso wie die chirurgische Allerdings kann es selbst dann zu so geoder kieferorthopädische Extrusion des nannten nicht entzündlichen ErsatzreZahnes bei der Restauration hilfreich sein. sorptionen kommen, bei denen die WurBei den Dislokationsverletzungen kommt zel über mehrere Jahre resorbiert und es in erster Linie zur Verletzung des Pa- durch Knochen ersetzt wird. rodonts. Bei der Konkussion mit und oh- Ziel ist, bei Kindern und Jugendlichen, ne Lockerung des Zahnes ist dieser kli- verletzte Zähne bis mindestens zum Abnisch perkussionsempfindlich und bei der schluss des Körperwachstums zu erhalLockerung eines Zahnes kommt es auf- ten um dann gegebenenfalls eine Implangrund gerissener Parodontalfasern meis- tatinsertion durchzuführen zu können. tens zu einer geringen Blutung aus dem Wenn es trotz aller Maßnahmen zum vorSulkus. Komplikationen wie Pulpanekro- zeitigen Verlust eines bleibenden Zahnes se und Wurzelresorptionen sind hier aber kommt, ist ein kieferorthopädischer Lückenschluss oder die Transplantation zum seltene Ereignisse. Bei der lateralen Dislokation, der Extrusi- Beispiel eines Prämolaren in die Fronton und der Intrusion kommt es zu einer zahn in Erwägung zu ziehen. Lageveränderung des Zahnes. Mehr oder minder schwere Quetschungen der Wur- Milchzähne zelhaut sind die Folge der Dislokation. Die Therapieentscheidung bei MilchBei der Avulsion kommt es sogar zur voll- zahnverletzungen ist in erster Linie vor ständigen Herauslösung des Zahnes aus dem Hintergrund einer möglichen Schäseiner Alveole. Je nach Lagerung des digung des bleibenden Zahnkeims zu Zahnes kann die Austrocknung der Wur- treffen. Vor allem bei Dislokationsverletzelhaut zum Zelltod der Parodontalzellen zungen ist beim Verdacht auf eine Kollision mit dem bleibenden Zahnkeim der führen (Abb. 1 und Abb. 2). verlagerte Milchzahn zu entfernen. EbenProgrediente entzündliche externe falls entfernt werden sollten Milchzähne Wurzelresorptionen mit Kronen-Wurzel-Fraktur und mindesDie am meisten gefürchtete Komplikati- tens das koronale Fragment bei der sehr on nach Beschädigung der Wurzelhaut seltenen Wurzelquerfraktur. Kommt es sind progrediente entzündliche externe nach zunächst erfolgreicher Therapie von Wurzelresorptionen. Voraussetzung da- traumatisierten Milchzähnen zu Spätkomfür ist allerdings zusätzlich eine Infekti- plikationen wie Fistelung und Abszedieon des Endodonts. Da schnell fortschrei- rung, werden auch solche Milchzähne tende Resorptionen innerhalb von entfernt. wenigen Wochen und Monaten zur vollständigen Zerstörung der Wurzel füh- „Nicht zuletzt entscheidet aber auch bei ren, ist die rechtzeitige Einleitung einer einfachen Milchzahnverletzungen die Wurzelkanalbehandlung bei klinischen Compliance des Patienten über den Umund oder röntgenologischen Anzeichen fang der Therapie, die durchgeführt wereiner Pulpanekrose von großer Bedeu- den kann“, sagte Dr. Martin Hairass abtung. schließend. © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 3 Praxis & Wissenschaft Kindliche Kieferfrakturen „Die bleibenden Zahnkeime im Kiefer dürfen beim Verwenden von Osteosyntheseplatten nicht beeinträchtigt werden“, sagte Dr. Dr. Steffen Kless „Im Bereich des Unterkiefers als exponiertem Knochen treten in Relation zu sonstigen Gesichtsschädelverletzungen häufig traumatische Läsionen auf“, so Dr. Dr. Steffen Kless, Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Tübingen. Frakturen im kindlichen Unterkiefer sind insgesamt jedoch seltener als im Erwachsenenalter. Die häufigste Ursache der Unterkieferfrakturen im Kindes- und Jugendlichenalter sind Stürze sowie Sport- und Spielunfälle. Rohheitsdelikte spielen bei kindlichen Unterkieferfrakturen – mit Ausnahme der jugendlichen Erwachsenen – im Gegensatz zu den Frakturen bei Erwachsenen eine untergeordnete Rolle. Am häufigsten finden sich im Kindesalter Frakturen im Bereich des Processus condylaris gefolgt von Frakturen im Corpusbereich. Als Begleitverletzungen finden sich häufig assoziierte Weichteilwunden sowie dentale Traumata. Eine Besonderheit der Unterkieferfraktur im Wechselgebiss ist die Grünholzfraktur. Hierbei handelt es sich um eine durch den Periostschlauch „geschiente“ gar nicht oder wenig dislozierte Fraktur. Frakturdiagnostik Bei der Frakturdiagnostik steht neben der klinischen Untersuchung die konventionelle Röntgenuntersuchung mit Frakturdarstellung in zwei Ebenen im Vordergrund. Dies kann sich insbesondere bei Kleinkindern mit mangelnder Compliance als schwierig erweisen. Eine Computertomographie ist nur in Ausnahmefällen erforderlich. Eine richtige Diagnose ist wichtig, da im Kindes- und Jugendlichenalter nicht erkannte oder nicht therapierte Unterkieferfrakturen zu Komplikationen und Spätschäden führen können. Hierzu zählen Pseudarthrosen, skelettale Deformitäten, Funktionsstörungen des Kiefergelenkes sowie Okklusionsstörungen. 4 Therapieziele Das Ziel der Therapie von Unterkieferfrakturen besteht darin, die Form und Funktion des Unterkiefers wiederherzustellen. Besonderer Wert wird auf die Rehabilitation der Okklusion, der Artikulation und der Gelenkfunktion gelegt. Unterkieferfrakturen können prinzipiell konservativ oder operativ versorgt werden. Konservative Maßnahmen sind die geschlossene Frakturreposition und temporäre Ruhigstellung durch intermaxilläre Fixation (IMF) mittels dentaler Schienenverbände oder Drahtligaturen. Im Anschluss erfolgt eine funktionelle Nachbehandlung mittels lockerer Gummizüge. Eine weiterführende Nachbehandlung kann im Kindesalter mittels kieferorthopädischer Aktivatortherapie erfolgen. Unter einer operativen Therapie versteht man die offene Reposition und anschließende Osteosynthese der Fraktur. Wegen potentieller Wachstumsstörungen des Unterkiefers sowie möglicher Verletzungen von Zahnkeimen, die durch offene Osteosyntheseverfahren hervorgerufen werden können, wird im Kindes- und Jugendalter häufiger als im Erwachsenenalter konservativ therapiert. Kindliche Gelenkfortsatzfrakturen meist konservativ therapiert Für Frakturen des Unterkiefers gelten für Erwachsene die allgemeinen Richtlinien zur operativen Versorgung im Sinne einer Reposition und Osteosynthese bei stärkerer Dislokation. Eine Ausnahme stellen die Gelenkfortsatzfrakturen dar, bei denen in Abhängigkeit der Dislokation und der Frakturlokalisation neben der operativen Therapie auch konservativ therapiert wird. Im Gegensatz hierzu werden kindliche Gelenkfortsatzfrakturen fast ausschließlich konservativ therapiert. Eine insbesondere bei Kindern schwierige Zugänglichkeit der grazilen Gelenkregion sowie die Gefahr von potenziellen Wachstumsstörungen in Kombination mit den sehr guten funktionellen Ergebnissen nach konservativer Behandlung auch bei deutlicher Dislokation sprechen für dieses Vorgehen. Dies erklärt sich dadurch, dass im Kindesalter im Bereich des Kiefergelenks die Kapazität zum remodelling, das heißt die Erneuerungsfähigkeit des Kiefergelenkes, äußerst groß ist. Ankylosen vermeiden Bei Kiefergelenksluxationsfrakturen oder stark dislozierten diakapitulären Fraktu- © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Praxis & Wissenschaft ren kann die Phase der intermaxillären Fixation verkürzt werden zu Gunsten einer frühzeitigen funktionellen Nachbehandlung, um Ankylosen zu vermeiden. Bei dislozierten Frakturen im Bereich des zahntragenden Unterkiefers steht wie bei Erwachsenen in aller Regel eine operative Therapie im Vordergrund. Bei Grünholzoder nicht dislozierten Frakturen kann im Wechselgebiss auch konservativ mittels temporärer Ruhigstellung therapiert werden, um mögliche Schäden der Zahnanlagen durch Osteosyntheseschrauben zu vermeiden. In nahezu allen Fällen ist eine zeitweilige Diät mittels flüssiger oder passierter Kost notwendig. In jedem Falle stellt die Behandlung von kindlichen Kieferfrakturen eine Herausforderung dar. Sowohl bei der operativen als auch bei der konservativen Therapie ist eine chirurgische Intervention nötig, da die kleinen Patienten im Regelfall einer Schienung der beiden Kiefer im wachen Zustand nicht zugänglich sind. In beiden Fällen muss Rücksicht auf grazile anatomische Strukturen genommen werden. „Jedoch nicht nur der technisch erhöhten Schwierigkeit, sondern auch der psychologischen Seite mit behandlungsunwilligen Kindern und besorgten Eltern muss Rechnung getragen werden“, gab Dr. Dr. Steffen Kless am Ende seinen Vortrags zu bedenken. Ektodermale Dysplasie Oberarzt Dr. Dr. Christoph Leitner verwendet bei Kindern mit Ektodermaler Dysplasie beim Knochenaufbau ausschließlich Knochen aus dem Beckenkamm und kein alloplastisches Material Die Ektodermale Dysplasie ist eine angeborene Erkrankung, die in verschiedenem Umfang die Haut und die so genannten Hautanhangsgebilde betrifft. „In Deutschland gibt es etwa 300 Patienten mit diesem Krankheitsbild“, so Oberarzt Dr. Dr. Christoph Leitner, der sich in Tübingen auf die Therapie dieser Erkrankung spezialisiert hat. Ein entscheidendes Symptom der ektodermalen Dysplasie sind die multiplen fehlenden Zahnanlagen, nach aktuellen Untersuchungen im Durchschnitt zehn pro Patient. Darüber hinaus © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 leiden die Patienten an schütterem Haar, fehlenden Schweißdrüsen und Fehlbildungen der Nägel. Durch die große Zahnunterzahl wird eine extreme Unterentwicklung der Kieferknochen in allen Ebenen verursacht, so dass zum Teil gratartige Kieferkämme resultieren, die nur sehr schwer prothetisch versorgt werden können. Eine herausnehmbare Versorgung mit Prothesen hat darüber hinaus den gravierenden Nachteil, dass durch die Druckbelastung des Knochens ein weiterer Knochenabbau verursacht wird. Auf der anderen Seite ist eine Implantatversorgung wegen des unterentwickelten Knochenangebots ebenfalls nicht möglich. Therapie als Gesamtkonzept Am Tübinger Zentrum für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde wird ein interdisziplinärer Therapieansatz vor allem von Prothetik und Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie verfolgt. Hierbei wird ein Gesamtkonzept erstellt, dass folgende therapeutische Prinzipien beinhaltet: 1. Im Milchgebiss und der frühen zweiten Dentition bis zirka zum 18. Lebensjahr, je nach individueller Situation und Leidensdruck, herausnehmbarer Zahnersatz, der aufgrund des Kieferwachstums in entsprechenden Abständen erneuert werden muss. Implantationen sind in diesem Alter nur im Ausnahmefall möglich. 2. Im Wachstum bei Bedarf kieferorthopädische Behandlung zur Beseitigung eventueller Bisslageanamalien. 3. Ab dem 18. Lebensjahr definitive prothetische Versorgung, wenn möglich, an Implantaten verankert. Da durch die Kiefer-Unterentwicklung eine Implantation in der Regel nicht möglich ist, wird der Kieferknochen mit körpereigenem Knochen aufgebaut, meist aus dem Beckenkamm. 4. Nach einem Intervall von drei Monaten werden dann die zur Knochenfixation eingebrachten Schrauben und Platten entfernt und die Implantate eingebracht, die dann wiederum sechs Monate einheilen müssen. 5. Nach diesen sechs Monaten können die Implantate freigelegt und prothetisch mit einer meist durch einen Steg gehaltenen Prothese versorgt werden. Der große Vorteil dieser Versorgung ist nicht nur der bessere Halt der Prothese, sondern die Vermeidung der weiteren Kieferknochen-Atrophie, da die Kaukraft 5 Praxis & Wissenschaft über die Implantate in den Knochen eingeleitet wird. Dieses Prinzip einer Implantat getragenen prothetischen Versorgung ist am zahnlosen Kiefer entwickelt worden und wird somit auf den mit Knochentransplantaten aufgebauten Kiefer übertragen. „Das vorgestellte Konzept hat sich an einer Vielzahl von Patienten mit ektodermaler Dysplasie bewährt, ist zwar aufwändig, jedoch komplikationsarm und schenkt den Patienten eine hervorragende kaufunktionelle Wiederherstellung und Sicherheit“, so Dr. Dr. Christoph Leitner. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten „Die Nase ist bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten stets mit betroffen, sollte aber erst nach Abschluss der Wachstumsphase operiert werden“, hob Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert hervor 6 dass auch ohne familiäres Auftreten Spaltbildungen spontan entstehen können. Eine sichere Prophylaxe von Spaltbildungen ist nicht möglich, jedoch gibt es Hinweise aus neueren Studien, dass die Gabe von Vitamin B-Komplex und Folsäure die Rate von Spaltbildungen verringern kann. Eine pränatale Diagnostik im Ultraschall ist etwa ab der 18. Schwangerschaftswoche möglich. Erscheinungsbild Das Erscheinungsbild von Spaltbildungen umfasst Lippenspalten, Lippen-Kieferspalten, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und isolierte Gaumenspalten. Die drei Erstgenannten können ein- oder beidseitig auftreten, ferner sind alle Ausprägungsgrade in der Breite möglich. Ferner treten Spaltbildungen auch als Teil von Syndromen in Kombination mit anderen Fehlbildungen auf. „Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gehören nach den Gliedmaßenfehlbildungen mit elf bis 15 Prozent den häufigsten angeborenen Fehlbildungen“, stellte Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert, Ärztlicher Direktor in Tübingen, seinem Vortrag voran. Sie treten sehr früh in der Entwicklungsphase im Grenzbereich so genannten Organisationszentren auf, das heißt, an den Grenzen von Zelldifferenzierungszonen des späteren Gesichtes. Die Entstehung liegt in der Zeit des 36. bis 42. Tages bzw. des 49. bis 56./58. Tages der Embryonalentwicklung. In dieser Entwicklungsphase befinden sich im späteren Gesichtsbereich Zellwülste, die normalerweise verschmelzen. Bleibt diese Verschmelzung aus, entsteht dort eine Spaltbildung. Behandlung unmittelbar nach der Geburt Die Behandlung von Spaltbildungen beginnt grundsätzlich unmittelbar nach der Geburt. Hierbei steht zunächst die Sicherstellung der Ernährung im Vordergrund, zum Beispiel durch die Eingliederung einer Gaumenplatte aus Kunststoff, die das Saugen erleichtert oder auch die Demonstration bestimmter Fütterungstechniken. Die zweite Funktion der Gaumenplatte ist die unblutige Lenkung des Kieferwachstums, da die Kiefersegmente in den ersten Lebensmonaten stark wachsen. Das Wachstum der beteiligten Strukturen ist auch der Grund dafür, dass Spaltbildungen in fast allen Zentren schrittweise verschlossen werden. Grundsätzlich werden Operationen an Weichgeweben, zum Beispiel dem weichen Gaumen oder der Lippe, früher vorgenommen als Operationen an knöchernen Strukturen wie dem harten Gaumen oder dem Kiefer. Ursachen noch nicht geklärt Die Ursachen von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind nicht eindeutig geklärt, jedoch ist eine familiäre Häufung, somit eine genetisch fixierte Ursache, gesichert. Dafür spricht auch, dass deutliche Unterschiede in der Häufigkeit von Spaltbildungen zwischen verschiedenen Rassen bestehen. Beispielsweise treten bei nordamerikanischen Indianern oder Ostasiaten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten häufiger aus. Es ist jedoch ebenfalls bekannt, Operative Behandlung Für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ergibt sich folgender exemplarischer Ablauf der operativen Behandlung: ■ mit zirka vier Monaten Verschluss des weichen Gaumens, ■ mit zirka sechs Monaten Verschluss der Lippe, ■ mit zirka zwei Jahren Verschluss des harten Gaumens, ■ mit zirka acht bis zehn Jahren Knochenanlagerung in die Kieferspalte und © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Praxis & Wissenschaft ■ nach Wachstumsende Korrektur der be- gleitenden Nasendeformität, da bei Lippenspalten auch immer die Nase mitbeteiligt ist. Fachübergreifende Sprechstunde Parallel erfolgt in einer fachübergreifenden, gemeinsam abgehaltenen Sprechstunde mit Kieferorthopädie, Hals-NasenOhrenheilkunde mit Phoniatrie und Logopädie die Überwachung der Sprechund Sprachentwicklung, des Hörvermögens, des Kieferwachstums und des Zahndurchbruchs. Dabei werden auch die jeweils erforderlichen Begleitmaßnahmen, wie Behandlung einer spaltbedingten Mittelohr-Schwerhörigkeit, kieferorthopädische Behandlung oder logopädische Behandlung in die Wege geleitet, um zu einem funktionell und ästhetisch guten Ergebnis zu gelangen. „Insgesamt ist bei der Behandlung von Spaltbildungen im Kiefer- und Gesichtsbereich von besonderer Bedeutung, dass die Behandlung in einem spezialisierten, von allen beteiligten Fächern getragenen Zentrum durchgeführt wird, wobei die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie die Koordination übernimmt“, betonte Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert. Kieferfehlentwicklung Oberarzt Dr. Dr. Dirk Gülicher beschrieb das chirurgische Vorgehen bei Kieferfehlentwicklungen, die unterstützend zur Kieferorthopädie durchgeführt werden Oberarzt Dr. Dr. Dirk Gülicher nahm sich dem Thema „Kieferfehlentwicklung–Chirurgie als Ergänzung der Kieferorthopädie“ an. Fehlbisssituationen setzen sich aus verschiedenen Faktoren zusammen: fehlerhafte Zahnstellungen im Kiefer, durch die Verzahnung vermittelter Zwangsbiss, fehlerhafte Kiefergröße und fehlerhafte Position eines oder beider Kiefer am Schädel. Fehlbisse werden während des Durchbruchs der Zähne und des Wachstums des Gesichtsschädels manifest. Diagnostik und Therapie sind primär in den Phasen starken Wachstums angesiedelt. In dieser Phase kommen vor allem kieferorthopädische Maßnahmen © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 zum Einsatz. Diese haben zum einen das Ziel, die Zähne optimal im Kiefer auszurichten, zum anderen das Wachstum der Kiefer so zu steuern, dass eine normale Größe und Relation zueinander resultieren. Diese Maßnahmen führen jedoch in manchen Fällen nicht zum gewünschten Erfolg. Zahnbögen und skelettale Verlagerungen In diesen Fällen ist zur Kieferregulierung auch eine chirurgische Therapie erforderlich. Grundsätzlich unterscheidet man chirurgische Maßnahmen im Bereich der Zahnbögen und skelettale Verlagerungen des vollständigen Ober- bzw. Unterkiefers. Die Maßnahmen innerhalb der Zahnbögen dienen der Unterstützung der kieferorthopädischen Therapie und werden daher im Wachstumsalter durchgeführt. Hierzu zählen die Zahnentfernungen bei Überzahl oder Platzmangel, die Freilegung verlagerter Zähne zur anschließenden kieferorthopädischen Einstellung, die Korrektur von Schleimhautbändern, die die Zahnregulierung behindern, und die chirurgische segmentale Verlagerung von Zahngruppen, die sich kieferorthopädisch alleine nicht ausreichend bewegen lassen. Die chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung zur Verbreiterung des zu kleinen Oberkiefers (oberer Schmalkiefer) ist eine weitere Maßnahme zur Unterstützung einer erforderlichen kieferorthopädische Therapie. Da sie den Oberkiefer in seiner Gesamtheit auch knöchern verändert, stellt die chirurgische Gaumennahterweiterung das Bindeglied zur zweiten Behandlungsgruppe dar. Herausforderung Gesichtsskoliose Bei dieser werden Kiefergröße und -position auf skelettaler Ebene grundlegend verändert. Auf diese Weise können Wachstumsstörungen der Kiefer kausal korrigiert werden. Häufige Indikationen sind der zurückliegende oder der zu prominente Unterkiefer (mandibuläre Retrognathie bzw. Prognathie), der zurückliegende Oberkiefer (maxilläre Retroganthie), der skelettal offene oder tiefe Biss. Eine besonders komplexe Situation liegt bei der asymmetrischen Entwicklung der Kieferhälften mit einer so genannten Gesichtsskoliose vor. Die Fehlstellungen müssen dreidimensional analysiert und die adäquaten chirurgischen Maßnahmen 7 Praxis & Wissenschaft festgelegt werden. Grundsätzlich können Ober- oder Unterkiefer isoliert oder auch beide Kiefer simultan verlagert werden. Die räumlichen Veränderungen können alle drei Raumebenen betreffen. Das Verhältnis von Ober- und Unterkiefer zueinander wird so normalisiert. Es resultieren eine reguläre Okklusion und Artikulation sowie ein harmonisiertes Gesichtsprofil. Die Kieferorthopädie als vornehmlich die Zahnstellungen korrigierende Behandlung kann diese Veränderungen alleine nicht leisten, so dass die chirurgische Kieferverlagerung nicht als Alternative zur Kieferorthopädie sondern als eigenständig notwendige Behandlung zu sehen ist. Die Gesamtbehandlung immer interdisziplinär Im Wachstumsalter muss der skelettale Fehler der Kiefer erkannt und die chirurgische Behandlungsnotwendigkeit von Kieferorthopäde und Kieferchirurg gemeinsam festgestellt werden. Der chirurgischen Therapie geht praktisch immer eine kieferorthopädische Vorbehandlung voraus, da die Kongruenz der Zahnbögen eine unabdingbare Voraussetzung zur Operation darstellt. Der operative Behandlungsschritt erfolgt in der Regel nach dem Wachstumsabschluss, um das Ergebnis nicht durch einen nachfolgenden Wachstumsschub zu gefährden. Postoperativ ist noch eine kieferorthopädische Feineinstellung der Zähne erforderlich. Zur Optimierung des funktionellen und ästhetischen Ergebnisses können Kinnkorrektur, implantatprothetische Lückenversorgung und Zahnform-modulierende Maßnahmen angeschlossen werden. Distraktionsosteogenese als Sonderfall Eine Sonderstellung nimmt die Kieferveränderung durch die Distraktionsosteogenese ein. Sie gleicht das Entwicklungsdefizit eines Kiefers durch graduelles Auseinanderziehen der chirurgisch durchtrennten Kiefersegmente aus. In dem sich kontinuierlich erweiternden Knochenspalt wird hierbei neuer Knochen gebildet. Die Bewegung der Kiefersegmente erfolgt durch Aktivierung einer operativ am Kiefer fixierten Apparatur (Distraktor). Die Distraktionsosteogenese wird bei Patienten mit Lippen-KieferGaumenspalten eingesetzt, bei denen der Oberkiefer infolge der Narbenbildung im Spaltbereich eine ausgeprägte Entwicklungsverzögerung aufweist. Eine weitere 8 Indikation ist die vertikale Verkürzung des Unterkiefers bei Wachstumshemmung einer Gesichtshälfte (hemifaziale Mikrosomie) oder bei Fehlbildungssyndromen mit symmetrischer Unterentwicklung des Unterkiefers (Franceschetti-Syndrom). Im Gegensatz zur einzeitigen Kieferverlagerung kann die Distraktionsosteogenese bereits während des Körperwachstums durchgeführt werden, um einen Wachstumsrückstand nachzuholen. Anschließend bleibt das Kieferwachstum jedoch erneut zurück, so dass in vielen Fällen im Erwachsenenalter eine zusätzliche Korrektur durch chirurgische Umstellung der Kiefer erforderlich wird. „Die Kiefer-Gesichtschirurgie bietet die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit der Kieferorthopädie Kinder und junge Erwachsene mit Wachstums- und Entwicklungsstörungen der Kiefer vollständig und kausal sowohl funktionell als auch ästhetisch zu rehabilitieren“, so Dr. Dr. Gülicher abschließend. Blutschwämme und Hämangiome „Wichtig bei Hämangiomen und Blutschwämmen ist die Dokumentation – hierbei haben wir ja in der Regel viele Fotos durch die Eltern vorliegen, um die Entwicklung zu beurteilen“, bemerkte Prof. Dr. Dr. Jürgen Hoffmann Etwa jedes dritte Kind wird mit einem Gefäßmal geboren oder entwickelt eines im ersten Lebensmonat. Meist handelt es sich um einen so genannten Storchenbiss, der sich spontan zurückbildet. „Bei zirka zwei bis drei Prozent aller Säuglinge bildet sich jedoch ein Hämangiom, also ein gutartiger endothelialer Tumor. In 60 Prozent der Fälle treten diese im Kopfund Halsbereich auf.“, sagte Prof. Dr. Dr. Jürgen Hoffmann, leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-, und Gesichtschirurgie in Tübingen. Das klinische Bild eines Hämangioms reicht von überwärmten Schwellungen mit beerenartiger Vorwölbung bis zu ausgedehnten infiltrierenden Geschwulsten. Nach einer Proliferationsphase, die etwa zwei Jahre dauert, bilden sich Hämangiome bis zur Pubertät bei fast 90 Prozent der Kinder zurück. © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Praxis & Wissenschaft In den übrigen Fällen kann es jedoch zu einem erheblichen Größenwachstum kommen, wobei die Gefäßveränderungen nicht nur entstellend wirken, sondern auch Sprechen, Essen und das Atmen erheblich behindern können (Abb. 4a und 4b). Abhilfe schafft eine maßgeschneiderte Diagnostik und Therapie, bei der am Tübinger Universitätsklinikum Ärzte verschiedener Fachrichtungen zusamAbb. 4a Nasenspitzenhämangiom („Cyrano-de-Bergerac-Nase“) menarbeiten. Ziel der Behandlung ist es bei einem Säugling bei Hämangiomen zunächst, das weitere Wachstum zu stoppen. Hierbei kommen in erster Linie moderne Lasertechniken zum Einsatz. Einige Laser wirken nur oberflächlich, können aber ohne Narkose eingesetzt werden. Der Nd:YAG-Laser dagegen dringt bis zu acht Millimeter in die Haut ein (Abb. 5). Die Behandlung ist etwas schmerzhaft, Kinder brauchen eine Vollnarkose. Liegt ein voluminöses Hämangiom vor, so kann die- Abb. 4b Innerhalb von zwei Monaten deutliche Größenzunahme; ses mit einer Glasfaser die Eltern hatten eine Behandlung zunächst abgelehnt punktiert und von innen behandelt werden. Bei großen Hämangio- Deutlich seltener treten so genannte men sind oft mehrere Sitzungen erforder- vaskuläre Malformationen auf, die grundlich. In ausgewählten Fällen, insbesonde- sätzlich von den Blutgefäßschwämmre bei umschriebenen Blutschwämmchen chen unterschieden werden müssen. Im mit raschem Wachstum, kommt auch ei- Gegensatz zu diesen bestehen hier anlane chirurgische Therapie in Betracht. Da- gebedingte Gefäßveränderungen, welmit ist dann das Problem oft mit nur einer che sich nicht spontan zurückbilden. Operation zu beheben. Für deren Therapie ist eine sorgfältige Abb. 5 Lasertherapie eine Hämangioms unter Eiskühlung © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Abb. 6 Venöse Malformation der Wangenschleimhaut bei einem sechsjährigen Mädchen 9 Praxis & Wissenschaft Subdifferenzierung von hoher Bedeutung. Diese wird neben der klinischen Beurteilung durch moderne diagnostische Verfahren, wie zum Beispiel der farbkodierten Duplex-Sonographie, unterstützt. Bei der Behandlung der venösen Malformation, vergleichbar mit einer Krampfader im Gesichtsbereich, stehen Verödungsbehandlungen im Vordergrund. Diese Behandlung wird durch konventionelle chirurgische oder lasertherapeutische Maßnahmen ergänzt (Abb. 5). Kapilläre Gefäßanomalien, das so genannte Feuermal, wird heutzutage mit hochenergetischem gepulstem Licht behandelt, während stark perfundierte Gefäßveränderungen (AV-Malformationen) zunächst durch eine Gefäßdarstellung beurteilt und gegebenenfalls im Rahmen dessen verschlossen werden. In den meisten Fällen muss hier jedoch auch eine umfangreiche chirurgische Therapie erfolgen. Die Behandlung von Gefäßveränderungen erfordert insbesondere im Kopf- und Halsbereich ein sehr differenziertes Vorgehen unter Nutzungen befundspezifischer Behandlungsmethoden. „Hierfür hat sich die Therapieplanung im Rahmen einer interdisziplinären Sprechstunde bewährt, wie sie an der Tübinger Klinik bereits seit mehreren Jahren angeboten wird“, so Prof. Dr. Dr. Jürgen Hoffmann. In der Literatur findet man eine Vielzahl standardisierter chirurgischer Korrekturmethoden. Die Vielzahl der Verfahren zeigt, dass es die Methode zur Ohrmuschelreliefplastik anscheinend nicht gibt. Jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile. In der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Tübingen wird standardisiert eine Ohrmuschelknorpelfaltung mit nicht abbaubaren Fäden vorgenommen, wobei der Knorpel zuvor geschwächt wird, um die Rückstellkraft des Knorpels zu vermindern. Ergänzend wird bei Bedarf eine Reduktion oder Verkleinerung der so genannten Concha vorgenommen. Die nicht abbaubaren Fäden sorgen für ein stabiles Ergebnis ohne Fremdkörperreaktionen. Die vorgestellte Technik ergibt reproduzierbare und ästhetisch sehr schöne Ergebnisse, so dass ein natürlich aussehendes Ohrmuschelrelief erzielt werden kann. Die Methode kann ebenfalls bei Jugendlichen oder Erwachsenen angewendet werden und zeigt auch hier ausgezeichnete Ergebnisse. Die Operation wird bei Kindern im Allgemeinen in Vollnarkose, bei Erwachsenen zum Teil auch in örtlicher Betäubung und in der Regel ambulant vorgenommen. „Durch den Zugang auf der Rückseite der Ohrmuschel entstehen keine sichtbaren Narben“, sagte Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert. Ohrenanlegeplastik Schädeldeformitäten „Das so genannte abstehende Ohr ist die häufigste Ohrmuschelfehlbildung“ sagte Prof. Dr. Dr. Siegmer Reinert, der dem Auditorium mit Hilfe eines Films sein Vorgehen erläuterte. Sehr viele Menschen sind durch Anomalien der Form des äußeren Ohres so wenig gestört, dass sie sich deswegen nicht einer Operation unterziehen würden. Die Indikation zur operativen Korrektur erfolgt aufgrund emotionaler psychologischer Faktoren der Patienten (zum Beispiel Hänseln in der Schule) oder funktioneller Probleme beim Tragen einer Kopfbedeckung. Im Allgemeinen wird der Zeitpunkt des Eingriffs vor der Einschulung gewählt. Abstehende Ohren sind meistens bedingt durch eine mangelhafte Faltung des Ohrmuschelknorpels, seltener auch durch eine zu große so genannte Concha oder einen zu großen Winkel zwischen Ohrmuschelknorpel und seitlichem Schädel. 10 Aufgrund der – gerechtfertigten – PädiatrieEmpfehlung, zur Vermeidung des plötzlichen Kindstodes das Kind auf dem Rücken liegen zu lassen, „kommt es gehäuft zu einer Abflachung der Hinterhauptschädels“, beobachten Oberarzt Dr. Dr. Michael Krimmel und seine Kollegen Schädeldeformitäten beim Säugling haben im Wesentlichen zwei verschiedene Ursachen, leitete Dr. Dr. Michael Krimmel seinen Vortrag ein. Durch die Empfehlung der Fachgesellschaft für Pädiatrie, Kinder zur Vermeidung des plötzlichen Kindstodes beim Schlafen auf dem Rücken zu lagern, © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 Praxis & Wissenschaft kommt es in den letzten Jahren gehäuft zu einer symmetrischen oder asymmetrischen Abflachung des Hinterhauptsschädels bei Kindern. Diese Fehlform wirkt sich durch knöcherne Verschiebungen sichtbar nach vorn auf die Position der Ohrmuscheln und die Form des Gesichts aus. Da diese Deformität durch äußere Faktoren bedingt wird, lässt sie sich beim Säugling durch krankengymnastische und orthopädische Maßnahmen erfolgreich korrigieren. störungen führen können. Zudem wird das äußere Erscheinungsbild durch die Wachstumshemmung von Neuro- und Viszerokranium nachhaltig gestört. Erst die Ausdehnung der neurochirurgischen Operationsverfahren auf den Kiefer-Gesichts-Bereich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichte die direkte operative Ausformung der Fehlbildung und damit eine intrakranielle Volumenvermehrung. Die kraniofaziale Chirurgie beschränkt sich dabei nicht nur auf das Neurokranium, sondern bezieht das Viszerokranium mit ein und erfordert deshalb Kenntnisse des stomatognathen Systems sowie Erfahrungen bei Kraniosynostosen meist isoliert Eine andere und deutlich schwerwiegendere Ursache für eine Schädeldeformität sind die Kraniosynostosen. Kraniosynostosen entstehen durch einen vorzeitigen Verschluss von Schädelnähten. Ihre Gesamtinzidenz wird heute auf eins von 2000 lebenden Neugeborene geschätzt. Die überwiegende Mehrzahl stellen isolierte Formen dar. In Abhängigkeit von den betroffenen Nähten konnte Virchow bereits 1851 neun pathologische Schädelfehlbildungen beschreiben. Die prämature Fusion einer Naht führt zur Wa c h s t u m s h e m m u n g senkrecht zu ihrem Verlauf. Gleichzeitig findet kompensatorisch eine Aus- Abb. 7 Zustand nach frontoorbitalem Advancement bei dehnung des Schädels in Kraniosynastose Richtung dieser Naht statt. Die Wachstumshemmung verursacht ein plastisch rekonstruktiven Maßnahmen im Missverhältnis zwischen Hirnvolumen Bereich des knöchernen Gesichtsschädels und Schädelkapazität und führt dadurch (Abb 7). „Kraniofaziale Eingriffe erfolgen zum Anstieg des intrakraniellen Drucks. deshalb in enger Zusammenarbeit von Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen und Neurochirurgen“, schloss Dr. Dr. MichaWachstumshemmungen el Kimmel seinen Vortrag ab und unterauch beim Gesichtsschädel Die Wachstumshemmungen beschränken strich damit wie seine Vorredner die sich jedoch nicht nur auf den Hirnschä- Bedeutung der interdisziplinären Zusamdel, sondern betreffen auch den Gesichts- menarbeit von Medizin und Zahnmeschädel. Durch die prämature Synostosie- dizin. ■ rung wird die Entwicklung der Maxilla nach vorn und unten behindert. Als Folge treten eine Mittelgesichtshypoplasie und die ungenügende Ausdehnung des Nasenrachenraums auf. Dies verursacht Veränderungen des stomatognathen Sys- Die Vorträge wurden auf dem 13. IZZtems und der Atemwege, die mit erhöh- Presseforum (Informationszentrum Zahnter Infektanfälligkeit einhergehen und zu gesundheit Baden-Württemberg) am 15. einer Beeinträchtigung der Nahrungsauf- Juni 2007 an der Universität Tübingen genahme und damit zu erheblichen Gedeih- halten. Bearbeitet von Robert Schwabe. © die dental praxis, XXIV, Heft 7/8-2007 11