Die Zehn Worte vom Sinai Die Rezeption des Dekalogs in der rabbinischen Literatur Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vorgelegt von Ursula Peter-Spörndli von Löhningen/SH am 15. April 2010 Erstgutachterin: Zweitgutachterin: Prof. Dr. Verena Lenzen Prof. Dr. Gabrielle Oberhänsli-Widmer Vorsitzende der Disputation: Datum der Disputation: Prof. Dr. Christiane Schildknecht 21. Oktober 2010 Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG ................................................................................................................. 3 FORMALIA ............................................................................................................... 14 TEIL 1: GRUNDLAGEN UND FRÜHE REZEPTIONEN ............................................ 15 1 DAS ZEHNWORT IN BIBEL UND BIBELWISSENSCHAFT ................................. 15 1.1 Der biblische Text .............................................................................. 15 1.2 Die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dekalog ... 19 1.2.1 Forschungsfragen, Schwerpunkte und Methoden .......................... 19 1.2.2 Die Einteilung der Gebote.............................................................. 23 1.2.3 Die Bundestafeln ............................................................................ 26 1.2.4 Der Umgang mit der doppelten Überlieferung .............................. 30 1.2.5 Besonderheit und Rang des Dekalogs............................................ 33 1.2.6 Der Geltungsbereich des Zehnworts .............................................. 37 1.3 Rezeptionen des Dekalogs im Alten Testament .................................. 39 2 DAS ZEHNWORT IN NICHTRABBINISCHEN QUELLEN DES FRÜHJUDENTUMS 41 2.1 Bei den Samaritanern......................................................................... 42 2.2 Im hellenistischen Judentum .............................................................. 48 2.3 Im frühen Christentum ....................................................................... 57 TEIL 2: DAS ZEHNWORT IN DEN RABBINISCHEN QUELLEN............................... 65 1 EINLEITUNG ZUM ZWEITEN TEIL ................................................................. 65 1.1 Die rabbinische Bezeichnung der Zehn Worte................................... 65 1.2 Bemerkungen zur rabbinischen Hermeneutik .................................... 65 1.3 Methodisches Vorgehen ..................................................................... 66 2 DAS ZEHNWORT IN DER RABBINISCHEN LITURGIE ...................................... 70 2.1 Die Zehn Worte im Priester- und Laiengebet .................................... 70 2.2 Der Ausschluss des Zehnworts aus dem Gebet .................................. 74 2.2.1 Mögliche Gründe ........................................................................... 74 2.2.2 Die rabbinische Begründung.......................................................... 76 3 DAS ZEHNWORT IM KONTEXT DER SINAIOFFENBARUNG............................. 90 3.1 Der Zeitpunkt ..................................................................................... 90 3.2 Das Feuer........................................................................................... 91 3.3 Das Reden Gottes ............................................................................... 93 3.3.1 Gottes Stimme................................................................................ 93 3.3.2 Die persönliche Anrede................................................................ 100 3.4 Das Empfangen der Offenbarung .................................................... 102 3.4.1 Die Reaktion des Volkes .............................................................. 102 3.4.2 Zehnwort und Gericht .................................................................. 103 3.4.3 Der Geltungsbereich des Zehnworts ............................................ 106 3.4.4 Exkurs: Die Zehnwortoffenbarung und Act 2.............................. 111 3.5 Die Zehnwortoffenbarung als Analogie zum Schöpfungsakt ........... 112 1 3.6 Die Bundestafeln .............................................................................. 115 3.6.1 Material und Grösse der Tafeln.................................................... 116 3.6.2 Die Schrift und die Aufteilung der Gebote auf die Tafeln........... 118 3.6.3 Das Zerbrechen der Tafeln........................................................... 121 3.6.4 Der Umgang mit der doppelten Überlieferung ............................ 127 3.6.5 Der Umfang des Textes auf den Tafeln ....................................... 130 3.7 Die Beziehungen der Gebote untereinander .................................... 134 4 DAS ZEHNWORT IN SYMBOLIK UND GIMATRIA ......................................... 137 TEIL 3: RÜCKBLICK UND AUSBLICK ................................................................ 139 1 ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................. 139 2 AUSBLICK ................................................................................................. 146 QUELLENREGISTER ............................................................................................... 150 BIBLIOGRAPHIE ..................................................................................................... 153 2 Einleitung "Das Bündig-Bindende ist es, und Kurzgefasste, der Fels des Anstandes, […] das ABC des Menschenbenehmens". So lässt Thomas Mann in Das Gesetz seinen Mose die Zehn Gebote den Israeliten vorstellen.1 Das Zehnwort vom Sinai hebt sich von der übrigen Tora ab. Neben der Weihnachtsgeschichte aus Lk 2 ist es wohl der bekannteste Text der christlichen Bibel. Die Frage, was die Besonderheit des Dekalogs ausmacht oder wie er zu dieser herausragenden Bedeutung kam, wird angesichts seiner Berühmtheit jedoch selten gestellt. Da der Dekalog das einzige Gesetz ist, welches vom Christentum aus der Tora übernommen und als verbindlich erklärt wurde, ist diese Frage aber nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig. Die vorliegende Untersuchung der Rezeption des Zehnworts in der rabbinischen Literatur nähert sich dem Gegenstand aus einer anderen Perspektive. Zwei Beobachtungen haben diesen Blickwinkel mit beeinflusst: Erstens die Tatsache, dass das Verständnis des Zehnworts im Judentum grosse Unterschiede zu demjenigen im Christentum aufweist, und zweitens die talmudische Überlieferung, dass die Zehn Worte aufgrund von innerjüdischen Kontroversen aus der Liturgie entfernt worden waren. Die beiden Beobachtungen lassen erkennen, dass die herausragende Stellung des Dekalogs in der christlichen Kultur weder selbstverständlich noch zwingend ist. Seine Bedeutung und seine Funktion werden im Judentum anders interpretiert als im Christentum. Die zweite Beobachtung zeigt ausserdem, dass die Diskussion um die Stellung des Zehnworts bereits in der Antike geführt wurde. Indem diese Arbeit die Fragen, Themen und Diskussionen der Rabbinen zu den Zehn Worten thematisiert, gibt sie Einblick in das jüdische Verständnis der Zehn Worte im 1.-6. Jh. n. Chr. Bevor diese kontroversen Aspekte anschliessend ausführlicher dargestellt werden, ist die im Folgenden verwendete Terminologie zu klären. Die Begriffe Zehnwort, Dekalog, Zehn Worte oder Zehn Gebote bezeichnen alle denselben Text. Sie werden als Synonyme gehandhabt, wobei ich den ersten beiden Bezeichnungen einen gewissen Vorzug gebe, da Zehnwort die rabbinische Bezeichnung am exaktesten wiedergibt und Dekalog die gebräuchliche wissenschaftliche Bezeichnung ist. Auf die Herkunft des Begriffs und seine Verwendung in den Quellen gehe ich in den 1 MANN, Gesetz, 157f. 3 betreffenden Kapiteln ein.2 Was die unterschiedliche Bedeutung des Zehnworts im Juden- und Christentum anbelangt, ist kaum nötig zu betonen, dass das Zehnwort vom Sinai die abendländische Kultur in vielerlei Hinsicht mitgeprägt hat. Einst an die aus Ägypten befreiten Hebräer gerichtet, hat es sich im Christentum in einer beeindruckenden Wirkungsgeschichte zum grundlegenden und verbindlichen Gesetz entwickelt, welches als Zusammenfassung des Gotteswillens in gleichsam konzentrierter und reduzierter Form gilt. In dieser Funktion hat es nicht nur die Kirche, sondern mit ihr auch die westliche Gesellschaft und ihre Ordnungen wesentlich beeinflusst, bis hin zu modernen Menschenrechtserklärungen. Anfangspunkt dieser Wirkungsgeschichte war möglicherweise der Kirchenvater Augustinus. Er erklärte das von Jesus zum höchsten Gebot ernannte Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37-39) als Zusammenfassung der ersten (Liebe zu Gott) und zweiten (Liebe zum Nächsten) Tafel des Dekalogs, und damit den Dekalog als konkrete Ausformulierung des Liebesgebots. Die seit dem 15./16. Jahrhundert bekannten Beichtspiegel (heute: Gewissensspiegel) sind üblicherweise am Zehnwort orientiert. Diese Verwendung des Dekalogs als Leitfaden der Gewissenserforschung hat sicherlich zu heutigen negativen Konnotationen des Dekalogs wie der eines repressiven Regelwerks oder einer "Moralkeule" beigetragen. Grosse Breitenwirkung fand das Zehnwort schliesslich durch seine Verwendung in Luthers Kleinem Katechismus. Er stellt es an dessen Spitze und streicht gleichzeitig das Ave-Maria aus dem traditionellen Lehrbestand. Die Sonderstellung des Zehnworts in der christlichen Lehre ist seither ungebrochen. Immer wieder wurde und wird der Dekalog mit dem "natürlichen Gesetz" in Verbindung gebracht. Thomas von Aquin beschäftigt sich in der Quaestio 100 seiner Summa Theologica mit der Frage, wie sich das Naturgesetz zum Dekalog verhält. Seine nicht immer kohärenten Aussagen zeugen von der Schwierigkeit dieses Unterfangens.3 Während die erste Hälfte des Zehnworts im Zusammenhang mit dem Naturgesetz die Frage aufwirft, ob Glaube und Gottesliebe geboten werden können, ist die Nähe seiner zweiten Hälfte zu einem kulturübergreifenden Ethos offensichtlich. In solchen theologischen Erklärungsversuchen lässt sich der Anspruch erkennen, dass es sich bei den Zehn Worten um Regeln handelt, die Menschen 2 Vgl. Teil 1: 1.1 und Teil 2: 1.1. Vgl. dazu die Einführung in Thomas von Aquins Theologie von PESCH (Thomas von Aquin, 294300). 3 4 unterschiedlicher Kulturen auf Grund ihrer Vernunft und ihres Gewissens anerkennen und befolgen. Seine im Christentum üblich gewordene verkürzte Formulierung, lässt den Bezug zum Volk Israel, zum Exodus und zum verheissenen Land weg. Diese Reduktion hat eindeutig zum Potential des Dekalogs als Weltethos beigetragen. Der Widerhall von Dekalogforderungen in der französischen Menschenund Bürgerrechtserklärung sowie der Verfassung der Französischen Revolution und in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 sind Beweise dafür, dass zentrale Teile des Dekalogs auch in der säkularen Gesellschaft Autorität geniessen. Was die UN-Charta anbelangt, betrifft dies neben den zwischenmenschlichen Forderungen in der zweiten Hälfte des Dekalogs auch das Sabbatgebot aus der ersten Hälfte.4 Die Verwendung des Dekalogs in Menschenrechtserklärungen hebt seinen ursprünglichen Charakter als Rechtskodex eines aus der Sklaverei befreiten Volkes wieder hervor, wo Gesetz zugleich Recht und Freiheit bedeutete. Durch die Kunst sind die beiden Steintafeln mit den Zehn Worten zu einem bekannten Symbol geworden. Vielerorts wurden Justiz- oder sonstige öffentliche Gebäude mit Darstellungen der Steintafeln geschmückt, so auch das Rathaus in Basel, wo eine sitzende Justitia die zwei Tafeln in ihrer Linken hält. Die vordere Tafel zeigt das erste Gebot in hebräischer Schrift: Abbildung 1: Justitia am Basler Rathaus 4 Artikel 24 der UN-Charta lautet: "Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmässigen bezahlten Urlaub". 5 Schliesslich hat die Zehnzahl auch stilbildend gewirkt. Eine Formulierung in zehn Punkten gilt als eine aufs wesentliche reduzierte Anleitung. In vielen Fällen sind solche ans Zehnwort angelehnte Weisungsreihen der Ratgeberliteratur zuzuordnen, wie z.B. "Zehn Gebote für starke Frauen" oder "Zehn Gebote für grossartiges Golf", oft begegnen sie uns aber auch als Parodie des Zehnworts, wie z.B. "Die 10 Bier Gebote" oder Marcel Reich-Ranickis "Zehn Gebote für Literaturkritiker". Die Beliebtheit dieser Form liegt in der Bekanntheit des biblischen Vorbildes. Die heutige Bedeutung des Zehnworts wird von SÄNGER trotz des abnehmenden Einflusses der Kirche noch immer sehr hoch eingeschätzt: "Im Bewusstsein nicht nur der meisten Christen gibt es kaum einen alttestamentlichen Text oder Textkomplex, dessen Bekanntheitsgrad an den des Dekalogs heranreicht. Auch wo seine offenbarungstheologisch begründete Autorität als verpflichtendes Gotteswort an Überzeugungskraft verloren hat, ist seine Akzeptanz als normatives Kompendium sittlich-moralischer Grundprinzipien nahezu ungebrochen."5 Angesichts der kaum zu überschätzenden Stellung des Dekalogs im Christentum und seiner Umwelt, scheint es umso erstaunlicher, dass sich im Judentum keine vergleichbare Funktion des Zehnworts findet. Die normativen religionsgesetzlichen Schriften des Judentums (Mischna und Talmud) sind weit davon entfernt, nach Dekalog-Struktur aufgebaut zu sein, oder diesen systematisch zu behandeln. Den Geund Verboten des Zehnworts wird nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den gut 600 übrigen Ge- und Verboten der Tora. Auch in der Liturgie der Synagoge hat es keinen besonderen Platz. Dreimal im Jahr wird es im Gottesdienst rezitiert: Zweimal im Rahmen der fortlaufenden Toralesung (je einmal in Ex und Dtn) sowie am Schawuot-Fest, wenn die Offenbarung am Sinai mit der Gabe der Tora gefeiert wird.6 Zu den täglichen Pflichtgebeten gehört er bis heute nicht.7 Eine der wenigen Ausnahmen von dieser "Dekalogstille" betrifft die Symbolik. Viele moderne Synagogenportale sind mit zwei steinernen Tafeln (in der typischen Form zweier ob abgerundeter Rechtecke) geschmückt, auf denen die Zehn Worte mit Zahlen oder Buchstaben angedeutet sind. Wie SARFATTI zeigt, sind die Gesetzestafeln als 5 SÄNGER, Tora, 97. Nach einer alten Tradition erhob sich die Gemeinde, wenn das Zehnwort an Schawuot rezitiert wurde, um so das "Stehen am Sinai" auszudrücken. Zu Maimonides Zeiten führte dieser Brauch zu halachischen Kontroversen, vgl. URBACH, Worship, 186-189. 7 In den heutigen Gebetbüchern finden sich die Zehn Worte am Ende des Morgengebets im freiwilligen Teil, dem auch die 13 Glaubensartikel von Maimonides angehören. Dieser Brauch wurde laut BEN-CHORIN (Tafeln, 17f.) aber erst im 17. Jh. allgemein. 6 6 jüdisches Symbol jedoch relativ jung und bemerkenswerterweise aus dem Christentum ins Judentum übernommen worden.8 BEN-CHORIN nennt einen unverkennbaren Unterschied in der Rezeption des Dekalogs in den beiden Religionen: "Während […] für das Judentum der Dekalog das sichtbare Zeichen des Bundes blieb, wurde er für das Christentum zum Gesetz Gottes schlechthin."9 BENCHORINS Beobachtung spiegelt sich auch in der Bezeichnung des Zehnworts wider: in den meisten europäischen Sprachen - also im christlichen geprägten Kulturkreis – ist von Zehn Geboten die Rede, im Hebräischen dagegen - in Anlehnung an die Bibel - von Zehn Worten. Die neutrale, Offenbarung ausdrückende Bezeichnung in der "Muttersprache" des Dekalogs erhielt in den Übersetzungen die Konnotation von Imperativ und Gesetz, welche dem Wort "Gebot" anhaftet. Dass der Dekalog im jüdisch-christlichen Dialog gern als das Verbindende von Judentum und Christentum bezeichnet wird, scheint angesichts der beiden oben skizzierten Wirkungsgeschichten entweder auf Unwissen zu basieren oder reines Wunschdenken zu sein.10 Denn durch die in der christlichen Katechese übliche verkürzte Form des Zehnworts ist nicht einmal immer die gemeinsame Textgrundlage selbstverständlich. Worin besteht das Gemeinsame, wenn Grundtext, Funktion und Stellung des Zehnworts sich nicht decken? Vor diesem Hintergrund ist das Zehnwort weniger als gemeinsame jüdischchristliche Dialoggrundlage zu bezeichnen, sondern vielmehr als Dialogthema, zu dem die Fragen neu gestellt werden müssen. Weitere Motivation für meine Forschung lieferte die Aussage aus dem Jerusalemer Talmud, wonach die Zehn Gebote - einst Teil des priesterlichen Morgengebets im Tempel - nun nicht mehr rezitiert würden, mit der Begründung, die Ketzer könnten sonst behaupten, nur diese zehn Worte seien Moses am Sinai offenbart worden. Dieser Entscheid für die Untauglichkeit der Zehn Gebote als traditioneller Gebetstext macht auf eine Kontroverse um die Stellung dieses Textes im frühen Judentum aufmerksam, deren Auswirkungen noch in der heutigen Gebetspraxis der Synagoge spürbar sind. Die auch in wissenschaftlichen Kreisen weit verbreitete Meinung, dass es sich bei den erwähnten Ketzern um frühe Judenchristen gehandelt habe, verleiht diesem im Talmud überlieferten Liturgieausschluss eine gewisse Brisanz. Denn 8 SARFATTI, Symbol, 402f. BEN-CHORIN, Tafeln, 32f. 10 Nicht so bei EAKIN (First tablet), der sich des Problems der unterschiedlichen Interpretation im Judentum und Christentum sehr wohl bewusst ist. Mit seinem Kommentar zur ersten Tafel will er den Hintergrund für das Verständnis der Unterschiedlichkeit der jüd. und christl. Interpretationsarten aufzeigen. Auch bei PÖHLMANN/STERN (Zehn Gebote) lebt der Dialog von den Unterschieden. 9 7 wenn diese - bisher allerdings noch nie wissenschaftlich belegte - Hypothese sich als wahr erweisen würde, müsste statt von unterschiedlichen Wirkungsgeschichten vielmehr von einer jüdischen "Reaktionsgeschichte" des Dekalogs auf die christliche Wirkungsgeschichte gesprochen werden. Die jüdische Dekalogtradition wäre damit nicht als Ausdruck jüdischen Glaubens, sondern als Abgrenzung und Distanzierung vom Christentum zu werten und wäre damit direkt von der christlichen Tradition abhängig. Statt jedoch die mit den heute verfügbaren Quellen wohl kaum zu belegende Hypothese über eine judenchristliche Identität der Ketzer neu aufzurollen, nimmt die vorliegende Studie den Liturgieausschluss des Zehnworts zum Anlass, die Stellung und Funktion des Dekalogs in der rabbinischen Literatur als Ganzes zu untersuchen. Dabei steht die Frage nach der Besonderheit des Dekalogs, die ihn von der übrigen Tora unterscheidet, im Vordergrund. Diese übergeordnete Frage unterteilt sich in viele Einzelfragen: Es gilt zu untersuchen, wie häufig und in welcher Art sich die Rabbinen über das Zehnwort äussern, in welchen Zusammenhängen es erwähnt wird, welche Rolle oder Funktion es dabei hat, welche Aspekte bei seiner Auslegung diskutiert werden und welche Bedeutung die Zehn Gebote als Gesetz haben: werden sie als Teil davon gesehen oder eher als dessen Zusammenfassung? Die Untersuchung dieser Fragen soll zur Beantwortung der umfassenderen Frage nach der Besonderheit des Zehnworts beitragen: Haben die Rabbinen den Zehn Worten vom Sinai eine besondere Stellung zugesprochen oder nicht? Und falls der Dekalog eine Sonderstellung hat, worauf bezieht sie sich? Die rabbinische Literatur ist für die Frage nach der Stellung des Zehnworts im Judentum aus verschiedenen Gründen relevant: Die talmudische Zeit (ca. 1.-6. Jh. n. Chr.) gilt als die normative Zeit der jüdischen Religion. Mischna, Talmud und Midrasch sind neben der Bibel die religionsgesetzlichen Grundlagen des Judentums. Die Entscheidungen der rabbinischen Weisen, ihre Einteilung und Gewichtung der Gesetze der Tora, ihre Vorstellung von der Autorität des Bibeltextes und ihre Auslegungsregeln sind bis heute massgebend für die Ausübung der jüdischen Religion. Die rabbinische Literatur als ursprünglich mündliche Tora hat die Auslegung der schriftlichen Tora (hebräische Bibel) als Aufgabe und Ziel. Während in der Mischna und im Talmud vorwiegend die religionsgesetzlichen Themen behandelt werden, haben die Midraschim die Auslegung konkreter Bibeltexte als Inhalt. Für einen Text wie das Zehnwort, der neben seinem biblischen Ursprung 8 zugleich religionsgesetzliche Bedeutung hat, ist diese Literatur darum eine vorzügliche Quelle, um seine Deutung und Bedeutung zu untersuchen. Die vorliegende Studie zielt weder auf den Inhalt der einzelnen Gebote noch auf deren Deutung, sondern auf die Stellung der Zehn Worte in der Ganzheit, als die sie schon in jener Zeit wahrgenommen wurden. Rabbinische Texte, die sich nur auf einzelne Gebote des Dekalogs beziehen, wurden in dieser Forschungsarbeit deshalb nicht berücksichtigt. Ebenso wenig die höchst umfangreiche Sekundärliteratur zur Auslegung einzelner Gebote. Neben der Fragestellung und der Überfülle des Stoffes sind auch die rabbinischen Texte selbst ein Mitgrund für diese Fokussierung. Denn die Rabbinen waren längst nicht nur am Inhalt des Zehnworts interessiert, sondern sogar noch mehr an seiner Offenbarung, seiner materiellen Ausgestaltung und seiner Rolle. Der wissenschaftliche Beitrag der vorliegenden Forschungsarbeit soll darin bestehen, das moderne Verständnis des Zehnworts und seine immer wieder neu zu erfolgende Interpretation um den rabbinischen Blickwinkel zu erweitern. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, vor die eigenen, kulturell bedingten und durch eine lange Wirkungsgeschichte vorgeprägten Erwartungen und Vorstellungen vom Text zurückzugehen und den Dekalog mit den Augen einer anderen Epoche zu betrachten. Anhand der rabbinischen Quellen soll ein Bild von der Rezeption des Dekalogs in einer für das Judentum normativen Zeit gezeichnet werden. Die systematische Untersuchung aller namentlichen Erwähnungen des Zehnworts in der rabbinischen Literatur soll aufzeigen, wo der Schwerpunkt des rabbinischen Interesses am Dekalog liegt.11 Gleichzeitig bietet sie einen Überblick über die rabbinischen Quellen zum Zehnwort. Anhand der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Texte können viel zitierte Stellen wie z.B. der Liturgieausschluss oder das "Wellengleichnis" in einem Kontext gelesen werden, der Auskunft gibt, ob ihre Aussagen mit weiteren Texten übereinstimmen und somit repräsentativ sind für die rabbinische Zehnwortrezeption. Das Zusammenstellen, Ordnen und Deuten des gesamten Materials zur Zehnwortnennung ist ein Beitrag zur Dekalogforschung und soll weiterführende Forschung unterstützen und anregen. Der christlichen Auseinandersetzung mit dem Dekalog, sei sie nun bibelwissenschaftlicher, theologischer, katechetischer oder praktischer Art, bietet der rabbinische Blick aufs Zehnwort einen neuen und 11 Zu Suche und Auswahl der Quellen vgl. Teil 2: 1.3. 9 hoffentlich inspirierenden Zugang zum Dekalog als Gotteswort und -gesetz. Was den jüdisch-christlichen Dialog betrifft, soll diese Arbeit dazu herausfordern, sich einerseits der Unterschiede der Zehnworttraditionen bewusst zu werden, und andererseits den Reichtum der rabbinischen Tradition miteinander zu teilen. Obwohl der Dekalog an sich in der Wissenschaft ein beliebtes Subjekt ist, wurde das rabbinische Verhältnis zum Zehnwort meines Wissens noch nie in umfassender Weise untersucht. Einzelne Aspekte meiner Fragestellung hingegen, wie z.B. das Zehnwort in der jüdischen Liturgie, wurden in der wissenschaftlichen Literatur bereits behandelt. Auch die Frage nach der Herkunft und Berechtigung von dessen Sonderstellung wird mit zunehmender Tendenz wieder gestellt. So z.B. von URBACH in The role of the Ten Commandments in Jewish Worship. In seinen Ausführungen zum Liturgieausschluss des Zehnworts vermeidet er einfache Erklärungen und weist mit seiner fundierten Kenntnis der rabbinischen Tradition in eine neue Richtung. WEINFELD hingegen diskutiert in The uniqueness of the Decalogue die Argumente für und gegen eine Einzigartigkeit des Zehnworts im Vergleich mit anderen Texten der hebräischen Bibel. Besonders interessant für die vorliegende Studie ist dabei seine Deutung des Pfingstereignisses in Act 2 auf dem Hintergrund der rabbinischen Beschreibungen der Sinaioffenbarung. Dass viele Forscher einzelne Aspekte des Zehnworts in der rabbinischen Literatur thematisieren, liegt nicht zuletzt in der Natur der rabbinischen Literatur begründet, deren Texte zum Zehnwort verstreut in Diskussionen zu unterschiedlichsten Themen zu finden sind. Von allen rabbinischen Quellen zum Dekalog findet der Liturgieausschluss am meisten Beachtung, wobei eine nähere Auseinandersetzung mit den Gründen meist fehlt. Eine Ausnahme davon sind KIMELMAN, URBACH und VERMES, welche das Thema ernsthaft in Angriff nehmen.12 Zur Mechilta – neben der Pesikta Rabbati die einzige systematische Auslegung des Zehnworts in der rabbinischen Literatur – hat VAN LOOPIK mit Die Zehn Worte in der Mechilta eine Übersetzung mit ausführlichem Kommentar vorgelegt. Das umfassende Werk Le Décalogue et l'histoire du texte von HIMBAZA ist zwar der Textgeschichte des Dekalogs gewidmet, der Autor gibt jedoch im ersten Teil auch einen Einblick in frühjüdische Traditionen rund um das Zehnwort, in dem er vor allem rabbinische Rezeptionen zu Worte kommen lässt und neben dem Liturgieausschluss auch weniger bekannte rabbinische Quellen zitiert. BROOKS 12 Vgl. KIMELMAN, Polemics; URBACH, Worship; VERMES, Studies. 10 schliesslich überspringt meine Fragestellung gänzlich, wenn er in The Spirit of the Ten Commandments: Shattering the myth of rabbinic legalism vom Dekalog als Testfall für das rabbinische Toraverständnis ausgeht. Der Erste Teil der vorliegenden Studie hat im Hinblick auf den folgenden Hauptteil grundlegenden und hinführenden Charakter. Angesichts der eingangs erwähnten unterschiedlichen Funktion des Zehnworts in Christen- und Judentum drängt sich zuerst einmal die Frage auf, inwiefern seine beeindruckende Wirkungsgeschichte bereits in der Bibel angelegt ist, und welche Stellung er in seinem biblischen Kontext und in der Bibel als Ganzes hat. So befasst sich dieser Teil zuerst mit dem biblischen Text, der als die Zehn Worte vom Sinai bekannt ist. Nach dem Feststellen der textlichen Grundlagen wie Bezeichnung und Versionen des Dekalogs, soll ein Überblick über den bibelwissenschaftlichen Zugang zum Zehnwort die Forschungsfragen und -themen der alttestamentlichen Wissenschaft vorstellen. Neben einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Bibeltext soll der wissenschaftliche Umgang mit dem Dekalogtext aber in erster Linie die Sinne für den rabbinischen Zugang zum Text des Zehnworts schärfen. Diese Schärfung geschieht sowohl durch das Bewusstwerden der Fragen, die an den Text gestellt und der Besonderheiten, die darin gefunden werden, wie auch anhand der Themen, die – im Gegensatz zur rabbinischen Auseinandersetzung – nicht zur Sprache kommen. Der Charakter und die Eigenheiten der rabbinischen Rezeption des Zehnworts sollen dadurch klarer hervortreten. Zwischen der biblischen Dekalogfassung und seiner Auslegung durch die Rabbinen liegen mehrere Jahrhunderte. Während die Rezeption des Dekalogs in den Propheten- und Schriftbüchern des Alten Testaments nur undeutlich zum Ausdruck kommt, finden wir in ausserrabbinischen frühjüdischen Texten interessante Hinweise auf seine ausserbiblische Wirkungsgeschichte. Die rund ums 1. Jh. n. Chr. einzuordnenden samaritanischen, hellenistischen und frühchristlichen Quellen zum Dekalog sind als vorläuferische oder zeitgenössische Texte aus der Umwelt der Rabbinen von Interesse. Um Vergleiche und Kontrastierungen mit der rabbinischen Rezeption zu ermöglichen, frage ich in der Besprechung dieser Texte ebenfalls nach der Stellung, die das Zehnwort in der jeweiligen Gruppierung oder Strömung einnimmt. Deren Verhältnis zum Dekalog ist nicht zuletzt auch im Hinblick auf die mögliche Identität der Ketzer, die den Liturgieausschluss provoziert haben sollen, von Interesse. Darum werden diese Quellen im Kapitel über den Ausschluss des 11 Dekalogs aus der Liturgie nochmals thematisiert. Der Zweite Teil ist der Hauptteil und das Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Er befasst sich mit dem Zehnwort, wie es in den rabbinischen Quellen zutage tritt. Gegen 140 Erwähnungen des Dekalogs, die sich in Talmud und Midrasch finden, sind daran beteiligt. Während des Studiums dieser Quellen haben sich drei Themengebiete herauskristallisiert, die nach einer Einleitung zum zweiten Teil in je einem Kapitel besprochen werden: Das erste Kapitel über das Zehnwort in der rabbinischen Liturgie thematisiert die Rolle des Zehnworts im Gebet. Ausgehend von der Mischna, die das Zehnwort zur Zeit des zweiten Tempels als Anfang des priesterlichen Morgengebets nennt, wird der spätere talmudische Ausschluss des Zehnworts aus dem Gebet diskutiert. Verschiedene mögliche Gründe sind denkbar. Die rabbinische Begründung, dass die Ketzer sonst sagen könnten, dass nur die Zehn Gebote allein dem Moses am Sinai gegeben wurden, wirft jedoch mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Dies fängt bereits bei dem schwer zu fassenden rabbinischen Begriff für Ketzer (="Min") an. Während archäologische Funde wie die Tefillin aus Qumran und der Papyrus Nash uns Hinweise auf dem Dekalog in der Liturgie und die zeitliche Einordnung seines Ausschlusses geben können, fehlen uns Quellen, die über die Identität der erwähnten Minim eindeutig Aufschluss geben könnten. Die bisher unternommenen Ansätze einer Identifizierung der besagten Minim werden genannt und kurz kommentiert. Da von ihrer Identität jedoch kein direkter Beitrag zu meiner Fragestellung zu erwarten ist, wird hier kein Versuch zu ihrer Bestimmung unternommen. Der Liturgieausschluss stellt die rabbinische Dekalogrezeption in ein Spannungsfeld, in dem eine besondere Stellung des Dekalogs einerseits vorausgesetzt und andererseits unterdrückt wird. Erst im Licht des rabbinischen Gesamtbildes der Zehnwortrezeption kann der Versuch unternommen werden, den sonderbaren Liturgieentscheid bezüglich seiner Relevanz und Brisanz einzuordnen. Das darauffolgende Kapitel bespricht die rabbinischen Texte, die das Zehnwort im Sinaigeschehen kontextualisieren. In diesen Texten, zu denen die Mehrheit der rabbinischen Äusserungen zum Zehnwort gehört, kommen die Ereignisse rund um die Offenbarung des Dekalogs zur Sprache und zur Auslegung. Die Beschreibungen sind oft so konkret und detailliert, dass sie mühelos als dramaturgische Anweisungen für eine Verfilmung der Sinaioffenbarung dienen könnten. In seinem Monumentalfilm The Ten Commandments hat sich Cecil B. DeMille denn auch 12 offensichtlich von den rabbinischen Beschreibungen inspirieren lassen. Ich habe die sinaibezogenen Quellen sieben Unterkapiteln zugeordnet, die verschiedenen Aspekten der Sinaioffenbarung aus rabbinischer Sicht entsprechen, um eine Art "rabbinisches Bild" der Sinaigeschehnisse zu konstruieren: das Feuer, das Reden Gottes, das Empfangen der Offenbarung, deren Analogie zum Schöpfungsakt, die Bundestafeln und schliesslich die Wahrnehmung des Zehnworts als Gesetz. Dieses "Bild" soll Antwort geben auf die Fragen nach den Aspekten, welche die Weisen am Zehnwort diskutieren: Was interessiert die Rabbinen am Zehnwort? Was fesselt ihre Aufmerksamkeit? Welche biblischen Beschreibungen führen sie weiter aus? Welche Aspekte betonen oder vernachlässigen sie? Dabei wird sich erweisen, dass das Zehnwort im rabbinischen Denken so untrennbar mit der Offenbarung am Sinai verbunden ist, dass seine Stellung und seine Besonderheit direkt aus der Art und Weise sowie den Umständen seiner Offenbarung abzuleiten und nur vor diesem Hintergrund zu deuten sind. Der zweite Teil schliesst mit einem Kapitel über die Nennungen des Zehnworts im Zusammenhang mit Zahlensymbolik und Gimatria als dritten Themengebiet. Im Gegensatz zu den weiter oben besprochenen Quellen sind diese Texte weitgehend losgelöst von den Ereignissen rund um die Offenbarung am Sinai und kommen was Anzahl und Originalität anbelangt nicht an die soeben genannten Quellen heran. Nichtsdestotrotz runden sie das Bild über die rabbinische Dekalogrezeption auf ihre Art ab. Im Dritten Teil führe ich schliesslich die in den einzelnen Kapiteln des Hauptteils gewonnenen Erkenntnisse zur Beantwortung der übergeordneten Fragestellung zusammen. Dabei werden die Eigenheiten und der Schwerpunkt der rabbinischen Dekalogtraditionen definiert und nicht zuletzt durch den Vergleich der rabbinischen Themen mit denjenigen des bibelwissenschaftlichen Ansatzes und der ausserrabbinischen frühjüdischen Quellen noch deutlicher gemacht. Meine gewonnene These zur Stellung des Dekalogs innerhalb der Tora wird zeigen, dass das Zehnwort auch in der rabbinischen Literatur eine Sonderstellung einnahm und inwiefern sich diese von der christlichen Sonderstellung unterscheidet. Auf dem Hintergrund der Auswertung aller rabbinischen Erwähnungen des Zehnworts ordne ich schliesslich den Ausschluss des Dekalogs aus der Liturgie in meine Ergebnisse ein. Damit steht dem betrachtenden Leser das Gesamtbild des Zehnworts in der rabbinischen Literatur zur Verfügung. 13 Um den Kreis zu schliessen, lässt ein kurzer Ausblick auf die heutige jüdische Welt moderne Auseinandersetzungen mit dem Zehnwort anklingen. Formalia Zur besseren Lesbarkeit sind Quelltexte sowie längere Sekundärtexte in einer kleineren Schriftgrösse und beidseitig eingerückt gesetzt. Zitate aus der Bibel stehen in kursiven Lettern, ebenso transkribierte hebräische Wörter. Eckige Klammern [ ] bezeichnen Auslassungen im Primärtext, die von den Autoren, den Übersetzern oder von mir gemacht wurden. Erklärungen stehen in runden Klammern ( ). Deutsche Bibelzitate sind, wenn nicht anders angegeben, der Einheitsübersetzung (EÜ) entnommen. Die Abkürzungen der Quellenwerke richten sich im Allgemeinen nach SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. überarb. und erw. Aufl., Berlin 1992 (IATG2). Hebräische Wörter werden entsprechend der deutschen Norm DIN 31636 zur Umschrift des hebräischen Alphabets (April 1982) transliteriert. Die Umschrift einiger Konsonanten wurde jedoch vereinfacht, so dass חund כmit ch, סuns שׂmit s, צmit tz und שׁmit sh wiedergegeben werden. Die plene-Schreibung von Vokalen sowie die Verdoppelung eines Konsonanten nach dem bestimmten Artikel wird nicht speziell zum Ausdruck gebracht. Transliterationstabelle: א ב ג ד ה ו ז ח ט b, v י g כ d ל h מ w נ z ס ch ע ʾ פ y צ k, ch ק l ר m שׁ, שׂ n ת ṭ p, f tz q r sh, s t s ʿ 14 Teil 1: 1 Grundlagen und frühe Rezeptionen Das Zehnwort in Bibel und Bibelwissenschaft 1.1 Der biblische Text Die hebräische Bibel verwendet den Begriff ( עשרת הדבריםʿaseret ha-devarim), wörtlich "die zehn Worte", dreimal (Ex 34,28; Dtn 4,13; 10,4). Die beiden Verwendungen in Dtn beziehen sich mit höchster Wahrscheinlichkeit auf Dtn 5,6-21, während sich die Bezeichnung in Ex 34 auch auf die Reihenbildung in Ex 34,10-26 (auch Privilegrecht genannt) beziehen könnte.13 Da es sich an dieser Stelle um Ritualvorschriften handelt, wird in der Wissenschaft dafür auch der Begriff "kultischer Dekalog" verwendet, gegenüber dem "ethischen Dekalog" in Ex 20 und Dtn 5. Die Septuaginta (3. Jh. v. Chr.) übersetzt עשרת הדבריםmit δέκα ρήµατα (Dtn 4,13) und δέκα λόγοι (Ex 34,28; Dtn 10,4). Aus letzterer Bezeichnung wurde durch Latinisierung die Singularform "decalogus" (Zehnwort), deren Verwendung seit Irenäus und Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) bekannt ist und die heute noch in vielen europäischen Sprachen verwendet wird. Das Judentum verwendet im Hebräischen gewöhnlich nicht die biblische, sondern die spätere rabbinische Bezeichnung ʿaseret ha-dibberot.14 Der Text, der sowohl im Judentum als auch im Christentum als das "Zehnwort" oder die "Zehn Gebote" bekannt wurde, ist in der Bibel zweifach überliefert. Erstmals begegnet der Leser dem Zehnwort in Ex 20,2-17 und ein zweites Mal in Dtn 5,621.15 Es steht jeweils im grösseren Kontext der Gottesoffenbarung am Berg Sinai, die im Buch Exodus als unmittelbare Erzählung und im Buch Deuteronomium als Rückschau wiedergegeben wird. Beide Kontexte räumen ihnen eine prominente Stellung am Anfang einer längeren Gesetzessammlung ein. Die beiden Fassungen des Zehnworts sind textlich nicht identisch, inhaltlich jedoch weitgehend kongruent. Weitere Bezeichnungen des Dekalogs in der Bibel sind ( עדתʿedut) "Zeugnis" (Ex 25,16) oder ( לחת העדתluchot ha-ʿedut) "Tafeln des Zeugnisses" (Ex 31,18), welche die Gebote in ihrer materiellen Form meinen. Die Steintafeln als sichtbares Zeichen der Offenbarung am Sinai zeugten von der Begegnung Mose mit dem Ewigen auf dem Berg. 13 Vgl. PERLITT, Dekalog, 408. Zur rabbinischen Bezeichnung des Zehnworts vgl. Teil 2: 1.1. 15 In der Ausgabe der Hebräischen Bibel von Ginsburg ist die Verszählung abweichend, dort steht das Zehnwort in Ex 20,1-14 sowie Dtn 5, 6-18. 14 15 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Textzeugen des masoretischen Textes, der im Verlauf der Kanonisierung zuerst im Judentum und später auch im Christentum als textus receptus - als "offizieller" (hebräischer) Text - anerkannt wurde. Denn obwohl die heute vorliegende Punktation und Akzentuation erst im Laufe des 9./10. Jh. von den Masoreten festgelegt wurde, kann ab dem Beginn des 2. Jh. n. Chr. mit einem ziemlich konstanten Konsonantentext gerechnet werden.16 Dass die Rabbinen auf gleiche textliche Unterschiede zwischen der Ex- und Dtn-Version hinweisen wie die Bibelwissenschaft, bestätigt diese gemeinsame Textgrundlage. Da der Text der Septuaginta vom rabbinischen Judentum nicht vorbehaltlos anerkannt wurde, ist er für das Verständnis der rabbinischen Dekalogrezeption von geringer Relevanz.17 Auf ihn wird in ausgewählten Fällen Bezug genommen, wo seine textlichen Abweichungen als Hinweise dienen können. Weitere Textzeugen wie der Samaritanische Pentateuch, der Papyrus Nash und die Tefillin aus Qumran werden im Verlauf dieser Arbeit noch separat besprochen. Die folgende synoptische Gegenüberstellung der beiden Dekalogfassungen von Ex und Dtn ist absichtlich in mehr als zehn Abschnitte gegliedert. Diese Einteilung nach inhaltlichen Kriterien soll die verschiedenen Möglichkeiten der Unterteilung in Zehn Abschnitte andeuten, gleichzeitig aber die in der Bibel fehlende Unterteilung des Dekalogs nicht vorwegnehmen. Die Unterschiede zwischen den Fassungen sind durch Fettdruck hervorgehoben, die Zahlen bezeichnen die Versnummern der Biblia Hebraica. Ex 20,2-17 (ed. Ginsburg 1-14) Dtn 5, 6-21 (ed. Ginsburg 6-18) 2 Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt 6 Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. hat, aus dem Sklavenhaus. 3 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. 7 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. 4 Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine 8 Du sollst dir kein Gottesbildnis18 machen, das irgend Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf etwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. oder im Wasser unter der Erde. 5 Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen 9 Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den 16 Vgl. WÜRTHWEIN, Text, 16. Für die Textgeschichte des Dekalogs hingegen ist die LXX sehr wohl von Bedeutung. Zur Textgeschichte des Dekalogs vgl. HIMBAZAS (Décalogue) ausführliche Untersuchung. 18 Die unterschiedliche Übersetzung von פסלist irrtümlich: der hebräische Text verwendet in Ex 20,4 und Dtn 5,8 beide Male dasselbe Wort. 17 16 den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; 6 bei Söhnen und an der dritten und vierten Generation; 10 bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld. erweise ich Tausenden meine Huld. 7 Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht 11 Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht. der seinen Namen missbraucht. 8 Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! 12 Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat. 9 Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. 10 13 Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. 14 Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, Wohnrecht hat. der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. 11 Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde 15 Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten. 12 Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange 16 Ehre deine Vater und deine Mutter, wie es dir der lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. 13 Du sollst nicht morden. 17 Du sollst nicht morden, 14 Du sollst nicht die Ehe brechen. 18 du sollst nicht die Ehe brechen, 15 Du sollst nicht stehlen. 19 du sollst nicht stehlen, 16 Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. 20 du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen, 17 Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten 21 du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen. verlangen, Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, und du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten Nächsten gehört. gehört. Die Abweichungen zwischen der Ex- und der Dtn-Version des Dekalogs bestehen aus Unterschieden in Wortlaut, Wortwahl, Aufzählungsreihenfolge, Gebotsbegründung und vor allem aus Einheiten wie Präpositionen, Wörtern und Satzteilen, die nur in Dtn enthalten sind, nicht aber in Ex. Umgekehrt gibt es keine Inhalte, die nur dem Text von Ex angehören, nicht aber demjenigen von Dtn. In diesem Zusammenhang von Zusätzen, Ergänzungen oder Bereicherungen zu sprechen, wie dies STAMM in seiner kurzen und prägnanten Übersicht tut, impliziert bereits, welche der beiden Versionen vom Sprecher als die jüngere, bzw. als die von der anderen 17 Version abhängige, betrachtet wird.19 Wenn im Folgenden von solchen relativen Begriffen die Rede ist, ist damit immer die rein arithmetische Beziehung zur anderen Version gemeint. Etwa die Hälfte dieser oben genannten zusätzlichen Einheiten in Dtn betreffen die Konjunktion we ("und") und sind weiter nicht erwähnenswert. Ebenso wenig die kleinen Abweichungen im Wortlaut des Bilderverbots. Satzteile, die in Ex fehlen, sind die Aufzählung von Rind und Esel im Sabbatgebot, wo in Ex 20,10 nur »dein Vieh« steht, die Erwähnung von »dein Feld« in Dtn 5,18, der Ausdruck »wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat« in den Geboten Sabbatheiligung und Elternehrung, die Erklärung »Dein Sklave und deine Sklavin sollen ausruhen wie du«, ebenfalls im Sabbatgebot, und der zweite Teil des Versprechen im Elterngebot »und es dir gut geht«. Die Reihenfolge des nicht zu Begehrenden beginnt in Dtn mit der Frau, gefolgt vom Haus des Nächsten, während dies in Ex genau umgekehrt ist. Auch bezüglich Wortwahl wird in diesem Gebot in Dtn zwischen der Frau und dem übrigen Eigentum unterschieden, indem für erstere das Verb חמדund für letzteres אוהverwendet wird, während Ex zweimal חמד verwendet. Die Differenzen, welche im rabbinischen Judentum neben dem Doppelversprechen im Elterngebot besonders beachtet wurden, sind die beiden unterschiedlichen Aufforderungen, den Sabbat zu heiligen: Ex beginnt mit »Gedenke des Sabbats«, während Dtn auffordert: »Achte den Sabbat«. Der quantitativ und inhaltlich grösste Unterschied ist die Begründung dieses Ruhetags. Neben seiner Länge sticht auch die unterschiedliche Herleitung des Siebentagerhythmus ins Auge. Die historische Zurückführung der Woche als Abbild oder Nachahmung der Schöpfung in Ex gegenüber der Einführung eines Ruhetags aus sozialer Sensibilisierung durch die am eigenen Leib erfahrene Sklaverei und Befreiung in Dtn. Wie Kapitel 1.2.4 zeigen wird, sind die Unterschiede zwischen den beiden Dekalogfassungen einer der Motoren, welche die wissenschaftliche Dekalogforschung antreibt und zugleich die Grundlage, auf die sich viele Hypothesen stützen. 19 STAMM, Neuere Forschung, 7f. 18 1.2 Die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dekalog 1.2.1 Forschungsfragen, Schwerpunkte und Methoden Im Hinblick auf das Ziel der vorliegenden Untersuchung, die Bedeutung und Rezeption der Zehn Worte im rabbinischen Judentum darzulegen, sind die Ergebnisse der modernen wissenschaftlichen Textforschung am Dekalog von keiner direkten Relevanz. unterschiedlichem Die Kontext Beobachtung ganz jedoch, verschieden dass dieselben verstanden Texte werden in und unterschiedliche Existenzweisen begründen können, fordert zur Erweiterung des Blickfeldes auf.20 Der jeweilige Zugang zum Text zeigt sich jeweils am deutlichsten an den Fragen, die an ihn gestellt werden. Ebenso an den nicht gestellten Fragen. Die Rabbinen verstanden den Text der Tora, auf den sie sich bezogen, als offenbartes Gotteswort und hinterfragten weder seine Entstehung noch seine Autorität. Das Ziel der Bibelwissenschaft hingegen ist es, die Entstehung des untersuchten Textes nachvollziehen, wenn möglich historisch einordnen und seinen Sitz im Leben bestimmen zu können. Während die wissenschaftliche Forschung nach Fakten sucht, schürfen die Rabbinen nach Wahrheit. Da Kontraste die Formen klarer hervortreten lassen, ist das Hauptaugenmerk in diesem Kapitel auf die bibelwissenschaftlichen Fragen gerichtet, um so den Blick für den rabbinischen Zugang zu den Zehn Worten schärfen. Wegen dieses Fokus werden wissenschaftliche Ergebnisse bzw. aktueller Forschungsstand hier nicht in der Ausführlichkeit behandelt, die ihnen in anderem Zusammenhang zustehen würde, und der folgende Forschungsüberblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Behandelt werden die wichtigsten Fragen der wissenschaftlichen Forschung und die Schwerpunkte der rabbinischen Literatur. Ausgehend von den Positionen der Bibelwissenschaft wird jeweils anschliessend der rabbinische Blickwinkel kurz dargelegt. Da der Sinn oder die Auslegung der Einzelgebote des Dekalogs nicht Subjekt der vorliegenden Forschungsarbeit sind, wird im folgenden Forschungsüberblick nicht auf sie eingegangen, obwohl sie einen nicht unwichtigen Teil der Bibelwissenschaft ausmachen. Die wissenschaftliche Dekalogexegese begann zu einer Zeit, als das Objekt der Forschung im Christentum bereits eine wirkungsgeschichtliche "Karriere" hinter sich hatte, wie sie kaum ein anderer alttestamentlicher Text aufweist. Es ist wichtig zu 20 Diese Beobachtung sehen DOHMEN/STEMBERGER (Hermeneutik, 9) als zentrale Frage der alttestamentlichen Hermeneutik. 19 beachten, dass die herausragende Bedeutung des Dekalogs in der christlichen Theologie von Beginn weg ein Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Forschung und nicht erst ihr Ergebnis war. Diese Tatsache beeinflusst die wissenschaftlichen Fragestellungen bis heute. Abgesehen von seiner für einen alttestamentlichen Text beispielslosen Wirkungsgeschichte hat der Fakt der Doppelüberlieferung des Zehnworts die Dekalogforschung wohl am wesentlichsten geprägt. Die meisten Fragen der alttestamentlichen Wissenschaft sind eng mit diesen beiden Themen verknüpft. Nach der Ansicht DOHMENS ist gerade die Tatsache der Doppelüberlieferung der Ausdruck dieser Besonderheit des Dekalogs.21 Die wissenschaftliche Dekalogforschung hat seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert nicht an Spannung verloren. Zu den bearbeiteten Themen gehören die Einteilung des Textes in zehn Gebote und deren Aufteilung auf die zwei Tafeln, das Alter des Dekalogs, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der mosaischen Verfasserschaft, die Unterschiede zwischen den beiden Versionen und die Priorisierung einer Version, seine ursprüngliche Form (Urdekalog) oder seine Vorformen, sein "Sitz im Leben" und seine Rolle innerhalb des Pentateuchs. Die unzähligen Interdependenzen zwischen den verschiedenen Forschungsfragen drängten nach einem fixen Anhaltspunkt wie ein "Urdekalog" und dessen zeitliche Ansetzung. In der Einleitung zu seiner Habilitationsschrift teilt HOSSFELD 1982 die Dekalogexegese in drei Stadien ein:22 Das erste Stadium in der Mitte und zweiten Hälfte des 19. Jh. war durch die Literarkritik geprägt. Der Vergleich der beiden Dekalogfassungen führte zur Annahme eines "Urdekalogs", der durch die identischen Passagen der zwei Versionen teilweise rekonstruierbar sei.23 Im Rahmen dieser vergleichenden Analysen wurde die Version des Zehnworts in Exodus als die ursprünglichere der beiden überlieferten Versionen erkannt.24 Es kommt eine lebhafte Debatte über die mosaische Verfasserschaft des Urdekalogs in Gang. Ebenso wird über die "richtige" Einteilung des Textes in 10 Gebote in diesem ersten Stadium lange gestritten.25 Die erwähnten Auseinandersetzungen führen ab dem 2. Jahrzehnt des 20. Jh. in einer 21 DOHMEN, Logik, 43. HOSSFELD, Dekalog, 14-17. 23 Mit "Urdekalog" ist ein einziger ursprünglicher Text gemeint, von dem die biblischen Versionen abstammen. DILLMANN (Exodus, 201) versteht darunter den Wortlaut, wie er auf den Bundestafeln eingraviert war. 24 Vgl. DILLMANN, Exodus, 200. 25 Vgl. DILLMANN, Exodus, 202. 22 20 Art Gegenreaktion zu einer intensiven Beschäftigung mit der Formkritik des Dekalogs. Sein Ursprung wird mit Hilfe von Form und Gattung gesucht. Der Urdekalog wird nunmehr formkritisch begründet und damit zum Musterexemplar der weiter verbreiteten Reihe von gleichmässig gebauten und metrisch gleich gestalteten Rechtssätzen. Der synoptische Vergleich der beiden biblischen Fassungen tritt in den Hintergrund. Anfangs sechziger Jahre wird das Diktat der Zehnernorm für die Reihung von Prohibitiven (Verboten) durchbrochen und damit auch die Gattung einer Grossreihe von zehn bis zwölf Rechtssätzen in Frage gestellt. Der Dekalog wird in der Folge nicht mehr als Grossreihe der Gattung Rechtssatzreihe betrachtet, sondern als Grossreihe durch Komposition von Kleinreihen und Einzelprohibitiven. Nach all den Jahrzehnten der formkritischen Fragestellungen wurde schliesslich die Hypothese eines Urdekalogs aufgegeben und als verfehlt oder ohne wissenschaftlichen Wert bezeichnet.26 Andere Fragen haben die Verschiebung der Forschungsschwerpunkte überdauert und werden erneut gestellt. Probleme wie: "Wer, in welcher Form, mit welchen Mitteln und Vorgaben hat den oder die Dekaloge erstellt?" waren während ca. 50 Jahren zugunsten der formkritischen Gattungsdiskussion in den Hintergrund getreten.27 Seit diesem dritten Stadium von HOSSFELDS Überblick sind 25 Jahre vergangen. In dieser Zeit erfuhr die Dekalogforschung zwei weitere Schübe. Einen ersten durch das Infragestellen der bis dahin gängigen These der Priorität der Exodusfassung durch HOSSFELD und einen zweiten durch die Neuakzentuierung der Frage nach der Sonderstellung des Dekalogs.28 2001 formuliert GRAUPNER den schmalen Konsens in der Dekalogforschung (Zusammenfassung):29 - Der Dekalog ist formgeschichtlich ein Mischgebilde und trägt ein "deuteronomistisches Sprachkleid". - Der Dekalog als Ganzheit ist ein Spätling (Urdekaloghypothese nicht haltbar). - Über die Intention der Einzelgebote herrscht, von Nuancierungen abgesehen, weithin Einigkeit. 26 Vgl. OTTO, Perspektiven, 127; PERLITT, Dekalog, 411. Vgl. HOSSFELD, Dekalog, 17. 28 Vgl. KONKEL, Sinai, 11f. 29 GRAUPNER, Ethik, 61-66. 27 21 - Die einzelnen Gebotsformulierungen im Dekalog sind durch die Intention der Verallgemeinerung und Ausweitung älterer Prohibitive oder Rechtssätze bestimmt. In so gut wie allen anderen Fragen herrscht Dissens. Die Prioritätsfrage von Ex/Dtn ist noch nicht entschieden. Was die weitere Forschung anbelangt meinen FREVEL/KONKEL/SCHNOCKS im Jahr 2005: "So ist und bleibt die Doppelüberlieferung der beiden Dekaloge in Ex 20 und Dtn 5 ein, wenn nicht das entscheidende Problem der Dekalogforschung."30 Die wissenschaftliche Bibelexegese wurde lange Zeit gleichgesetzt mit der so genannten "historisch-kritischen" Auslegung und durch deren Methoden geprägt. Während Ansätze einer historischen Exegese bereits im christlichen Mittelalter existierten, gewann sie ihre eigentliche Dynamik erst in der europäischen Aufklärung durch die Kritik der damals dogmatischen, buchstäblichen Lektüre der Schrift. Die Methoden, die aus den Fragestellungen der historisch-kritischen Auslegung abgeleitet wurden, haben einen Zugang zu den Texten verschafft, der heute quasi selbst normativ geworden ist. Und gewisse Erklärungsmuster der historischen Kritik haben – zumindest auf Universitäts- und Hochschulebene – selbst dogmatischen Charakter erreicht. Das Hervorbringen immer wieder neuer Hypothesen über die Entstehung und Datierung biblischer Texte, die z.T. kaum miteinander vereinbar sind, deutet auf die Grenzen einer solchen "diachronen", überlieferungsbezogenen Auslegung hin. Vermehrt beginnt man auch, die biblischen Texte "synchron", also in ihrer vorliegenden Endgestalt zu lesen.31 Laut CHILD, dem Promoter des so genannten "canonical approach", gehört zur Endgestalt eines Textes auch seine kanonische Position.32 Die synchrone Exegese ist der Weise, wie die Rabbinen die Bibeltexte lesen und auslegen, wesentlich näher als die historische Lektüre. Die wissenschaftlichen Methoden hierzu stehen aus der Literaturwissenschaft bereit. Allerdings liegt bezüglich der Verfahrensweise synchroner Analyse noch kein konsensusfähiges Modell vor.33 Neben diesen beiden Blickwinkeln auf den Text – den am historischen Werdegang orientierten und den an der vorliegenden literarisch30 FREVEL/KONKEL/SCHNOCKS, Testfall, 7. Beispiele für eine synchrone Fragestellung an den Dekalog sind die Beiträge von Konkel, Dohmen und Schwienhorst-Schönberger in FREVEL/KONKEL/SCHNOCKS, Testfall. 32 Vgl. HOSSFELD, Vergleich, 76. 33 Vgl. KONKEL, Sinai, 15. 31 22 poetischen Gestalt interessierten – gibt es auch noch den Blickwickel oder die Interpretation des Lesers, welche genauso Gegenstand wissenschaftlicher Exegese sein kann. Ausgehend von diesem dreiteiligen Verständnis von Auslegung hätte die vorliegende Untersuchung auch als Exegese des Dekalogs zu gelten, weil sie die Beziehung zwischen alttestamentlichen Texten und ihren Lesern, in diesem Fall den Rabbinen, zum Gegenstand hat.34 1.2.2 Die Einteilung der Gebote Der Bibeltext nimmt keine Nummerierung der Gebote vor. Auch lässt sich die Gebotsreihe weder anhand der Sätze noch anhand der Verse in exakt zehn Gebote unterteilen.35 Eine genaue Festlegung auf zehn Gebote war aber für Lehre und Katechese aus pädagogischen Gründen von Wichtigkeit.36 Da das Zuweisen von Nummern zu Versen oder Versgruppen nur über eine Interpretation des Textes erfolgen kann, war es praktisch unausweichlich, dass eine solche Zählweise der Gebote zu unterschiedlichen Ergebnissen führte. Eine bestimmte Nummerierung der Gebote als richtig oder falsch zu bezeichnen ist aufgrund der fehlenden biblischen Vorgabe nicht haltbar. Während die Unklarheit der Einteilung im 19. Jh. noch Teil des wissenschaftlichen Streits war, ist es heute kein wissenschaftliches Ziel mehr, den Text ins "Korsett" von genau zehn Geboten zu zwängen.37 In Studien zum Dekalog wird bei der Nummerierung gewöhnlich eine der traditionellen Einteilungen gewählt. Ungeachtet der Methoden gibt es vor allem am Anfang und am Ende des Korpus unterschiedliche Zugänge zur Einteilung der einzelnen Worte. SARFATTI bringt die zu klärenden Fragen folgendermassen auf den Punkt (Versangaben Ex/Dtn):38 1. Ist Vers 2/6 »Ich bin der Ewige…« ein eigenständiges Gebot oder nur die Einleitung zu den anderen?39 34 Zu diesen Überlegungen zur Bibelexegese vgl. UTZSCHNEIDER/NITSCHE, Bibelauslegung, 17-21. Die BHS teilt den Dekalog in 16 Verse (Ex 20, 2-17), die hebräische Bibelausgabe von Ginsburg in 13 (Ex 20,2-14). Laut GINSBURG gibt es auch eine Tradition (für die Lesung mit aramäischer Übersetzung), welche die Verse auf die Anzahl Gebote abstimmt, vgl. HIMBAZA, Décalogue, 96f. 36 Vgl. REICKE, Zehn Worte, 8. 37 REICKE (Zehn Worte, 2-8) beispielsweise unterteilt den Textbestand in eine Einleitung plus elf Satzungen. Er nennt seine Einteilung eine exegetische Nummerierung, während er die traditionellen Einteilungen als katechetische Nummerierungen bezeichnet. 38 SARFATTI, Symbol, 408. 39 LENZEN (Ethik, 62) sieht in den unterschiedlichen Wertungen des Eröffnungsverses die 35 23 2. Bilden die Aufforderungen »Du sollst keine anderen Götter…«, »Du sollst dir kein Bildnis…« und »Bete sie nicht an…« (3-6/7-10) eines oder mehrere Gebote? 3. Bilden die beiden letzten Verbote »Du sollst nicht begehren…« (17/21) eines oder zwei Gebote? Da die Einteilungsfragen nicht nur den Schluss, sondern auch den Anfang des Korpus betreffen, hat ihre Beantwortung auch Auswirkungen auf die Nummerierung der dazwischen liegenden Gebote. Das folgende dreiteilige Schema zeigt die Einteilungen, die verschiedene religiöse Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten gemacht oder übernommen haben.40 Der fett gedruckte Titel bezeichnet jeweils die Gruppe, welcher die betreffende Überlieferung als erster zuzuordnen war, die beigeordnete Überschrift in normal breiter Schrift die heutigen Vertretergruppen der jeweiligen Zähltradition: 1) Talmud/Midrasch (rabbinisches Judentum) Judentum 1 Ich bin der Ewige 6 Töten 2 Andere Götter, Bildnis 7 Ehebruch 3 Name Gottes 8 Diebstahl 4 Sabbat 9 Falsches Zeugnis 5 Eltern 10 Begehren Masora: Supralineares Kantillationssystem 2) Philo (hellenistisches Judentum, griechische Kirche) Orthodoxe, Reformierte und Anglikanische Kirche 1 (Ich bin der Ewige), Andere 6 Töten Götter 2 Bildnis 7 Ehebruch 3 Name Gottes 8 Diebstahl 4 Sabbat 9 Falsches Zeugnis 5 Eltern 10 Begehren Masora: Infralineares Kantillationssystem Weichenstellung für das jüdische und das christliche Verständnis des Zehnworts. 40 Das Schema beruht im Wesentlichen auf den Ausführungen von SARFATTI (Symbol, 407-411). 24 3) Augustin (lateinische Theologen) Katholische und lutherische Kirche 1 (Ich bin der Ewige), Andere 6 Ehebruch Götter, Bildnis 2 Name Gottes 7 Diebstahl 3 Sabbat 8 Falsches Zeugnis 4 Eltern 9 Begehren Gut 5 Töten 10 Begehren Frau Masora: Parascheneinteilung Während sich die offizielle Zählweise des Judentums gegenüber der orthodoxen und reformierten Kirche nur bezüglich des 1. und 2. Gebots – beziehungsweise bezüglich der Zuordnung des Fremdgötterverbots zu einem der beiden Gebote – unterscheiden, verschiebt sich bei der augustinischen Zählweise, welche von der katholischen Kirche tradiert wird, durch das Teilen von V. 17/21 in zwei Gebote die Zählung aller früheren Gebote um eine Zahl nach vorne. Um die Zehnzahl zu wahren, werden die Gebote eins und zwei der anderen Zählungen hier zu einem einzigen zusammengefasst.41 In der reformierten Tradition wird also gewissermassen der theozentrische, heilgeschichtliche Anfang verdoppelt, während die katholische und lutherische Tradition die allgemein-ethische und soziale Dimension des Dekalogs verstärkt.42 In Schema 2 und 3 wird der erste Satz des Zehnworts jeweils als Einleitung und nicht als Gebot verstanden. Zu Schema 2 ist ausserdem zu bemerken, dass die Reihenfolge der Gebote 6 und 7, wie sie sich schlussendlich in dieser Zählung durchgesetzt hat, in Textzeugen hellenistischer Herkunft meist umgekehrt ist, so z.B. in der Septuaginta (Dtn)43, im Papyrus Nash und bei Philo.44 Die Spannung zwischen Vers- und Gebotseinteilung spiegelt sich auch in den Intonationszeichen der hebräischen Bibel. Der Dekalog hat sowohl in Ex wie auch in Dtn zwei Kantillationssysteme, was mit Ausnahme von Gen 35,22 sonst für keinen 41 REICKE (Zehn Worte, 8-49) gibt einen sehr ausführlichen Überblick über die verschiedenen Einteilungstraditionen von der Antike bis zur Reformation. 42 Vgl. FRITZSCHE, Dekalog, 418. 43 In Ex hat die LXX die Reihenfolge "Ehebruch-Diebstahl-Mord", die auch nicht derjenigen des MT entspricht. 44 Ebenso in Lk 18,20; Röm 13,9. Nicht aber bei Josephus (Ant III 91f.), der sich an die masoretische Reihenfolge hält. 25 Text der Bibel der Fall ist. Laut BREUER unterteilen die supralinearen, babylonischen Intonationszeichen unterteilen Text in Gebote, während das infralineare, palästinensische Set die einzelnen Verse intoniert.45 Beide Intonierungen wurden in die tiberianische Masora aufgenommen. Die unterschiedliche Intonierung zeigt aber auch, dass die infralineare Intonation erst nach »Du sollst keine anderen Göttern haben neben mir« eine Pause (Etnach) macht, während die supralineare den Vers »Ich bin der Ewige…« als ersten Vers und erstes Gebot betrachtet.46 So kann man sagen, dass die supralineare Intonation die rabbinische, und die infralineare Intonation die hellenistische Unterteilung stützt. Spätere Punktatoren setzten die Intonation so, dass alles, was Gott in der ersten Person sprach, zum ersten Gebot gehört.47 Erstaunlicherweise gibt auch die masoretische Unterteilung des hebräischen Textes in geschlossene und offene Paraschen (Abschnitte) diese Sicht wieder.48 Sie entspricht der augustinischen Einteilung im obigen Schema. Die Unterschiede in den masoretischen Gliederungen zeigen, dass alle drei schematisch dargestellten Zählweisen in irgendeiner Form auch in der jüdischen Tradition vertreten sind.49 Die offizielle jüdische Zählung ist jedoch die rabbinisch tradierte. Im Folgenden werden die Zehn Gebote deshalb gemäss dieser Einteilung gezählt. 1.2.3 Die Bundestafeln Die Bundestafeln gehören nicht mehr zu den häufigen Forschungsthemen der Bibelwissenschaft. Der Grund für ihre Behandlung in diesem Kapitel liegt jedoch in der grossen Aufmerksamkeit, die den Tafeln in der rabbinischen Literatur zuteil wird, wie auch in der grossen Bedeutung, die sie als Symbol für den Dekalog einnehmen. In der Wissenschaft hat die Diskussion über die Beschriftung der Tafeln verschiedene Stadien durchlaufen. Während DILLMANN 1880 den damals zu rekonstruierenden Urdekalog mit dem Text gleichsetzt, wie er auf den Tafeln stand,50 haben die neueren Erklärungsmodelle zur Entstehung des Dekalogs zur 45 BREUER, Dividing, 291. Vgl. BREUER, Dividing, 323. 47 Vgl. BREUER, Dividing, 310. 48 Vgl. SARFATTI, Symbol, 409. Auch REICKE (Zehn Worte, 9) bezeichnet die Unterteilung nach Schema 3 als Einteilung der Masoreten. Die masoretischen Kantillationssysteme hingegen lässt er unerwähnt. 49 Vgl. BREUER, Dividing, 310; REICKE, Zehn Worte, 5. 50 DILLMANN, Exodus, 201. 46 26 Konsensmeinung geführt, dass sowohl die Bezeichnung Zehnzahl als auch die ZweiTafel-Vorstellung gegenüber dem Dekalog sekundär sind.51 Diese Hypothese impliziert, dass vom Sinai selbst nie Tafeln existierten.52 Die wissenschaftliche Diskussion um die ursprüngliche Beschriftung der Bundestafeln ist damit hinfällig geworden.53 Wenn dennoch zuweilen von den Geboten der "ersten" und "zweiten Tafel" gesprochen wird,54 ist damit gewöhnlich die philonische Einteilung (s. unten) gemeint, und zeigt einmal mehr, wie stark die traditionellen, katechetisch motivierten und geprägten Vorstellungen auch in der Bibelwissenschaft noch mitwirken. Die Frage nach dem Motiv der Tafeln überhaupt und ihrer Zweizahl im Besonderen hingegen bleibt bestehen. Gewöhnlich wird der Zweck der Tafeln in Rechtstraditionen der umliegenden antiken Kulturen gesucht. Auf diesen Hintergrund beziehen sich auch die möglichen Erklärungen, warum es mehrere Tafeln waren. Die Hypothesen, wonach es sich um Duplikate handelte, z.B. gemäss der hethitischen Praxis der Vasallenverträge, wo Verträge im Sinne einer Kopie zweifach angefertigt wurden, so dass beide Vertragsparteien ein Exemplar besassen,55 lehnt DOHMEN, der sich vertieft mit dem Tafelmotiv auseinandergesetzt hat, ab, da sie für den biblischen Kontext zu konstruiert wirken.56 Er selbst interpretiert den Begriff ( לחת אבןSteintafeln) in Ex 24,12 und 31,18 in Anlehnung an die assyrische Rechtsterminologie als öffentliche Urkunde und gleichzeitig als Gattungsplural. Die Zweizahl hat seiner Meinung nach nichts mit Rechtsbeurkundung zu tun, sondern liegt in der diachronen Entstehung des Textes begründet und ist eine Interpretation des Autors, welcher לחת אבןnicht als Gattungsplural verstand und demzufolge in der kleinsten Mehrzahl (zwei) wiedergab.57 Über das Tafelmotiv herrscht weiterhin Dissens. In der jüdischen und christlichen Tradition wurde neben der Bestimmung der einzelnen Gebote des Zehnworts immer auch ihre Aufteilung auf die beiden – biblisch erwähnten – Tafeln diskutiert. Die einfachste sich anbietende Verteilung ist 51 Vgl. GRAUPNER, Ethik, 75; CRÜSEMANN, Tora, 72. Vgl. CRÜSEMANN, Tora, 71f. Er vermutet allerdings, dass es derartige Tafeln bis zum Ende des Nordreichs gegeben haben musste und dass solche historisch hinter dem Motiv der steinernen Tafeln der Sinaierzählung stehen. 53 Die Gliederung des Zehnworts in Untergruppen hingegen bleibt verbreitet. 54 So z.B. in GRAUPNER (Ethik, 94) oder im Titel von SCHENKERS Artikel Die Reihenfolge der Gebote auf der zweiten Tafel. 55 Vgl. GRAUPNER, Ethik, 75. 56 DOHMEN, Tafeln, 32ff. 57 Gegen CRÜSEMANN (Tora, 71f.). 52 27 die gleichmässige Aufteilung in je fünf Worte pro Tafel. Diese wird von den Rabbinen bevorzugt und auch von Philo vertreten (Decal 50). Letzterer begründet die symmetrische Aufteilung nicht etwa rechnerisch, sondern gruppiert sie gemäss den darin angesprochenen Beziehungen. Dabei gibt er der ersten Gruppe - die bei ihm auch der ersten Tafel entspricht – ausdrücklich den Vorrang gegenüber der zweiten Tafelhälfte, da sie die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen definiert, während letztere die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen regelt (Decal 121). Das Gebot der Elternehrung gehört bei Philo zur ersten Gruppe, da die Eltern durch die Zeugung von Kindern das Wesen Gottes nachahmen (51): Philo: 1. Tafel: 2. Tafel: Beziehung Gott/Mensch Beziehung Mensch/Mensch 1 Andere Götter 6 Töten 2 Bildnis 7 Ehebruch 3 Name Gottes 8 Diebstahl 4 Sabbat 9 Falsches Zeugnis 5 Eltern 10 Begehren Anders verteilt Augustinus die Zehn Worte auf zwei Tafeln. Er gruppiert die Gesetze in 1-3 und 4-10. Somit ist das – nach seiner Einteilung vierte – Gebot der Elternehrung das erste auf der zweiten Tafel (in Anlehnung an Eph 6,2). Massgebend war für den Kirchenvater bei dieser Einteilung das doppelte Liebesgebot gegenüber Gott (1. Tafel) und dem Mitmenschen (2. Tafel), zu dem es in Mt 22,37-40 heisst: »an diesen zwei Geboten hängen das ganze Gesetz und die Propheten«. Seine erste Tafel symbolisiert ausserdem die Dreieinigkeit durch die ersten drei Gebote seiner Zählung: Augustinus: 1. Tafel: Liebe gegenüber 2. Tafel: Gott; Dreieinigkeit Liebe zum Mitmenschen 1 Andere Götter, Bildnis 4 Eltern 2 Gottes Name 5 Töten 3 Sabbat 6 Ehebruch 7 Diebstahl 8 Falsches Zeugnis 9 Begehren Gut 10 Begehren Frau 28 Eine dritte Aufteilung erfolgte durch Theologen der Ostkirche, die zwar in der hellenistischen Tradition stehen, was die Einteilung in Gebote anbelangt, in der Aufteilung auf Tafeln aber – die Kriterien Philos aufgreifend – den Umbruch zwischen dem 4. und 5. Gebot machen, und das Ehren der Eltern damit – gegen Philo – als zwischenmenschlichen Gottesbeziehung. 58 Akt darstellen und nicht als Abbild der Damit verteilten sie wie später die Reformatoren die Gebote inhaltlich gleich wie Augustinus und Luther. Doch ihre Einteilung zählt auf der ersten Tafel vier und auf der zweiten Tafel sechs Gebote:59 Ostkirche: 1. Tafel: 2. Tafel: Beziehung Gott/Mensch Beziehung Mensch/Mensch 1 Andere Götter 5 Eltern 2 Bildnis 6 Töten 3 Gottes Name 7 Ehebruch 4 Sabbat 8 Diebstahl 9 Falsches Zeugnis 10 Begehren Trotz den Unterschieden in der Aufteilung zeigen die verschiedenen Traditionen in zwei Punkten Übereinstimmung: Alle drei Interpretationen teilen die zehn Gebote auf die Tafeln auf und berücksichtigen dabei (entgegen der bibl. Vorgabe) nur die Vorderseite. Die Aufteilung wird jeweils inhaltlich entschieden, obwohl nicht auszuschliessen ist, dass Philos inhaltliche Erklärung vom Symmetriegedanken geleitet wurde und nicht umgekehrt. Wie Teil 2: 3.6 dieser Arbeit zeigen wird, wurden weder die Tafeln noch ihr zweifaches Vorkommen von den Rabbinen hinterfragt. Wie in der christlichen Wirkungsgeschichte befasste sich auch die frühe jüdische Tradition im Zusammenhang mit den Tafeln mehr mit deren Beschriftung als mit deren Bedeutung. Dass die Zehn Gebote auf den Tafeln standen, ist rabbinischer Konsens. Allerdings gehen die Meinungen auseinander, ob nur das Zehnwort oder die ganze Tora vom Sinai darauf enthalten war. Ebenfalls diskutiert wird die Aufteilung des Textes (in diesem Zusammenhang ist wieder nur vom Dekalog die Rede) auf die zwei Tafeln. Neben der philonischen Einteilung von je fünf Geboten wird auch die Wiederholung von allen zehn Geboten in Betracht gezogen, ebenso die Beschriftung 58 59 Vgl. REICKE, Zehn Worte, 25. Vgl. REICKE, Zehn Worte, 31f. 29 auf der Vor- und auf der Rückseite (letzteres gemäss Ex 32,15). Die Weisen, welche eine Aufteilung der Gebote auf die zwei Tafeln vertreten, begründen ihre Ansicht ebenfalls inhaltlich, aber nach anderen Kriterien als Philo, Kirchenväter und Luther. Sie waren in dieser Beziehung weder von Philo abhängig, noch haben sie die christlichen Traditionen nachweislich beeinflusst. Die Bundestafeln finden in der rabbinischen Schriftauslegung weit grössere Resonanz als in der modernen Bibelexegese und das rabbinische Interesse an ihnen erstreckt sich über Beschriftung, Inhalt und Bundessymbol hinaus. 1.2.4 Der Umgang mit der doppelten Überlieferung Die zweifache Tradierung der Zehn Worte wird gewöhnlich als das Problem der Dekalogforschung bezeichnet.60 Dieses Problem liegt nicht in der Dublette an sich – gibt es doch auch zwei Schöpfungsberichte und drei Ahnfraugeschichten in der Bibel – sondern im Mass der Kongruenz, welche die beiden Texte aufweisen, ohne identisch zu sein.61 Das wahrhaft Auffällige am Dekalog ist eben gerade nicht, dass es Unterschiede gibt, sondern dass die beiden Texte in weiten Teilen wörtlich übereinstimmend sind. Das Problem dieser Spannung zwischen identischen und abweichenden Textteilen bringt PERLITT auf den Punkt: "Es gab in alttestamentlicher Zeit niemals einen Normtext des Dekalogs. Das Verwunderliche ist aber nicht, dass die Varianten entstanden, sondern dass sie ohne Ausgleich kanonisiert wurden."62 Weil die Heiligkeit des Dekalogs ihn eigentlich vor Textveränderungen hätte schützen müssen, fordert HOSSFELD Erklärungen für den scheinbar kleinsten Unterschied.63 Der folgende Abschnitt beleuchtet die exegetischen Schlüsse, die aufgrund der vorliegenden Differenzen gezogen wurden. In einer ersten Phase der Dekalogkritik führte der Vergleich der beiden Dekalogfassungen zur Annahme eines Urdekalogs, einer gemeinsamen Quelle, der ihnen zu Grunde liegt. Der Versuch, die ursprüngliche Gestalt des Dekalogs herauszukristallisieren, blieb während Jahrzehnten ein wichtiges Forschungsziel oder – um es mit PERLITTS Worten auszudrücken – eine der "Pflichtübungen" der Forschung.64 60 Vgl. HOSSFELD, Dekalog, 13; FREVEL/KONKEL/SCHNOCKS, Zehn Worte, 7 (Vorwort). Vgl. HOSSFELD, Dekalog, 13. 62 PERLITT, Dekalog, 410. Vgl. auch HIMBAZA, Décalogue, 2. 63 HOSSFELD, Dekalog, 20. 64 PERLITT, Dekalog, 411. 61 30 Dabei galt es, durch das "Abschälen" des deuteronomistischen Rahmens und durch das Angleichen aller einzelnen Gebote an das Vorbild der kurzen Gebote 6-8 zu einer Rekonstruktion des eigentlichen Kerns zu gelangen.65 Möglicherweise haben Kurzformen des Dekalogs, wie sie zum Beispiel Luther in seinem Katechismus formulierte, die Vorstellung eines schnörkellosen Urdekaloges unbewusst gefördert. Die Rekonstruktion eines Urdekalogs führte jeweils auch zu einer zeitlichen Einordnung der ungleichen Teile des Zehnworts in ältere und jüngere Formulierungen. Der Exodusversion wurde dabei grundsätzlich die altertümlichere, dem Ursprünglichen nähere Version zugedacht und ihre zeitliche Priorität war bis zum Werk HOSSFELDS 1982 wissenschaftlicher Konsens. Durch die Verwerfung der Urdekaloghypothese waren andere Blickwinkel möglich geworden. HOSSFELD zog bei seinen Untersuchungen die Kontexte der beiden Dekaloge stark mit ein und leitete daraus die Priorität der Dtn-Version ab. Er kommt zum Schluss, dass der Dekalog-Grundtext von deuteronomistischen Autoren gestaltet und später zum Zehnwort erweitert wurde. Als bei der Herstellung des Pentateuch das Dtn mit dem Dekalog an die Peripherie gerät, erweist der Pentateuchredaktor dem Dekalog seine Reverenz und setzt ihn nach vorne (Ex 20).66 Ein Grund für diese Hypothese liegt darin, dass Ex 20 nicht wirklich in seinen Kontext passe. Er ist an dieser Stelle als Vorinformation für den Leser zu verstehen.67 Seither ist die Priorität der Dekalogfassungen und damit die Herkunft des Dekalogs umstritten und die Diskussion nach Ansicht HOSSFELDS noch nicht ausgeschöpft.68 Während sich die Unterschiede zwischen den beiden Zehnwortfassungen für die ältere Forschung aus der Konzeption des Deuteronomiums als Rückblick ergaben, liegen neueren Auffassungen zufolge die Dinge komplizierter.69 Jedoch führen auch die heutigen synoptischen Vergleiche der beiden Zehnwortversionen jeweils zu einer Prioritätshypothese. Dabei sind vor allem die semantischen Abweichungen unter den beiden Versionen interessant. Wie die Untersuchungen von HOSSFELD und GRAUPNER zeigen, ergeben sich dennoch gegensätzliche Positionen. GRAUPNER – der die Exoduspriorität unterstützt – sieht z.B. in der Vorrangstellung der Frau im 10. Gebot eine im Laufe der Zeit verbesserte Rechtsstellung der Frau widerspiegelt und 65 Vgl. STAMM, Neuere Forschung, 11. HOSSFELD, Dekalog, 283f. 67 Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Verhältnis, 71. 68 HOSSFELD, Horeb/Sinai, 92. KONKEL (Sinai, 11) gibt einen Überblick, welcher Forscher welche Priorität vertritt. 69 Vgl. GRAUPNER, Sinai/Horeb, 87f. 66 31 im Wechsel von "Lügenzeuge" zu "nichtiger Zeuge" einen Querbezug auf das 3. Gebot ausgeführt.70 HOSSFELD dagegen warnt vor der Annahme einer linearen Entwicklung in Sachen Stellung der Frau71 und interpretiert den Wechsel von "nichtiger Zeuge" zu "Lügenzeuge" als Abgrenzung der beiden Gebote voneinander.72 Die Diskussionen zwischen GRAUPNER und HOSSFELD machen deutlich, wie abhängig solche Erklärungen von Entstehungs- und Prioritätsfragen sind. Diese Komplexität der Abhängigkeiten zwischen synoptischem Vergleich, Literar- und Redaktionskritik liegt nach HOSSFELD daran, dass man mit der Forschung des Dekalogs das "Herz des Pentateuchs" abhorcht.73 Doppelüberlieferung und Unterschiede zwischen den beiden Fassungen machen eine grosse Gemeinsamkeit von bibelwissenschaftlicher und rabbinischer Exegese deutlich: das Auslegungspotential gründet in beiden Traditionen auf der inhaltlichen und formalen Inkongruenz des Textes.74 Während in der Prioritätsfrage die ältere Forschung gemeinsam mit den Rabbinen die Dtn-Version wie im biblischen Text konzipiert als zweite Fassung betrachtet, sind die exegetischen Schlüsse sonst kaum vergleichbar. Auch die neuere Hypothese HOSSFELDS vom deuteronomischen Dekalog als ältere Fassung beruft sich auf den Kontext, stützt sich aber nicht auf die biblische Begründung der mündlichen Wiederholung, sondern auf die redaktionelle und kompositionelle Einbindung. Die doppelte Überlieferung deuten die Rabbinen auch dahin, dass die Ex-Version auf den ersten, von Moses zerbrochenen Tafeln gestanden hatte, währen das Dtn die Version auf den zweiten Tafeln wiedergibt. Die Unterschiede in den beiden Fassungen bleiben aber auch für sie erklärungsbedürftig. Während die Wissenschaft die Unterschiede zum einen auf die Entstehung der Reihe aus verschiedenen Teilstücken, zum andern auf veränderte Wert- und Glaubensvorstellungen und stilistische Verbesserungen des Redaktors zurückführt, sehen die Rabbinen darin einerseits das Wunder von Gottes Stimme, deren inhaltliche Fülle wie beim Imperativ des Sabbatgebots nicht in einem einzigen menschlichen Ausdruck wiedergegeben werden kann, sondern deren zwei bedarf. Andererseits soll das Verb =( יטבgut gehen) auf den ersten Tafeln mit Absicht nicht schriftlich eingegraben worden sein, damit das Gute bei der Zerstörung der Tafeln 70 GRAUPNER, Sinai/Horeb, 89. Vgl. dazu auch LENZEN, Ethik, 63. 72 HOSSFELD, Vergleich, 113.101ff. 73 HOSSFELD, Vergleich, 117. 74 Vgl. OBERHÄNSLI-WIDMER, Hiob, 20. 71 32 nicht verloren gehe. Laut Rabbinen haben die zwei Fassungen ergänzenden und erklärenden Charakter, laut Bibelwissenschaft entstehungsbedingten und theologischen Hintergrund. Die Rabbinen betonen die Vollständigkeit und die göttliche Vorsehung, die Wissenschaft die Veränderung und die inhaltliche Entwicklung. Beide gehen jedoch davon aus, dass die Unterschiede beabsichtigt sind. Ein ähnliches Problem stellt sich auch mit dem Personenwechsel von erster zu zweiter Person zwischen 2. und 3. Gebot, sowie dem nicht vorhandenen Gottesbezug in den Geboten sechs bis zehn. Die Bibelwissenschaft erklärt beide durch die Komposition des Dekalogs als Mischgebilde aus Schichtungen mit verschiedenen Redaktoren.75 Die Rabbinen stellen beim Personenwechsel die Frage, ob Gott möglicherweise bereits nach dem zweiten Gebot von den Israeliten unterbrochen wurde und Moses die Worte drei bis zehn übermitteln musste.76 Den Gottesbezug in der zweiten Hälfte vermissen sie ebenfalls und deuten ihn als Schutz des Gottesnamens, da diese Gebote auch von nichtjüdischen Völkern als verbindlich betrachtet werden, die den Namen Gottes darin in den Schmutz ziehen würden.77 Die Doppelüberlieferung ist Ausgangspunkt und Antrieb der alttestamentlichen Forschung am Dekalog. Er ist bildlich gesprochen ihr Zünder. In dieser Rolle findet ihr Unterschied zur rabbinischen Exegese wohl seinen deutlichsten Ausdruck. Einige Exegeten sehen in der zweifachen Tradierung den Hinweis auf die Besonderheit des Zehnworts, mit der sich das folgende Kapitel befasst.78 1.2.5 Besonderheit und Rang des Dekalogs In der heutigen Diskussion über das Zehnwort muss diesem Text aus dem Pentateuch allein wegen seiner weltweit einzigartigen Wirkungsgeschichte ein Sonderstatus zugesprochen werden. Seine Rolle als Zusammenfassung des Gesetzes gilt spätestens seit Luthers Katechismus im Christentum als Axiom. Auch der Beichtspiegel entlang des Zehnworts zeugt von dessen Bedeutung als Summe des Gesetzes, unter das sich alle geltenden Regeln bzw. alle möglichen Vergehen subsumieren lassen. Sein Einfluss auf abendländische Gesetzgebungen ist unbestritten. Was macht denn aber die Besonderheit des Zehnworts aus, so dass es in diese Stellung gelangen konnte? 75 Vgl. z.B. HOSSFELD, Dekalog, 240-243. Vgl. Teil 2: 3.3.1. 77 Vgl. S. 109f. 78 So z.B. DOHMEN (Logik, 43) und GRAUPNER (Sinai/Horeb, 85). 76 33 Worin besteht seine Einzigartigkeit? Ist es eine Zusammenfassung des göttlichen Willens? Möglicherweise hat diese über lange Zeit undiskutierte Position der Zehn Worte vom Sinai in der christlichen Theologie dazu geführt, dass der Rang des Dekalogs in der Bibelwissenschaft bis anhin nur marginal behandelt wurde. Zu Unrecht, denn gerade im Christentum, welches die Gültigkeit des alttestamentlichen Gesetzes seit Christus unter Ausnahme des Zehnworts für nichtig erklärt, ist die Frage nach dem Verhältnis dieser Zehn Worte zum übrigen Gesetz des Alten Testaments zu beantworten. Oder theologisch formuliert: Benutzt das Christentum zu Recht nur das Zehnwort?79 Die Bibel selbst hebt die Passagen von Ex 20,2-17 und Dtn 5, 6-21 inhaltlich nicht hervor. Sie stehen jedoch beide am Anfang der Sinai- bzw. Horebtheophanie und werden beide im unmittelbaren Kontext als Worte ( )דבריםdes Ewigen bezeichnet, im Unterschied zu den nachfolgend durch Mose übermittelten Gesetzen, Geboten und Rechten ( משפתים, חקים,)מצות. Dies entspricht der an anderen Stellen verwendeten biblischen Bezeichnung des Zehnworts עשרת הדברים. Während Exodus die optischen und akustischen Begleiterscheinungen der Offenbarung betont (20,18), geht aus dem Kontext in Deuteronomium deutlich hervor, dass das Volk diesen Teil der Offenbarung von Gott direkt hörte, alles weitere jedoch nur noch durch die Übermittlung des Mose (5,4.22).80 Neben der Position im Offenbarungskontext und dem Verkündigungsmodus heben auch die Doppelüberlieferung, die Verschriftung auf Steintafeln und die Zusammenfassung als (Zehner-)Reihe das Zehnwort vom übrigen Gesetz und weiteren biblischen Texten ab. Damit liefert uns die Schrift einige Hinweise für eine besondere Stellung der Zehn Worte innerhalb des Gesetzes. Sie bezieht sich dabei aber nie auf den Inhalt dieser Worte. Erstaunlicherweise wird das Zehnwort ausser im unmittelbaren Kontext seiner Verkündigung in der Bibel nicht mehr erwähnt. Der direkte Verkündigungsmodus ohne die Vermittlung des Mose wird in der frühjüdischen Literatur als eine Besonderheit betrachtet, die nur dem Zehnwort zuteil geworden ist und ihm eine besondere Stellung verleiht.81 Diese Ansicht gilt auch in der Bibelwissenschaft als Konsens. Allerdings ist dabei zu beachten, dass es laut 79 Vgl. LOHFINK, Unterschied, 208; CRÜSEMANN, Tora, 408. DOHMEN (Logik, 52.54) nimmt auf Grund der Kontextanalyse an, dass die Israeliten am Sinai (Ex) nur die Stimme Gottes wahrnahmen, nicht aber die Bedeutung des Gesprochenen. Am Horeb (Dtn) wurde ihnen das Zehnwort dann zum ersten Mal mündlich von Mose verkündet. 81 Philo, Decal 18; Josephus, Ant III 89ff; Rabbinische Literatur vgl. Teil 2: 3.3.1. 80 34 biblischem Text nicht Gottes Absicht war, dem Volk nur die Zehn Worte eigens zu verkünden. Es war das Volk, welches seine Offenbarungsweise nicht ertrug und um mosaische Vermittlung bat (Ex 20,19; Dtn 5,23ff). Eine inhaltliche Sonderstellung des Zehnworts gegenüber den folgenden Gesetzen darf deshalb aus dem Modus der Verkündigung nicht abgeleitet werden. Was den Inhalt betrifft, kann jedes der Zehn Gebote - mit Ausnahme des letzten mehr oder weniger gleich ausgedrückt auch andernorts im Pentateuch gefunden werden.82 Das so genannte Bundesbuch beispielsweise nimmt die meisten Themen aus dem Zehnwort nochmals auf, ebenso der auf den Dekalog folgende deuteronomische Gesetzeskodex. So lehnen es heute die meisten Forscher ab, die überragende Sonderrolle des Zehnworts gegenüber dem Rest der Tora auf dessen Inhalt zurückzuführen.83 So konzentriert man sich in der Bibelwissenschaft vermehrt auf den Kontext des Dekalogs, als der mitunter nicht mehr nur Ex und Dtn, sondern der Pentateuch als Gesamtes betrachtet wird. Die Frage nach der Stellung des Dekalogs in seinem Kontext und nach seinem Verhältnis zum übrigen Gesetz hat in den letzten Jahrzehnten einen Schub erlebt. Die Interdependenzen zwischen Zehnwort und Rechtskorpora wie Bundesbuch, Privilegrecht (Ex 34), Deuteronomium und Heiligkeitsgesetz, spielen dabei eine grosse Rolle in der Forschung.84 Häufig wird dabei im Aufbau der Einzelgesetze eine "Dekalogstruktur" vermutet und gefunden.85 Genauso setzten auch die Rabbinen Lev 19 in Zusammenhang zum Dekalog (WaR 24,5). Ein Konsens in der Frage des Verhältnisses von Zehnwort zu übrigem Gesetz ist nicht in Sicht. Einig ist man sich nur über die Ansicht, dass zwischen Dekalog und Einzelgesetzen ein Zusammenhang besteht. Versuchte Differenzierungsmodelle wie WESTERMANNS Unterscheidung von "Gebot" (Dekalog) und "Gesetz" (übriges Gesetz) oder LOHFINKS Einteilung in "Unwandelbares" (Dekalog) und "Wandelbares" (übriges Gesetz) im Gotteswillen bieten vieldiskutierte Ansätze.86 Allerdings 82 bleibt umstritten, ob ihre Eine Auflistung von Parallelstellen macht WEINFELD (Uniqueness, 1f.). Am vehementesten wohl CRÜSEMANN (Tora, 413): "Die zählebigen Versuche, den Dekalog inhaltlich vom Rest abzuheben und allein zur Basis christlicher Ethik zu machen, haben das Christentum von der Tora Israels abgeschnitten. Sie sind exegetisch nicht haltbar und theologisch nicht fortzusetzen." Vgl. auch WEINFELD, Uniqueness, 1-3; FREVEL, Grundgesetz, 17. 84 Vgl. HOSSFELD, Dekalog, 13. 85 Zu Ex 34 vgl. STAMM, Dekalogforschung, 220f. und DOHMEN, Dekaloganfang, 176-178; zu Lev 19 vgl. WEINFELD, Uniqueness, 11-14; zu Dtn vgl. BRAULIK, Deuteronomische Gesetze, 15f. sowie FREVEL, Grundgesetz, 17.23. 86 WESTERMANN, Theologie, 154-162; LOHFINK, Unterschied, 236. Vgl. dazu auch ALTS These vom apodiktischen und kasuistischen Recht, dargelegt in ALT, Ursprünge. 83 35 Erklärungsversuche nicht eher als Rückprojizierung denn als Herleitung zu interpretieren sind. CRÜSEMANN verwirft sie als moderne Variante der uralten christlichen Isolierung und Universalisierung des Dekalogs.87 LOHFINKS Betrachtung des deuteronomischen Kodex als Auslegung des Zehnworts ist schon bei Luther zu finden.88 Es scheint, dass auch die Redaktoren des Pentateuchs das Zehnwort so platzierten, dass Bundesbuch und deuteronomisches Gesetz als Konkretisierung des im Dekalog ausgedrückten Gotteswillens gelesen werden können. Werden die verschiedenen Rechtskorpora des Pentateuchs jedoch als Auslegung des Dekalogs bezeichnet, ist damit auch schon impliziert, dass das Zehnwort das übrige Gesetz auf irgendeine Weise zusammenfasst. Solche oder ähnliche Folgerungen werden heute mit Vorsicht geäussert. LOHFINK ist zwar der Meinung, dass das Zehnwort das Gesetz zusammenfassen kann, räumt aber gleichzeitig ein, dass es auch anders zusammengefasst werden kann.89 Andere bestreiten einen Anspruch des Zehnworts, Zusammenfassung oder Essenz der Tora sein zu wollen oder Israels höchste moralische Errungenschaft zu sein, weil viele zentrale und allgemeine Themen darin fehlen.90 Während Augustin und viele nach ihm den Dekalog als Verkörperung des "Naturgesetzes" betrachteten, wird in der heutigen Forschung eher der Begriff "Grundgesetz" verwendet, und auch dieser nur mehr mit erklärender Vorsicht wie z.B. bei FREVEL: "Der Dekalog ist keine Zusammenfassung der Ethik des Alten Testamentes, kein Grundgesetz im umfassenden Sinne, das würde die Metapher vom "Grundgesetz" überstrapazieren".91 GRAUPNER bringt die Brisanz der Diskussion auf den Punkt: Die Frage nach dem Rang des Dekalogs als summa des Gotteswillens hat erhebliche Bedeutung weit über die Grenzen der Disziplin hinaus. Sie betrifft die Frage nach dem Zusammenhang beider Testamente ebenso wie die Stellung des Dekalogs in der kirchlichen Unterweisung und seine Bedeutung für den ethischen Diskurs der Gegenwart.92 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Sonderstellung des Zehnworts aufgrund seines Verkündigungsmodus unumstritten ist. Dass der Dekalog sich inhaltlich vom übrigen Gesetz abhebt, steht ebenfalls nicht mehr zur Diskussion. Einigkeit herrscht 87 Vgl. CRÜSEMANN, Tora, 408-413. Vgl. RÜTERSWÖRDEN, Dekalogstruktur, 111. 89 LOHFINK, Unterschied, 238. 90 So CRÜSEMANN (Tora, 409) und WEINFELD (Uniqueness, 11). 91 FREVEL, Grundgesetz, 17. 92 GRAUPNER, Ethik, 66. 88 36 heute darüber, dass die Frage nach dem Rang des Dekalogs nur im Zusammenhang mit seinem Kontext zu beantworten ist. Die meisten Gelehrten vertreten die Meinung einer kanonischen Sonderstellung des Zehnworts und sehen eine Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Rechtskorpora innerhalb des Pentateuchs. Die Bewertung dieser Abhängigkeit und ihre Gewichtung fallen hingegen sehr unterschiedlich aus. So ist denn gemäss GROSS das Verständnis dieser Beziehung zwischen Zehnwort und den übrigen vom Ewigen erlassenen Geboten ein noch weit entferntes Ziel der Forschung. In ihrer Konsequenz führt die Frage zu einer Auseinandersetzung mit der theologischen und lebenspraktischen Bedeutung der Tora Israels insgesamt für die Christen, was wiederum zu einem Paradigmenwechsel in der christlichen Beurteilung des alttestamentlichen Gesetzes führen wird.93 Der Frage, ob das Christentum zu Recht nur den Dekalog verwendet, wird zurzeit vor allem auf zwei Arten nachgegangen wird: Auf der einen Seite durch die Suche nach einer Rechtfertigung dieser These in der Bibel, andererseits durch die vertiefte Beschäftigung mit der Stellung des Dekalogs in seinem Kontext. Dabei ist festzuhalten, dass die dem Zehnwort über Jahrhunderte eigen gewordene Sonderstellung94 nicht mehr als biblisches Axiom, sondern wieder als Interpretation gedacht werden muss. Sie ist damit von einem Ausgangspunkt der alttestamentlichen Forschung wieder zu einer zu belegenden Forschungshypothese geworden. Da der Inhalt des Dekalogs im Laufe der katechetischen Überlieferung stark verkürzt und damit auch verändert worden ist,95 wäre eine weitere zu prüfende Hypothese, ob der christliche Triumphzug des Dekalogs als Grundgesetz und Zusammenfassung der Tora erst durch diese Reduzierung und Verallgemeinerung des Inhalts möglich geworden ist. 1.2.6 Der Geltungsbereich des Zehnworts Eng mit der Frage nach dem Rang des Dekalogs ist auch die Frage nach seinem Geltungsbereich verbunden. Die Adressaten des Zehnworts sind laut biblischem Text die aus Ägypten befreiten Israeliten und ihre Nachkommen. Einige moderne Exegeten schlagen aufgrund der noch nicht abschliessend beantworteten Frage nach 93 GROSS, Wandelbares Gesetz, 166.169. CRÜSEMANN (Tora, 413) bezeichnet die bisherige Sonderstellung in der christlichen Ethik als exegetischen Irrweg. 95 Bereits Augustinus liess Begründungen, Mahnungen und Verheissungen aus dem Dekalogtext weg und Luther setzte diese Praxis fort, vgl. auch S. 63f. 94 37 Alter und "Sitz im Leben" des Dekalogs auch andere Erstadressaten vor, wie zum Beispiel freie Grundbesitzer96 oder konservative, alte Herren einer städtischen Elite97. Eine Mehrheit betont jedoch die unterschiedslose Gültigkeit für die Israeliten aller sozialen Gruppen. WEINFELD nennt den Dekalog sogar einen "kategorischen Imperativ", weil universell, zeitlos und umstandsunabhängig - allerdings nur in Bezug auf das jüdische Volk. Er sieht in ihm eine Art "israelitischen Katechismus".98 Neben der traditionellen christlichen Rezeption, dass vom ganzen Gesetz nur der Dekalog über Landes und Zeitgrenzen hinaus seine Gültigkeit bewahre,99 lehnt DOHMEN die inhaltliche Bestimmung der Zehn Worte als allgemeines Menschenrechtsdokument ab, da sie die Gebote der so genannten ersten Tafel vernachlässige. Er verweist auch auf die Untrennbarkeit zwischen Geltungsgrund (göttliche Autorität) und Geltungsbereich (befreites Israel). Dieses Verständnis unterstützt die von den Rabbinen immer wieder betonte Tatsache, dass die Akzeptanz der Zehn Worte freiwillig zu erfolgen hat und deshalb auch nicht vorausgesetzt werden kann.100 Zwar thematisieren die Rabbinen den Geltungsbereich des Zehnworts nicht als solchen, sehen aber alle Völker der Welt als potentielle Offenbarungsempfänger und erklären die Offenbarung im Niemandsland als Vorbeugung einer Beschränkung ihrer Gültigkeit auf das Land Israel allein.101 Trotz markanten Unterschieden in der Interpretation wird in der modernen Wissenschaft die Gültigkeit des Zehnworts über Sinai und Moses hinaus bestätigt.102 Gleichzeitig wird betont, dass sein volles Potential nur erkannt werden kann, wenn er in ungekürzter Fassung und inmitten seines Kontextes belassen wird.103 96 Vgl. CRÜSEMANN, Bewahrung, 32f. Vgl. CLINES, Reading, 101-105. 98 WEINFELD, Uniqueness, 8.20. 99 So vertreten z.B. von LOHFINK, Unterschied, 229. 100 Vgl. Teil 2: 3.4. 101 Vgl. Teil 2: 3.4.3. 102 Dagegen steht RÖTHLISBERGERS (Kirche, 113) Ansicht, dass der Dekalog nur schwerlich mit der Atmosphäre des Neuen Testaments vereinbar sei. 103 Vgl. FREVEL, Grundgesetz, 23. 97 38 1.3 Rezeptionen des Dekalogs im Alten Testament Der Dekalog wird ausserhalb des Pentateuchs nur indirekt als Bundestafeln noch zweimal erwähnt (1Reg 8,9; 2Chr 5,10). Auf seine Rezeption in den Rechtskorpora des Pentateuchs wurde bereits weiter oben eingegangen. Da eine Rezeption des Zehnworts in Propheten und Schriften nur in Abhängigkeit von seiner Datierung untersuchbar, diese aber noch immer umstritten ist,104 sei hier nur überblicksweise auf von den Exegeten thematisierte Stellen in diesen beiden Teilen der Bibel hingewiesen. Aus den Propheten werden folgende Texte mit dem Dekalog in Zusammenhang gebracht: In erster Linie Hos 4,2; 12,10; 13,4 und Jer 7,9, dann seltener auch Amos 3,1-2 und Sach 5,3f.105 Die Texte aus Hos 4,2 und Jer 7,9 erwähnen die Gebote sechs bis neun, letzterer auch noch das zweite Gebot. Allerdings lässt sich daraus nicht auf den Dekalog als Vorlage oder Referenz schliessen, da sich die Propheten nirgends auf den ganzen Dekalog berufen und die einzelnen Gebote wahrscheinlich schon vor und unabhängig vom Dekalog existierten.106 Ob Hos 12,10 und 13,4 Echos des Ersten Gebots sind, bleibt laut WEISS die Aufgabe weiterer Studien. Gleichzeitig hält er es für wahrscheinlich, dass von Amos 3,1-2 zumindest der zweite Halbvers ein Zitat des Dekalogs ist, in der Form, wie er Amos und seiner Zuhörerschaft bekannt war: »...über den ganzen Stamm [wörtl: alle Familien], die ich aus Ägypten herausgeführt habe.« Sein Fazit lautet, dass in der prophetischen Literatur nur leichte und z.T. unklare Spuren des Dekalogs zu finden sind und dass sie auf die erwähnten Stellen in nur drei Büchern begrenzt sind.107 Was Sach 5,3f betrifft, ist der Befund nicht anders. Er enthält einen Fluch über Diebe und Meineidige, was von Einzelnen als Zusammenfassung des Zehnworts zu deuten versucht wurde, was wiederum von DELKURT hinreichend widerlegt wurde.108 Aus den Schriften erinnern Ps 50,7b אלהים אלהיך אנכיund Ps 81,11a אנכי יהוה אלהיך המעלך מארץ מצריםbeinahe wörtlich ans erste der Zehn Worte. Beide Kontexte widerspiegeln religiöse Festlichkeiten im Zusammenhang mit der Proklamation von Gott als Gesetzgeber, so dass hier die Anspielung auf den Dekalog deutlicher 104 Zur Datierung des Dekalogs bis 1960 vgl. STAMM, Dekalogforschung, 226-234. Heute wird er allgemein relativ spät, d.h. meist im 6. Jh. v. Chr. angesetzt, vgl. HOSSFELD, Stand, 57. 105 Vgl. GREENBERG, Decalogue, 524; SÄNGER, Tora, 100f. 106 Vgl. VEIJOLA, Dekalog bei Luther, 67; HOSSFELD, Dekalog, 276-278. 107 WEISS, Decalogue, 72.75.81. 108 DELKURT, Zusammenfassung, 193-205. 39 scheint, besonders da in Ps 50 Gott im Feuer erscheint wie am Sinai und im Verlauf beider Psalmen noch weitere Worte des Dekalogs erwähnt werden: Diebstahl, Ehebruch und Falschzeugnis in Ps 50,18-20 und Fremdgötterverbot in Ps 81,10.109 Während HOSSFELD von einem eigentümlichen "Dekalogschweigen" bei den Schriftpropheten spricht, bemerkt auch PERLITT: "…es bleibt erstaunlich, dass sich in der nachdeuteronomistischen Literatur des Alten Testaments keine Spuren des Dekalogs finden. Wo in späten Psalmen (1; 19B; 119) der Schatz der tôra gepriesen wird, ist kaum speziell der Dekalog im Blick."110 Im Wissen darum, dass die Verortung des Dekalogs in der alttestamentlichen Textwerdung noch nicht abgeschlossen ist, fasst HOSSFELD den diesbezüglichen Stand der Dekalogforschung im Jahr 2004 folgendermassen zusammen: Allgemein wird der Dekalog relativ spät, d.h. meist im 6. Jh. v. Chr. angesetzt. […] Im rechtsinternen Vergleich der Gesetzeskorpora werden ihm meist die älteren Rechtskorpora des Bundesbuches, und des Privilegrechtes (Ex 34) sowie des dtn. Kerngesetzes (Dtn 12-26) vorgeordnet; […] Die überlieferungsgeschichtlichen Beziehungen zur Prophetie (Hos 4,2; Jer 7,9; Mich 2,2) oder zu den Psalmen (Ps 50 und 81) hängen von der zeitlichen Ansetzung besagter Stellen ab. Die Bezüge zum Dekalog innerhalb der priesterlichen Literatur (vornehmlich Ps und H) werden als Reflexe des Dekalogs zeitlich nachgeordnet.111 109 Vgl. WEINFELD, Uniqueness, 21-27. HOSSFELD, Vergleich, 75; PERLITT, Dekalog, 412. 111 HOSSFELD, Stand, 57f. 110 40 2 Das Zehnwort in nichtrabbinischen Quellen des Frühjudentums Zwischen der biblischen Dekalogfassung und seiner Auslegung durch die Rabbinen liegen mehrere Jahrhunderte. Über die Wirkungsgeschichte des Dekalogs in dieser Zeit ist wenig bekannt. Erst gegen Ende des Zweiten Tempels tritt das Zehnwort in einigen archäologischen und literarischen Zeugnissen zu Tage. Als nichtrabbinische Quellen sind sie für die vorliegende Untersuchung als vorläuferische oder zeitgenössische Texte aus der Umwelt der Rabbinen von Interesse. Während Papyrus Nash und die Funde von Qumran weiter unten im Kapitel über die Liturgie besprochen werden, sollen hier drei Gruppierungen, bzw. Strömungen rund ums 1. Jh. n. Chr. betrachtet werden, bei denen der Dekalog nachweisbar eine Rolle spielte. Was die Samaritaner anbelangt, sind ihr vom masoretischen Text abweichender Dekalogtext sowie die einzigartige Verwendung von steinernen Dekaloginschriften Anlass für eine nähere Betrachtung. Während Philo Judäus und Josephus Flavius als Vertreter des hellenistischen Judentums als einzige antike Autoren den Dekalog als Ganzes erwähnen und kommentieren, sind die Schriften des frühen Christentums in erster Linie wegen der herausragenden Betonung des Dekalogs in der späteren christlichen Wirkungsgeschichte als ihr zugrunde liegende Schriften interessant. Um Vergleiche und Kontrastierungen mit der rabbinischen Rezeption zu ermöglichen, frage ich in der Besprechung dieser Texte ebenfalls nach der Stellung, die das Zehnwort in der jeweiligen Gruppierung oder Strömung einnimmt. Schliesslich soll dabei auch auf Anzeichen geachtet werden, die dem rabbinischen Gesetzesverständnis in solcher Weise entgegenstanden, dass sie den Liturgieausschluss des Dekalogs provoziert haben könnten. Im Kapitel über den Ausschluss des Dekalogs aus der Liturgie werden die Erkenntnisse aus diesem Kapitel darum nochmals thematisiert. 41 2.1 Bei den Samaritanern Die Herkunft des samaritanischen Volkes ist noch immer umstritten.112 Sein Ursprung wurde bis ins letzte Viertel des 20. Jh. kaum ernsthaft thematisiert.113 Die zentrale Frage dreht sich um die Tatsache, dass die Samaritaner zwar eine jüdischmonotheistische Religion haben, aber trotzdem keine Juden sind. Die Forschung diskutiert drei mögliche Abstammungslinien des samaritanischen Volkes: 1. Heidenkolonisten, 2. Nordreich-Israeliten 3. Südreich-Dissidenten.114 Die dritte These ist die modernste,115 doch für die vorliegende Untersuchung sind v.a. die ersten zwei relevant, weil sich die erste Theorie mit der Ansicht der Rabbinen und die zweite mit derjenigen der Samaritaner deckt. Als biblischer Hintergrund für die rabbinische Sicht, dass die Samaritaner Heiden sind, diente das Geschichtsverständnis von 2Reg 17.116 Entsprechend ihrer geschichtlichen Sicht nennen die Rabbinen die Samaritaner denn auch konsequent ( כותיםkutim), also "Kuthäer/Leute aus Kuta" und drücken damit aus, dass die Samaritaner in ihren Augen ein heidnisches Kolonistenvolk sind.117 Gemäss eigenem Geschichtsverständnis stammen die Samaritaner von den Nachkommen der nichtdeportierten Nordreich-Israeliten ab, die ihre Religion rein bewahrten und bei der Rückkehr der Judäer von Babel immer noch im Land ansässig waren. Sie betrachten sich als echte Abkommen der Zehn Stämme Israels.118 Als heilige Schrift anerkennen sie nur die Fünf Bücher Mose, nicht aber Propheten und Schriften. Als Kultorte dienten ihnen der Berg Garizim und Jerusalem. Die eigentliche Trennung oder der Bruch zwischen Juden und Samaritanern und die Monopolisierung des Garizim-Kultes bei den Samaritanern sind schwer zu datieren und stark an die Ursprungsdiskussion geknüpft.119 Mit der Schleifung des Tempels auf dem Garizim 112 Der Name shomronim bedeutet nichts anderes als Einwohner Samarias (hebr. shomron), also "Samarier" oder "Samaritaner". Seine Verwendung für die Gemeinschaft der Garizim-Anhänger ist in der Antike zuerst bei Josephus (z.B. Ant XII 156.257-264) und im Neuen Testament (v.a. Joh 4) nachzuweisen. 113 Vgl. DEXINGER, Ursprung, 69. 114 Vgl. DEXINGER, ebenda. 115 Vertreten z.B. durch KIPPENBERG (Garizim). Vgl. auch BÖHM, Samaritaner, 27ff. 116 Etwa bQid 75b. Ebenso bei Josephus, Ant IX 290-291. 117 Desgleichen Josephus, Ant IX 288-291. 118 Sie nennen sich selbst ( שמריםshamrayin) von " = שמרhüten, beobachten": die wahren Hüter des göttlichen Gesetzes. Vgl. BÖHM, Samaritaner, 33. 119 Während manche mit einer Trennung schon im 5. Jh. v. Chr. rechnen (u.a. aufgrund archäologischer Hinweise, vgl. KÖCKERT, Zehn Gebote, 85), datieren andere den Bruch in die persische Periode, im Zusammenhang mit den Rückkehrern aus dem Babylonischen Exil, die für sich und Jerusalem einen Ausschliesslichkeitsstatus beanspruchten. Wer nicht im Exil war, lief Gefahr, nicht mehr als richtiger Israelit angesehen zu werden. Dies mussten die Juden von Elephantine 42 129/128 v. Chr. zeigte der Ethnarch und Hohepriester Johannes Hyrkanos unmissverständlich, dass er die Samaritaner als eine vom Judentum getrennte Sekte betrachtete.120 Das samaritanische Selbstverständnis jedoch war und blieb von der Überzeugung geprägt, dass sie das wahre Volk Israel sind.121 Die Funde von samaritanischen Steininschriften, die den Dekalog abbilden, zeigen eine samaritanische Verwendung des Dekalogs, die im Frühjudentum analogielos bleibt.122 Der Zweck dieser steinernen Dekalogtafeln scheint derselbe zu sein, den eine Mezuza erfüllt: Das Erinnern an die Gebote Gottes. Im Samaritanischen Pentateuch (SP) sind die beiden Dekalogfassungen in Ex und Dtn einander vollständig angeglichen worden. Die Angleichung deutet laut BERGER auf eine besondere Rolle des Dekalogs bei den Samaritanern hin.123 Diese Annahme wird weiter unterstützt durch die Zusätze, die der samaritanische Dekalog im Vergleich zum jüdischen (masoretischen) Text zeigt. Der bemerkenswerteste Unterschied an der samaritanischen Version ist das Garizimgebot in Ex 20,17 (SP), welches das letzte Gebot des Dekalogs darstellt und das im masoretischen Text des Zehnworts nicht vorkommt.124 Die samaritanischen Interpolationen sind nicht freie Erweiterungen, sondern Teile von Bibeltexten. Im Falle des Garizimgebotes besteht der Zusatz in der Hauptsache aus Dtn 27, 2-7 sowie drei weiteren Versteilen aus Ex und Dtn.125 Dtn 27, 2-5 ist in unserem Zusammenhang besonders interessant: 2 An dem Tag, wenn ihr über den Jordan zieht in das Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, sollst du grosse Steine aufrichten, sie mit Kalk bestreichen 3und alle Worte dieser Weisung (torah) darauf schreiben […]. 4Wenn ihr über den Jordan zieht, sollt ihr diese erfahren, die den Jerusalemer Hohepriester im letzten Jahrzehnt des 5. Jh. vergeblich um Erlaubnis zum Wiederaufbau ihres zerstörten Tempels baten, vgl. ANDERSON, Keepers, 24. Auch ein Streit in der Jerusalemer Priesterschaft und die Abwanderung der unterlegenen Partei zu den Samaritanern in spätpersischer Zeit (These der Südreich-Dissidenten) könnte Auslöser für die Trennung vom Jerusalemer Tempel gewesen sein (vgl. KÖCKERT, Zehn Gebote, 85). KÖCKERT (ebenda) selbst tendiert zu einer relativ frühen Trennung, noch vor der Kanonisierung der Prophetenbücher. Für DEXINGER (Ursprung, 83) schliesslich scheint sich die endgültige Trennung erst in hasmonäischer Zeit vollzogen zu haben. 120 Vgl. ANDERSON, Keepers, 29. 121 Dies zeigt sich an der Selbstbezeichnung der Samaritaner, die sich nicht nur שמרים, sondern auch "Israeliten" (ANDERSON, Keepers, 29) oder "Gemeinschaft der treuen Israeliten" (ZANGENBERG, Samareia, 213ff.). 122 Vgl. KELLERMANN, Dekalog, 205. 123 BERGER, Gesetzesauslegung, 271. 124 Die Aufteilung in die einzelnen Gebote ist nicht sicher. Möglicherweise wurde das jüdische erste Gebot als Proömium angesehen (ZANGENBERG, Samareia, 184) oder das neunte und zehnte Gebot wurden zu einem zusammengefasst (BÖHM, Samaritaner, 36), so dass mit dem interpolierten Gebot die Zehnzahl wieder stimmte. 125 Das samaritanische zehnte Gebot enthält die folgenden Interpolationen Ex 13,11a; Dtn 11,29a; 27,2b-3a.4-7; 11,30 - in dieser Reihenfolge, vgl. ZANGENBERG, Samareia, 183f. 43 Steine, die zu errichten ich euch heute befehle, auf dem Berg Garizim aufrichten. Mit Kalk sollst du sie bestreichen. 5Dort sollst du dem Herrn, deinem Gott, einen Altar bauen, einen Altar aus Steinen. Du darfst nicht mit Eisenwerkzeug daran arbeiten. Die Anweisung in V. 2-3a haben die Samaritaner offensichtlich in Form von steinernen Dekalogtafeln umgesetzt. So leuchtet es auch ein, dass dieses Gebot in den Dekalog aufgenommen wurde. Wenn auch solche Steintafeln sonst nicht bekannt sind, sind sie wohl nicht als primären samaritanischen Brauch zu sehen, sondern als Pendant zu den jüdischen Mezuzot, die ja in früher Zeit auch den Dekalog enthalten konnten, wie das Fragment 4Q 149 aus Qumran und möglicherweise auch Papyrus Nash zeigen.126 Laut DEXINGER repräsentieren sie eine alte gemeinjüdische Tradition, den Dekalog als Mezuza-Text zu verwenden.127 Dass das Gebot aus Dtn 6,9 als das Aufschreiben der Zehn Gebote an den Türpfosten verstanden wurde, hat offensichtlich damit zu tun, dass die Wendung »diese Worte« auf den Dekalog bezogen wurde, wie dies in Papyrus Nash und in LXX Dtn 6,4 der Fall ist, wo die Wendung »diese sind die Rechtsvorschriften und Satzungen« auf den Dekalog folgt.128 Auch in SifDev § 2 wird bei der Bezugnahme auf »diese Worte« aus Dtn 1,1 in den meisten Manuskripten von "zehn Worten" gesprochen.129 Sehr aufschlussreich ist die Anweisung, diese Steine auf dem Berg Garizim aufzurichten und dort zu opfern. Hiermit wird der samaritanische Kultort auf dem Garizim in den Zehn Geboten befohlen! Eine grössere Legitimation für das Heiligtum lässt sich kaum denken. Der masoretische Text (MT) hat in Dtn 27,4 statt Garizim "Ebal". Während die Septuaginta mit dem MT geht, folgt die Vetus Latina dem samaritanischen Text. Ein Hinweis auf den ursprünglicheren Namen des Berges gibt Dtn 11,29. Dort kommen die beiden Berge nebeneinander vor, wobei der Garizim den Berg des Segens und der Ebal den Berg des Fluches darstellt. Wie DEXINGER bemerkt, scheint ein Altarbau auf dem Ebal demnach nicht sehr wahrscheinlich. Mit ihm ist zu schliessen, dass unter diesen textkritischen und sachlichen Umständen der von MT gebotene Text als sekundär anzusehen ist.130 Das heisst, dass im betreffenden Vers aus Dtn 27,4 bei der endgültigen Redaktion des masoretischen Konsonantentextes im 1. Jh. n. Chr. entweder der Name Garizim mit 126 MILIK (DJD VI, 39) sieht Papyrus Nash als Mezuza, da er die Ansicht vertritt, dass auf einer Mezuza jeweils nur ein oder zwei Texte der komplett möglichen Textauswahl geschrieben wurden. 127 DEXINGER, Garizimgebot, 122f. 128 Vgl. KELLERMANN, Dekalog, 215. 129 Vgl. BIETENHARD, Sifre Deuteronomium, 13 Anm. 19. 130 DEXINGER, Garizimgebot, 127. 44 "Ebal" ersetzt wurde, oder der Texttradition, welche bereits die Ebal-Version führte, der Vorrang gegeben wurde.131 Die Änderung von Garizim zu Ebal in Dtn 27,4 ist demnach als bewusste Reaktion der jüdischen Rezensenten auf den samaritanischen Kultort zu verstehen. Ohne die Rezension wäre dessen Legitimation weiterhin biblisch begründet gewesen. Dass das Gebot im samaritanischen Dekalog Eingang gefunden hatte, machte diese Änderung umso dringlicher. Das Zehnwort hat bei den Samaritanern also einen Stellenwert eingenommen oder bewahrt, den wir im Judentum des 1. Jh. n. Chr. nicht oder nicht mehr finden. Das priesterliche Morgengebet in mTam 5,1 und die Tefillin und Mezuzot aus Qumran lassen uns aber auf Zeiten schliessen, wo der Dekalog auch im Judentum eine herausragende Rolle hatte (vgl. Teil 2: 2). Die Änderung am Konsonantentext von Dtn 27,4, also am Text der Tora selbst - der direkten göttlichen Offenbarung - ist erstaunlich. Zugleich lässt sie die Änderung der Tempelliturgie und der Tefillin-Bräuche anklingen. Denn auch bei der Änderung des MT geht es indirekt um den Dekalog, da Dtn 27,4 im SP Teil des Zehnworts ist. Hatten die Rabbinen folglich nicht nur bei diesem Text, sondern auch bei den liturgischen Änderungen die Abgrenzung von den Samaritanern beabsichtigt?132 GASTER ist bisher der einzige, der diese These vertritt, wobei sie auch DEXINGER für möglich hält.133 Das letzte Gebot des samaritanischen Dekalogs kommentiert GASTER folgendermassen: „This was the cardinal point of difference between Jews and Samaritans, and it must have been the policy of the priests of Jerusalem to ignore the Samaritans as much as possible and not draw attention to the difference between them if it could in any way be avoided.“134 Der Dekalog wäre demnach aus der Liturgie verbannt worden, weil die aufgrund der Interpolation längere Rezitation der Samaritaner Unordnung in das Gebet der jüdischen Gläubigen gebracht hätte.135 Dies würde wiederum bedeuten, dass in der Provinz Samaritaner und Juden im 1. Jh. n. Chr. noch gemeinsam beteten, was aus den Quellen zwar nicht direkt hervorgeht, aber für gewisse Landgemeinden durchaus denkbar ist. 131 Da die Vetus Latina noch auf der vorhexaplarischen Septuaginta-Rezension beruht, fand sie den "Garizim" vor. Die späteren LXX-Rezensionen stimmen hingegen mit dem MT überein. Vgl. DEXINGER, Garizimgebot, 128. 132 Es ist wahrscheinlich, dass die Rabbinen an der Festlegung des Konsonantentextes beteiligt waren. Laut WÜRTHWEIN (Text, 17f.) ist im 1. Jh. n. Chr. nicht eine sorgfältige Rezensionsarbeit vorauszusetzen, sondern wahrscheinlicher die Tradierung des Textes derjenigen Gruppe, die nach 70 n. Chr. zur bestimmenden geworden war. Die Texte aus Muraba’at zeigen, dass sich dieser Standardtext bereits 132-135 n. Chr. durchgesetzt hatte. 133 GASTER, Samaritans, 75.186; DEXINGER, Garizimgebot, 123. 134 GASTER, Samaritans, 75. 135 So DEXINGERS Theorie (Garizimgebot, 123). 45 Abneigung und Vorbehalte gegenüber den samaritanischen Nachbarn sind in der Zeit des Zweiten Tempels aus fast allen jüdischen Quellen herauszuhören.136 Die wiederholte und intensive Auseinandersetzung mit den Samaritanern in der rabbinischen Literatur, die sogar in einem eigenen kleinen Talmudtraktat (massechet kutim) ihren Niederschlag findet, zeugt jedenfalls von einer Koexistenz mit den Samaritanern, die über die Notwendigkeiten hinausging. Das Zusammenleben rief offensichtlich halachische Fragen hervor, die Antworten mit praktischen Lösungen forderten.137 Die Themen, mit denen sich die Weisen bezüglich Samaritaner auseinandersetzten, betreffen nur in wenigen Fällen die unterschiedlichen religiösen Anschauungen, sondern vielmehr Fragen des "Zivilrechts", der Ritual- und Reinheitsgesetze und des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens. Die Fragen und Diskussionen wurden grundsätzlich dadurch verursacht, dass die Samaritaner weder klar als Heiden noch als echte Israeliten eingeordnet werden konnten.138 Sie galten als irgendetwas dazwischen, wofür besondere Verhaltensregeln zu bestimmen waren. Interessanterweise wurde die Diskussion "Sind Samaritaner Israeliten oder Heiden?" in tannaitischer Zeit noch immer geführt, obwohl sich die Fronten schon vor Generationen gebildet hatten. Es gab nie eine einstimmige Antwort auf die Frage. In Bezug auf die Zehn Gebote in der Liturgie sind Hinweise über die Handhabung religiöser oder gottesdienstlicher Zusammenkünfte von Juden mit Samaritanern interessant. Da ein frühjüdisches Gastmahl über den Familienkreis hinausging und somit auch einen gewissen öffentlichen Charakter hatte, bildeten die Teilnehmer eine Gemeinschaft, die in gewissem Sinne auch religiös repräsentativ zu sein hatte. Die Mischna legt fest, dass dieser öffentliche Charakter, der ein gemeinsames Tischgebet erforderlich macht, ab drei Personen erreicht ist. Dabei erwähnt sie ausdrücklich, dass ein Samaritaner zur Tischgemeinschaft mitgerechnet wird (mBer 7,1a). Die Tischgemeinschaft von Juden und Samaritanern wird in der Mischna also vorausgesetzt. Für den Fall, dass ein samaritanischer Gast (oder der samaritanische Gastgeber!) das Tischgebet spricht, gilt folgende Regel (mBer 8,8): 136 Vgl. ZANGENBERG, Samareia, 1. Wobei auch hier die zeitliche Einordnung schwierig bleibt. Das Traktat Kutim wird als eines der sieben kleinen ausserkanonischen Traktate normalerweise als nachtalmudisch angesehen. Die darin zum Ausdruck kommende freundliche Einstellung zu den Samaritanern legt laut STEMBERGER (Einleitung, 230) jedoch nahe, dass der Grundstock des Traktats schon vor dem endgültigen Bruch Ende des 3. Jh. v. Chr. entstanden sein muss. 138 Vgl. mBer 7,1; mDem 5,9. 137 46 Und man antwortet "Amen" nachdem [ein] Israel[ite] den Lobpreis spricht, aber man antwortet nicht mit "Amen", nachdem ein Samaritaner den Lobpreis gesprochen hat, bis man die ganze Beracha gehört hat. Ein vorschnelles Amen wird toleriert, wenn ein Jude die Beracha spricht. Ist der Vorbetende jedoch nicht über alle Zweifel erhaben, dass er die Benediktion einwandfrei spricht, ist man verpflichtet, den Segen aufmerksam bis zum Schluss zu verfolgen, bevor man mit dem Amen seine Zustimmung gibt. Was für Abweichungen beim Segensspruch durch einen Samaritaner befürchtet wurden, erfahren wir in einer Diskussion über die Beschneidungszulassung in tAZ 3,12: Ein Israelit beschneidet einen Samaritaner. Aber ein Samaritaner soll nicht einen Israeliten beschneiden, weil die [Samaritaner] auf den Namen des Berges Garizim beschneiden – Worte von Rabbi Jehuda. Rabbi Jose hat zu ihm gesagt: wo finden wir eine Beschneidung, die nicht auf den Namen des Bundes [Gottes mit Abraham] wäre? Also [mag er es doch] auf den Namen des Berges Garizim [tun], bis seine Seele abscheidet!139 Die Rabbinen verdächtigten die Samaritaner, bei Segenssprüchen jeweils den Namen ihres Garizim-Heiligtums zu erwähnen, was nach R. Jehuda wohl mit Götzendienst gleichzusetzen ist. Solche Einschlüsse des Garizim als des heiligen Berges der Gottesgegenwart in das Gebet sind in den späteren liturgischen Stücken der Samaritaner oft anzutreffen.140 Die Tatsache, dass auch in der samaritanischen Dekalogversion das Heiligtum auf dem Garizim enthalten ist und dass die Rabbinen sich gegen ein öffentliches Beten des Zehnworts stellten, wird durch die vorangehende Mischnastelle erhellt. Sie unterstützt erstens die These, dass es Situationen gegeben hat, in denen Juden und Samaritaner zusammen beteten und dass es dabei Unterschiede in der Formulierung gab, die die Betenden verwirrten oder sie daran hinderten, dem Gebet mit Amen zustimmen zu können. Zweitens erwähnt sie, dass die Samaritaner irgendwelcher Zusätze oder Abänderungen verdächtig wurden, die im Zusammenhang mit dem Berg Garizim stehen. Dieser Verdacht bestätigte sich zum Beispiel in der samaritanischen Dekalogrezension! Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Rezension des Dekalogs im Samaritanischen Pentateuch141 von der Bedeutung zeugt, die das Zehnwort bei den Samaritanern hatte. Durch die Erwähnung des Berges Garizim im Dekalog erhielt 139 Übersetzung nach ZANGENBERG, Samareia, 148. Vgl. ZANGENBERG, Samareia, 151f. 141 D.h. die Vereinheitlichung der Ex- und Dtn-Versionen und die Erweiterung um mehrere Verse aus Dtn. 140 47 dessen Heiligtum eine göttliche Legitimation. Ab dem 3. Jh. n. Chr. sind so genannte samaritanische "Steindekaloge" bekannt. Als mögliches Pendant zur jüdischen Mezuza drückt sich auch darin die enge Bindung der Samaritaner an den Dekalog aus. Wie die vermutliche Textrezension in Dtn 27,4 von "Garizim" (SP) zu "Ebal" (MT) zeigt, wurde der biblische Text verändert, um eine biblische Legitimation des Heiligtums auf dem Garizim zu unterbinden. Die jüdische Abgrenzung von den Samaritanern scheint so dringend gewesen zu sein, dass sie einen Eingriff in die Heilige Schrift erlaubte. Laut Mischna war den Juden das gemeinsame Gebet mit Samaritanern erlaubt. Diese wurden jedoch wurden verdächtigt, Elemente wie die Erwähnung des Berges Garizim ins Gebet aufzunehmen, welche die Juden daran hinderten, ihrem Gebet zustimmen zu können. Trotz räumlicher und auf das Heiligtum bezogener Trennung zwischen Juden und Samaritanern, scheint die Rivalität zwischen den Gruppen präsent und die Abgrenzung notwendig gewesen zu sein. Letztere drückte sich jüdischerseits in Rezensionen am Bibeltext sowie in Vorbehalten beim gemeinsamen Gebet aus. Da der Berg Garizim in der samaritanischen Dekalogversion vorkommt, könnte seine Zitierung im Gebet für die Juden ein Problem gewesen sein. Ein Ausschluss des Dekalogs aus dem Gebet in der Provinz hätte das Problem gelöst. Die rabbinische Begründung für den Ausschluss des Zehnworts passt allerdings nicht auf das samaritanische Toraverständnis, welches den ganzen Pentateuch als exklusive Offenbarung betrachtet.142 2.2 Im hellenistischen Judentum Im Gegensatz zum konservativen Samaritanertum war der Hellenismus in der Antike Träger einer als fortschrittlich geltenden Weltkultur.143 Das Zentrum der jüdischhellenistischen Kultur war Alexandria, typischerweise ausserhalb von Palästina gelegen. Das bedeutendste Werk aus jüdisch-hellenistischer Zeit ist die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, die Septuaginta (LXX). Sie bejaht und fördert die Öffnung der jüdischen Religion gegenüber einer nichtjüdischen Umwelt. So 142 In diesem Fall müsste die Polemik vielmehr gegen die samaritanische Ablehnung der Prophetenbücher gerichtet sein. 143 Vgl. BETZ, Hellenismus, 19. 48 schreiben die Autoren des hellenistischen Judentums ihre Schriften denn auch grundsätzlich in Griechisch. In diesem Kulturkreis finden wir die erste Abhandlung zum Dekalog überhaupt. Autor von De decalogo ist Philo von Alexandrien. Auch Flavius Josephus äussert sich in den Antiquitates Judaicae (ca. 94 n. Chr.) zum Dekalog, wenn auch wesentlich kürzer. Diese beiden bekanntesten Vertreter des hellenistischen Judentums geben den Dekalog Gebot für Gebot wieder, wenn auch nicht im biblischen Wortlaut. Mit Ausnahme von Pseudo-Philos Liber Antiquitatum Biblicarum, welches als "rewritten bible" den biblischen Erzählstoff neu fasst, verweisen andere Schriften mit hellenistisch-jüdischem Hintergrund lediglich auf Teile oder einzelne Gebote des Dekalogs.144 Manche scheinen indirekt den Dekalog zu meinen oder auf ihn zu verweisen.145 Ich konzentriere mich im Folgenden auf die beiden Autoren Josephus und Philo. Dabei ist festzuhalten, dass sich Josephus als palästinischer Jude und Philo als alexandrinischer Jude in den beiden genannten Werken an ein nicht-jüdisches Publikum richten.146 Josephus kommt in Ant III 90ff im Rahmen seiner Geschichtserzählung zum Auszug aus Ägypten auf den Dekalog zu sprechen. Bevor er dessen Inhalt darlegt, macht er folgende erstaunliche Bemerkung dazu: These words it is not permitted us to state explicitly, to the letter, but we will indicate their purport.147 Diese Vorstellung vom Dekalog als Geheimdisziplin ist einzigartig und darum nicht einfach zu interpretieren. Will Josephus den im Zehnwort wiederholt vorkommenden Gottesnamen keiner heidnischen Leserschaft preisgeben?148 Oder soll der Wortlaut des Dekalogs nicht unter Umständen oder an Orten gelesen werden, die seiner Heiligkeit nicht entsprechen?149 Da Josephus zur pharisäischen Bewegung gehörte, ist auch eine Anspielung auf den rabbinischen Vorbehalt gegenüber der Rezitation 144 In Pseudo-Philos Schrift vom Ende des 1. Jh. n. Chr. spielt der Dekalog ebenfalls eine bedeutende Rolle. Er ist dort Inbegriff der Tora vom Sinai schlechthin. Im Unterschied zu Philo bewahrt der Autor den exklusiven Israelbezug der Tora und des Dekalogs. Vgl. KELLERMANN, Dekalog, 188ff. 145 Eine ausführliche Besprechung dieser Schriften macht KELLERMANN (Dekalog, 148-203). Vgl. auch NIEBUHR, Gesetz. 146 Was Philo betrifft vgl. die Einleitung von COLSON in: Philo VII. 147 Die deutsche Übersetzung von Clementz ist an dieser Stelle ungenau und ergibt wenig Sinn. 148 So STEMBERGER, Dekalog, 95; KELLERMANN, Dekalog, 180. BERGER (Gesetzesauslegung, 263) hingegen denkt an ein Verständnis analog zu den Mysterienkulten, wonach auch die Worte des Hierophanten unter die Arkandisziplin fallen. 149 So WEINFELD, Uniqueness, 30. Vgl. auch die Diskussion über das Aussprechen des Gottesnamens in Jerusalem und in der Provinz, S. 75. 49 des Dekalogs in der Öffentlichkeit denkbar.150 Anschliessend (Ant III 91f.) paraphrasiert Josephus die Zehn Worte wie folgt: Das erste Gebot lehrt uns, dass nur ein Gott ist, und dass er allein zu verehren sei; 151 das zweite schreibt vor, dass man keines Tieres Bild anbeten darf; das dritte, dass man bei Gott nicht leichtfertig schwören darf; das vierte, dass man jeden siebenten Tag heilig halten und an ihm von aller Arbeit ruhen soll; das fünfte, dass man die Eltern ehren soll; das sechste, dass man nicht töten soll; das siebente, dass man nicht ehebrechen soll; das achte, dass man nicht stehlen soll; das neunte, dass man kein falsches Zeugnis ablegen soll; das zehnte, dass man kein fremdes Eigentum begehren soll. Josephus' Einteilung in zehn Gebote entspricht derjenigen, die auch Philo vornimmt, und sich durch die Zuordnung der Alleinverehrung zum 1. statt zum 2. Gebot von der rabbinischen Einteilung unterscheidet. Die Reihenfolge entspricht derjenigen des masoretischen Textes. Josephus lässt Begründungen, Erklärungen und Verheissungen weg. Dadurch ist der Bezug zum Judentum (Auszug aus Ägypten) im Text bereits nicht mehr gegeben. Von Josephus wird dieser Bezug durch die historische Einbettung sicher vorausgesetzt, der Text ist aber so formuliert, dass auch ein Nichtjude sich angesprochen fühlen kann. Die Reduzierung der Götzenbilder auf Tierbilder im 2. Gebot ist bemerkenswert. Will Josephus die Götterstatuen der Römer nicht angreifen?152 Danach äussert sich Josephus noch kurz zu den Bundestafeln. Seine Aufteilung des Dekalogs in fünf Gebote pro Tafel spezifiziert er in Ant III 138 noch in zweieinhalb Gebote pro Tafelseite. Abgesehen von Anklängen an den Dekalog in Ap II 190-219,153 bleibt dies Josephus' einzige Erwähnung des Zehnworts in seinem Werk. Auch Philo von Alexandrien (ca. 20 v. – 50 n. Chr.) schrieb seine Abhandlung zum Dekalog im Rahmen eines grösseren Werkes. Mit De decalogo beginnt der dritte, umfangreichste und letzte Teil seiner systematischen Darstellung des jüdischen Gesetzes, welche den Inhalt des Pentateuchs zum Thema hat. Die ersten beiden Teile bestehen aus dem Weltschöpfungsbericht und den Patriarchenerzählungen. Nach dem Dekalog geht Philo in mehreren Büchern (De specialibus legibus I-IV) auf die 150 Da auch Philo nie den ganzen Dekalog zitiert, könnte Josephus' Bemerkung laut HIMBAZA (Décalogue, 171) bedeuten, dass das rabbinische Zitationsverbot bereits im 1. Jh. n. Chr. in Kraft war. 151 Im ersten Gebot scheint Josephus den Dekalog mit dem Shemaʿ zu kombinieren, vgl. HIMBAZA (Décalogue, 169f.). Zur inhaltlichen Nähe von Dekalog und Shemaʿ vgl. auch S. 72-75. 152 So die Vermutung KELLERMANNS (Dekalog, 181). 153 Vgl. KELLERMANN, Dekalog, 183ff. 50 vielen Einzelgesetze ein, indem er sie Kategorien zuordnet, die er durch die zehn Gebote als vorgegeben betrachtet.154 Im ersten Abschnitt von De decalogo befasst sich Philo sehr ausführlich mit der Art und Weise der Offenbarung der Zehn Worte (Decal 1-49). Danach erläutert er die Zehn Worte einzeln der Reihe nach (Decal 50-153). Im letzten Abschnitt weist er schliesslich jedem Gebot eine Kategorie zu, um schliesslich alle weiteren Gesetze und Vorschriften diesen Kategorien unterordnen zu können (Decal 154-178). Die folgende Besprechung von Philos Traktat fokussiert auf den ersten Abschnitt über die Offenbarung des Dekalogs, die auch in der rabbinischen Literatur einen wichtigen Teil der Dekalogdiskussion darstellt, sowie auf die Stellung, die Philo den Zehn Worten innerhalb des Gesetzes beimisst. An den Anfang seiner Abhandlung stellt Philo nach einigen einleitenden Worten die Frage, weshalb Moses das Gesetz nicht in Städten, sondern in der Wüste gegeben hat. Einen ersten Grund sieht er darin, dass die meisten Städte voll Übel, Frevel und Verbrechen sind. Zweitens soll die Trennung von der Stadt die Läuterung der Seele ermöglichen. Drittens sollte eine Verfassung vor Landnahme und Besiedelung feststehen. Laut viertem und letztem Grund schliesslich konnte das Volk erst durch die Erfahrung von Wundern wie Wasser und Nahrung inmitten der Wüste auch die Offenbarung des Gesetzes als Wunder von Gott anerkennen. Die Frage, warum die Wüste der Ort der Offenbarung war, wird auch im Midrasch gestellt. Eine der rabbinischen Antworten betont den zeitlichen Abstand von Ägypten, und sieht darin eine Erholungsphase von der Sklavenarbeit.155 Eine andere sieht die Wüste als Ort, der niemandem gehört und darum weltöffentlich ist.156 Obwohl die Begründungen unterschiedlich ausfallen, interpretieren die philonischen und die rabbinischen Erklärungen die Wüste als beides: als Zeitpunkt und als Ort.157 Als nächstes bewundert Philo die Anzahl der Gebote. Gemäss der pythagoreischen Philosophie bezeichnet er die Zehn als die vollkommenste Zahl. Ausführlich legt er dar, wie die Zahl 10 alle Arten der Zahlen, der Zahlenverhältnisse, der Analogien, der Harmonien und Akkorde in sich umfasst. Dass dies keine Abschweifung vom Thema ist, zeigt sich daran, dass Philo schliesslich die zehn aristotelischen 154 In einem Anhang behandelt er schliesslich noch verschiedene Tugenden sowie Belohnungen und Strafen. 155 Vgl. S. 90. 156 Vgl. S. 107f. 157 Über die mögliche Herkunft der philonischen Begründungen aus der palästinischen Tradition vgl. AMIR, Philon, 139ff. 51 Kategorien anführt, welche alles umfassen, was existiert. Wenn nun die Zehn Gebote den zehn aristotelischen Kategorien gleichzusetzen sind, heisst das, dass sie von vornherein jeden rechtmässigen Inhalt einer Gesetzgebung in sich schliessen und damit als praktische Verwirklichung des Weltgesetzes figurieren.158 Weit entfernt von der Verehrung der Zehn als vollkommenste Zahl, vergleichen die Rabbinen die Zehn Worte vom Sinai mit den zehn Schöpfungsworten und bringen sie so ebenfalls mit den Grundlagen der Welt und ihrer Ordnung in Verbindung (vgl. Teil 2: 3.5). Weiter richtet Philo seine Aufmerksamkeit auf die Stimme Gottes, mit der die Offenbarung an die Frauen und Männer am Sinai erging. Die anthropomorphe Vorstellung, dass Gott eine Stimme hat, die wie die menschliche Stimme von konkreten Organen hervorgebracht wird, lehnt Philo ab. Zugleich hält er an der direkten Offenbarung durch Gott selbst ohne menschlichen Mittler fest. Um diese beiden Positionen miteinander vereinbaren zu können, greift Philo zu einer Erklärung mittels eines Wunders, welches in Form einer eigens zum Zweck der Offenbarung des Zehnworts erschaffenen Stimme in Erscheinung tritt.159 Die Schilderung dieses wunderbaren Offenbarungsgeschehens (32-35.44-49) Höhepunkt des Traktats De decalogo dar. 160 stellt den eigentlichen Philo beschreibt die göttliche Stimme als "vernunftbegabte Seele, die Luft in feuerrote Flamme verwandelt". Er beschreibt, wie sich das vom Himmel herabkommende Feuer in artikulierte Laute wandelte, "wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte".161 Gottes Stimme ist nicht zu hören, sondern zu sehen, "weil es nicht Worte sind, was Gott redet, sondern Taten, die das Auge besser unterschiedet als das Ohr (47)". Drückt Philo hier die griechische Hochschätzung des optischen Sinnes über die anderen Sinne aus, wie AMIR nahe legt und greift dabei auch auf den Zusammenhang zwischen Luft und Feuer in der stoischen Physik zurück?162 Wenn Philos Ausführungen nicht so stark an die targumische Version des Exodustextes mit der fackelartigen Stimme Gottes erinnern würden, wäre diese Herkunft der 158 Vgl. AMIR, Philon, 138; STEMBERGER, Dekalog, 93. Zum Phänomen der göttlichen Stimme bei Philo vgl. auch KUHN, Offenbarungsstimmen, 153-175. 160 Vgl. KUHN, Offenbarungsstimmen, 156. 161 Als Bestätigung seiner Theorie zitiert er Ex 20,18 gemäss der LXX: »alles Volk sah die Stimme«. Im hebräischen Text ( )וכל העם ראים את הקולתist von Stimmen im Plural die Rede. Deutsche Übersetzungen wie Lu84 und EÜ geben קולתmit "Donner" wieder (zur Übersetzung von קולvgl. Anm. 289). Die Verschiebung von "Donner" auf "Stimme" in der LXX hat laut KUHN (Offenbarungsstimmen, 143) auch mit der (frühen) Entstehungszeit des Übersetzungswerkes und mit seinem Grundcharakter (relativ treue Textwiedergabe) zu tun. 162 Ausführlich über Philos Theorie des Sehens und Hörens bei AMIR, Philon, 143ff. 159 52 philonischen Gedanken uneingeschränkt zu unterstützen. Die Sichtbarkeit des göttlichen Redens jedoch und der Zusammenhang von Feuer und Gesetz sind im Targum und in der rabbinischen Tradition fest verankert (vgl. Teil 2: 3.2 und Teil 2: 3.3.1). Während den Überlegungen zur Stimme der Offenbarung erklärt Philo auch die Tatsache, dass die Zehn Worte im Singular gesprochen wurden, obwohl das Volk aus Tausenden von Menschen bestand (36-43). Zuallererst wolle Moses damit zu verstehen geben, dass ein Einzelner, der nach dem Gesetz lebt, ein ganzes Volk, ja sogar die ganze Welt aufwiegt.163 Ausserdem sei eine persönliche Ermahnung wirkungsvoller ist, als eine pauschale und die persönliche Anrede jedes noch so geringen Mannes durch den Schöpfer des Alls soll die Mächtigen dieser Welt Demut lehren. Auch in diesem Punkt erinnern seine Erklärungen an rabbinische Deutungen des Singulars (vgl. Teil 2: 3.3.2). Bevor Philo schliesslich ausführlich auf die einzelnen Gebote eingeht, erklärt er ihre Anordnung auf den Tafeln und was sich daraus schliessen lässt (50f.): Die zehn nun, die es sind, teilte Moses in zwei Reihen von fünf, die er in zwei Tafeln eingrub; die erste Reihe erhielt dabei den Vorrang, die andere den zweiten Rang. […]. So ist der Anfang der einen Tafel Gott, der Vater und Schöpfer des Alls, und das Ende die Eltern, die in Nachahmung des Wesens Gottes die Einzelmenschen erzeugen. Die zweite Reihe umfasst dann die sämtlichen Verbote. Philo zufolge gibt es unter den Zehn Geboten eine Rangordnung, die durch die Einteilung auf zwei Tafeln ersichtlich wird. Die erste Tafel hat Vorrang, da sie die "heiligsten Pflichten (gegen Gott)" umfasst, während die zweite Tafel die Pflichten gegen Menschen umfasst (106).164 Dass bei dieser Einteilung das Elterngebot eigentlich auf der zweiten Tafel stehen müsste, ist ihm bewusst. Mit seiner Deutung der Eltern als Nachahmer Gottes kann er die symmetrische Aufteilung auf die Tafeln trotz der thematischen Unterteilung beibehalten (107). Während es auch den Rabbinen ein Anliegen ist, die Aufteilung der Gebote auf die zwei Tafeln vorzunehmen, argumentieren sie im Unterschied zu Philo niemals inhaltlich. Das Ableiten einer Rangordnung aus der Position eines Gebots liegt ihnen fern, doch sehen sie Zusammenhänge zwischen Geboten, die an der gleichen Position auf den 163 Diese Ansicht vertritt auch R. Nechemia in ARN 31. Auch innerhalb der Tafel sieht Philo eine Rangordnung. Laut ihm ist das Ehebruchverbot auf der zweiten Tafel an oberster Stelle, weil es das grösste Verbrechen ist (Decal 121). 164 53 zwei Tafeln stehen (vgl. Teil 2: 3.6.2). Das Fehlen von Strafen im Dekalog begründet Philo dahin, dass Gott damit verhindern wollte, dass jemand das Zehnwort aus Furcht vor Strafe, d.h. gezwungen befolgt. Denn die Zehn Worte sollen freiwillig gewählt werden. Die Freiwilligkeit der Annahme des Zehnworts wird in der rabbinischen Literatur ebenfalls betont (vgl. Teil 2: 3.4). Die Ereignisse, die Philo aus der biblischen Offenbarungsgeschichte vom Sinai herausgreift, sind ausnahmslos Themen, die auch die Rabbinen beschäftigten: die Bedeutung der Wüste als Offenbarungsort, die direkte (Gott) und die indirekte (Moses) Offenbarung des Gesetzes, die Zehnzahl als Grundlage der Schöpfung, die sichtbare Stimme Gottes, die Anrede im Singular, die konkrete Aufteilung auf zwei Tafeln und die Freiwilligkeit der Annahme des Gesetzes. Die unterschiedliche Erklärung der Ereignisse, vor allem bei Zehnzahl und Wüste, auf der einen Seite und die frappante Ähnlichkeit, was die Auswahl der Themen und die Offenbarungsstimme angeht auf der anderen Seite, provozieren die Frage, ob und was die beiden unterschiedlichen Richtungen voneinander gewusst haben.165 Dennoch wird bisher als wahrscheinlicher angenommen, dass Philo selbstständig zu Deutungen gelangte.166 Die Rabbinen ihrerseits schweigen sich über die Schriften Philos aus.167 Die Gemeinsamkeiten sind einerseits Hinweise auf eine gemeinsame ausserbiblische Traditionsquelle, die in beiden Weltbildern fortlebt und durch die unterschiedliche kulturelle Prägung der Autoren und ihrer Ziele zu unterschiedlichen Erklärungen führt.168 Wie KUHN richtig bemerkt, rühren die Gemeinsamkeiten aber nicht zuletzt auch von einem Philo und den Rabbinen gemeinsamen grundlegenden Auslegungsprinzip her: das Prinzip der unendlichen Bedeutsamkeit jeder durch die 165 Eine indirekte Beeinflussung ist nicht auszuschliessen, könnte Philo doch ältere palästinensische Überlieferungen in der Synagoge gehört haben, die er originell umwandelte, vgl. COHN, Werke Philos, 20 sowie AMIR, Philon, 135f. 166 Vgl. KUHN, Offenbarungsstimmen, 165. Zu einer vorläufigen Bilanz der noch andauernden Diskussion, inwieweit Philo von palästinensischer Aggada beeinflusst war, vgl. SANDMEL, Philo, 127134. 167 Philos Name wird im ganzen talmudischen Schrifttum nicht ein einziges Mal erwähnt und ist auch in der ganzen jüdischen Literatur des Mittelalters unbekannt, vgl. COHN, Werke Philos, 21 sowie AMIR, Philon, 131f. Die Feindschaft der Rabbinen haben sich Josephus und Philo zugezogen, indem sie zu beweisen suchen, dass das Judentum die edelsten Anschauungen der griechischen Philosophie, ja die Wahrheit schlechthin verkörpere, um damit die Kluft zwischen der jüdischen und der hellenistischen Welt zu überbrücken. Philos umfangreiches Werk ist nur durch die Kirche erhalten geblieben (BARNARD, Apologetik, 373). 168 Während Philo das mosaische Gesetz auf dem Hintergrund seines griechischen Weltbildes erklärt, das auf eine Vergeistigung des Gesetzes hinzielt, strebt das rabbinische Judentum eine praktische, den Alltag durchdringende Frömmigkeit an, vgl. COHN, Werke Philos, 21. 54 Schrift festgehaltenen Einzelheit.169 Die Stellung, die Philo dem Zehnworts innerhalb des mosaischen Gesetzes zuweist, kommt in De decalogo mehrfach zur Sprache.170 Fast am Anfang des Traktats erklärt Philo, worin der Unterschied zwischen den Zehn Geboten und den übrigen Gesetzen besteht (18f.): Notwendig habe ich da vorauszuschicken, dass den einen Teil der Gesetze Gott selber, ohne einen Mittler zu gebrauchen, ganz allein zu offenbaren für gut fand, den andern durch den Propheten Moses, den er vor allen Menschen bevorzugte und als den zum Prophetenamt geeignetsten auserwählte. Die von Gott selbst geoffenbarten Gesetze sind zugleich Gesetze und Grundprinzipien der Einzelgesetze, und die durch den Propheten gegebenen lassen sich sämtlich auf jene zurückführen. Zwei Aussagen sind hier zentral, weil sie Philos Grundauffassung vom biblischen Gesetz ausdrücken. Erstens: ein Teil des Gesetzes wurde von Gott selbst, ohne Mittler offenbart, der andere durch den Propheten Moses.171 Zweitens: die direkte göttliche Offenbarung beinhaltet die allgemeinen Prinzipien, während die durch den Propheten übermittelten Gesetze Spezifizierungen der allgemeinen Prinzipien sind.172 Deshalb definiert Philo für jedes Gebot eine dazugehörende Kategorie: So begreift das erste Gebot alle die Bestimmungen über die Alleinherrschaft (Gottes) in sich; […]. Das zweite Gebot ist die Grundlage für alle Gesetzesbestimmungen über Göttergebilde von Menschenhand, […]. Das vierte Gebot, das vom siebenten Tag, ist überhaupt als das Grundgesetz der Feste anzusehen […]. Entsprechend diesen in Decal 154-178 benannten Kategorien baut Philo dann sein mehrbändiges Werk über die Spezialgesetze (De specialibus legibus) auf. Diese Unterordnung der Spezialgesetze unter die Gesetzeskategorien des Dekalogs ist nicht als Wertung, sondern als Einordnung zu verstehen. AMIR bringt die philonische Konzeption folgendermassen auf den Punkt: "Für ihn [Philo] gibt es hier nicht den 169 Vgl. KUHN, Offenbarungsstimmen, 165. In dieser Schriftenreihe Philos ist der Abstand zwischen Philo und der Sichtweise der Rabbinen denn auch viel geringer als in Philos sonstigen Schriften, vgl. AMIR, Philon, 132. 170 Philo scheint es allerdings nicht für notwendig zu halten, seine Sicht des Dekalogs explizit zu erklären. Wegen der Art ihrer Offenbarung sowie durch die Darstellung der Tora als universales Gesetz (vgl. KELLERMANN, Dekalog, 161-179), als "Naturgesetz" schlechthin (vgl. STEMBERGER, Dekalog, 92) und des Dekalogs als dessen Zusammenfassung, scheint sich eine Begründung zu erübrigen. 171 Die im Midrasch vorgenommene Unterscheidung zwischen den ersten beiden von Gott selbst gesprochenen und den übrigen acht durch Mose überbrachten Geboten (vgl. dazu Teil 2: 3.3.1) scheint Philo nicht zu kennen. 172 Wie der überlieferte Titel besagt, bezeichnet Philo die Zehn Worte auch als κεφάλαια νόµων, als "Hauptgebote". 55 Unterschied von Haupt- und Nebensache oder zwischen schweren und leichteren Geboten, sondern den zwischen Regel und Einzelfall – oder in Philos Terminologie: zwischen Art und Gattung."173 Angesichts der problematischen Beziehung der Rabbinen zu einer Sonderstellung des Zehnworts sind solche Feinheiten in der Definition von grosser Relevanz. Dass Philo so ausführlich auf die Art der Offenbarung eingeht, zeigt, dass er diese als Grund für die Besonderheit des Dekalogs betrachtet. In diesem Punkt stimmt seine Grundauffassung vom biblischen Gesetz mit den Ansichten der rabbinischen Literatur überein. Anders als für die Rabbinen scheint es für Philo jedoch selbstverständlich, dass sich diese Besonderheit auch auf den Inhalt des Dekalogs erstreckt.174 Damit sind wir bei dem grossen Unterschied angelangt, der die philonische von der rabbinischen Gesetzesauffassung trennt: Die Einteilung in dekalogische Haupt- und mosaische Spezialgebote ist der rabbinischen Anschauung entgegengesetzt. Zwar taucht in diesem Zusammenhang in der Forschungsdiskussion immer wieder die Stelle aus dem Jerusalemer Talmud über den grossen und kleinen Wellen der Tora auf, die sich aber nur schwer als Beleg für eine rabbinische Unterordnung von Geboten unter das Zehnwort deuten lässt.175 Die Rabbinen machen unterschiedlichste Einteilungen von Geboten, doch vermeiden sie es, die Zehn Worte inhaltlich von der übrigen Tora abzugrenzen oder überhaupt Bewertungen zwischen Geboten vorzunehmen.176 Indem jedoch die bevorzugte Stellung, die Philo den Zehn Geboten einräumt, nicht den Sinn hat, die Verpflichtungskraft der anderen Gebote aufzuheben, sondern sie im Gegenteil auf eine absolute Basis zu stellen,177 kann auch Philos Abhandlung über den Dekalog nicht vorbehaltlos als möglicher Grund für die rabbinischen Ketzervorwürfe betrachtet werden. Obwohl Philos Traktat die einzige ausdrückliche Abhandlung zum Dekalog ist, kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Dekaloggebote literarisch durch Philo, Josephus und Pseudo-Philos Liber Antiquitatum Biblicarum wieder entdeckt 173 AMIR, Philon, 135. Vgl. AMIR, Philon, 133f. 175 Vgl. S. 130f. 176 Z.B. die Einteilung in Ge- und Verbote, in Toragebote und rabbinische Gebote oder auch die Sondergruppe von drei Kardinalgeboten, um derentwillen ein Jude eher sein Leben lassen soll, als dass er sie übertritt. Vgl. AMIR, Philon, 134. 177 Vgl. AMIR, Philon, 135. 174 56 wurden.178 Wie KELLERMANN feststellt, bleibt die Wertung des Dekalogs als Tora in der Tora oder Zusammenfassung der Tora nicht nur auf die alexandrinische Tradition beschränkt, sondern scheint ein Phänomen der hellenistisch ausgerichteten Strömung im Judentum überhaupt zu sein.179 2.3 Im frühen Christentum Dieses Kapitel gibt einen Überblick über das Zehnwort im Neuen Testament, in ausserkanonischen frühchristlichen Schriften sowie in der patristischen Literatur. Die zwei letztgenannten sind zwar nicht mehr zur Literatur des Frühjudentums zu zählen, doch soll mit ihrer Berücksichtigung die Richtung angezeigt werden, welche die Dekalogrezeption im frühen Christentum genommen hat. Neues Testament: Der Dekalog wird im Neuen Testament weder namentlich erwähnt noch als Ganzes zitiert. Sowohl Jesus wie auch Paulus und Jakobus zitieren jedoch einzelne Gebote oder Gebotsreihen aus dem Zehnwort. Die längste Aufzählung beinhaltet fünf der zehn Worte und ist in den synoptischen Evangelien zu finden (Mt 19,16-22; Mk 10,17-22; Lk 18,18-23). Auf die Frage eines reichen Mannes, was er tun solle, um das ewige Leben zu haben, antwortet ihm Jesus, er solle die Gebote halten und spezifiziert seine Antwort dann, indem er die Dekalogworte 6-9 und 5 aufzählt.180 Für Jesus wie für seinen Gesprächspartner scheinen die fünf zitierten Gebote Inbegriff für das Gesetz zu sein. Gleichzeitig scheinen beide zu wissen, dass deren Befolgung allein nicht selig macht. Neben den zwischenmenschlichen Beziehungen spricht Jesus auch die Beziehung zu Gott an, wenn er den reichen Mann auffordert, seine materiellen Bindungen zu lösen und sein Leben in der Hingabe an Gott - konkret in der Nachfolge Jesu - zu leben. Diese Aufforderung kann als die Umsetzung der ersten drei Dekaloggebote 1-3 verstanden werden, womit Jesus sich in diesem Gespräch nicht auf die zwischenmenschlichen Gebote beschränkt, sondern auf ihnen aufbaut.181 178 Vgl. BERGER, Gesetzesauslegung, 417. KELLERMANN, Dekalog, 203. Vgl. dazu auch SÄNGER, Tora, 103-114. 180 Da Jesus nur Gebote erwähnt, welche die Beziehungen zwischen Mitmenschen betreffen und auch die Reihenfolge nicht derjenigen des Dekalogs entspricht, wird Jesu Antwort gewöhnlich in der Tradition der Gattung der sozialen Reihe verstanden, vgl. BERGER, Gesetzesauslegung, 417-421. 181 Die könnte auch mit der Herkunft des Fragestellers zu tun haben. URBACH (Worship, 171) geht davon aus, dass er ein Heide ist. Die sozialen Gebote des Judentums wurden von der nichtjüdischen 179 57 Auch in der Bergpredigt (Mt 5) geht Jesus von Geboten der Zweiten Hälfte des Dekalogs aus. Im Anschluss an die Seligpreisungen zitiert Jesus das 6. und 7. Dekaloggebot, das Gebot über den Scheidebrief (Dtn 24,1), das Verbot des Meineids, welches das 3. und 9. Gebot anklingen lässt, das Talionsgesetz (Ex 21,24) sowie das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) als unvergängliche Tora (Mt 5,18), um sie anschließend mit den Worten "Ich aber sage euch…" zu ergänzen. Jesu Ergänzungen zu den Dekalog- und anderen Torageboten stehen in einem gewissen Gegensatz zu diesen, weshalb sie in der neutestamentlichen Wissenschaft auch als die sechs Antithesen bezeichnet werden. Jesu mit »Ich aber sage euch…« eingeleiteten Weisungen ersetzen jedoch nicht das jeweils zuvor zitierte Dekaloggebot, sondern radikalisieren es: »Du sollst nicht töten«, aber bereits wer im Zorn die Beherrschung verliert, ist des Höllenfeuers schuldig. »Du sollst nicht die Ehe brechen«, aber »wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen«. Auch Jesu viertes Beispiel hebt nicht das Verbot des Meineids auf, sondern fordert vielmehr, überhaupt keine Eide zu leisten. Jesu antithetische Weisungen können demnach als Kritik an der buchstäblichen Auslegung von Geboten interpretiert werden. Sie heben die Toragebote nicht auf, sondern erfüllen sie (Mt 5,17), weil sie der ursprünglichen Bedeutung der Tora, also dem ursprünglichen Gotteswillen, entsprechen. Neben diesen zwei Texten, in denen Jesus mehrere Dekaloggebote zusammen nennt, wird andernorts in den Evangelien das Gebot der Elternehrung (Mk 7,10) und vor allem das Sabbatgebot182 einzeln erwähnt. Auch hier finden wir die Kombination vom Festhalten an den Geboten der Tora und dem gleichzeitigen Anspruch einer radikaleren, dem ursprünglichen Gotteswillen entsprechenden Interpretation von konkreten Gesetzen. In Mt 22,36-40 fasst Jesus den eigentlichen Willen Gottes im doppelten Gebot der Liebe zu Gott (Anfang des Shemaʿ) und zum Mitmenschen (Nächstenliebegebot) zusammen, und bezeichnet es als höchstes und grösstes, von dem Tora und Propheten abhängen. Paulus bringt Dekalog und Liebesgebot dann in Zusammenhang: in Röm 13,8 -10 zählt er die Dekaloggebote 6-8 und 10 auf, um sie zusammen mit »allen anderen Geboten« in dem einen, allen Geboten zugrunde liegenden Gebot: »Du sollst deinen Umwelt im Gegensatz zu den kultischen oft akzeptiert und gewürdigt, vgl. dazu Hadrians Deutung des Zehnworts im rabbinischen Gleichnis auf S. 109f. 182 Sabbatgebot: Mt 12,11f; Mk 2,23-28; 3,1-6; Lk 13,10-17; 14,1-8; Joh 5, 1-10; 9,1-14; 7,22f. 58 Nächsten lieben wie dich selbst« zusammenzufassen, bzw. ihm unterzuordnen.183 Durch diese Interpretation stehen in Jesu Zusammenfassung des Gesetzes Shemaʿ und Dekalog nebeneinander. Die Verwandtschaft dieser beiden Texte findet sich auch in der rabbinischen Literatur, wo die beiden Texte als austauschbar angesehen werden.184 Weiter baut Paulus in Röm 7,7 seine Rede über die Rolle des Gesetzes auf dem 10. Gebot auf und in den Ermahnungen des Epheserbriefes wird das 5. Gebot als Grund für den geforderten Gehorsam gegenüber den Eltern genannt (Lu84): »Ehre Vater und Mutter«, das ist das erste Gebot, das eine Verheissung hat: »auf dass dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden (6,2f)«. Beim Ausdruck "erstes Gebot" (εντολή πρώτη) ist nicht eindeutig, worauf sich das "erste" bezieht.185 Obwohl die Einheitsübersetzung dies nahe legt, kann aus diesem Text keine Höherstellung dieses Gebotes gegenüber Geboten ausserhalb des Zehnworts abgeleitet werden.186 Vielmehr ist mit REICKE davon auszugehen, dass Paulus hier als bekannt voraussetzte, dass später im Deuteronomium ein zweites Gebot mit dieser Verheissung steht, nämlich das Gebot zum Schutz der Vogelmutter (Dtn 22,7).187 Jakobus schliesslich zitiert das 6. und 7. Gebot als Beispiele dafür, dass die Übertretung eines einzigen Gebots das ganze Gesetz bricht (Jak 2,10f.): 10 Wer das ganze Gesetz hält und nur gegen ein einziges Gebot verstösst, der hat sich gegen alle verfehlt. 11Denn er, der gesagt hat: Du sollst nicht die Ehe brechen!, hat auch gesagt: Du sollst nicht töten! Wenn du nicht die Ehe brichst, aber tötest, hast du das Gesetz übertreten. Die Auswahl der Gebote, die Jakobus in seinen Beispielen getroffen hat, ist für seine eigentliche Aussage nicht relevant. Die Art seiner Argumentation - »Denn er, der gesagt hat…«" – macht deutlich, dass alle Gebote Gottes gleichwertig sind, was den Status ihres Übertreters vor dem Gesetz betrifft. Jakobus' Ansicht, dass kein Gebot isoliert übertreten werden kann, sondern die Übertretung weiterer Gebote in sich birgt, wird auch von vielen Rabbinen vertreten. Sie beziehen sich dabei wie Jakobus auf die Zehn Gebote (vgl. Teil 2: 3.7). 183 Vgl. Gal 5,14. Zum neutestamentlichen Zusammenhang zwischen Nächstenliebegebot und Dekalog vgl. FLUSSER, Ten Commandments, 219-246. 184 Vgl. S. 72-74. 185 PRATSCHERS (Bedeutung, 201) Deutung, dass es sich dabei um das erste Gebot auf der zweiten Tafel handelt, überzeugt nicht, kann sich jedoch auf Augustin (Sermo 9,7) stützen. 186 Während Lu84 es mit dem unmittelbar folgenden Ausdruck in Verbindung bringt "das erste Gebot, das eine Verheissung hat", übersetzt die EÜ "ein Hauptgebot, und ihm folgt die Verheissung…." 187 REICKE, Zehn Worte, 58. 59 Die für die Heidenmission wichtige Apostelversammlung in Jerusalem (zwischen 44 und 49 n. Chr.) beschloss im so genannten Aposteldekret (Act 15,28f.), dass den heidnischen Christen weder die Beschneidung noch das Halten des mosaischen Gesetzes auferlegt werden sollte. Lediglich vier Forderungen wurden gestellt: die Abstinenz von Götzenopfer, Blut und Ersticktem sowie von Unzucht. Interessanterweise standen bei diesem Beschluss weder die Noachidischen Gebote noch das Zehnwort zur Diskussion. Während eine Erklärung dafür noch aussteht,188 ist das Nichtverordnen des Zehnworts jedenfalls Hinweis darauf, dass der Dekalog in der Mitte des 1. Jh. n. Chr. noch weit davon entfernt war, den Status als das Gesetz für Christen innezuhaben. Im Hinblick auf den Liturgieausschluss des Zehnworts durch die Rabbinen und den späteren Verdacht der Christen als Auslöser ist das Aposteldekret deshalb eine wichtige Quelle. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Fokus im Neuen Testament klar auf den zwischenmenschlichen Geboten des Dekalogs liegt.189 Während Jesus sie als Inbegriff für das Gesetz und als unvergängliche Tora zitiert, werden sie bei Paulus und Jakobus bei Diskussionen übers Gesetz als Beispiele herangezogen. Nie werden Gebote des Zehnworts als grösser oder wichtiger als andere Gebote dargestellt, sie dienen lediglich als Pars pro Toto für das ganze Gesetz. Eine Zusammenfassung des Gesetzes sieht Paulus nicht im Zehnwort, sondern im Gebot der Nächstenliebe. Dieses wird nicht sachlich übergeordnet, sondern ist der Wille Gottes, den auch andere, konkrete Gebote zum Ausdruck bringen können. Die im Neuen Testament ausgedrückte Auffassung der Gebote des Zehnworts zeigt ein Spektrum vom Inbegriff der Tora bis zur Gleichstellung mit allen anderen Geboten der Tora. Laut VOKES reflektiert das NT damit die zeitgenössische jüdische Bewertung des Platzes des Dekalogs und legt die Grundlage für die spätere Entwicklung.190 Ausserkanonische Schriften: In der Diskussion um die Rolle des Dekalogs in der frühen Kirche wird oft aus einem Brief Plinius' des Jüngeren an Kaiser Trajan (Ep X 96, Anfang 2. Jh.) zitiert, wo die vom Statthalter Plinius verhörten Christen aussagten: 188 BAUCKHAM (James, 172-178) kann jedoch darlegen, dass das Dekret nicht nur – wie weithin anerkannt - auf Lev 17-18 beruht, sondern anhand einer spezifisch jüdisch-christlichen Schriftauslegung aufgrund der exegetischen Verbindung von Lev 17-18 mit zwei Texten aus den Prophetenbüchern zustande kam. 189 Diese Tendenz ist nicht nur im frühen Christentum sondern überhaupt im zeitgenössischen Judentum festzumachen, vgl. SÄNGER, Tora, 125. 190 VOKES, Ten Commandments, 154. 60 […] dass sie immer an einem festgesetzten Tag vor Sonnenaufgang zusammenkamen, Christus wie einem Gott ein Lied darbrachten, im Wechselgesang, und sich eidlich verpflichteten – nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen, sondern dazu, keinen Diebstahl, keine Räuberei keinen Ehebruch zu begehen, nicht wortbrüchig zu werden, anvertrautes Gut auf Mahnung nicht zu verweigern.191 Von den einzelnen Verpflichtungen des Gelübdes sind Diebstahl und Ehebruch sofort als Dekaloggebot erkennbar. Räuberei, Wortbruch und Ableugnen von Gut können mit einer gewissen Grosszügigkeit den übrigen drei Geboten der zweiten Tafel zugeordnet werden. Die geschilderte Zusammenkunft wird gewöhnlich als regulärer Gottesdienst oder als Taufversprechen gedeutet.192 Da wir jedoch keine anderen Zeugen vom Zehnwort als festem Bestandteil einer frühchristlichen Liturgie haben, reicht der Hinweis von Plinius laut VOKES nicht aus, um einer solchen Funktion des Zehnworts klare Konturen zu geben.193 Er bestätigt aber aus externer Quelle das auch in den neutestamentlichen Texten erkennbare Gesetzesverständnis, Dekaloggebote als unverzichtbaren Bestandteil der christlichen Lehre, ja als Grundlage des verbindlichen Gesetzes zu betrachten. Als christliche Gemeindeordnung genoss die anfangs des 2. Jh. entstandene Didache - auch Zwölf-Apostel-Lehre genannt – in der Antike grosses Ansehen. Die Kapitel 16 über die Zwei-Wege-Lehre - der Weg des Lebens und der Weg des Todes – werden auch als Taufkatechese bezeichnet.194 Das Zehnwort wird auch in der Didache nicht erwähnt. In der Beschreibung des Wegs des Lebens (Kap. 1-4), nimmt der Text jedoch Bezug auf die Gebote der zweiten Tafel, die allerdings nicht unmittelbar aufeinander folgen. Die meisten der sonst noch erwähnten Verbote lassen sich ebenfalls auf die zweite Tafel des Zehnworts zurückführen. Daneben werden auch positive Gebote Jesu aus der Bergpredigt aufgelistet. Aus dem Fehlen der Gebote der so genannten ersten Tafel sowie aus dem an den Anfang gestellten Doppelgebot der Liebe (gefolgt von der Goldenen Regel) lässt sich schliessen, dass die Gebote aus 191 Übersetzung nach: http://www.vox-latina-gottingensis.de/origueb/pliniue/plibu10/pli10u96.htm, abgerufen am 15.01.2010. 192 Während KRAEMER (zitiert in VOKES, Ten Commandments, 148) den Ausdruck "an einem festgesetzten Tag" als Sonntag versteht und die Beschreibung somit als Hinweis auf den regulären Sonntagsgottesdienst der Kirche, interpretiert RORDORF (Beobachtungen, 440f.) die geschilderte Situation aufgrund des "eidlich" (sacramento) als Taufversprechen. Andere sehen im Ausdruck "Lied" das Shemaʿ, unterstützt durch die Zeitangabe "vor Tagesanbruch", wenn die Rabbinen das Shemaʿ zu rezitieren pflegten (so MOELER, MONTEFIORE und LOEWE in: VOKES, Ten Commandments, 148f.). Wie VOKES (ebenda) zu Recht bemerkt, scheint sich die Aussage jedoch eher auf einen regulären Gottesdienst denn auf eine Taufe zu beziehen. 193 VOKES, Ten Commandments, 149. 194 Aufgrund von Did 7,1. 61 dem Zehnwort nicht um des Zehnworts an sich willen in der Gemeindeordnung Platz fanden, sondern als Ausdruck der Lehre Jesu. Patristische Literatur: Eine namentliche Erwähnung des Dekalogs findet sich im Barnabasbrief (vor 135 n. Chr.), im Brief von Ptolemäus an Flora (2. Jh. n. Chr.) und beim Kirchenvater Irenäus von Lyon (um 180 n. Chr.).195 Was hingegen den Inhalt des Dekalogs anbelangt, fällt laut BRIEND bei den griechischen Kirchenvätern auf, dass sie keinerlei Systematik walten lassen, wenn sie die Zehn Gebote erwähnen. Obwohl sie seine Bedeutung anerkennen, haben sie ihm keinen eigenen Kommentar gewidmet. Bei den lateinischen Vätern zeichnet sich mit Ausnahme von Augustinus ein ähnliches Bild.196 Die neutestamentliche Auswahl der Dekalogzitate ist wahrscheinlich ein Mitgrund, warum es bei den Kirchenvätern fast durchgehend üblich ist, sich hauptsächlich mit dem zweiten Teil des Zehnworts zu befassen. Trotz zeitlichem Abstand zu den bisher erwähnten Schriften ist an dieser Stelle noch Augustinus von Hippo (354-430) zu erwähnen, da er in seinen Schriften wiederholt und in jeder Hinsicht ausführlicher als die anderen Kirchenväter auf den Dekalog zu sprechen kommt.197 Eine Auslegung des Dekalogs, die auf Einzelheiten der Interpretation eingeht und echte Auslegungsvarianten durchdiskutiert, ist in seinem Exoduskommentar Quaestiones Exodi (70/71) zu finden.198 Auch in den Predigten (Sermones) 8 und 9 behandelt er das Zehnwort ausführlich.199 Augustins Aufteilung des Zehnworts auf die beiden Tafeln hat die christliche Dekalogtradition bis heute geprägt, nicht zuletzt, weil sie von Luther übernommen wurde. In Sermo 8,18 erklärt der Kirchenvater seine Aufteilung folgendermassen: Jene drei ersten Gebote im Dekalog werden aber so verstanden, dass sie sich auf die Liebe zu Gott beziehen, so dass die sieben restlichen so verstanden werden, dass sie sich auf die Liebe zum Nächsten beziehen, und auf den zwei Tafeln des Gesetzes mit ihren zehn Geboten gleichsam als deren Zusammenfassungen folgende 195 Barnabasbrief 15,1; PtolFl 3,2; Irenäus, AdHaer 4,15. BRIEND (Kirchenväter, 52-54) gibt in seinem Artikel einen kurzen Überblick über patristische Texte zum Dekalog. 197 Auflistung der Stellen zum Dekalog in: DROBNER, Augustinus, 103; RENTSCHKA, Dekalogkatechese, 3f.; SCHINDLER, Decalogus, 246-255. 198 Vgl. SCHINDLER, Decalogus, 246. 199 Sermo 8 ist eine Gegenüberstellung der Zehn Gebote vom Sinai und der Zehn Plagen der Ägypter. Seine theologische Interpretation dieser Gegenüberstellung legt Augustinus denn auch gleich zu Beginn der Predigt dar (8,2): "Ich meine also, dass alle, die die zehn Gebote des Gesetzes gering schätzen und nicht beobachten, geistig das erleiden, was die Ägypter körperlich erlitten haben." In Sermo 9 vergleicht er die zehn Gebote mit den zehn Saiten des Psalters, ausgehend vom zuvor in der Liturgie gesungenen Psalm (Ps 143,9). Sein Interesse an der Zehnzahl, das er mit Philo und den Rabbinen teilt (vgl. S. 51f. und S. 137f.), tritt auch an anderen Stellen zum Vorschein (vgl. dazu SCHINDLER, Decalogus, 248). 196 62 zwei Gebote enthalten sind: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft; und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,37.39-40). Wie Augustinus in Sermo 9,7 noch detaillierter darlegt, verkörpert die erste, auf Gott bezogene Tafel mit drei Geboten zugleich die Dreieinigkeit Gottes. Gemäss seiner Zählung der Gebote endet die erste Tafel mit dem Sabbatgebot, welches sich auf den geheiligten Tag und somit auf den heiligen Geist bezieht.200 Während Paulus das Gesetz im Gebot der Nächstenliebe zusammenfasst, stützt sich Augustinus auf Jesu Zusammenfassung des Gotteswillen im doppelten Liebesgebot (Mt 22, 37-40) und sieht dieses als die Zusammenfassung von je einer Tafel des Gesetzes: die erste Tafel fasst die Liebe zu Gott, die zweite die Liebe zum Mitmenschen zusammen. Die Aufteilung auf die Tafeln ist bei Augustin also ganz klar inhaltlich motiviert und zugleich eine theologisch Aussage.201 Die Ansicht, dass bereits Augustinus die Dekalogkatechese in der Kirche einführte, ist umstritten.202 Ungeachtet der wissenschaftlichen Diskussion dieser Frage bleibt die Feststellung, dass eine Beschäftigung mit dem Zehnwort, wie sie uns bei Augustinus überliefert wurde, im frühchristlichen Schrifttum vor ihm in diesem Ausmaß nicht anzutreffen ist. Um für die Beurteilung der Stellung des Zehnworts im Christentum im Hinblick auf den rabbinischen Liturgieausschluss relevant zu sein, sind Augustins Schriften jedoch zwei bis drei Jahrhunderte zu spät.203 Ein möglicher Grund für die mit Augustinus beginnende christliche "Popularisierung" des Dekalogs könnte in den von ihm verwendeten Kurzfassungen bestehen: Augustin lässt regelmässig die biblischen Erläuterungen zum Dekalog weg und zieht sie auch nicht für die Auslegung heran.204 Seine rein geistige Interpretation 200 Der Sabbat sei im übertragenen Sinn als ewige Ruhe zu verstehen, die Gott verheisst. Ewig deswegen, weil Gott bei der Erschaffung der Welt an diesem Tag ruhte und es nur von diesem Tag nie heisst "es wurde Abend", wie es bei allen anderen Tagen heisst. Augustins Interpretation beruht auf der rabbinischen Auslegungsregel "ein an seiner Stelle besonderer Ausdruck" (Regel 16 nach R. Eliezer). 201 Vgl. die verschiedenen Traditionen zur Aufteilung der Gebote auf die zwei Tafeln auf S. 27-29. 202 RENTSCHKA (Dekalogkatechese, 21) geht 1905 in seiner Abhandlung über die Dekalogkatechese bei Augustinus gar so weit, deren Einführung auf das Jahr 395 und die Predigt 9 festzulegen. Der Dekalog sei damit zum "Zentrum des Sittenunterrichts" geworden. An anderer Stelle spricht er zurückhaltender davon, dass der Dekalog ein Gegenstand des präbaptismalen Unterrichtes geworden sei (Dekalogkatechese, 33). Während REICKE (Zehn Worte, 10) sich noch auf RENTSCHKAS These stützt, wird diese heute nicht mehr akzeptiert, vgl. DROBNER, Augustinus, 155; SCHINDLER, Decalogus, 249. 203 Vgl. die Datierung des Liturgieausschlusses S. 78-84. 204 Vgl. SCHINDLER, Decalogus, 250.252. Dass biblische Zitate nicht als vollständige Verse oder 63 des Sabbatgebots z.B. wird durch die Weglassung der Erläuterungen erst möglich. Die verkürzte Zitierung lässt einen grösseren Interpretationsspielraum der Gebote, und gibt ihnen einen allgemeineren Charakter. Diese Tendenz ist später auch in Luthers auf den Zehn Geboten basierendem Katechismus festzustellen.205 Abschnitte wiedergegeben werden, ist auch im NT und in der rabbinischen Literatur üblich. Die Auslegung bezieht sich üblicherweise aber auch auf die nicht zitierten Teile, bzw. in bestimmten Fällen sogar nur darauf. 205 Interessanterweise bemerkt Luther beim Sabbatgebot sowie beim Verbot des Begehrens, dass sie eigentlich ausschliesslich den Juden gegeben seien, deutet sie jedoch anschliessend dennoch "christlich" um. Die Befreiungstat Gottes an den Israeliten im ersten Gebot erwähnt er hingegen mit keinem Wort. 64 Teil 2: 1 Das Zehnwort in den rabbinischen Quellen Einleitung zum zweiten Teil 1.1 Die rabbinische Bezeichnung der Zehn Worte Im Gegensatz zur biblischen Bezeichnung ʿaseret ha-devarim nennen die Rabbinen die Zehn Worte ʿaseret ha-dibberot. Der Wechsel des grammatikalischen Geschlechts eines Wortes in seiner Pluralform begegnet auch andernorts im rabbinischen Sprachgebrauch und scheint laut BEN-CHORIN auf eine spezifische Verwendung dieses Wortes hinzuweisen. So werden tefilla, "Gebet" bzw. tehilla, "Lobpreis", beide mit regelmässiger femininer Pluralendung, in der ganz spezifischen Verwendung "Gebetsriemen" bzw. "Psalmen" mit der ungrammatikalischen maskulinen Pluralform verwendet: Tefillin und Tehillim. Analog dazu würde die ungrammatikalische feminine Pluralendung dibberot bedeuten, dass es sich dabei um ganz spezifische zehn Worte handelt, eben um das Zehnwort.206 Andere wiederum deuten die Form als Plural von dibber (Jer 5,13),207 welches laut WEINFELD die Bezeichnung für das an einen Propheten offenbarte Wort ist.208 1.2 Bemerkungen zur rabbinischen Hermeneutik Eine ausführliche Abhandlung über die rabbinische Hermeneutik hat STEMBERGER vorgelegt.209 Zum besseren Verständnis der vorliegenden Untersuchung werden hier die grundlegendsten Voraussetzungen und Regeln der rabbinischen Hermeneutik kurz erwähnt. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik sei auf das oben erwähnte Standardwerk verwiesen. Während die Schriftauslegung in der Zeit vor 70 n. Chr. noch von einer gewissen Freiheit im Umgang mit dem Bibeltext - der noch in gewissem Masse fluktuierte geprägt war, stand die rabbinische Auslegungstradition dagegen von Anfang an unter anderen Voraussetzungen als ihre Vorgänger. Die selbstverständliche Bindung an den hebräischen Text und dessen einheitliche, bis ins letzte Detail festgelegte Form bedingt die spezifisch rabbinische Hermeneutik, die unter anderen textlichen 206 Vgl. BEN-CHORIN, Tafeln, 14. So z.B. KÜHNI, Mechilta, 22 und MELAMMED, Observe, 191 Anm. * (Asterisknote). Letzterer weist noch auf eine weitere Meinung hin, die den Plural dibberot von dibbera (Koh 3,18) ableitet. 208 WEINFELD, Uniqueness, 9. 209 DOHMEN/ STEMBERGER, Hermeneutik, 75-109. 207 65 Verhältnissen nie möglich gewesen wäre. Das geschichtliche Werden des biblischen Textes ist dabei weder von Wichtigkeit noch von Interesse, da nach rabbinischem Verständnis die ganze Offenbarung - einschliesslich der mündlichen Offenbarung, zu der die rabbinische Auslegung gehört - schon durch Mose am Sinai gegeben wurde. Es wird nicht nur nach der ursprünglichen, vom Autor gewollten Bedeutung gefragt: die Schriftauslegung darf alle Möglichkeiten des blossen, als Sequenz von Konsonanten festgelegten Textes ausschöpfen. Dieser ist in all seinen Möglichkeiten von Gott beabsichtigt und zur Auslegung gegeben. Das Wissen um die Vielschichtigkeit des Bibeltextes bewirkt einen unverkrampften Zugang zu anderen Auslegungen als der eigenen. Oft werden ergänzende oder gegensätzliche Auslegungen aneinander gereiht: erst die Fülle der Auslegungen nähert sich der Bedeutung des Textes. Und in dieser Bedeutungsfülle drückt sich nicht zuletzt die Vollkommenheit des biblischen Textes aus. Für die Auslegung verwendeten die Weisen verschiedene Regeln. Die älteste Gruppe von Auslegungsregeln wird Hillel, dem grossen Meister der Textauslegung zur Zeitenwende, zugeschrieben. Diese "sieben Regeln Hillels" werden in den 13 Regeln des Rabbi Jischmael weiter ausgefaltet, und auch von den 32 Regeln des Rabbi Eliezer sind einige schon in den anderen beiden Regelsätzen enthalten.210 Solche Regeln definieren unter anderem, wie Schlüsse aus dem Text hergeleitet werden dürfen (z.B. durch Analogie, Verallgemeinerung, Querverweis, Kontext), wie mit (scheinbaren) Widersprüchen umzugehen ist, und auf welche Weise der Konsonantentext zerlegt werden darf. Alle in der Sprache des biblischen Textes angelegten Möglichkeiten sind damit Teil der göttlichen Mitteilung. Das Suchen und Ans-Licht-bringen dieser verborgenen Offenbarung ist eines der zentralen Anliegen der rabbinischen Hermeneutik. 1.3 Methodisches Vorgehen Wie in der Einleitung dargelegt, ist es das Ziel dieser Untersuchung, die in fast allen Werken der rabbinischen Literatur zu findenden Quellen zum Zehnwort einzuordnen und zu interpretieren, um so ein umfassendes Bild von der Stellung zu erhalten, die der Dekalog im rabbinischen Denken einnimmt. Die Vorgehensweise bei dieser 210 Zu den Regelgruppen, den einzelnen Regeln und ihrem Inhalt vgl. DOHMEN/STEMBERGER, Hermeneutik, 84-102. 66 thematischen Arbeit ist also in erster Linie eine philologische und weitgehend textimmanente. Die Zehn Gebote als biblisches Subjekt geben der Arbeit aber auch eine theologische Komponente, die besonders in der Deutung der Texte zum Vorschein kommt. Eine ethische Diskussion jedoch entfällt weitgehend, trotz des gesetzlichen Inhalts des Zehnworts. Dies ist einerseits auf die Art und Weise seiner Thematisierung durch die Rabbinen zurückzuführen, liegt aber auch in der Beschränkung der Fragestellung auf das Zehnwort als Ganzes begründet. Was den wissenschaftlichen Umgang mit rabbinischen Texten betrifft, gibt es keinen weithin anerkannten Konsens in Methodenfragen, die lange Zeit auch kaum gestellt wurden. STEMBERGER verweist in seiner Einleitung in Talmud und Midrasch auf die mögliche Verwendung bibelwissenschaftlicher Methoden: "Sicher kann die für die Bibel entwickelte Methodenlehre nicht ungeprüft für rabb. Texte übernommen werden; doch ist von dort Wesentliches zu lernen; so kommen denn auch von dort alle relevanten Anstösse, die die Bearbeitung rabb. Texte in den letzten Jahrzehnten befruchtet haben. Bislang gibt es erst vereinzelte Ansätze zu einer speziell für rabb. Texte geeigneten Methodenlehre."211 Die Problematik der Methodenlehre ist nicht zuletzt durch die Eigenart der rabbinischen Traditionsliteratur bedingt, deren Werke in weiten Teilen eine Art Zitatliteratur sind, in denen Material aus verschiedenen Jahrhunderten verwendet wird und bei denen nicht immer mit einer einheitlichen Redaktion gerechnet werden kann. Aus der Bibelwissenschaft übernommene methodische Analysen wie z.B. Text-, Gattungs- oder Redaktionskritik können für einzelne rabbinische Werke sinnvoll sein; im Rahmen meiner thematischen Fragestellung, die sich über mehr als hundert Texte aus den verschiedensten Werken der rabbinischen Literatur erstreckt, sind sie jedoch weder durchführbar, noch ist von ihnen ein direkter Beitrag zur vorliegenden Diskussion zu erwarten. Angesichts dieser grundsätzlichen wie auch spezifischen Schwierigkeiten einer geeigneten Methodik beschreibe ich im Folgenden das Vorgehen, das mir angesichts meiner Fragestellung sinnvoll erscheint. Mit rabbinischer Literatur sind in der vorliegenden Untersuchung Mischna, Tosefta, zwei Talmudim sowie die tannaitischen und amoräischen Midraschim aus den ersten fünf oder sechs Jahrhunderten n. Chr. gemeint.212 Die Texte, welche die Grundlage 211 Vgl. STEMBERGER, Einleitung, 56. Sammelwerke und Midrasch genannte Kommentare (vgl. STEMBERGER, Einleitung, 341-349) wurden dabei nicht berücksichtigt. Zur Problematik der Definition bzw. Einschränkung der 212 67 dieser Arbeit bilden, habe ich mit der CD-ROM-Konkordanz der elektronischen Datenbank Judaic Classics Library zusammengestellt.213 Als Suchbegriff dienten das Stichwort ( עשרת הדברותʿaseret ha-dibberot) und sein aramäisches Äquivalent.214 Die Stellen sind im Quellenregister am Ende dieser Arbeit aufgelistet. Weitere Texte, die ebenfalls Eingang in die Untersuchung fanden, stammen aus dem Kontext der per Stichwort gefundenen Texte oder betreffen rabbinische Äusserungen zu den Bundestafeln. Sie sind ebenfalls im Quellenregister aufgeführt. Bei Texten, die Parallelen in verschiedenen rabbinischen Werken aufweisen, habe ich jeweils den Text zitiert, der mir bezüglich Qualität und Verständlichkeit am geeignetsten erschien und die Parallelstellen in den Anmerkungen genannt – jeweils eingeleitet mit zwei parallelen Schrägstrichen (//). Was die Zitation der rabbinischen Texte anbelangt, sind sie im Allgemeinen nach einer deutschen, bzw. englischen Standardübersetzung wiedergegeben, die im Literaturverzeichnis aufgeführt ist. Wo keine solche Übersetzung verfügbar war oder wo sie sprachlich ungeeignet erschien, habe ich eine eigene Übersetzung angefertigt und dies in einer Fussnote vermerkt. An dieser Stelle ist noch der so genannte Midrasch ʿaseret ha-dibberot zu erwähnen. Der Name dieses Werkes, dessen Redigierung ins 7.-11. Jahrhundert datiert wird, ist irreführend, da es sich dabei nicht um einen exegetischen oder homiletischen Midrasch zu den Zehn Worten handelt, sondern um eine Sammlung von Geschichten, die im Rahmen der Namen und Themen der Zehn Gebote angeordnet wurden.215 Für die vorliegende Untersuchung ist er deshalb nicht von Bedeutung. Beim Sichten der Quellen haben sich verschiedene Themenkreise herauskristallisiert, in denen sich die rabbinischen Diskussionen zum Zehnwort bewegen. Entlang dieser Themengebiete habe ich meine Arbeit strukturiert. Der thematische Aufbau zeigte schon bald, dass die rabbinischen Äusserungen zum Zehnwort mit wenigen Ausnahmen stets im Zusammenhang mit der Offenbarung am Sinai gemacht wurden. Diese Kontextualisierung hat der Arbeit wiederum den grösseren Rahmen gegeben. Die Befragung der einzelnen Texte geschah quer durch die Themengebiete hindurch. Ihr Fokus liegt gemäss der ebenfalls in der Einleitung dargelegten Fragestellung auf dem Dekalog als Ganzes, seiner Stellung in der rabbinischen Literatur und seiner zu rabbinischen Periode und ihrer Literatur vgl. GAFNI, Background, 1-3. 213 The CD-ROM Judaic Classics Library (Deluxe Edition), Institute for Computers in Jewish Life & Davka Corporation, Chicago 1991-1999. 214 Um möglichst alle wörtlichen Nennungen zu finden, habe ich die trunkierten Formen **עשר * *דברbzw. * *עשר* *פתגמals Suchbegriffe verwendet. 215 Vgl. NOY, Tipusim, 353. 68 prüfenden Besonderheit innerhalb der Offenbarung vom Sinai. Im Rahmen einer so definierten thematischen Untersuchung, die sich über alle rabbinischen Werke erstreckt, ist es selbstverständlich nicht möglich, den jeweiligen rabbinischen Quellen in ihrem ganzen komplexen Kontext gerecht zu werden. Dies würde den Umfang dieser Studie bei weitem sprengen. Passagen, die denselben Aspekt beleuchten, habe ich ungeachtet ihres jeweiligen grösseren Textzusammenhangs zusammengebracht und nebeneinander gestellt. Neben verschiedenen Meinungen kommen so auch widersprüchliche Aussagen zum Vorschein. Diese Methode unterstützt den rabbinischen Ansatz, die Stimmen der Weisen aus unterschiedlichen Jahrhunderten nebeneinander, wie im gleichen Raum, erklingen zu lassen. Eine solche Zusammenstellung von Texten, die über Zeit und Ort verstreut im Laufe der rabbinischen Toraauslegung entstanden und tradiert worden sind, ist unweigerlich anachronistisch. Der Versuch, die verwendeten Texte verlässlich zu datieren, wurde gar nicht erst unternommen, da er auf Grund des zitierenden Charakters der rabbinischen Schriften, denen vor ihrer Verschriftlichung oft eine lange Zeit mündlicher Überlieferung vorausging, zum Scheitern verurteilt ist. Selbst da, wo Aussagen im Namen von bestimmten Rabbinen tradiert werden, gibt uns das keinen verlässlichen Anhaltspunkt für einen zeitlichen Vergleich zwischen Textstellen.216 In einigen Fällen können Aussagen über Ideen gemacht werden, die im Vergleich von früheren und späteren Werken eine Entwicklung erkennen lassen.217 Die wenigen Male, wo eine Datierung für die Beurteilung eines Textes relevant schien, habe ich eine zeitliche Einordnung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte (u.a. archäologische Quellen) versucht und diesbezügliche Bedenken benannt. Indem ich die hermeneutischen Schlüsse der Rabbinen nicht herleite, sondern als Ausgangspunkt für meine Untersuchung verwende, bleibt dem Leser ein Teil des Reichtums dieser rabbinischen Auslegungen weiterhin verborgen. Diese Vorgehensweise ermöglicht jedoch den konzentrierten Blick auf das Zehnwort, der im sprichwörtlichen Ozean der rabbinischen Literatur einem Schiff gleich von Insel zu Insel steuert, ohne deren jeweilige Verankerung am Meeresboden zu ergründen. 216 Zur Problematik der Datierung rabbinischer Texte anhand von Rabbinennamen vgl. STEMBERGER, Einleitung, 67-69. 217 Vgl. Teil 2: 3.6.5 sowie die Ausführungen von NEUSNER, Method, 7. 69 2 Das Zehnwort in der rabbinischen Liturgie 2.1 Die Zehn Worte im Priester- und Laiengebet Während die Opfergottesdienste in der Bibel zum Teil schon sehr detailliert beschrieben werden, nahm die Verschriftlichung von Gebet und Liturgie erst in tannaitischer Zeit ihren Anfang. In der Mischna (um 200 n. Chr.) wird der Ablauf des Tempelgottesdienstes detailliert beschrieben. Obwohl zur Zeit der Entstehung und Redigierung der Mischna diese Halachot keine praktische Bedeutung mehr hatten, waren sie fürs Studium wichtig. Denn dem Studium der Opfergesetze wurde nach der Zerstörung des Tempels dasselbe Verdienst zugerechnet wie den Opferhandlungen selbst (bMen 110a). Als nach dem niedergeschlagenen Bar-Kochba-Aufstand die Ahnung aufkam, dass der Tempel diesmal nicht so schnell wieder aufgebaut werden würde wie nach dessen erster Zerstörung,218 wurden die Opfergesetze auch als Wissensbasis wichtig: der Ablauf des Tempeldienstes musste für spätere Generationen festgehalten werden, damit der Opferdienst sofort wieder aufgenommen werden konnte, sobald einmal ein dritter Tempel gebaut würde. Die Mischna überliefert uns, dass zur Darbringung des täglichen Opfers am Morgen auch Gebete gehörten. Diese kurze Priesterliturgie wurde zwischen der Vorbereitung des Opfers und dessen Darbringung gesprochen. Die Priester legten nach dem Schlachten und Vorbereiten des Opfers dieses an der Westseite der Altarrampe zum Einsalzen nieder und gingen dann hinab zur Quaderzelle zum Gebet (mTam 5,1): Der Vorgesetzte sagte zu ihnen: Sprecht eine Benediktion! Und sie segneten, sprachen die Zehn Gebote, das Shema, das "Und wenn ihr hört" und das "Und er sprach". Dann segneten sie das Volk mit drei Benediktionen: mit "Wahr und fest", "Dienst" und mit dem Priestersegen. Und am Sabbat fügten sie einen Segensspruch für die abtretende Wache hinzu.219 Dieses Gebet oder Bekenntnis, das die Priester in der für Laien unzugänglichen Quaderhalle verrichteten, ist das erste in der Mischna erwähnte und auch vorausgesetzte Gebet des Tages. Der Vorgesetzte hatte die Oberaufsicht über die priesterlichen Funktionen zu führen und die verschiedenen Anordnungen zu treffen.220 Wie die erste Benediktion lautete, ist aus anderen Quellen abzuleiten.221 218 Es dauerte ca. 70 Jahre von der Zerstörung bis zur Fertigstellung des Neubaus nach dem Babylonischen Exil. 219 Eigene Übersetzung. 220 ממונה: LEVY, Wörterbuch III, 142. 221 In mBer 1,4 werden entgegen obiger Mischna zwei Benediktionen statt einer gefordert, laut 70 Nach diesem Auftakt folgte das Rezitieren der Zehn Gebote, gefolgt vom Shemaʿ, das aus drei Abschnitten zusammengesetzt ist (Dtn 6,4-9; 11,13-21; Num 15,37-41). Schliesslich folgte "Wahr und fest" ()אמת ויציב, dann ein weiteres Gebet, das später zur sechzehnten Benediktion des Achtzehngebets wurde, und zum Schluss der Priestersegen (Num 6,24-26). Dass die Zehn Gebote an erster Stelle nach dem eröffnenden Segensspruch gesprochen wurden, mag mit ihrer Wertschätzung zu tun haben, entspricht aber auch einfach der Textfolge gemäss Deuteronomium. GREENBERG sieht ihre Rezitation als Aufzählung der Prinzipien der Tora, bevor dann mit dem Shemaʿ die Verpflichtung, sie zu halten, ausgesprochen wird.222 Wohlgemerkt erfolgten das Bekenntnis und die Segnung des Volkes ohne dessen Anwesenheit. Im Hinblick auf die im Folgenden zu besprechenden Talmudstellen ist ihr Vorkommen in einem Gebet, das eben gerade nicht angesichts des Volkes gesprochen wurde, möglicherweise von Bedeutung. Die Zehn Gebote erscheinen in der Mischna als integraler Bestandteil des Morgengebets im Tempel. Sie gehören hier zusammen mit dem Shemaʿ zu den wichtigsten bekennenden Textabschnitten aus der Bibel. Dass das Zehnwort in der Gottesdienstliturgie vorkommt, ist darum für die Liturgiegeschichte interessant, aber unspektakulär. Wie wir dem Talmud entnehmen können, führte die zitierte Mischnastelle jedoch immer wieder zu Diskussionen, weil sie nicht mehr der – inzwischen synagogalen - gottesdienstlichen Praxis entsprach. So z.B. im babylonischen Talmud (bBer 12a): "UND SIE SPRECHEN DIE ZEHN GEBOTE, DAS SCHEMA, 'UND WENN IHR HÖRT', 'UND ER SPRACH', 'WAHR UND FEST', 'DIENST' UND DEN PRIESTERSEGEN." R. Jehuda sagte im Namen Schmuels: Auch in der Provinz223 wollte man sie lesen, aber man hatte bereits davon abgelassen, wegen der Nachrede ()תרעומת224 der Minim. Das gleiche wird gelehrt: R. Nathan sagt: In der Provinz wollte man sie lesen, aber man hatte bereits davon abgelassen, wegen der Nachrede der Minim. Rabba bar bar Chana wollte sie in Sura einführen, da sagte ihm R. Chisda: Man hat bereits davon abgelassen, wegen der Nachrede der Minim. Amemar wollte sie in Nehardea einführen, da sagte ihm R. Aschi: Man hat bereits davon abgelassen, wegen der Nachrede der Minim. bBer 11b sind dies "Schöpfer des Lichts" und "ʾAhava rabba". Ebenfalls nach bBer 11b bezieht sich die eine Benediktion in mTam 5,1 auf "ʾAhava rabba". 222 GREENBERG, Decalogue tradition, 117. 223 גבולין: alles was ausserhalb des Tempels und Jerusalems liegt, vgl. LEVY, Wörterbuch I, 294. 224 Tarʿomet, von = רעםlärmen: Murren, üble Nachrede, vgl. LEVY, Wörterbuch IV, 673f. 71 Der hier hebräisch wiedergegebene Begriff minim ist der rabbinische Ausdruck für Ketzer. Auf seine Herkunft und Bedeutung wird weiter unten noch genauer eingegangen.225 Aus dem Text lässt sich nicht erschliessen, ob die Zehn Gebote zur Zeit des Tempels auch ausserhalb von Jerusalem, also in den Synagogen regelmässig gelesen wurden, oder ob sie ein Charakteristikum des Tempelgottesdienstes waren. In letzterem Fall könnte sich der Wunsch, den Dekalog auch in der Provinz lesen zu dürfen, darauf beziehen, dass man gewisse dem Tempel vorbehaltenen Bräuche nach seiner Zerstörung in die Synagoge übernahm, um an das Heiligtum zu erinnern.226 Warum dies nicht geschah, begründen die Autoritäten im babylonischen Talmud damit, dass die Zehn Gebote im Morgengebet ketzerischen Aussagen oder Tendenzen Nahrung gaben oder geben könnten. Ob dies tatsächlich der Fall war, oder ob es nur befürchtet wurde, ist dem Text nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Die Gemara zu mTam 5,1 im babylonischen Talmud (bTam 32b) übergeht die Problematik dieser Halacha ohne Kommentar. Auch im Jerusalemer Talmud wird das Thema - ebenfalls im Traktat Berachot aufgenommen, wo das Morgengebet, genauer die Anzahl der Benediktionen vor und nach dem Shemaʿ, festgelegt werden. Dabei wird die Halacha zum priesterlichen Morgengebet zitiert. Dieses Zitat jedoch widerspricht der in yBerachot diskutierten Praxis in zwei Punkten: erstens steht im priesterlichen Morgengebet direkt vor dem Shemaʿ überhaupt keine Benediktion (sondern das Zehnwort), und zweitens wird das Zehnwort als Teil des Morgengebets genannt. Aus dem ersten Punkt leitet ein palästinischer Gelehrter ab, dass die Benediktionen vor dem Shemaʿ nicht so ernst zu nehmen seien, da sie ja früher auch nicht direkt vor dem Shemaʿ gesprochen worden seien, sondern die Zehn Gebote dazwischen kamen. Dieser Ansicht wird von R. Ba widersprochen (yBer 1,8 3c): Daraufhin sagte R. Ba: Es ist daraus nichts zu entnehmen, denn die zehn Gebote sagen dem Sinne nach ein und dasselbe wie das Shema. Rabbi Mathena und R. Schmuel bar Nachman sagten beide: Richtig wäre es, wenn man alltäglich (im Morgengebet) die zehn Gebote rezitieren würde. Warum werden sie dennoch nicht rezitiert? Wegen der eventuellen Behauptungen ()טענות227 der 225 Vgl. S. 77f. Vgl. mSuk 3,12, wonach der lulav (Feststrauss an Sukkot) nach der Tempelzerstörung auch im Landgebiet sieben Tage herumgetragen wurde, wie es im Tempel Brauch gewesen war und nicht mehr nur einen Tag, wie es auf dem Land bis dahin üblich war. 227 ṭaʿana ist ein Rechtsanspruch, den jemand erhebt: Anforderung, Klage, Einwand, Verteidigung, vgl. LEVY, Wörterbuch II, 175. 226 72 Minim, damit diese nicht sagen: Nur die Zehn Gebote allein wurden Moses am Sinai gegeben (und nicht die ganze Torah). R. Ba widerspricht der zuvor geäusserten Ansicht des palästinischen Gelehrten, weil seines Erachtens die Zehn Worte keine Unterbrechung zwischen Benediktion und Shemaʿ darstellen, da sie inhaltlich dem Shemaʿ entsprechen. R. Mathena und R. Schmuel bar Nachman wiederum gehen auf den zweiten Punkt ein: das Nicht-mehrRezitieren des Zehnworts. Auch sie sehen den Grund dafür bei den Äusserungen der Minim. Besonders interessant ist hier die Inhaltsangabe der ketzerischen Behauptungen: man fürchtete offensichtlich, dass nur die Zehn Worte als Inhalt der Sinaioffenbarung angesehen werden könnten. Auch hier wird aus der Formulierung nicht klar, ob es sich um tatsächliche oder nur um befürchtete Behauptungen handelt. Der Ausschluss des Zehnworts aus der Liturgie könnte auch vorbeugenden Charakter gehabt haben. Die eigentliche Problematik jedoch war die Stellung des Zehnworts innerhalb der Tora. Die Rabbinen besprechen anschliessend noch weitere Texte, die eigentlich Teil des Morgengebets sein müssten,228 aber nicht aufgenommen wurden, um die Gemeinde nicht zu sehr mit langen Gebeten zu belasten. In dieser in Palästina geführten Diskussion kommt der Wille sehr deutlich zum Ausdruck, das Morgengebet des Tempels weiterzupflegen wie es überliefert ist. Anstatt wie die babylonischen Gelehrten zu erwägen, das Zehnwort wieder ins tägliche Gebet aufzunehmen – obwohl man auch hier überzeugt ist, dass es richtig wäre –, wird betont, dass der Inhalt von Shemaʿ und Zehnwort dem Sinn nach eigentlich identisch sind (yBer 1,8 3c): Warum werden diese beiden Abschnitte täglich rezitiert?229 Darüber (sind) R. Levi und R. Simon (geteilter Ansicht.) R. Simon meint: Weil das Sich-Niederlegen (am Abend) und das Aufstehen (am Morgen) in diesen (Abschnitten) erwähnt ist. R. Levi hingegen meint: Weil der Sinn der zehn Gebote in diesen (Abschnitten) enthalten ist. 228 Mit der Begründung eines Weisen, dass sie das Sich-Niederlegen und das Wieder-Aufstehen enthalten (wie das Shemaʿ). Ein anderer begründet es damit, dass der Auszug aus Ägypten und das Königtum (Gottes) darin enthalten seien, ein weiterer, weil ihr Inhalt in Tora, Propheten und Schriften geschrieben stünden. Es handelt sich dabei um die Abschnitte "Balaq" und "Bileam", deren Personen in Num 22,2-41; 23, 1-30; 24,1-25; Mi 6,5; Neh 13,2 vorkommen (vgl. Kommentar zur Stelle in: HOROWITZ, Berakhoth, 30f.). 229 Gemeint sind die Verse Dtn 6,4-9 und Dtn 11,13-21. 73 Im Folgenden setzt R. Levi sorgfältig jeden Abschnitt des Dekalogs einem Abschnitt aus dem Shemaʿ gegenüber, um die Übereinstimmung zu zeigen.230 Dazu bedient er sich aller drei Abschnitte des Shemaʿ. Diese mehrfache Betonung des gleichen Inhalts der beiden Gebetsteile zeigt, dass das Zehnwort für die palästinischen Gelehrten im Shemaʿ virtuell noch immer im täglichen Morgengebet drin war und dieses somit auch ohne Zehnwort die Tempelliturgie spiegelte.231 R. Levis Antwort zeigt, dass diese inkorporierte Zehnwortidentität des Shemaʿ im Laufe der Zeit als eigentlicher Grund angesehen worden ist, warum man es überhaupt rezitiert.232 2.2 Der Ausschluss des Zehnworts aus dem Gebet 2.2.1 Mögliche Gründe Die Texte aus den beiden Talmudim platzieren das Zehnwort in ein historischtheologisches Spannungsfeld: Eine Gruppe von Leuten - mit dem allgemeinen rabbinischen Ausdruck für Ketzer "Minim" bezeichnet – werden als Auslöser für die Änderung verantwortlich gemacht, indem sie behauptet hatten, dass nur die Zehn Gebote göttliche Offenbarung seien, nicht aber alle anderen Gebote der schriftlichen und mündlichen Tora. Dass der Dekalog im ersten Gebet des Tages vorkam und dort an erster Stelle, könnte die ketzerische Argumentation von der Vorrangigkeit des Zehngebotes unterstützt haben. Dass hingegen seine Stellung neben dem Shemaʿ, welches die Verpflichtung auf alle Gebote betont, die Behauptung stützen soll, dass nur der Dekalog sinaitisch sei, ist schwer nachzuvollziehen.233 Die heftige rabbinische Reaktion auf die (möglicherweise auch nur prognostizierten) Nachreden lässt aufhorchen. Es stellt sich die Frage, was für einer Bedrohung sich die frühen Weisen gegenüber sahen, die es rechtfertigte, einen Kerntext der Bibel aus dem täglichen Gebet herauszunehmen. Neben der offiziellen Begründung, dass die Äusserungen der Minim zu diesem Schritt geführt haben, geben uns die Texte aus 230 Eine solche Übereinstimmung finden die Rabbinen auch im Text von Lev 19. So wird das Zehnwort in WaR 24,5 und TanB/TanW Kedoschim 3 ebenfalls Wort für Wort Versen aus Lev 19 gegenübergestellt. 231 Zur Rolle von Dekalog und Shemaʿ als Bekenntnis Israels sei auf das ausführliche Werk von Moshe Weinfeld verwiesen (=WEINFELD, Decalogue). 232 Vgl. GREENBERG, Decalogue tradition, 118. 233 Vgl. KIMELMAN, Polemics, 67. 74 den beiden Talmudim auch Hinweise auf andere Gründe, die möglicherweise eine Änderung der Liturgie veranlasst haben könnten. Der erste betrifft die üblichen Unterschiede zwischen den Bräuchen im Tempel und denen auf dem Land. Laut babylonischem Talmud wurde die Rezitation des Zehnworts nur in der Provinz unterlassen. Ob das Heiligtum in Jerusalem zu diesem Zeitpunkt noch existierte, ist unklar (und für die folgenden Überlegungen auch nicht relevant). Warum sollte das Zehnwort dem Tempel vorbehalten sein? In mTam 7,2 wird festgehalten, dass der Priestersegen nur im Tempel mit dem expliziten Gottesnamen gesagt werden durfte, in der Provinz hingegen ein Substitut verwendet werden musste. Der unaussprechliche Gottesname יהוהkommt auch im Dekalog mehrmals vor.234 Die schwer verständliche Bemerkung von Josephus, dass der Dekalog nicht wörtlich wiedergegeben werden dürfe (Ant III 90), scheint ebenfalls in die Richtung des Unaussprechlichen zu weisen. Aber wenn beim Priestersegen auf dem Land der Gottesname einfach durch einen Beinamen ersetzt werden konnte, warum nicht auch beim Dekalog? Einen zweiten Hinweis gibt uns der Jerusalemer Talmud, wo das Fehlen des Dekalogs durch seine Anwesenheit innerhalb des Shemaʿs erklärt wird und weitere Texte genannt werden, die nicht ins Morgengebet Eingang fanden, um die Gemeinde nicht zu sehr zu belasten. Ist der Dekalog einfach einer pragmatischen Rationalisierung des Gebets zum Opfer gefallen? Eine ähnliche These wird von KIMELMAN vertreten, der im Liturgieausschluss des Zehnworts keine rabbinische Polemik sieht, sondern eine Rekonzeptualisierung des Shemaʿs: Zwar würden beide Texte die Autorität der Königsherrschaft Gottes und diejenige der Gebote proklamieren, der Vorzug des Shemaʿs liege aber möglicherweise darin, dass es u.a. nicht auf die Exodusgeneration beschränkt werden könne und dass die Verpflichtung alle Gebote umfasse, nicht nur die des Dekalogs. Nachdem das Shemaʿ die Rolle des Dekalogs als liturgische Bundeszeremonie usurpiert habe, sei eine Rezitation des letzteren überflüssig oder sogar missverständlich (zwei verschiedene Bundesschlüsse) geworden.235 Beide Thesen, Provinzstandort und Länge des Morgengebets, leiden einerseits an mangelnden Belegen und daran, dass aus heutiger Perspektive nicht einsichtig ist, 234 Da das priesterliche Morgengebet im Tempel unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, konnte das Volk seine Rezitation nicht hören. 235 KIMELMAN, Polemics, 67-70. 75 warum der Dekalog diese beiden Kriterien nicht überwinden konnte. Zweitens, und dieser Einwand ist dringlicher, erklären sie nicht die rabbinische Begründung, dass die Minim an der Änderung der Liturgie Schuld sind. Die Begründung müsste dann als behelfsmässige Erklärung der Rabbinen gelten, die den wahren Grund nicht mehr wussten oder nicht preisgeben wollten. Und diese Vorstellung ist nicht leichter nachzuvollziehen, als die Vorstellung, dass der Dekalog nicht genügend wichtig befunden wurde, um das Gebet auf dem Land zu verlängern. Beim Versuch, die offensichtlich nicht konfliktfreie Stellung des Zehnworts in frührabbinischer Zeit verstehen zu können, sind wir also auf die Untersuchung der offiziellen rabbinischen Begründung für den Liturgieausschluss zurückverwiesen, die deshalb im Folgenden näher betrachtet werden soll. 2.2.2 Die rabbinische Begründung Gleich zu Anfang muss betont werden, dass auch die Minim-These an ungenügender Quellenlage leidet, was die Nachvollziehbarkeit der rabbinischen Begründung erheblich erschwert. Angesichts der Tatsache, dass der rabbinische Ketzervorwurf die Stellung des Zehnworts im Judentum wesentlich beeinflusst hat, ist eine Auseinandersetzung damit dennoch angezeigt. Die Frage nach der Identität der Minim besteht eigentlich aus drei Teilfragen, deren Antworten zugleich voneinander abhängig sind: a) Was/wer sind Minim? b) Wann wurde der Dekalog aus dem Morgengebet weggelassen? c) Welche Gruppierung oder Strömung vertritt die Meinung, dass nur die Zehn Worte Offenbarung vom Sinai sind? Um den Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht zu sprengen, haben die folgenden Subkapitel keine ausführliche Untersuchung zum Ziel, sondern vielmehr die Skizzierung der Komplexität der Identitätsfrage der Minim. 76 2.2.2. a) Zum Begriff des Min Der Ausdruck Minim kommt in der rabbinischen Literatur häufig vor. Singular מין (min), Plural ( מיניםminim) und als abstrakter Begriff ( מינותminut), steht er für verschiedene Typen von Ketzern, Häretikern oder Sektierern.236 Hiermit begegnet die Forschung auch schon einer Schwierigkeit: Während in talmudischer Zeit neben dem Christentum noch andere von den Gesetzeslehrern der offiziellen Schulen als heterodox angesehene religiöse Richtungen existieren, gibt es nur einen einzigen Ausdruck zur Bezeichnung heterodoxer Elemente. Welche Gruppe oder religiöse Richtung mit Minim gemeint ist, ist jeweils bei jedem Text neu zu fragen.237 Eine weitere Schwierigkeit ist die Unsicherheit des Textes. Infolge der Zensur wurden in gedruckten Texten oft anstelle von מיןdie Ausdrücke ( צדוקיtzadoki) "Sadduzäer", ( כותיkuti) "Samaritaner", ( רומיromi) "Römer" oder irgendein unbekanntes Wort eingesetzt, womit es sehr schwierig geworden ist, zu beurteilen, ob in einem Text anstelle dieser Bezeichnungen einst das Wort מיןvorlag.238 Es gibt zudem die Vermutung, dass umgekehrt auch Min zu gewissen Zeiten als Substitut verwendet wurde.239 Min in der Bedeutung "Ketzer" ist also kein seltenes Wort in Talmud und Midrasch. Die Forschung hat die entsprechenden Stellen auch schon ausgiebig untersucht.240 Die Texte wurden vor allem im Zusammenhang mit dem Christentum erforscht, und so gehen die zwei diesbezüglich umfassendsten Werke Christianity in Talmud und Midrash von HERFORD und Jesus, die Häretiker und die Christen von STRACK beide von der Frage aus, inwiefern sich die rabbinische Literatur über das Christentum 236 Verschiedene Versuche, das Wort מיןetymologisch herzuleiten, gehen von einer arabischen Wortwurzel aus (LEVY, Wörterbuch III, 104f.), interpretieren das Wort als Abkürzung von מאמין (ma’amin) "Gläubiger", oder als Akronym von ( מאמין ישו הנוצריma’amin yeschu ha-notzri), "Jesusgläubiger". Andere sehen darin eine Anspielung auf Manes, den Gründer des manichäischen Systems, oder bringen es mit dem Verbalstamm ( מאןma’en) in Verbindung (HERFORD, Christianity, 365). Die plausibelste Erklärung für die Herkunft des Ausdrucks liefert BACHER (zitiert in BROYDÉ, Min, 594): Ausgehend vom biblischen ( מיןmin), das "Art", "Gattung" bedeutet, wurde das Wort im nachbiblischen Hebräisch zu "Sekte" im Sinn von "eigene Art", "Abart", etwa analog zum Wort גוי (goy), das die biblische Bedeutung "Volk" später verengte auf "nichtjüdisches Volk". מיןbezeichnet im rabbinischen Sprachgebrauch also eine von der offiziellen Norm abweichende Spielart jüdischer Glaubens- und Verhaltensweise (HRUBY, Aufsätze, 358). 237 Vgl. HRUBY, Aufsätze, 357. 238 Vgl. SPERBER, Min, 263; HERFORD, Christianity, 333 (Bsp. auf 317). 239 So könnte in Passagen, wo mit מיןChristen gemeint sind, der Ausdruck anstelle von נוצרי eingesetzt worden sein, vgl. BROYDÉ, Min, 595. 240 So bemerkt BÜCHLER (Minim, 245): "Since Graetz’s penetrating work, Gnostizismus und Judentum, the Minim have been made the subject of repeated and searching studies, and there is scarcely a passage relating to them in the Talmud or Midrash which has escaped the notice of scholars." 77 äussert und welche Minim-Texte sich auf Christen beziehen.241 Dieser Zugang hat sicher dazu beigetragen, dass der Ausdruck Min oft vorschnell auf Judenchristen bezogen wurde. Die untersuchten Quellen zeigen, dass der Begriff des Min in den ersten Jahrhunderten mehrmals eine Bedeutungsveränderung und -erweiterung durchgemacht hat.242 Während er zu Anfang nur einen jüdischen Häretiker bezeichnete, ohne über dessen Abweichung von der traditionellen Lehre etwas Konkretes auszusagen, wurde er im 2. und 3. Jh. auch für Nichtjuden verwendet.243 Für die Deutung der Minim in yBer 1,8 3c spielt die Datierung deswegen eine wichtige Rolle. 2.2.2. b) Zur Datierung Die Formulierung in bBer 12a gibt keinen Aufschluss darüber, ob man das Zehnwort bereits zu Tempelzeiten im gemeinsamen Gebet in der Provinz einführen wollte, oder ob dies erst nach der Tempelzerstörung geschah. Sie lässt sogar die Möglichkeit offen, dass die Zehn Gebote während einer gewissen Zeit in der Provinz gebetet wurden, bevor ihre Rezitation wieder abgeschafft wurde. Nahe liegend ist, dass der Wunsch, die Zehn Gebote auch in der Provinz zu lesen, immer dann wieder aufkam, wenn die Mischna über das Morgengebet der Priester gelernt wurde. Die Aussage von R. Nathan, Tannaite der 4. Generation (ca. 135 -170 n. Chr.), in bBer 12a ist das früheste uns vorliegende Zeugnis von der Abschaffung der Zehn Gebote in der Liturgie.244 Stimmt der Name des tradierenden Rabbinen, so ergibt sich für die Abschaffung der Rezitation der Zehn Gebote ein ungefährer Terminus ad quem um die Mitte des 2. Jahrhunderts. Allerdings sind Datierungsversuche anhand von Rabbinennamen mit Vorsicht zu geniessen und sollen höchstens als Anhaltspunkte dienen.245 Der in der gleichen Diskussion dokumentierte Versuch zur späteren Wiedereinführung der Zehn Gebote in den Lehrhäusern Babyloniens zeugt von einer Zeit, in welcher der Auslöser zu dieser einschneidenden Veränderung entweder nicht mehr bekannt war oder aber keine Gefahr mehr darstellte. In Sura gab Rabba bar bar Chana, ein babylonischer Amoräer der 3. Generation, den Anstoss zur 241 Sie behandeln über 80 Stellen, in denen von Minim gesprochen wird. Dass dabei Zeit und Ort eine untergeordnete bis gar keine Rolle spielen, hat ihnen auch Kritik eingebracht. Denn die zeitliche Einordnung hat bei der Interpretation eine essentielle Bedeutung, vgl. BÜCHLER, Minim, 245. 242 HRUBY (Aufsätze, 357ff.) gibt einen Forschungsüberblick über die verschiedenen Definitionen von Minim. 243 Vgl. HRUBY, Aufsätze, 358; BÜCHLER, Minim, 271f. 244 Der Satz mit R. Nathan fehlt allerdings in einigen Manuskripten, wie URBACH (Worship, 169) anmerkt. 245 Vgl. S. 69. 78 Wiedereinführung des Dekalogs in der Liturgie, wurde aber von Rav Chisda (gestorben 309) auf die alte Begründung verwiesen. Ebenso fand gut hundert Jahre später auch Amemars Vorstoss kein Gehör bei Rav Aschi (gestorben 427). Die Wiedereinführungstendenzen des Dekalogs in Babylonien können wir also anhand der beteiligten Rabbinen auf die 2. Hälfte des 3. Jh. sowie noch einmal am Ende des 4. Jh. schliessen.246 Wenn wir davon ausgehen, dass es einige Zeit dauerte von ihrer Abschaffung bis zum Versuch der Wiedereinführung - weil der Grund ihres Fehlens nicht mehr bekannt oder relevant war - so ist auch diese Annahme mit obiger Rechnung vereinbar. Soweit der Zeitrahmen, der aufgrund der an der Diskussion beteiligten Rabbinen gesteckt werden kann. An dieser Stelle kommen uns glücklicherweise noch archäologische Quellen zu Hilfe, die abgesehen von weiteren Anhaltspunkten zur Datierung auch einen wichtigen Einblick in die Verwendung des Dekalogs in Alltag und Gebet geben können. Zu diesen Quellen zählen eine ganze Reihe Tefillin aus der judäischen Wüste sowie der Papyrus Nash aus der ägyptischen Diaspora. Tefillin - deutsch auch Gebetsriemen oder Phylakterien genannt - sind seit langer Zeit fester Bestandteil des jüdischen Gebetslebens. Sie werden im Aristeasbrief (§ 159) zum ersten Mal erwähnt als Zeichen um die Hände. Josephus erwähnt sowohl Kopf- als auch Armtefillin (Ant IV 213). In tannaitischer Zeit scheint das Gebot, Tefillin zu tragen, v.a. für die Zeit des Gebetes gegolten zu haben. Wer sie dennoch den ganzen Tag über trug, wurde folglich als besonders fromm betrachtet.247 Laut rabbinischer Halacha enthalten die Kästchen der Tefillin folgende Perikopen: Ex 13,1-10; 11-16; Dtn 6,4-9; 11,13-21 Der Dekalog ist nicht dabei. Neben dieser biblischen Reihenfolge der Texte gibt es auch die Ordnung, wo die beiden Dtn-Texte vertauscht sind, das Shemaʿ also am Schluss kommt. Im Talmud wurde über die Reihenfolge diskutiert und die beiden verschiedenen Anordnungen erlaubt (Men 34b).248 In den Jahren 1952-58 kamen mehrere Tefillin aus den Höhlen vom Toten Meer ans Tageslicht. Die letzte entdeckte Tefillinkapsel wurde 1968 durch Yigal Yadin 246 Für die Zuordnung der Rabbinen zu den verschiedenen Generation der Tannaiten und Amoräer vgl. STEMBERGER, Einleitung, 66-105. 247 yBer 2,3 4c. 248 Die Diskussion setzte sich bis ins Mittelalter fort, wo sich Raschi für die biblische Reihenfolge und Rabbenu Tam für die andere Version einsetzten. Die beiden Tefillinarten wurden schliesslich nach diesen Lehrern tefillin shel Raschi und tefillin shel Rabbenu Tam benannt. 79 erworben.249 Erstaunlicherweise enthalten viele dieser Tefillintexte den Dekalog. Auch die weiteren Perikopen entsprechen nicht genau den späteren rabbinischen Vorgaben. Da die Fundobjekte aus Qumran in die Zeit von Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis 70 n. Chr. datiert werden können,250 sind sie der Beweis, dass die Textauswahl für Tefillin nicht von Anfang an so war, wie sie sich die letzten fast 2000 Jahre gehalten hat. Bis wann gehörte das Zehnwort noch zu den Textabschnitten in den Tefillin? Hat sein Weglassen etwas mit dem Ausschluss aus dem Morgengebet zu tun? MILIK hat für die in Qumran gefundenen Texte eine so genannte maximale Textauswahl herausgearbeitet, welche den maximalen Textumfang, den die Tefillin haben konnten, umfasst. Dies sind: Ex 12,43-13,16; Dtn 5,1-6,9; Dtn 10,12-11,21 In Qumran wurden die Exodustexte gewöhnlich hinter die Dtn-Abschnitte gestellt.251 Der Dekalog stand damit – abgesehen von den ersten fünf Versen von Kapitel 5 – an erster Stelle. Die Texte tendierten mit der Zeit dazu, kürzer zu werden, und zwar indem die Anfänge weggelassen wurden.252 Nicht nur in der Textauswahl, sondern auch in der Ausgestaltung weisen die Qumrantefillin grosse Unterschiede zur späteren rabbinischen Norm auf.253 Es scheint, dass für die Mehrzahl der gefundenen Tefillin keine Regeln und Normen existierten, was Schreibweise, Layout und Pergamentform betrifft. Vergleicht man diese Tefillin mit den Vorschriften des Talmuds, ergeben sich so wenig Übereinstimmungen, dass wir annehmen müssen, dass sich die Tefillinpraxis in der Zeit der beiden Revolten sehr stark geändert und verschärft hat. Es wurde schon vermutet, dass die gefundenen Tefillin sektiererischer Art sind und mit Absicht nicht nach der gängigen Jerusalemer Praxis hergestellt wurden.254 Da die Sektenregeln und -schriften aus Qumran aber bekanntlich strenger waren als die Regeln in Jerusalem, steht diese Ansicht auf schwachen Beinen. Es scheint nicht plausibel, dass sich die Qumraner über formale Regeln hinweggesetzt haben sollen, welche um der Heiligkeit des Textes willen aufgestellt wurden. 249 Eine vollständige Auflistung aller bis dahin publizierten Tefillin vom Toten Meer findet sich bei YADIN, Tefillin, 36-45. 250 Vgl. MILIK, DJD VI, 46. 251 MILIK, DJD VI, 38. 252 Diese Verkürzungstendenz ist bereits vor dem 1. Jüdischen Krieg auszumachen. Ein Tefillin aus Höhle 4 weist exakt die klassischen pharisäischen Perikopen auf und bei einem zweiten fehlt der gesamte erste Teil aus Dtn, vgl. MILIK, DJD VI, 39. 253 Vgl. KUHN, Phylakterien, 20ff. 254 GOREN sagt dies von den Tefillin aus 1Q und 4Q, vgl. RABINOWITZ, Tefillin, 580. 80 Wahrscheinlicher ist, dass sich vor 70 n. Chr. noch keine verbindliche Norm durchgesetzt hatte. Ab dem Anfang des 1. Jh. n. Chr. erscheint ein anderer Typus von Tefillin. Nur zwei der in Qumran gefundenen Tefillin zeigen bereits diesen Typus, der sich stark vom sonstigen qumranischen Stil unterscheidet.255 Er ist charakterisiert durch die minimale Wahl der Perikopen, defektive Schreibweise und durch einen Text, der sehr nahe oder identisch ist mit dem offiziellen Text des orthodoxen Judentums.256 Ein vollständiges Tefillin aus der Höhle 2 von Murabba'at sowie ein weiteres aus einer nicht bekannten Höhle entsprechen genau diesem Typus. Da in Murabba'at Texte aus der Zeit der zweiten Revolte gelagert wurden, kann man sagen, dass sich bis 135 n. Chr. die rabbinische Normierung der Tefillin durchgesetzt hatte.257 Mit dieser Datierung zeigt sich, dass das Weglassen der Zehn Gebote aus dem Morgengebet und ihr Verschwinden aus den Tefillin in einen ähnlichen Zeitraum fallen. Lässt sich daraus auch schliessen, dass der Dekalog aus den Tefillin mit demselben Grund entfernt wurde wie aus dem Gebet? Enthielten die Tefillin die täglichen Gebetstexte? Der Name "Tefillin" als unregelmässige Pluralform von tefilla (Gebet) und das Tragen der Kästchen während der Gebete unterstützen diese Interpretation. Vergleichen wir die Perikopen der Tefillin der qumranischen Auswahl mit den Abschnitten des priesterlichen Morgengebetes, so enthalten beide Dekalog, Shemaʿ und Dtn 11,13-21. Während bei den Tefillin noch eine lange Exoduspassage hinzukommt, ist das Morgengebet mit Num 15,37-41 ergänzt.258 Da die Tefillin aus Qumran die Exoduspassage gewöhnlich hintanstellen, steht darin der Dekalog an erster Stelle wie im Morgengebet. Wenn die Texte der Tefillin aus dem Morgengebet übernommen worden waren, wäre es auch nur folgerichtig, dass das Zehnwort auch aus ihnen wieder verschwindet, nachdem es aus dem Morgengebet weggelassen wurde. Der tannaitische Midrasch Sifre zu Deuteronomium § 34/35 diskutiert denn auch, ob der Dekalog und Num 15,37ff dem Gesetz des Einschärfens (täglichen Rezitierens) und des Anbindens (in die Tefillin aufnehmen) unterliegen. Der 255 Vgl. Anm. 252. MILIK, DJD VI, 47. 257 Das Phylakterion unbekannter Herkunft stammt laut DE VAUX aus derselben Zeit wie dasjenige aus Murabba'at, vgl. SCHNEIDER, Phylakterien, 25. 258 SCHNEIDER (Phylakterien, 21ff.) unternimmt einen Erklärungsversuch, warum die Texte im Morgengebet, den Tefillin und in den Mezuzot nicht genau die gleichen sind, sondern leicht variieren. 256 81 Midrasch insistiert auf der verpflichtenden Elimination des Dekalogs aus dem Morgengebet wie auch aus den Tefillin.259 Die Funde aus Qumran zeigen, dass das Zehnwort auch ausserhalb des Tempels zum Gebet dazugehört hatte. Seine Verwendung als Tefillintext zusammen mit dem Shemaʿ und Dtn 11,13-21 scheint darauf hinzudeuten, dass die Tefillin einst die Texte des täglichen Morgengebets enthalten hatten. Während die Tefillinfunde aus der Zeit vor 70 n. Chr. fast alle den Dekalog enthalten, hat sich bis zum Bar-KochbaAufstand die Tefillinversion ohne Dekalog durchgesetzt. Wenn die Tefillin auch über die Gründe des Weglassens des Dekalogs keine Hinweise geben, so bestätigen sie immerhin die Tatsache, dass die Verwendung des Dekalogs vor 70 n. Chr. noch häufig war und dann innerhalb relativ kurzer Zeit deutlich zurückging. Mit etwas Vorsicht ist der Ausschluss des Zehnworts aus dem Morgengebet ebenfalls in diese Zeit zu datieren, möglicherweise sogar etwas früher, falls das Morgengebet die Vorlage für die Tefillintexte war. Vor der Entdeckung der Tefillin aus Qumran gab es nur ein einziges Dokument, das eine liturgische Rolle des Dekalogs zu widerspiegeln schien: der Papyrus Nash. Seine Herkunft wird irgendwo im Fayyum (nordöstliches Ägypten) vermutet. Aufgrund von paläographischen Indizien datierte ALBRIGHT dessen Entstehung in die makkabäische Zeit (2. Jh. v. Chr.). Seine Kriterien wurden später durch die Funde in Qumran bestätigt.260 Das 72x125mm grosse Papyrusfragment war ursprünglich wohl 90mm breit, das heisst ein einzelnes Blatt und nicht Teil einer Rolle. Der Text beginnt mit dem Dekalog und geht dann direkt ins Shemaʿ über. Die Verse Dtn 5,226,3 fehlen dazwischen. Vom Shemaʿ sind noch drei Zeilen erkennbar, und es ist nicht möglich, zu sagen, wie weit sich diese Kolonne einst erstreckte. Verbunden sind Dekalog und Shemaʿ mit einem Satz, der im masoretischen Text nicht vorkommt, aber in der Septuaginta ebenfalls vor dem Shemaʿ in Dtn 6,4 steht: »Und diese sind die Rechtsvorschriften und Satzungen, die Moses261 [den Israeliten] in der Wildnis gebot, als sie das Land Ägypten verliessen«. In unserem Zusammenhang ist in erster Linie die Verwendung dieser zwei wichtigen Texte ohne die verbindenden Verse 5,22 - 6,3 interessant. Wegen der grossen Auslassungen, aber auch wegen des Textes 259 STEMBERGER (Dekalog, 100) fasst die etwas verwirrende Beweisführung des Midraschs verständlich zusammen. 260 Vgl. WÜRTHWEIN, Text, 42. 261 So Papyrus Nash, die LXX liest »der Herr«. 82 des Dekalogs, der in grossen Zügen der Version von Exodus entspricht und nicht derjenigen von Deuteronomium, ist beim Papyrus Nash nicht von einer Abschrift des Bibeltextes auszugehen.262 Die Verknüpfung der beiden Dekalogversionen und die grammatikalischen Abweichungen vom MT lassen einen auswendig aufgeschriebenen Text vermuten, der als Grundtext des Judentums jedem geläufig war und dessen Ziel sicher nicht die exakte schriftliche Überlieferung war wie bei einem Toratext.263 Wozu mochte der Papyrus mit Dekalog und Shemaʿ im 2. Jh. v. Chr. gedient haben? Ist eine Verwendung als konstitutives, liturgisches Bekenntnis denkbar? Der Text des Papyrus repräsentiert jedenfalls den Anfang der Toralesung des priesterlichen Morgengebetes. Ob er seinem Besitzer als Gedankenstütze für das tägliche Morgengebet diente? Gegen diese Verwendung sprechen die Präsenz des Verses, der das Shemaʿ einleitet und das Fehlen der Segenssprüche, die die Rezitation des Shemaʿs begleiten. Da das Shemaʿ darin enthalten ist, erwägen KUHN und SCHNEIDER auch die Möglichkeit, dass der Text als Tefillin oder Mezuza benutzt wurde.264 Als bedenkenloseste Möglichkeit sieht KUHN die Verwendung des Papyrus als Blatt für den Unterricht,265 was die anderen Verwendungen immer noch möglich machen würde.266 Seit den Qumranfunden ist der Dekalog jedenfalls kein Hindernis mehr, den Papyrus als Tefillin oder Mezuza zu sehen. Auch wenn der ursprüngliche Zweck des Textes mit dem heutigen Forschungsstand nicht genauer festgelegt werden kann, ist sicher mit LÉVI und WÜRTHWEIN zu sagen, dass der Papyrus Nash zeigt, dass Dekalog und Shemaʿ auch ausserhalb Palästinas als repräsentative Texte des Judentums wichtig waren,267 und dass sie nicht nur im biblischen Kontext gelesen wurden, sondern als eigenständige Texte von Bedeutung waren, sei es als liturgische, erbauliche oder unterrichtliche Stücke.268 Die archäologischen Zeugnisse bestätigen eine Verwendung des Dekalogs in Alltag und Gebet, an die die rabbinische Literatur zwar noch erinnert, deren Praxis in der Zwischenzeit jedoch abgelehnt wird. Die Tefillintexte zeigen analog zum täglichen Morgengebet die Abkehr vom Dekalog als Gebetstext. Sie deuten daraufhin, dass das 262 Vgl. LÉVI, Papyrus, 214. Vgl. BURKITT, Papyrus, 402. 264 Wobei KUHN (Phylakterien, 24) eher zu einer Verwendung als Mezuza tendiert, SCHNEIDER (Phylakterien, 19) hingegen eher zu einer Verwendung als Tefillin. 265 In diese Richtung geht auch STAMM (Dekalogforschung, 197), der im Papyrus Nash ein Dokument liturgisch-katechetischer Art sieht. 266 KUHN, Phylakterien, 28f. 267 LÉVI, Papyrus, 217. 268 WÜRTHWEIN, Text, 42. 263 83 Zehnwort gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. aus dem Gebet ausgeschieden wurde, was sich mit den oben diskutierten Anhaltspunkten zur Datierung aus dem Talmud vereinbaren lässt. Dies gibt uns einen ungefähren Zeitrahmen, in dem das ketzerische Offenbarungsverständnis, dass nur der Dekalog Tora vom Sinai darstelle, vertreten worden sein müsste. Aus dem 1. Jh. n. Chr. sind uns allerdings nicht wenige jüdische Strömungen und Gruppierungen bekannt, deren Auffassung von gottesfürchtigem Leben bzw. deren Gesetzesverständnis im Kontrast zum rabbinischen Toraverständnis standen. Da weder die ungenaue Bezeichnung Minim noch die ungefähre Datierung auf eine einzige Gruppierung schliessen lassen, verbleiben als mögliche Erklärungen für den Liturgieausschluss des Dekalogs lediglich Hypothesen, die das Gesetzesverständnis der Minim als Ausgangspunkt nehmen. Im Folgenden werden unterschiedliche Forschungsmeinungen dazu vorgestellt. 2.2.2. c) Die Minim in bBer12a und yBer 1,8 3c Uns bekannte Strömungen oder Gruppen des 1. Jh. n. Chr. sind z.B. Hellenisten, Samaritaner, Christen, Gnostiker, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten. In den meisten von ihnen wurden denn auch früher oder später als die Minim aus bBer 12a/yBer 1,8 3c vermutet, aber bei keiner Gruppierung kann der rabbinische Vorwurf als treffend nachgewiesen werden. Ebenso gibt keine der uns heute bekannten Quellen aus dem 1. Jh. n. Chr. ein Gesetzesverständnis wieder, dass dem Mose am Sinai nur die Zehn Worte und nichts weiter gegeben wurden. Angesichts dieser Quellenlage muss vielmehr gefragt werden, welche Quellen überhaupt etwas zum Dekalog sagen. Wie in Teil 1 gezeigt wurde, finden sich in der Literatur des Frühjudentums nur gerade bei den Samaritanern und im hellenistischen Judentum eine besondere Beachtung des Zehnworts. Obwohl sich der samaritanische und der philonische Zugang zum Dekalog vom rabbinischen unterscheidet und die Stellung des Zehnworts in beiden Traditionen eindeutig wichtiger ist, als im rabbinischen Judentum, werden die Zehn Worte dort niemals über die übrigen Worte der Tora erhoben. Als weithin einziger Gelehrter vermutet GASTER in den Samaritanern die Minim von bBer 12a, da sie mit dem Einbezug des Garizimgebots ins Zehnwort den Dekalogtext einerseits abänderten und zugleich das Heiligtum auf dem Garizim legitimierten, wodurch das gemeinsame Rezitieren des Dekalogs von Samaritanern und Juden verunmöglicht wurde.269 Was Philo anbelangt, räumt AMIR ein, dass er 269 Vgl. die Diskussion auf S. 45. 84 von den Rabbinen zu den besagten Minim hätte gerechnet werden können, denn als Offenbarung vom Sinai gelten in seiner Erzählung nur die Zehn Gebote. Wie und wann die übrigen Gebote durch Moses aufs Volk kamen, erwähnt Philo nicht. Wenn es den Rabbinen aber um die Verpflichtungskraft der übrigen Gebote geht, dann besteht hier eigentlich keine Meinungsverschiedenheit: die Verpflichtungskraft aller Einzelgebote ist für Philo in derjenigen der zehn Gebote mitgesetzt.270 Ausserdem wird eher davon ausgegangen, dass die tannaitischen und amoräischen Rabbinen Philos Schriften nicht kannten.271 Hingegen sehen viele Gelehrte wenn auch nicht bei Philo im Besonderen, so jedoch allgemein im hellenistisch denkenden Judentum die wahrscheinlichsten "Kandidaten" für die Minim. MAIER verweist dabei auf die Textüberlieferung der Septuaginta, die zwischen Dekalog und Shemaʿ einen Satz eingefügt hat, der im masoretischen Text fehlt und der leicht nur auf den vorangehenden Dekalog bezogen werden konnte: »Und diese (sind) die Satzungen und Rechtssätze, die der Herr den Israeliten geboten hat in der Wüste, nachdem sie aus Ägypten ausgezogen waren: Höre Israel…(Dtn 6,4)«.272 Laut MAIER spricht für die Hellenisten als Minim auch ihre Tendenz zur Verabsolutierung des Dekalogs im Sinne eigentlicher, unmittelbarer Offenbarung im Gegensatz zum "Gesetz des Mose", von der er vermutet, dass sie schon in vorchristlicher Zeit wirksam war.273 Auch STEMBERGER scheint an hellenistische Juden zu denken, wenn er sagt: "Zumindest ursprünglich ist die Massnahme [gemeint ist die Verdrängung aus der Liturgie] wohl gegen innerjüdische Tendenzen gerichtet, die theologische Hochschätzung des Dekalogs auf die eigene Praxis zu übertragen, die anderen Gebote damit zu vernachlässigen."274 Beide berufen sich auf VERMES, der die Minim in der progressiven, aufgeklärten und intellektuellen Elite der mediterranen und speziell der ägyptischen Diaspora ortet. Er sieht sie als die antiken Vorfahren dessen, was heute als "Progressives" Judentum bekannt ist.275 VERMES weist im Laufe seiner Untersuchung noch auf eine Feinheit in der Übersetzung von Dtn 5,22 hin. Der Satz gibt Moses' Kommentar zur Offenbarung des Dekalogs wieder: »Diese Worte sagte der Herr auf dem Berg zu eurer vollzähligen Versammlung…, diese Worte und sonst 270 AMIR, Philon, 135.163. Vgl. URBACH, Worship, 173. 272 Dies besonders, weil dieser Satz auch im Papyrus Nash vorkommt, der Zehnwort und Shemaʿ ohne die dazwischen liegenden Verse Dtn 5,22 - 6,3 wiedergibt. 273 MAIER, Auseinandersetzung, 151f. 274 STEMBERGER, Dekalog, 101. 275 VERMES, Decalogue, 177. 271 85 nichts («)ולא יסף. Während die Septuaginta wörtlich übersetzt: »und fügte nichts hinzu«, übersetzen die Targumim den Satz mit »und er hörte nicht auf« (im Sinne von »er sprach die Zehn Worte in einer einzigen Äusserung«). Dieses sprachliche Detail könnte ein Argument der Minim dargestellt haben, die ihre Behauptungen zweifellos auf biblische Belegstellen gegründet haben mussten, um die Rabbinen ernsthaft zu alarmieren.276 Obwohl es sich nach der lange Zeit vorherrschenden und weithin akzeptierten Meinung bei den Minim um frühe (jüdische) Christen handelte,277 sind zu dieser Hypothese praktisch keine Belege auszumachen.278 Laut URBACHS Einschätzung weisen die christlichen Quellen, welche die Zehn Gebote über andere Teile der Tora stellen entweder eine generelle antinomistische Einstellung oder dann einen starken Hang zu moralisch-ethischen Geboten auf.279 Seine Folgerung lautet: "There is no basis whatsoever for the idea that there was any connection at all between dropping the Ten Commandments from the liturgy, and the beginnings of Christianity."280 Dennoch scheint die Hypothese eine gut erhaltene Tradition zu sein. Ihr verbreitetes Auftreten bei jüdischen Autoren281 legt die Vermutung nahe, dass sie nicht zuletzt auf Raschi zurückzuführen ist, der die Minim in seinem Talmudkommentar zu bBer 12a als talmide yeshu (Jünger Jesu) bezeichnet. Die Stellung des Dekalogs im Christentum zu Raschis Lebzeiten darf jedoch sowenig mit seiner Stellung im frühen Christentum gleichgesetzt werden wie die moderne christliche Hocheinschätzung des Zehnworts zurückdatiert werden kann. Angesichts der schwierigen Quellenlage wurden in den letzten Jahrzehnten kaum Versuche unternommen, den Liturgieausschluss des Dekalogs in der angebrachten Tiefe zu untersuchen, eine Ausnahme sind VERMES (1975), URBACH (1985) und KIMELMAN (2007).282 Während die Thesen von Vermes und Kimelman bereits weiter oben erwähnt wurden, soll hier noch Urbachs Untersuchung erwähnt werden. Seine These klingt nicht zuletzt deshalb überzeugend, weil er keine klar definierbare Gruppierung benennt, sondern Tendenzen untersucht, die hinter den "Behauptungen 276 Vgl. VERMES, Decalogue, 173f. Diese Meinung wurde vor allem im späten 19. und frühen 20. Jh. vertreten, vgl. VERMES, Decalogue, 175. Für eine Liste der Forscher, welche in den Minim Christen sahen, vgl. MAIER, Auseinandersetzung, 246, Anm. 466. 278 Vgl. Teil 1: 2.3. 279 URBACH, Worship, 170f. 280 URBACH, ebenda. 281 Z.B. HILTON, Einfluss, 128; BEN-CHORIN, Tafeln, 17; VAN LOOPIK, Mechilta, 13f.; 282 VERMES, Decalogue; URBACH, Worship; KIMELMAN, Polemics. 277 86 der Minim" stehen könnten. Er zitiert eine aufschlussreiche Quelle aus Midrasch Yelamdenu (Yalq Korach 16), welche die Offenbarung auf den Dekalog begrenzt. Die Auslegung von Num 16,3 spezifiziert die Argumente von Korach und seinen Anhängern, die ihn zum Aufstand gegen Moses getrieben hatten: »They assembled themselves against Moses and Aaron« (Num 16,3): They convened meetings against them. They said: Come let us tell you what the son of Amram has been doing. All the community are holy, all of them. We were all sanctified at Sinai, as it is written »Go to the people and sanctify them« (Ex 19,18). When the Ten Commandments were given every one of us absorbed them from Sinai, and all we heard was the Ten Commandments. We heard nothing about priestly offerings, about the first dough (̩ḥallah), about heave-offerings (terumah) and tithes; we heard nothing about fringes on our garments. You made these up yourself.283 Korach wird hier als der biblische Prototyp des Rebellen gegen religiöse Autorität dargestellt. Sein Aufstand gegen Mose und Aaron nimmt in der Bibel ein schlimmes Ende. Der biblische Text gibt als die Anklage Korachs gegen Mose lediglich einen Vorwurf bekannt (Num 16,3): »Ihr nehmt euch zu viel heraus. Alle sind heilig, die ganze Gemeinde, und der Herr ist mitten unter ihnen. Warum erhebt Ihr euch über die Gemeinde des Herrn?«. Auch im Midrasch betont Korach, dass die ganze Gemeinde heilig ist und jeder einzelne die Worte Gottes am Sinai gehört hat. Was der Midrasch noch hinzufügt, sind die Details. Er gibt Auskunft darüber, inwiefern sich Moses und Aaron gegenüber der Gemeinde zu viel herausgenommen haben: Moses verkündet Gesetze – unter anderem das Priestertum der Nachkommen Aarons – die das Volk nicht unmittelbar von Gott gehört hat. Korach unterstellt ihm, diese selbst erfunden zu haben. Er kann seine Argumentationsweise mit der Bibel belegen (vgl. oben )ולא יסף. Erst dadurch werden er, bzw. seine geistigen Nachkommen, zum ernstzunehmenden Gegner für die Rabbinen. Dass es sich bei den von Korach abgelehnten Geboten um Weisungen der schriftlichen Tora handelt, ist ein wichtiger Hinweis. Korachs Autoritätsproblem bezieht sich ganz klar nicht auf die mündliche Tora der Rabbinen, sondern auf Gebote der hebräischen Bibel. URBACH nun vermutet, dass solche Ideen zur Untergrabung von Geboten führten, die zur Tora, aber nicht zum Dekalog gehören, z.B. des Beschneidungsgebots. Dass die Beschneidung, die alle anderen Gebote der Tora aufwiegen soll (bNed 32a), nicht im Dekalog enthalten ist, hat laut AgBer 17 bei Konvertiten Fragen aufgeworfen: 283 Zitiert aus URBACH, Worship, 176. 87 King Agrippa asked the great rabbi Eliezer: If circumcision is so dear to the Holy One, why did he not include it at the giving of the Torah with the Ten Commandments?284 Die Beschneidung war nicht erst zu Bar Kochbas Zeiten eine Art Testfall für Toratreue. Bereits zu Antiochus Zeiten wurde die Beschneidung verboten und schon damals gab es Juden, die ihre Beschneidung rückgängig machten. URBACH vermutet, dass die Todesgefahr, die nach dem hadrianschen Dekret über den Beschnittenen schwebte, dazu führte, dass Juden das Rückgängigmachen oder Unterlassen der Beschneidung damit rechtfertigten, dass sie in den Zehn Geboten nicht erwähnt ist. Damit würde auch die Nicht-Betonung des Zehnworts im täglichen Gebet erklärbar: "The Commandments may have been played down at a time when a tendency had appeared in Eretz Israel to minimize the importance of mitzwot not mentioned in the Decalogue – including even the commandment of circumcision. And if this surmise about the time and the reason for dropping the Ten Commandments from the regular liturgy is correct, it may also help explain the later attempt in Babylonia to revive the practice."285 Der Midrasch über Korach ist der einzige Text, der einen konkreten Hinweis auf die von den Rabbinen im Talmud erwähnten "Behauptungen der Minim" gibt. Seine zeitliche Einordnung ist schwierig, in gewisser Weise jedoch kann man ihn als zeitlos betrachten: Nach der hier ausgedrückten rabbinischen Vorstellung sind die Minim die geistigen Nachfahren Korachs. Ihr Kennzeichen ist die Auflehnung gegen religiöse Autorität. Sie beharren in gewisser Weise auf einem allgemeinen Priestertum, wonach jeder Mensch die Stimme Gottes hört und nicht auf Vermittlung durch religiöse Führer angewiesen ist. Da eine solche Haltung folgerichtig auch zur Hinterfragung der mündlichen Überlieferung führen muss, könnten wir ihre Vertreter sogar als "Antirabbinisten" bezeichnen. VERMES' Vergleich der antiken Minim mit dem heutigen progressiven Judentum (s. oben) deutet ebenfalls in diese Richtung. Und indem URBACH den Sitz im Leben des Liturgieausschlusses in der Zeit der hadrianschen Dekrete, genauer des Beschneidungsverbotes verortet, liegt uns eine realistische Interpretation vor, warum die Hervorhebung der Zehn Worte im täglichen Gebet unterbunden wurde: die Bedeutung von wichtigen, z.B. identitätsstiftenden Geboten ausserhalb des Zehnworts soll nicht durch dessen 284 // TanW Lech Lecha 20. In PesR 23,9 hingegen wird dieselbe Frage einmal von einem Konvertiten namens Aquilas sowie einmal von einer römischen Dame gestellt. 285 URBACH, Worship, 181. 88 prominente Stellung im Gebet abgewertet werden können. Mit dieser These Urbachs soll die Diskussion über die Identität der Minim wie über den Liturgieausschluss überhaupt abgerundet werden. Bis zu ihrer Widerlegung sind die Minim aus bBer 12a und yBer 1,8 3c als die geistigen Nachfahren Korachs im Land Israel zu sehen unabhängig von ihrer kulturellen Ausrichtung innerhalb des Judentums. 89 3 Das Zehnwort im Kontext der Sinaioffenbarung 3.1 Der Zeitpunkt Gemäss der biblischen Quelle kamen die Israeliten am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten in die Wüste Sinai (Ex 19,1). Über die Zeit, die zwischen Ägypten und dem Sinai verstrich, erzählt R. Schimon bar Jochai ein Gleichnis: Wie ein König seinen von einer Krankheit genesenen Sohn noch drei Monate Erholungszeit gibt, bevor er ihn wieder in die Schule schickt, so liess der Ewige den von der Fronarbeit geschwächten Israeliten drei Monate Zeit, um sich mit Wasser, Manna und Wachteln zu stärken, bevor er ihnen das Gesetz gab (ShirR 2,17). Da das zweite der drei biblischen Wallfahrtsfeste, Schawuot (shavuʿot = "Wochen"), sieben Wochen (am 50. Tag) nach Pessach stattfindet, verbanden die Rabbinen dieses ursprünglich rein bäuerliche Ernte- oder Erstlingsfest (Ex 23,16; Num 28,26) mit dem Auszug aus Ägypten, der an Pessach gefeiert wird. Die rabbinische Bezeichnung für Schawuot ist ʿatzeret (bPes 68b) oder ʿatzeret shel pesach (ShirR 7,4). Das Wochenfest wurde also als Abschluss von Pessach gesehen, so wie der Festtag Schmini Azeret als Abschluss vom Laubhüttenfest gilt. Da die Ankunft der Israeliten in der Wüste Sinai am 1. Siwan ungefähr mit der Zählung der sieben Wochen ab Pessach (6. Siwan) zusammenfällt, wurde Schawuot im Talmud (bPes 68b) als "Tag an dem die Tora gegeben wurde" bezeichnet. Die Verbindung von Schawuot mit einem Bundesschluss kennen schon die Qumraner (1QS 1,16ff) und das Jubiläenbuch (Jub 16,17).286 Bezüglich des Tages der Toragebung gab es unter den Tannaiten dennoch Meinungsverschiedenheiten: Gemäss der Rechnung ab Pessach ist der 6. Siwan der biblische Festtag. Da Mose jedoch am siebten Tag (Ex 24,16) von Gott auf den Berg gerufen wurde, ist R. Josse der Meinung, dass die Tora erst am 7. Siwan offenbart wurde (bShab 86b; bTaan 28b). Die so entstandene Spannung zwischen den beiden Daten wird in bYom 4b aufgelöst durch die Erklärung, dass Gott am 6. Siwan die Zehn Worte offenbarte und am 7. Siwan Mose zu sich rief, um den Rest der Tora zu empfangen. Nach dieser Erklärung hat der Dekalog einen eigenen Erinnerungstag.287 Ausgehend vom Datum der Gabe der Tora wurde auch das Zerschmettern der Tafeln 286 287 Vgl. THOMA/PETUCHOWSKI, Lexikon, 224. Vgl. TanW Ki Tissa 31. Laut bShab 86b und SOR 5,4 war dieser Tag ein Sabbat. 90 vierzig Tage danach berechnet. Am 17. Tammus soll Mose die Tafeln zerschmettert haben. Dieses Datum weist zugleich voraus auf vier weitere Ereignisse, die den Israeliten in ihrer späteren Geschichte an demselben Datum zustossen sollten (mTaan 4,6). Mit der Datierung der Sinaioffenbarung verankerten die Rabbinen Schawuot in der Geschichte und verliehen zugleich der schriftlichen und vor allem der mündlichen Offenbarung einen Feier- und Gedenktag. 3.2 Das Feuer Die Sinaioffenbarung wird in der Bibel als ein Ereignis im Feuer geschildert: Der Ewige steigt im Feuer auf den Berg hinab (Ex 19,18) worauf der Horeb in Flammen zu stehen scheint. Dann redet Gott mitten aus dem Feuer zu seinem Volk. Das Feuer als sichtbares Zeichen der Gottesanwesenheit war den Israeliten in Form der Feuersäule, die ihnen beim Exodus aus Ägypten nachts voranging, bereits vertraut. Auch in früheren Gottesoffenbarungen spielte das Feuer eine Rolle: Der Bund mit Abraham wurde mit einem »rauchenden Ofen und einer lodernden Fackel« besiegelt, die zwischen den Opferhälften hindurchfuhren (Gen 15,17). Moses erste Gottesbegegnung fand am brennenden Dornbusch statt (Ex 3,2). Da es menschlichen Wesen nicht möglich ist, Gottes Antlitz zu sehen, ohne dabei zu sterben (Ex 33,20), scheinen Feuer und Rauch die stärkste optische Wahrnehmung Gottes zu sein, die der Mensch ertragen und erleben kann. Die Rabbinen haben in ihren Auslegungen der Geschehnisse am Sinai das Feuer auf die Umstände, Gegenstände, Inhalte und Beteiligten der Offenbarung übertragen. Als Ausgangs- oder Belegvers diente dabei meistens Dtn 33,2: »Ihm zur Rechten flammte vor ihnen das Feuer des Gesetzes«. So waren laut TanW Jitro 16 neben dem Antlitz Mose und den anwesenden Engeln auch Gesetz, Pergament, Schrift, Faden und Buchstaben aus Feuer. Dass sich die Ausleger dabei aber nicht einfach ein einziges riesiges Feuer vorstellten, welches alles umfing, sondern mehrere, sich unterscheidende Feuer, zeigen ihre vorgenommenen Differenzierungen. So sprechen die Rabbinen zum Beispiel im Midrasch ShirR 2,16 von den beiden Feuern des schriftlichen und des mündlichen Gesetzes oder unterscheiden im Talmud verschiedene Farben des Feuers (ySheq 6,1 49d): Rabbi Pinḥas (sagte) im Namen des Rabbi Schimon ben Laqish: Die Tora, die der Heilige, er sei gepriesen, Mose gegeben hat, gab er ihm als weisses 91 Feuer, eingebrannt mit schwarzem Feuer, Feuer, eingehüllt in Feuer, ausgehauen aus Feuer und gegeben von Feuer; das ist es, was geschrieben steht: »Aus seiner Rechten ein Feuer des Gesetzes für sie (Dtn 33,2)«. Der Ausdruck "ausgehauen aus Feuer" zeigt an, dass es sich bei der Beschreibung um die steinernen Tafeln des Gesetzes handelt, obwohl der Text ganz allgemein von "Tora" spricht. Die feurigen Buchstaben leuchteten demnach schwarz auf dem Hintergrund des weissen Feuers der Tafeln. Aus weissem Feuer ist laut ySot 8,3 22d aber auch das Material der Torarollen. Die Erwähnung von Pergament und Faden (s. weiter oben) – Materialien, die für die Herstellung einer Torarolle nötig sind – macht deutlich, dass sich das feurige Gesetz nicht auf die Tafeln mit dem Zehnwort beschränkte. Die Austauschbarkeit der Bezeichnungen Zehnwort und Tora ist bezüglich der Sinaigeschehnisse in der rabbinischen Literatur verschiedentlich anzutreffen. Während obiges Beispiel zwar Tora sagt, aber offensichtlich die Zehnworttafeln meint, so ist bei der Auslegung der Zehn Worte in der Mechilta oftmals die ganze Tora mitgemeint. Das Zehnwort dient somit als Pars pro Toto für die ganze Tora. Aus der Vorstellung, dass die ganze Tora aus Feuer war, wurde in der Mechilta Bachodesch 4 ein weiteres Gleichnis abgeleitet: »Denn der Herr war im Feuer auf ihn herabgestiegen (Ex 19,18)« sagt aus, dass die Tora Feuer ist und aus Feuer gegeben wurde und mit Feuer zu vergleichen ist. Wie verhält sich Feuer? Wenn man ihm zu nahe kommt, so verbrennt man sich, entfernt man sich von ihm, so friert man. Das einzige, was der Mensch tun kann, ist, sich an seiner Flamme zu wärmen.288 Die Tora hat dem Gleichnis zufolge die Eigenschaften ihrer feurigen Herkunft im übertragenen Sinne beibehalten. Die feurigen Worte am Sinai wurden von den Rabbinen symbolisch und in direktem Zusammenhang mit ihrem Inhalt gedeutet. Sie folgern, dass der Mensch den grössten Nutzen von der Tora hat, wenn er den richtigen Abstand zur ihr einhält. Einen sehr ähnlichen Vergleich von Gesetz und Feuer ist bei Philo zu finden (Decal 49): Da die Aufgabe des Feuers eine doppelte ist, zu leuchten und zu brennen, so werden die, die dem Gotteswort gehorsam sein wollen, wie in schattenlosem Licht alle Zeit wandeln und die Gesetze selbst als leuchtende Sterne in der Brust tragen; die ihm aber ungehorsam sind, werden ewig entflammt und verzehrt werden von den Begierden in ihrem Innern, die einem Feuer gleich das ganze Dasein derer, die sie beherrschen, zerstören werden. 288 Eigene Übersetzung. 92 Statt die zwei Seiten der Wärme, die im rabbinischen Gleichnis das Feuer charakterisiert, zu verwenden, vergleicht er die Eigenschaft des Lichts mit derjenigen der Wärme, um die positiven (Licht) und negativen (Hitze) Auswirkungen des Feuers, bzw. des Gesetzes zu symbolisieren. Gleich wie die Rabbinen spricht er von "Gotteswort" allgemein, obwohl er gemäss Kontext die Offenbarung des Zehnworts meint. Die Auslegung von Dtn 33,2 in SifDev § 343 erwähnt noch eine weitere Eigenschaft des Feuers: Wie das Feuer jedem, der sich mit ihm beschäftigt, an seinem Körper ein Mal macht, so machen die Worte der Tora jedem, der sich mit ihnen beschäftigt, an seinem Körper ein Mal. Wie das Feuer (bewirkt), dass die sich mit ihm Beschäftigenden unter den Geschöpfen erkannt werden, so sind die Schüler der Weisen bekannt an ihrem Gang, und an ihren Reden und an ihrem Überwurf auf der Strasse. In diesem Gleichnis geht es nicht mehr um gegenteilige Auswirkungen des Feuers, bzw. der Tora, sondern es steht die Aussage im Vordergrund, dass die Beschäftigung mit der Tora einen Menschen prägt und verändert, und zwar so sehr, dass es äusserlich sichtbar und nicht zu verstecken ist. Wie R. Menachma tradierte, sollen die Tafeln direkt aus der Sonnenkugel gehauen worden sein (ShirR 5,19). Ob er die Sonne wegen des Feuers mit den Tafeln in Bezug bringt, oder in erster Linie, um ein göttliches Wunderwerk zu nennen, geht aus seiner Bemerkung nicht hervor. Das spektakulärste Feuer am Sinai wird jedoch im Zusammenhang mit Gottes Reden geschildert: 3.3 Das Reden Gottes 3.3.1 Gottes Stimme Gemäss beiden biblischen Dekalogtexten war es im ganzen tosenden Offenbarungsgeschehen mit Donner, Blitz, Feuer, Wolken, Dunkelheit, Hörnerklang, Erdbeben und Rauch die Stimme Gottes, die bei den Israeliten den grössten Eindruck hinterliess. In Dtn 5,25 wird sie vom Volk als donnernde Stimme beschrieben, die bei ihnen Todesangst auslöste. Entweder war Gottes Stimme dem Donnerklang 93 ähnlich oder wurde von Donner begleitet (vgl. Ex 19,19; Dtn 5,22).289 Gott hatte beabsichtigt, dass die Israeliten seine Stimme hören sollten, wenn er mit Mose sprach (Ex 19,9). Nach der Verkündigung der Zehn Worte fürchtet sich das Volk jedoch so sehr, dass es darum bittet, Mose als Mittler zwischen ihm und dem Ewigen einsetzen zu dürfen (Ex 20,19). Somit hörten die Israeliten nur das Zehnwort von Gott selbst, die übrige Tora wurde ihnen von Mose übermittelt.290 Targum Neofiti 1, eine aramäische, paraphrasierende Übersetzung der Bibel für den Gottesdienstgebrauch aus dem 1. Jh. n. Chr., beschreibt in Ex 20,2 das erste der Zehn Worte als Feuer, das aus dem Munde Gottes ausgeht wie Blitze und Fackeln. Dieses feurige Wort teilt sich, fliegt gen Himmel und kehrt daraufhin wieder zurück und umkreist das Lager um schliesslich auf die zwei Tafeln eingraviert zu werden. Dann erst lässt es rufend seinen Inhalt hören.291 Beim zweiten Gebot (Ex 20,3) ereignet sich dasselbe "Feuerwerk", doch bei den darauf folgenden Geboten geben die Targumim nur mehr deren Inhalt wieder. Wäre das raketenartige Feuer nur beim ersten Gebot geschildert worden, könnte man es beispielhaft auf die Artikulierung aller Zehn Worte beziehen. Die Tatsache, dass die Schilderung beim zweiten Gebot wiederholt wird, bei allen weiteren aber fehlt, deutet jedoch auf eine andere Interpretation hin. Nach der Meinung verschiedener Weisen im Talmud haben die Israeliten nur die ersten beiden Gebote aus dem Munde Gottes selbst vernommen, die restlichen acht aber durch Mose (bMak 23b/24a; bHor 8a). Der Midrasch ShirR 1,13 erklärt diese Unterscheidung anhand des Zahlenwerts des Wortes Tora: R. Asarja und R. Jehuda bar R. Simon im Namen des R. Josua ben Levi ergriffen die Meinung und sagten: Es heisst Dtn 33,4: »Die Thora hat uns Mose befohlen« d.i. die ganze Thora enthält 613 Geund Verbote, das Wort תורהjedoch hat nur 611 in der Zahl d.i. die Gebote, welche Mose mit uns geredet hat, aber die beiden Gebote: Ich bin ( )אנכיund: Dir soll nicht sein ( )ולא יהיה לךhaben wir nicht aus dem Munde Moses, sondern aus dem Munde Gottes vernommen. Mit der »Tora des Mose« in der zitierten Belegstelle Dtn 33,4 sind demzufolge nur die 611 Gebote gemeint, die Mose im Namen Gottes den Israeliten verkündete. Dass 289 290 ( קולqol): 1. Stimme 2. Geräusch, Laut, Schall, Klang. Vgl. GESENIUS, Handwörterbuch V, 1156f. DOHMEN (Logik, 47f) schliesst aus der Kontexterzählung, dass der Dekalog in Ex 20,1-17 weder direkt ans Volk noch an Mose gerichtet ist, sondern als Leserinformation zu verstehen sei. Das Volk habe zwar das Sprechen, nicht aber dessen Inhalt wahrgenommen. Dabei verweist er auf Maimonides (MOSE BEN MAIMON, Führer der Unschlüssigen, 228):"…sie aber vernahmen diese gewaltige Stimme, konnten aber keine Worte unterscheiden". 291 // TPsJ zu Ex 20,2f. Vgl. ShirR 1,13: Nachdem sich das Wort von selbst in die Tafeln gegraben hatte, ging seine Stimme von einem Ende der Welt zum andern. 94 die Targumisten und Rabbinen zwischen den ersten zwei Dekaloggeboten und den übrigen acht eine Unterscheidung machten, scheint an der Person des Sprechers zu liegen. Während in den ersten beiden Geboten ganz klar Gott die sprechende Person - das Ich - ist, nehmen die anderen acht Gebote entweder gar nicht auf Gott Bezug oder dann nur in der 3. Person. Diesem Sprecherwechsel wurde entnommen, dass Gott nur die ersten beiden Gebote selbst gesprochen hatte, bevor ihn die Israeliten unterbrachen, weil sie seine Stimme nicht ertragen konnten. Die gimatrische Rechnung mit dem Zahlenwert von Tora scheint diese Ansicht von der Sonderstellung der ersten beiden Gebote dann regelrecht beflügelt zu haben. Neben der oben zitierten Meinung wird in PesR 22,5 aber auch erwähnt, dass die Rabbanen der Ansicht seien, dass alle Zehn Gebote aus dem Munde Gottes vernommen worden waren, wie es die Bibeltext (Ex 20,19) nahe legt. Auch die Texte aus der Mechilta, die weiter unten in diesem Kapitel besprochen werden, implizieren die göttliche Verkündigung des ganzen Dekalogs. Während Philo die direkte Verkündigung des gesamten Dekalogs hervorhebt, geht die rabbinische Tradition entweder von zwei oder zehn unmittelbar verkündeten Worten aus. Wie KONKEL bemerkt, setzt sich die talmudische Meinung von zwei direkt offenbarten Worten schliesslich als mainstream der jüdischen Tradition durch.292 Das Bild von der Gottesrede als feurige Flamme, wie es der Targum zeichnet, wird auch in SifDev § 343 verwendet. Der tannaitische Midrasch legt den Schwerpunkt aber weniger auf das Feuer als vielmehr auf die Rede bzw. Stimme Gottes: »Zu seiner Rechten ist ein feuriges Gesetz an sie (Dtn 33,2)«. Als die (Gottes)rede ausging aus dem Munde des Heiligen, g.s.er!293 ging sie aus zur Rechten des Heiligen, g.s.er! zur Linken Israels und ging um das Lager Israels 12 auf 12 Mil294, und dann ging sie zur Rechten Israels, zur Linken des Heiligen, g.s.er!, und der Heilige, g.s.er! fasste sie mit seiner Rechten und grub sie auf die Tafel. Und seine Stimme ging von einem Ende der Welt zum andern wie es heisst: »Die Stimme J's sprüht Feuerflammen (Ps 29,7)«. 292 Vgl. KONKEL (Sinai, 18): "Die direkte Verkündigung des gesamten Dekalogs wird im hellenistischen Judentum betont, wohingegen ein Teil der rabbinischen Tradition die direkte Verkündigung auf die ersten beiden Gebote nach jüdischer Zählung […] einschränkt. Letzteres Modell findet Eingang in den Talmud, setzt sich als mainstream der jüdischen Tradition durch und wird mit Ausnahme von Ibn Esra von den Kommentatoren des Mittelalters adaptiert. […] Maimonides zufolge wurde hingegen der Dekalog insgesamt durch Mose vermittelt." 293 Der Ausdruck "der Heilige, gelobt sei Er!" ist eine Bezeichnung Gottes, für die im Hebräischen gewöhnlich nur die Abkürzung הקב''הverwendet wird, weshalb ihn der Übersetzer auch im Deutschen abkürzt. 294 ( מילlat.: mille) = Meile, vgl. KRAUSS, Lehnwörter II, 334f. Das Längenmass entspricht talmudischen Quellen zufolge einem Sabbatweg (LEVY, Wörterbuch III, 101). 95 Der Midrasch versteht das Wort Gottes als eine von Gott verschiedene Persönlichkeit. Sowie es den Mund Gottes verlassen hat, erscheint es als eigenständiges Wesen, das sich seinen eigenen Weg sucht, bevor es schliesslich zu seinem Urheber zurückkehrt. Doch die Geste Gottes, der das Wort einfängt und in die Tafeln gräbt, zeigt, dass der Ewige sein Wort "im Griff" hat und es seiner Bestimmung zuführt.295 Im Targum wie im Midrasch wird das Wort erst durch diese Materialisierung im Stein zur Stimme. CECIL B. DEMILLE'S Monumentalfilm The Ten Commandments hat sich bei der Szene am Sinai offensichtlich auf die rabbinische Tradition gestützt: Während jeweils der Inhalt eines Wortes aus der Feuersäule ertönt, bildet sich eine Feuerfackel, die das Feuer der Säule verlässt und umrundet, um sich schliesslich in den Fels des Berges einzubrennen.296 Das Motiv der als Flamme sichtbaren Stimme ist nicht etwa der Vorstellungskraft der Ausleger zuzuschreiben, sondern geht konkret auf Ex 20,18 zurück: »Und das ganze Volk sah die Stimmen ( )קולתund die Fackeln ()לפידם...«. Auf dem Hintergrund dieses Verses ist nun die Richtung, welche die Auslegung nimmt, verständlich. Während die beiden hebräischen Begriffe in deutschen Bibelübersetzungen meist mit "Donner" und "Blitz" wiedergegeben werden, orientieren sich die hebräischen Ausleger in Targum und Midrasch an der wörtlichen Bedeutung "Stimmen" und "Fackeln".297 Da es ausserdem heisst: »Und das ganze Volk sah die Stimmen« muss der Schall ebenfalls sichtbar gewesen sein. Die flammenartige Feuerstimme macht das Verb erst passend für beide Ausdrücke. Gottes Reden ist demzufolge hörbar und sichtbar. Gemäss Targum und Midrasch sogar zuerst sichtbar und erst dann hörbar. Auch Philo beruft sich bei der Beschreibung der Offenbarungsstimme auf diese Schriftstelle, wenn er sagt: "…wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte (Decal 46f)". Diese zweifache Wahrnehmung des Redens Gottes ist in der Bibel mehrfach zu finden. Ebenso wie es heisst: »Auge in Auge hat der Herr auf dem Berg mitten aus dem Feuer mit euch geredet (Dtn 5,4)« heisst es über Mose »Mit ihm rede ich von Mund zu Mund, von Angesicht zu Angesicht, nicht in Rätseln. Er darf die Gestalt des Herrn sehen (Num 12,8)«. Die Redewendungen "Auge in Auge" und "Mund zu Mund" sind Ausdruck der Konversation. Wer gesehen und gehört hat, wird zum unerschütterlichen Zeugen und 295 Vgl. Jes 55,10f. CECIL B. DEMILLE, The Ten Commandments, Paramount Pictures 1956. 297 Vgl. GESENIUS, Handwörterbuch V, 1156f; Handwörterbuch III, 613. 296 96 Botschafter (vgl. Lk 2,20; Act 4,20). Gehen darum Sehen und Hören bei einer Gottesoffenbarung oft zusammen (vgl. Hiob 13,1; 42,5; Jes 66,19)? Sogar Gott selbst überzeugt sich auf doppelte Weise vom Leid seines Volkes in Ägypten (Ex 3,7) oder seines Gesalbten (2Reg 20,5). Die dramatischen Naturerscheinungen am Sinai hatten zur Folge, dass sich die machtvolle Stimme Gottes nicht nur in den Stein, sondern auch ins Gedächtnis der Anwesenden einprägte und sie so zu Gottes Zeugen unter den Völkern wurden. Auch über die Art und Weise, wie der Ewige die Zehn Gebote artikulierte, gibt es mehrere rabbinische Deutungen. Anders als Philo, der von einer eigens für die Offenbarung am Sinai geschaffenen Stimme spricht (vgl. S. 52), gehen die Rabbinen unmissverständlich davon aus, dass es Gottes eigene Stimme war, die das Volk vernahm. Sehr verbreitet ist die Vorstellung, dass Gott alle Zehn Worte in einer einzigen Äusserung ausgesprochen habe, das heisst alle gleichzeitig miteinander. Dieses Phänomen betont die Einzigartigkeit der göttlichen Stimme und ihre Unvergleichlichkeit mit der menschlichen Stimme, wie es die Mechilta in Hashira 8 schildert: »Wer ist wie Du, gewaltig und heilig? (Ex 15,11)«. […] Denn die Eigenschaften ( )מידהdes Heiligen, gelobt sei Er, sind nicht wie die Eigenschaften eines Menschen. Denn es ist eine Eigenschaft des Menschen, dass er nicht zwei Worte in einem Ausspruch sagen kann. Er aber, durch dessen Wort die Welt entstand, sprach die Zehn Worte in einem Ausspruch – eine Art zu Sprechen, die dem Menschen unmöglich ist - es heisst nämlich: »Und Gott sprach [ ]וידברall diese Worte und sagte [( ]לאמרEx 20,1)«.298 Obwohl die Ausrucksweise לאמר... וידברgängiger biblischhebräischer Grammatik und Stilistik entspricht,299 dient dieses zweifache Vorkommen eines Verbs des Sagens den Auslegern als Hinweis, dass das Zehnwort auf eine spezielle Weise artikuliert wurde.300 Nicht nur die Sprache, sondern auch das Gehör des Menschen ist mit Gottes kompakter Mitteilungsart überfordert: Im Kommentar zu Ex 20,1 verdeutlicht die Mechilta dann, dass der Ewige nach diesem einzigartigen Aussprechen des Zehnworts jedes Gebot nochmals einzeln wiederholte (Bachodesch 4). BamR 11,7 hingegen zitiert zum gleichen Thema Ps 62,12: »Eines hat Gott 298 Eigene Übersetzung. Der infinitivus constructus לאמרist die im Hebräischen übliche Überleitung zur direkten Rede, vergleichbar mit Doppelpunkt und Anführungszeichen im Deutschen. 300 Die Mechilta hält sonst - entsprechend der Schule des R. Jischmael - grundsätzlich daran fest, dass die Tora in der Sprache der Menschen spricht und z.B. rein stilistische Verdoppelungen nicht zu interpretieren sind, vgl. STEMBERGER, Literatur, 84. 299 97 gesagt, zweierlei habe ich gehört«, woraus ein Unterscheiden von verschiedenen Aussagen in einer einzigen göttlichen Äusserung dem Menschen durchaus zugetraut wird. MekhY Wajassa 1 erwähnt zehn Stimmen, mit denen der Dekalog gegeben wurde. Dies verdeutlich, wie sich die Rabbinen das Sprechen aller Zehn Gebote in einer Äusserung vorstellten: Gott sprach jedes der Gebote mit einer anderen Stimme, sodass eine zehnstimmige Rede aus seinem Mund kam. Es war die Mächtigkeit dieser Stimme, die das Volk in Todesangst versetzte (vgl. Dtn 5,25). Neben der Vorstellung der Mehrstimmigkeit von Gottes Rede, gibt es auch rabbinische Meinungen, dass die Zehn Gebote mehrsprachig verkündet wurden. Laut TanW Jitro 11 teilte sich Gottes Stimme am Sinai in sieben verschiedene Stimmen, die sich darauf in je zehn Sprachen wandelten, was den siebzig Sprachen entspricht, die im babylonischen Talmud in diesem Zusammenhang erwähnt werden (bShab 88b): In der Schule R. Jischmaels wurde gelehrt: »[Ist nicht mein Wort wie Feuer – Spruch des Herrn] - und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?«; wie der [Stein durch den] Hammer in viele Splitter zerteilt wird, so wurde auch jedes Wort, das aus dem Munde des Heiligen, gepriesen sei er, hervorging, in siebzig Sprachen zerteilt. Die siebzig Sprachen entsprechen den siebzig Völkern, die aus der Genealogie der Söhne Noahs in Gen 10 hergeleitet werden können.301 Aufgrund der Situation nach der Sintflut waren diese Stämme die Grundlage für die gesamte spätere Weltbevölkerung. Die siebzig Sprachen bedeuten, dass der Dekalog für die ganze Welt verständlich gegeben wurde, wie ShemR 5,9 bestätigt: R. Jochanan sagte: Die Stimme ging auf und theilte sich in 70 Stimmen nach den 70 Sprachen, damit alle Nationen sie vernehmen sollten. Jede Nation hörte die Stimme in der Sprache ihrer Nation und sie waren entseelt (eig. ihre Seelen waren ausgegangen); aber die Israeliten hörten sie und erlitten keinen Schaden. Die Zehn Gebote ergingen demnach an alle Völker der Erde in ihrer eigenen Sprache. Diese Vorstellung finden wir ebenfalls in mSot 7,5, wo die Aufrichtung der Altarsteine mit den Gesetzesworten auf dem Berg Ebal gemäss Dtn 27,2-4 beschrieben wird. Auch dort soll die Tora in siebzig Sprachen auf die Steine geschrieben 301 302 worden sein.302 Auf diesen "Globalisierungsaspekt" der Vgl. ABRAHAMS, Numbers, 336 sowie GINZBERG, Legends V, 194f. Anm. 72. Die Samaritaner, die das Gebot zur Aufrichtung der Steine in den Dekalog aufgenommen hatten, 98 Sinaigeschehnisse kommen wir in Kapitel 3.4.3 noch näher zu sprechen. Weniger symbolisch und mehr assoziativ argumentierten die Tannaiten in SifDev § 343. Aus der Einleitung des Segens, mit dem Mose das Volk vor seinem Tod bedachte (Dtn 33), leiteten sie ab, dass Gott die Tora in vier Sprachen offenbart habe: Eine andere Auslegung. Als sich der Heilige, g.s.er! offenbarte, um Israel die Tora zu geben, da redete er nicht (nur) in einer einzigen Sprache zu ihnen, sondern in vier Sprachen, wie es heisst (Dtn 33,2): »Und er sprach: J' kam vom Sinai« – das ist die hebräische Sprache; »und glänzte ihnen auf von Seir« – das ist die römische Sprache; »er strahlte auf vom Gebirge Paran« – das ist die arabische Sprache; »und nahte von Meribat-Kades« – das ist die aramäische Sprache. Die im Bibeltext erwähnten Gegenden haben den Auslegern als Hinweis auf verschiedene Sprachen gedient. So steht der Sinai, wo sich die Israeliten versammelten, für die hebräische Sprache, Seir ist Edom, welches traditionsgemäss als Synonym für Rom verwendet wird und die Wüste Paran ist laut Gen 21,21 der Wohnsitz Ismaels, des Stammvaters der Araber. Die aramäische Sprache wird wohl nicht wegen der Gegend Meribat-Kades zitiert, sondern weil das Verb in diesem Satzteil aramäisch ist ()אתה.303 BIETENHARD weist darauf hin, dass ausgerechnet die griechische Sprache fehlt, die in jener Zeit auch unter den Juden Palästinas weit verbreitet war.304 Diese "Lücke" ist auf den Fokus der Auslegung zurückzuführen, welcher die geografischen Bezeichnungen in Dtn 33,2 mit Völkern assoziiert und nicht zum Ziel hat, eine bestimmte Gruppe von Sprachen mit Hilfe des Textes zu belegen. In all ihren Auslegungen über die Offenbarungsstimme am Sinai haben die Rabbinen keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich um die Stimme Gottes selbst handelt. So erstaunt es auch nicht, dass sie den sonst fast durchgängig verwendeten Terminus technicus für eine Offenbarungsstimme bat qol ( )בת קולin diesem Zusammenhang nie verwenden.305 Gottes Stimme ist sichtbar wie eine Feuerfackel, mehrstimmig wie keine menschliche Stimme es vermag, und mehrsprachig, um den ganzen Erdkreis unmittelbar anzusprechen. Diese Auslegungen geben eine lebhafte Vorstellung davon, warum das Volk am Sinai das göttliche Reden nicht länger als für die Dauer von Zehn (möglicherweise sogar nur zwei) Worten aushalten konnte. pflegten auf solche Steine das Zehnwort zu schreiben, vgl. S. 43. 303 Vgl. BIETENHARD, Sifre Deuteronomium, 829. 304 BIETENHARD, ebenda, Anm. 36. 305 Dies stellt KUHN (Offenbarungsstimmen, 254) in seiner Untersuchung der Offenbarungsstimmen im antiken Judentum fest. 99 3.3.2 Die persönliche Anrede Das Zehnwort wurde nicht kollektiv an das Volk gerichtet, sondern ist in der persönlichen Du-Form an Israel ergangen. Gemäss R. Jochanan ging am Sinai ein Engel mit jedem der Zehn Worte Gottes von einem Israeliten zum andern und fragte: Nimmst du diesen Ausspruch an?306 Mit dieser anschaulichen Geschichte bringt R. Jochanan zum Ausdruck, was Hörer des Dekalogs bis heute fasziniert und zuweilen auch provoziert: Das unmittelbare, persönliche "Du" der Zehn Worte macht seinen Hörer unweigerlich zum Gegenüber. Obwohl die Zehn Worte nicht als Fragen formuliert sind, provozieren sie mit ihrer persönlichen Direktheit eine Antwort oder zumindest eine Reaktion. Mit den Fragen des Engels weist der Midrasch ausserdem darauf hin, dass die Annahme der Zehn Worte freiwillig war. Ebenfalls von R. Jochanan ist ein Gleichnis überliefert, wie man sich dieses persönliche Angesprochensein trotz der grossen Masse der Angesprochenen vorstellen kann (PesR 21,4): »Ich bin der Ewige, dein Gott«. »Auge in Auge hat der Herr auf dem Berg mit euch geredet (Dtn 5,4)« R. Jochanan sagte: Eine Bildsäule307 – tausend Leute blicken sie an, jeder einzelne sagt, dass sie ihn anblickt. Genauso blickt der Heilige, gelobt sei Er, jeden einzelnen als er sagte: »Ich bin der Ewige, dein Gott«.308 Dieser "Mona-Lisa-Effekt", bei dem eine unbegrenzte Anzahl von Leuten unabhängig von ihrem Standort den Blick des Kunstobjekts auf sich allein gerichtet fühlt, widerspiegelt in den Augen der Ausleger Gottes Art, zum ganzen Volk zu reden und doch jeden Einzelnen persönlich anzusprechen. Gemäss der Parallelstelle TanB Jitro 17 passte der Ewige das Wort bei jedem einzelnen an dessen persönliche Fassungskraft an. Neben diesen Texten, die das Wie der Anrede im Singular beschreiben, gibt PesR 21,12 hingegen eine Erklärung, warum das Zehnwort in der Einzahl formuliert wurde: Warum wurden die Zehn Worte im Singular gesprochen? Weil Einzelpersonen sie übertraten.309 Die Antwort des Auslegers ist kurz, aber sie trifft den springenden Punkt. Das Halten 306 ShirR 1,13. Laut anderen Rabbinen war es das Wort Gottes, das diese persönliche Befragung durchführte. 307 ( איקוניןgr. εικόνιον): Bild, Gemälde; Bildsäule; Gesichtszüge. Vgl. KRAUSS, Lehnwörter II, 40f. 308 Eigene Übersetzung. 309 Die Vergangenheitsform dieser Aussage resultiert aus dem Kontext, da anschliessend zu jedem der zehn Gebote eine Persönlichkeit aus der Bibel zitiert wird, die das betreffende Gebot gebrochen hat. 100 der Worte des Dekalogs liegt in der Verantwortung des Einzelnen. Sie betreffen die Beziehung des Einzelnen zu Gott und zu seinem Mitmensch. Kein Volkskollektiv kann diese Aufgabe übernehmen.310 Der späte Midrasch Leqach Tov (vmtl. 11. Jh.) stellt denn auch diese persönliche Verantwortung in den Vordergrund (LeqT Waetchanan 9ab): Warum sind die Zehn Gebote im Singular gehalten? So dass jeder Einzelne sich sagen muss: "Mir sind sie befohlen worden. Meinetwegen ist die Tora gegeben worden, damit ich sie erfülle." Er sage nicht: "Es genügt, wenn die Welt – ohne mich – die Zehn Gebote hält."311 Die Du-Form des Zehnworts bewirkt demnach eine persönliche Betroffenheit des Hörers, um diesem deutlich zu machen, dass er als Person aufgerufen ist, das Gebot zu halten. Dieser Gedanke sah auch Philo - neben pädagogischen Gründen - als Hauptgrund für die Singular-Form.312 Was für einen deutschen Hörer des Zehnworts nicht mehr hörbar ist, für den hebräischen Hörer hingegen schon, ist die grammatikalisch maskuline Form des hebräischen "Du". Während moderne feministische Auslegungen des Dekalogs wie diejenigen von SCHÜNGELSTRAUMANN oder PLASKOW fragen, wo die Frauen am Sinai waren und ob das Zehnwort überhaupt als allgemeingültig verstanden werden kann,313 wird diese grammatikalische Einschränkung in der rabbinischen Literatur nicht kommentiert. Vielmehr liegt laut Rabbinen im "Du" die eigentliche Wirkungskraft des Zehnworts, die den einzelnen an den Sinai stellt und ihm deutlich macht, dass seine Antwort zählt. In seinem Buch über Moses betont der Philosoph und Bibelübersetzer MARTIN BUBER ebenfalls diese generationen- und zeitenübergreifende Wirkung des "Du" auf den Einzelnen: "Jedenfalls hat zu allen Zeiten nur der den Dekalog wirklich aufgenommen, der ihn als zu ihm selber gesprochen vernahm, das heisst: der das darin niedergelegte Angesprochenwordensein jenes Ersten oder jener Ersten als sein eigenes Angesprochenwerden erfuhr. Vermöge seines "Du" bedeutet der Dekalog die Erhaltung der göttlichen Stimme."314 BUBER geht so weit, dieses "Du" als die Seele des Dekalogs zu bezeichnen.315 310 Vgl. dagegen der Kommentar von JACOB (Exodus, 553), wonach die ersten fünf Gebote an das ganze Volk ergingen und die zweiten fünf an jeden Einzelnen als Individuum. 311 Übersetzung übernommen aus LENZEN, Ethik, 62f. 312 Vgl. dazu S. 53. 313 SCHÜNGEL-STRAUMANN, Dekalog; PLASKOW, Sinai. 314 BUBER, Moses, 191. 315 BUBER, ebenda. 101 3.4 Das Empfangen der Offenbarung 3.4.1 Die Reaktion des Volkes In der Mechilta Bachodesch 4 lesen wir, dass die Israeliten dem Ewigen auf jedes einzelne der Zehn Worte antworteten. Auf ein positives Gebot mit einem bestärkenden "Ja" und auf ein negatives Gebot mit "Nein".316 Die Offenbarung wurde somit zu einer Art Dialog zwischen Gott und Israel. Laut dem biblischen Bericht reagierten die Israeliten heftiger auf die Art, wie Gott zu ihnen sprach, als auf den Inhalt seiner Rede. Ihre Reaktion in Ex 20, 18-19 wird in der Mechilta (Bachodesch 9) wie folgt ausgelegt: »Da bekam das Volk Angst, es zitterte« – nicht dass sie überall zitterten, sondern wie es heisst: »Es taumelt die Erde« usw. (Jes 24,20) »Und hielt sich in der Ferne« – jenseits von zwölf Meilen317. Dies sagt, dass Israel zwölf Meilen zurück wichen und darauf wieder zwölf Meilen vorwärts gingen – 24 Meilen bei jedem Gebot – sodass sie an jenem Tag 240 Meilen zurücklegten. In jener Stunde sprach der Heilige, gelobt sei Er, zu den Dienstengeln: "Steigt hinunter und helft Euren Brüdern", es heisst nämlich: »Die Engel Zebaoths fliehen, ja sie fliehen (Ps 68,13)«. Sie fliehen beim Weggehen und beim Herankommen und nicht nur die Dienstengel allein (standen ihnen bei), sondern auch der Heilige, gelobt sei Er, wie es heisst: »Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich (Cant 2,6)«. […]»Sie sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören« – dies bedeutet, dass sie keine Kraft hatten, mehr als die Zehn Gebote zu empfangen, denn es heisst: »Wenn wir noch einmal die donnernde Stimme des Herrn, unseres Gottes, hören, werden wir sterben. (Dtn 5,26) «.318 Die Entgegennahme des Zehnworts wird als physische Leistung geschildert. Der Midrasch beschreibt die Offenbarung der Zehn Worte für die gebende wie für die empfangende Seite als ein anstrengendes Ereignis. Das Volk ringt buchstäblich um den Dekalog: trotz der Furcht, die das Volk zum Fliehen brachte, kehrte es immer wieder zurück. Da ein Mensch nicht fähig ist, 240 Meilen am Tag zurückzulegen, schickt Gott den Israeliten seine Engel zur Unterstützung. Als die Israeliten meinten, die Stimme Gottes nicht mehr länger ertragen zu können, hatten sie erst den Dekalog vernommen. Aber sie waren überzeugt, dass Gott noch nicht fertig war mit Reden. Die weiteren Begegnungen mit Gott delegierten sie deshalb an Mose (Ex 20,19). Ihre Bereitschaft dazu wiederholten sie kurz darauf mit den seither oft zitierten Worten: 316 Dies die Meinung R. Jischmaels. Nach R. Akiva hingegen antworteten sie auf alle Gebote mit "Ja". Vgl. Anm. 294. 318 Eigene Übersetzung. 317 102 naʿase we-nishmaʿ ()נעשה ונשמע: »Alles, was der Ewige sagt, wollen wir tun und hören (Ex 24,7)«.319 Diese Aussage fand grosse Beachtung, denn die Reihenfolge des Versprechens hat die Aufmerksamkeit der Rabbinen erregt: das "Tun" vor dem "Hören", also das Gehorchen vor dem Horchen zu versprechen, ist ungewöhnlich. In der Bedingungslosigkeit, das Wort Gottes zu akzeptieren, wie immer es lauten möge, sahen die Ausleger ein Verdienst, das der Ewige den Israeliten hoch anrechnete (bShab 88a):320 R. Simaj trug vor: Zur Stunde, da die Jisraéliten das Tun früher als das Hören zugesagt hatten, kamen sechzig Myriaden Dienstengel und wanden jedem Jisraéliten zwei Kränze321, einen für das Tun und einen für das Hören. Als die Jisraéliten später sündigten, kamen hundertzwanzig Myriaden Würgengel herunter und nahmen sie ihnen ab, wie es heisst (Ex 33,6): »da entledigten sich die Kinder Jisraél ihres Schmuckes vom Berge Horeb«. Der Talmud bezeichnet das Prinzip des Tuns vor dem Hören als Geheimnis, dessen sich bis anhin nur die Dienstengel bedienten (bShab 88a). Mit ihrer Reaktion haben die Israeliten auch gezeigt, dass ihre Gottesbeziehung derjenigen der Dienstengel ähnlich wurde. Der Bibeltext lässt die Motivation dieses Versprechens offen. Die Rabbinen interpretierten die Reaktion Israels als bedingungsloses Vertrauen, und nicht etwa als Angst vor dem verzehrenden Reden Gottes. Die Auslegung eines Weisen, dass Gott den Berg Horeb über das Volk hielt und es vor die Wahl stellte, die Tora anzunehmen oder unter dem Berg begraben zu werden, ist eine Einzelmeinung und scheint als Ausrede betrachtet worden zu sein.322 Naʿase wenishmaʿ wurde eine Art geflügeltes Wort für die frei gewählte und auf Vertrauen gründende Gottesbeziehung Israels. 3.4.2 Zehnwort und Gericht Wie wichtig den Rabbinen der Aspekt der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk bei der Verkündigung des Zehnworts war, zeigt sich wiederum in Texten, die mit dem zukünftigen Gericht zu tun haben, wie z.B. folgendes Gleichnis aus dem Midrasch WaR 23,3: 319 Eigene Übersetzung. Die Septuaginta hat auch in Ex 24,3 diese Formel, während die hebräische Bibel dort nur das Tun erwähnt. 320 Ebenso wurde auch Josef belohnt, weil er die Zehn Gebote noch vor ihrer Offenbarung gehalten haben soll. Sein Sarg durfte vor der Bundeslade herziehen (TanB Naso 34; TanW Naso 30). 321 כתרist eine Krone oder ein Diadem. Die Übersetzung von Goldschmidt ist an dieser Stelle ungenau. Die Parallelstelle in PesR 10,4 verwendet עטרה, was ebenfalls Krone bedeutet. 322 Vgl. die Interpretation GOLDSCHMIDTS in seiner Übersetzung von bShab 88a. 103 R. Asarja führte im Namen des R. Jehuda bar R. Simon dieses Beispiel an: Ein König hatte einen Lustgarten, bepflanzt mit einer Reihe Feigenbäume, einer Reihe Weinstöcke, einer Reihe Granatbäume, einer Reihe Apfelbäume und er übergab ihn einem Gärtner und ging fort. Nach einiger Zeit kam der König wieder, schaute sich in dem Garten um, um zu erfahren, was der Gärtner gemacht habe, und er fand ihn voll mit Dornen und Disteln. Er liess Schnitter kommen, um die Dornen abzuschneiden, er schaute in die Dornen und ward eine schöne Rose gewahr, er nahm sie, roch daran und erquickte sich daran. Da sprach der König: Wegen dieser Rose soll der ganze Garten nun geschont (eig. gerettet) werden. So ist auch die ganze Welt nur wegen der Tora erschaffen worden, nach 26 Geschlechtern (Generationen) jedoch schaute Gott in seiner Welt sich um, um zu erfahren, was vorgegangen sei, und er fand sie voll mit Wasser. […] Er brachte Schnitter herbei, dass sie abschneiden sollten, […] da sah er eine schöne Rose, nämlich Israel. Er nahm sie, roch daran in der Stunde, als er ihnen die zehn Gebote (Worte) gab und seine Seele erquickte sich daran; als sie sprachen: »Wir wollen tun und gehorchen«, da sprach Gott: Wegen dieser Rose soll der Garten im Verdienste der Thora gerettet werden und wegen Israel soll die Welt gerettet werden.323 Das Gleichnis von Gott als Besitzer eines verwilderten Gartens ist ein Motiv, dass schon im Weinberglied in Jes 5,1-7 verwendet wird. Während in Jesaja der unfruchtbare Weinberg Israel der Verwilderung preisgegeben werden soll, bedarf der Garten, der im vorliegenden Midrasch die ganze Welt mit ihren Völkern darstellt, eines radikalen Rückschnitts. Das Gleichnis widerspiegelt eine Gerichtsszene. Dass das Gesetz darin entscheidenden Einfluss hat, ist zu erwarten - umso mehr erstaunt jedoch, dass nicht das Halten des Zehnworts die Rettung Israels (und mit ihm der ganzen Welt) bewirkt, sondern dessen bedingungslose, vertrauensvolle Annahme mit naʿase we-nishmaʿ. Hier zählt nicht der Inhalt des Gesetzes, sondern einzig die Haltung ihm gegenüber. Diese Deutung ist keineswegs singulär, sondern klingt auch in den anderen Texten, die den Dekalog mit dem Gericht zusammenbringen, an. Laut TanB Schofetim 8 wird Gott, wenn er einst die Völker richten wird, das Zehnwort als Zeuge heranziehen: R. Ḥanina sagte: In der Zeit, da der Heilige, g.s.er! die Völker der Welt richten wird, fasst er sie zum Gericht, sie und ihre Götter, und stellt ihnen Ratsherren (?) und bringt die zwei (Gesetzes-)Tafeln und die Zehn Gebote herbei und sagt zu ihnen: Haben sie sich um euch gekümmert? Sie sagen: Seit dem Tage, da du uns geschaffen hast, hat sich allein Israel, dein Volk, um uns gekümmert.324 Die Zehn Worte treten hier personifiziert auf. Die Zeugenaussage der Bundestafeln 323 324 // ShirR 2,6. // TanW Schofetim 9. 104 ist zugleich eine Anklage der Völker und eine Verteidigung Israels. Das Gesetz selbst, für dessen Gesamtheit das Zehnwort hier steht, verteidigt diejenigen, die sich damit beschäftigen. Auch hier scheint das Halten des Gesetzes keine Rolle zu spielen, sondern vielmehr die Beschäftigung mit ihm. Es dient nicht der Verdammung, sondern der Rettung. Diese Aufgabe des Dekalogs finden die Rabbinen auch in den Zehn Bußtagen ( )עשרת ימי תשובהwieder (PesR 40,7): Eine andere Auslegung: Warum zehn [Busstage]? Entsprechend den Zehn Worten, welche sie [die Israeliten] am Sinai auf sich nahmen, denn diese sind Israels Verteidiger. Denn die Völker der Welt nahmen sie nicht an, aber Israel nahm sie an aus Liebe.325 Die Zehn Busstage liegen zwischen dem jährlichen Gerichtstag am Neujahr, an dem Gott das Buch des Lebens öffnet, und dem Versöhnungstag, an dem er es wieder versiegelt. Während dieser Tage soll der Mensch umkehren, Gottes Vergebung erhalten und sein Name schliesslich im Buch des Lebens notiert werden. Laut der rabbinischen Auslegung gibt das Zehnwort den Israeliten zehn Tage Zeit, seine Beziehung zu Gott wieder zu ordnen und nimmt auf diese Weise die Rolle eines Fürsprechers ein. So auch in einer Auslegung von 1Chr 21,12 in PesR 11,3: Weil König David als Strafe für seine Volkszählung die Strafe wählte, bei der er in Gottes Hände fiel, suchten die Rabbinen den Lohn zu finden, der ihm aufgrund dieser vertrauensvollen Wahl zuteil wurde. Sie rechneten, dass die drei Tage Pest auf 36 Stunden (also nur die Tageszeiten) gekürzt wurden. Als Verteidiger traten darauf die sieben Wochentage, die acht Tage bis zur Beschneidung, die fünf Bücher Mose, die drei Patriarchen, die Zehn Gebote und die zwei Bundestafeln auf, welche für einen Erlass von 35h Pest plädierten, sodass nur noch 1h der Not für Israel übrig blieb.326 Dass das Zehnwort Israel Zeit für die Umkehr verleiht, dessen Zeit der Not reduziert und es vor Gericht aktiv verteidigt, hat nicht etwa mit der Gerechtigkeit Israels zu tun, sondern in erster Linie mit der bereitwilligen Annahme der Zehn Worte am Sinai. Die rabbinischen Auslegungen vermitteln uns, dass der Dekalog in Zeiten des Gerichts immer als Verteidiger oder Fürsprecher, niemals aber als Ankläger Israels zur Verfügung stand, steht und stehen wird. Als Beispiel für die Vergangenheit steht David, in der Gegenwart zeugen die zehn jährlichen Busstage und Gottes Erhaltung der Welt trotz ihrer Verdorbenheit davon, und beim zukünftigen Gericht wird Israel 325 326 Eigene Übersetzung. // SEZ 22,1. Vgl. MShem 31,3; MTeh 17,4. 105 erfahren, dass das Zehnwort selbst auftritt, um Gottes Volk zu verteidigen. Das Zehnwort wurde als rettend, befreiend und heilsfördernd empfunden, niemals als bedrohlich, knechtend oder verdammend. Die rabbinischen Aussagen entspringen einem Dekalogverständnis, das nicht auf das Einhalten der Gebote fokussiert, sondern auf die Beziehung zwischen Gott und Israel. Diese Beziehung wird vom Zehnwort sowohl vorausgesetzt als auch bewirkt. 3.4.3 Der Geltungsbereich des Zehnworts Das erste Gebot des Dekalogs nennt die Adressaten, an die sich der Dekalog richtet: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus«. Es sind die Ausgezogenen, die Befreiten aus Ägypten, für die das Zehnwort bestimmt ist. Dieser Gültigkeit geht eine Erwählung voraus, von der die Rabbinen betonen, dass es eine gegenseitige Erwählung war. Laut der Mechilta Bachodesch 5 hat Gott die Tora verschiedenen Völkern angeboten:327 Und aus folgendem Grund wurden die Völker der Welt gefragt [ob sie die Tora annehmen wollten], damit sie keine Ausrede hätten zu sagen: wenn wir gefragt worden wären, hätten wir sie schon angenommen. Denn siehe, sie wurden gefragt und nahmen sie nicht an, wie es heisst: »Und er sprach: Der Ewige kam vom Sinai usw. (Dtn 33,2)«. Er erschien den Kindern des frevlerischen Esaus und sagte zu ihnen: Nehmt ihr die Tora an?328 Sie antworteten ihm: Was steht darin geschrieben? Er sagte ihnen: »Du sollst nicht morden«. Sie antworteten ihm: dies ist das Erbe, welches uns unser Vater hinterlassen hat: »Von deinem Schwert wirst du leben (Gen 27,40)«. Er erschien den Kindern Amons und Moabs und sagte zu ihnen: Nehmt ihr die Tora an? Sie antworteten ihm: Was steht darin geschrieben? Er sagte ihnen: »Du sollst nicht ehebrechen«. Sie antworteten ihm, dass sie alle Kinder von Ehebrechern seien, wie es heisst: »Und die beiden Töchter Lots wurden von ihrem Vater schwanger (Gen 19,36)«. Er erschien den Kindern Ismaels und sagte zu ihnen: Nehmt ihr die Tora an? Sie antworteten ihm: Was steht darin geschrieben? Er sagte ihnen: »Du sollst nicht stehlen«. Dies ist der Segen, der über unserem Vater gesprochen wurde: »Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel sein, seine Hand wird auf allem sein« (Gen 16,12). Und es steht geschrieben: »Denn ich wurde geraubt aus dem Land der Hebräer« (Gen 40,15). Und als er zu Israel kam »in seiner Rechten ein feuriges Gesetz für sie« (Dtn 33,2), öffneten alle ihren Mund und sagten: »Alles was der Ewige sagt, wollen wir tun, wir wollen hören« (Ex 24,7). Und so heisst es: »Wenn er kommt, wird die Erde erschüttert, wenn er hinblickt, zittern die Völker« (Hab 3,6).329 327 // SifDev § 343; PesR 21,2. Wörtlich: Nehmt ihr die Tora auf euch? 329 Eigene Übersetzung. Die Bibelzitate sind teilweise aus der Einheitsübersetzung übernommen. 328 106 Nach dieser Auslegung ging die Erwählung Gottes durch Israel der Erwählung Israels durch Gott voraus. Das Verdienst Israels, das die Weisen hier hervorheben, ist wiederum nicht nur die freiwillige Annahme des Gesetzes, sondern die bedingungslose: als einziges Volk haben die Israeliten nicht gefragt, was die Tora beinhaltet, bevor sie sie akzeptierten. Sie kauften sozusagen die "Katze im Sack". Die Antworten, die der Ewige den Völkern auf die Frage nach dem Inhalt der Tora gibt, bestehen aus dem sechsten, siebten und achten Gebot. Auch wenn man diese Antworten aufgrund der Textabsicht nicht als Zusammenfassung der Tora deuten kann, zeigen sie doch, dass man unter dem Zehnwort Gebote verstand, die Wesentliches über die ganze Tora aussagen. In der vorliegenden Erzählung setzt Gott selbst den Inhalt der Tora mit Geboten aus dem Zehnwort gleich. Indem er sich auf Gebote der zweiten Tafel konzentriert, reiht er sich in einen Traditionsstrom ein, der im frühen Judentum vielfach zu beobachten ist.330 Die Erzählung zeigt aber auch, dass die Gabe der Tora, bzw. der Zehn Gebote kein Exklusivvertrag mit Israel ist, sondern dass sie allen Völkern zur Annahme vorgelegt wurde. Dieses Universalitätsverständnis der Rabbinen drückt sich nicht zuletzt in den siebzig Sprachen aus, in denen die Zehn Worte offenbart wurden.331 Wozu sollten die entferntesten Völker und Generationen die Offenbarung verstehen, wenn ihr Inhalt nicht auch für sie relevant wäre? Die Tendenz der rabbinischen Ausleger, den Geltungsbereich des Zehnworts über die aus Ägypten Ausgezogenen hinaus zu definieren verstärkt sich noch, wenn wir in der Mechilta weiterlesen (Bachodesch 5): Warum wurde die Tora nicht im Land Israel gegeben? Damit den Völkern der Welt kein Vorwand geliefert wird zu sagen: Weil sie in seinem [sc. Israels] Land gegeben wurde, deshalb haben wir sie nicht angenommen! Eine andere Auslegung: Um keine Streitereien zwischen den Stämmen hervorzurufen, damit nicht einer sage: Auf meinem Land wurde die Tora gegeben und ein anderer sage: Auf meinem Land wurde die Tora gegeben. Deshalb wurde sie in der Wüste frei und öffentlich gegeben, an einem Ort, der niemandem gehört. Mit drei Dingen ist die Tora zu vergleichen: mit der Wüste, mit Feuer und mit Wasser; um dir mitzuteilen, dass so wie diese für alle Erdenbürger kostenlos sind, auch die Tora für alle Erdenbürger kostenlos ist.332 Wenn die Annahme des Zehnworts freiwillig ist, dann geht sein Geltungsbereich bis dort, wo es abgelehnt wird. Die Völker werden jedoch nicht aus der Verantwortung 330 Vgl. SÄNGER (Tora, 125), der diese Einreihung für die neutestamentlichen Texte feststellt. Vgl. S. 98. 332 Eigene Übersetzung. 331 107 entlassen. Kein Volk soll sagen können, die Tora betreffe es nicht, weil sie auf fremdem Hoheitsgebiet verkündet worden sei. Die Wüste als Ort der Offenbarung soll zum Ausdruck bringen, dass die Worte Gottes an kein Territorium gebunden sind.333 Wehe aber auch denjenigen, die Besitzansprüche auf die Tora erheben wollen! Tora und Zehnwort sind öffentlich, unbesitzbar und zugänglich für jeden. Ihre Offenbarung im sinaitischen Niemandsland ist Symbol und Garant dafür. Dieses rabbinische Verständnis einer universalen Gültigkeit - gepaart mit der Freiheit, die Tora abzulehnen – ist ein theoretisch-theologisches Konstrukt. Für das praktische Zusammenleben mit Menschen aus anderen Völkern gingen die Weisen von sieben Geboten aus, welche den Söhnen Noahs – damit ist die ganze Menschheit gemeint - auferlegt wurden (bSan 56a). Die so genannten Noachidischen Gesetze waren ein Zugeständnis an heidnische Mitbürger, die ein respektvolles Nebeneinander möglich machen sollten. Gemäss Mechilta Bachodesch 5 war die Ablehnung der Tora durch die Völker schon im Voraus abzusehen, und zwar durch einen Schluss vom Leichteren auf das Schwerere: R. Schimon ben Elazar sagt: Wenn die Nachkommen Noahs bezüglich der sieben ihnen auferlegten Gebote nicht bestehen konnten, um wie viel weniger bezüglich aller Gebote der Tora!334 Wenn einerseits das Zehnwort an alle Völker ergangen ist, andererseits den Nachkommen Noahs jedoch nur sieben Gebote auferlegt wurden, wie verhält sich denn nun der Inhalt der sieben noachidischen Geboten zum Inhalt der Zehn Worte?335 Die noachidischen Verbote des Götzendienstes, des Blutvergiessens und des Diebstahls sind eins zu eins aus dem Dekalog übernommen. Jenes der Gotteslästerung und der Unzucht eine Auslegung des dritten und siebten Gebots. Somit auferlegten die Rabbinen den Völkern gut die Hälfte der Zehn Gebote.336 Diese Hälfte bestand nicht etwa aus einer der beiden Tafeln, sondern aus nicht 333 Auch Philo betont die Bedeutung der Wüste als Offenbarungsort. Im Gegensatz zu den Rabbinen legt er den Schwerpunkt dabei aber nicht auf den hoheitsfreien Status der Wüste, sondern auf ihre läuternde Wirkung, vgl. S. 51. 334 Eigene Übersetzung. 335 Gemäss dem Midrasch Seder Olam Rabba 5 empfingen die Israeliten bereits in Mara (Ex 15,25b) zehn Gebote. Da der Midrasch und die Parallelstelle in bSan 56b statt dem üblichen ʿaseret hadibberot die Bezeichnung ʿeser mitzvot verwenden, sind mit den zehn Geboten in Mara offensichtlich nicht die Zehn Worte vom Sinai, sondern eine Art Zwischenstufe zwischen den noachitischen Gesetzen und dem Dekalog gemeint: die sieben noachitischen Gebote plus die drei Gebote Rechtspflege, Sabbat und Elternehrung. Die aufgezählten Gebote lassen das 9. und 10. Gebot des Dekalogs weg, zugunsten der noachitischen Gebote über die Einführung eines gesetzlichen Systems und das Essen von Fleisch lebender Tiere. 336 Dem noachitischen Verbot des Götzendienstes entsprechen das erste und das zweite Dekaloggebot. 108 aufeinander folgenden Geboten der ersten und der zweiten Tafel. Interessant ist auch die Tatsache, dass die sieben noachitischen Gebote auch zwei Gebote enthalten, die nicht im Dekalog zu finden sind. Dies sind das Gebot zur Einführung eines gesetzlichen Systems sowie das Verbot, vom Fleisch lebender Tiere zu essen. Wie schon die Mechilta erwähnt auch SifDev § 343, dass diese sieben Gebote für die Nachkommen Noahs bereits zu viel verlangt waren: Ein Gleichnis. (Die Sache gleicht) einem (Menschen), der seinen Esel und seinen Hund auf die Tenne schickte. Und man belud den Esel mit einem halben Kor und den Hund mit drei Sea.337 Der Esel ging (nun), aber der Hund kauerte sich hin. Man nahm ihm ein Sea weg und legte es dem Esel auf. Und so (auch) das zweite und dritte. So übernahmen die Israeliten die Tora in ihren Aussprüchen und mit ihren Einzelheiten. Auch die sieben Gebote, in denen die Söhne Noahs nicht zu bestehen vermochten und sie abwarfen: (Es) kamen die Israeliten und nahmen sie auf sich. Deswegen heisst es: »Und er sprach: J' kam vom Sinai und glänzte ihnen auf von Seir (Dtn 33,2)«. Laut diesem Text sind die Söhne Noahs nicht fähig, die Last der sieben Gesetze zu tragen und werfen sie darum ab. Die Vorstellung, dass Gott die Tora, bzw. die noachitischen Gebote zuerst den Völkern und dann erst Israel anbot, bzw. auferlegte, liegt im auszulegenden Vers (Dtn 33,2) begründet: Der Ewige kam von Seir, das rabbinisch mit Edom/Rom (Inbegriff der Nichtjuden) gleichgesetzt wurde, mit einem feurigen Gesetz für Israel in seiner Hand. Das heisst, nachdem die Nichtjuden das Gesetz abgelehnt hatten, brachte er es den Israeliten. Die Einschränkung der Gebote, die den Völkern der Welt zugestanden wurde, ist als Ausdruck deren Versagen angesichts der hoch stehenden Moral und Ethik, wie Israel sie pflegte, zu verstehen. Da sie sogar bei diesen wenigen versagten, hatten sie sich in gewisser Weise die Zehn Worte bereits verscherzt. Das Gleichnis deutet an, dass Israel die Last der Gebote für die ganze Welt auf seine eigenen Schultern nimmt. Dass die Zehn Gebote in gewisser Hinsicht dennoch von Nichtjuden Akzeptanz oder zumindest Beachtung erfuhren, deutet PesR 21,2 mit folgendem fiktiven Gespräch zwischen Kaiser Hadrian und R. Jehoschua ben Chananja an: Hadrian – mögen seine Gebeine zermalmt werden – stellte R. Jehoschua ben Chananja eine Frage, indem er sagte: eine grosse Ehre hat der Heilige, gelobt sei Er, den Völkern der Welt zukommen lassen, indem er Israel fünf Gebote gab und den 337 Ein Kor entspricht ca. 200 Litern, vgl. BIETENHARD, Sifre Deuteronomium, 830 Anm. 58. Ein Sea entpricht ca. 4-8 Litern, vgl. Anm. 357. Die Massangaben variieren je nach Nachschlagewerk. Wichtig ist hier das Verhältnis: der Esel trug von Anfang an die mehrfache Last des Hundes. 109 Völkern der Welt fünf. In den ersten fünf Geboten, die der Heilige, gelobt sei Er, Israel gab, kommt sein Name vor, d.h. wenn Israel sündigt, so ruft er Streit gegen sie aus. In den fünf letzten Geboten, die er den Völkern der Welt gab, erscheint sein Name nicht, d.h., wenn die Völker der Welt sündigen, ruft er nicht Streit gegen sie aus.338 Es scheint also eine Diskussion gegeben zu haben, ob das Zehnwort oder Teile davon auch für Nichtjuden gelten. Im Verlauf des zitierten Gesprächs bestreitet denn R. Jehoschua ben Chananja auch nicht die Aufteilung, die Hadrian vornimmt, sondern nur dessen Interpretation davon. Er kontert die Provokation mit einem praktischen Gleichnis, dessen Aussage ebenso provokativ ist: So wie Hadrians Statue zwar auf allen Plätzen steht, aber nicht in einer öffentlichen Bedürfnisanlage, so will auch der Ewige seinen Namen nicht unter den Völkern in den Schmutz ziehen lassen. Deshalb gibt er den Nichtjuden nur die Gebote, in denen sein Name nicht vorkommt. Die Straffreiheit, die Hadrian für die Völker vermutet, interpretiert R. Jehoschua als Gottes Distanzierung von den verderbten Völkern. Implizit hat R. Jehoschua die von Hadrian gemachte Halbierung des Dekalogs bezüglich der Verbindlichkeit für Nichtjuden jedoch akzeptiert.339 Über den Geltungsbereich der Zehn Worte lässt sich aufgrund der soeben besprochenen Texte sagen, dass die Rabbinen grundsätzlich davon ausgingen, dass Zehnwort und Tora für die ganze Menschheit bestimmt sind. Dass Gott das Gesetz den Völkern anbietet, zeigt jedoch, dass der Geltungsbereich nur bis dahin geht, wo es freiwillig angenommen wird. Mit einer Ablehnung übernehmen die Völker gleichzeitig die Verantwortung für ihren Entscheid der Gesetzlosigkeit. Die Texte betonen die Überlegenheit Israels gegenüber den Völkern, was die Bereitschaft zum Aufsichnehmen von Geboten anbelangt. Während die Völker schon bei der Last von sieben noachitischen Geboten aufgeben, ist Israel belastbar bis zum letzten Gebot der Tora. Die rabbinischen Auslegungen tragen auch apologetische Züge, indem sie zum Ausdruck bringen, dass die Verpflichtung Israels auf die Tora nicht ein Grund zum Mitleid ist, wie Hadrians Rede durchscheinen lässt, sondern ein Grund zum Stolz: Israel trägt die Last des Gesetzes freiwillig, weil es stark ist. 338 Eigene Übersetzung. GREENBERG (Decalogue, 524) spricht aufgrund des Tetragramms in den Geboten 1-5 von einer israelitischen Orientierung der ersten Tafel, während es sich bei der zweiten um universelle ethische Anforderungen handle. 339 110 3.4.4 Exkurs: Die Zehnwortoffenbarung und Act 2 Das feurige Wort, das vom Himmel herabfällt, die Kronen, welche die Häupter der Israeliten schmücken und die siebzig Sprachen, in denen Gottes Wort an alle Nationen der Welt geht und nicht zuletzt das Getöse, das mit der Gottesoffenbarung einhergeht, finden wir interessanterweise auch im neutestamentlichen Pfingstereignis in Act 2,1-11 wieder:340 1 Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. 2Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. 3Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen liess sich eine nieder. 4Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. 5In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. 6Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Dass sich dieses Ereignis an Schawuot abspielte, am Tag, an dem der Jahrestag der Offenbarung am Sinai gefeiert wurde, ist bestimmt kein Zufall, denn der Bericht liest sich wie ein zweites, verkürztes Sinaiereignis: Das Wort Gottes wird sichtbar in Form von Feuerzungen, die sich wie Kronen auf den Aposteln niederlassen, hörbar durch den Mund der Apostel und teilt sich in alle Sprachen der anwesenden Völker. Hier wie am Sinai geht das Wort Gottes an die ganze Welt. Die Anwesenheit Gottes drückt sich aus durch Feuer und der Heilige Geist ruht auf den Häuptern der Leute, die Gottes Zeugen sind.341 Da die Feuerzungen, Kronen und Sprachen nicht Teil des Exodusberichtes, aus der rabbinischen Literatur jedoch hinreichend bekannt sind, scheinen diese mündlichen Traditionen also bereits im 1. Jh. verbreitetes Gedankengut gewesen zu sein. Dienten diese mündlichen Traditionen zur Offenbarung des Zehnworts als Vorbild für das Pfingstereignis? WEINFELD sieht Act 2 im Rahmen seiner These, dass Schawuot als Zeitpunkt von Israels erster Offenbarung zum Fokus für die Entwicklung von Traditionen über weitere Offenbarungserfahrungen wurde, die sich an Schawuot zugetragen haben sollen.342 Dem jüdischen Betrachter des Pfingstereignisses ist zuzutrauen, dass er dessen 340 Vgl. auch WEINFELD, Uniqueness, 40ff. Vgl. Num 11,25: »Da kam der Herr hernieder in der Wolke und redete mit ihm [Mose] und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf«. 342 WEINFELD, Uniqueness, 43. Als weiteres Beispiel führt er u.a. Josephus Bell VI 299 an, wonach Priester in der Schawuotnacht vor der Tempelzerstörung im Tempel Stimmen wie von einer Armee gehört en, die sagten: "Wir brechen von hier auf". 341 111 Symbolik erkannte und die Geschehnisse mit der Sinaioffenbarung assoziierte. Es bleibt anzunehmen, dass eine solche Assoziation dem neutestamentlichen Pfingstereignis zusätzliche Bedeutung und Autorität verlieh, indem es – "offenbarungstechnisch" gesehen – die Offenbarung am Sinai widerspiegelt. 3.5 Die Die Zehnwortoffenbarung als Analogie zum Schöpfungsakt Sinaioffenbarung dient aber nicht nur als Vorbild für spätere Offenbarungsereignisse, sie selbst scheint ebenfalls eine Analogie zu einem früheren Ereignis zu sein. So heisst es in PesR 21,16: Die Zehn Gebote wurden entsprechend den zehn Worten gesprochen, durch die die Welt erschaffen wurde. Die auf diese Aussage folgende Gegenüberstellung nennt die zehn Schöpfungsworte: gemeint sind die Aussprüche, welche mit »( ויאמרund [Gott] sprach«) beginnen.343 Dieses Stichwort kommt in Gen 1 neunmal und ein weiteres Mal in Gen 2,18 vor.344 Dass Verben wie »( ויעשund er machte«) nicht mitgezählt wurden, macht deutlich, dass nicht die Tat, sondern das Wort (oder der Wille) der eigentliche Schöpfungsakt Gottes war.345 Die Zehnzahl bringt nun diese zeitlich und inhaltlich auseinander liegenden Gottesworte von Schöpfung und Sinai miteinander in Verbindung. So wird auch die Forderung, dass bei einer öffentlichen Toralesung mindestens zehn Verse gelesen werden müssen, je nach Ausleger von den zehn Schöpfungsworten oder den Zehn Geboten hergeleitet.346 Wurde die Offenbarung des Dekalogs demnach als Abbild oder Wiederholung des Schöpfungsaktes gesehen? Wie im Folgenden dargelegt wird, bedingen sich Schöpfung und Tora im rabbinischen Denken gegenseitig. Die Vorstellung, dass die Tora Vorlage für die Schöpfung war und vor allem anderen erschaffen worden, stützt sich auf die in den Proverbien geschilderte personifizierte Weisheit, wie z.B. Prov 3,19: »Der Herr hat 343 Im Gegensatz zu den Zehn Worten vom Sinai werden die zehn Schöpfungsworte ʿasara maʾamarot ( )עשרה מאמרותgenannt. 344 bRHSh 32a und bMeg 21b beschränken sich bei der Zählung auf den Schöpfungsakt in Gen 1 und zählen das Wort »( בראer schuf«) noch hinzu, um auf die Zehnzahl zu kommen. 345 Vgl. RABINOWITZ (Creation, 276): "The preeminence of the intention over the act ist affirmed by the many passages based on such verses as: 'By the word of the Lord were the heavens made' (Ps 33,6)". 346 bRHSh 32a und bMeg 21b nennen beide Herleitungen, yMeg 4,2 75a und yTaan 4,3 68a beziehen sich nur auf die Zehn Gebote. 112 die Erde mit Weisheit gegründet und mit Einsicht den Himmel befestigt« oder 8,22: »Der Herr hat mich [die Weisheit] geschaffen im Anfang seiner Wege, vor seinen Werken in der Urzeit«. Die personifizierte Weisheit wurde von den Rabbinen als Tora interpretiert.347 Laut mAv 5,6 wurden die Bundestafeln, ihre Schrift wie auch das darauf Geschriebene am sechsten Tag der Schöpfung, in der Dämmerung vor dem allerersten Sabbat, geschaffen. An diesem Tag soll Gott gemäss Talmud ausserdem eine Vereinbarung mit der Schöpfung getroffen haben (bShab 88a): Es heisst (Gen 1,31): »es ward Abend und es ward Morgen, der sechste Tag«; wozu ist das überflüssige He nötig?348 Dies lehrt, dass der Heilige, gepriesen sei er, mit dem Schöpfungswerke eine Vereinbarung traf und zu ihm sprach: Nehmen die Jisraéliten die Tora an, so sollt ihr bestehen, wenn aber nicht, so verwandele ich euch wieder in Öde und Leere.349 So wie es ohne die Vorlage der Tora keine Schöpfung gäbe, so hätte Gott ohne die Annahme der Tora durch Israel die Schöpfung also wieder rückgängig gemacht. Erst mit der Annahme der Tora wurde die Schöpfung vollkommen. Die Rabbinen erzählen in ShemR 29,9, dass am Sinai alle Geschöpfe verstummten und die ganze Schöpfung den Atem anhielt, bevor Gott anhob, zu sprechen: Als Gott nämlich das Gesetz gab, sagte R. Abuhu im Namen des R. Jochanan, zwitscherte nicht der Vogel, das Gevögel flog nicht, der Ochs brüllte nicht, die Ophanim flogen nicht und die Seraphim riefen nicht: Heiliger! das Meer wogte nicht, die Menschen redeten nicht, sondern es herrschte ein allgemeines Stillschweigen. Nur die göttliche Stimme liess die Worte vernehmen: »Ich bin der Ewige, dein Gott«. Der Stillstand der Natur drückt die Spannung aus, in der sich die Schöpfung befand, die kurz vor ihrer Vollendung oder vor ihrer Rückkehr ins Chaos stand. Oder drückt der Zustand der Natur, welche der Welt vor ihrer Erschaffung ähnelt, die Offenbarung der Zehn Worte als eigentlicher Anfang der Schöpfung gedeutet, wie STEMBERGER annimmt?350 Ob die Tora nun als Vorlage für die Schöpfung diente oder letztes Werk vor Sabbateingang war - Einigkeit besteht bei den Auslegern darüber, dass sie schon bei der Erschaffung der Welt entstand. Bis zu ihrer Veröffentlichung am Sinai vergingen aber noch 924 Generationen, in denen sie bei Gott gehütet wurde, so dass die Engel 347 Vgl. SifDev § 37. Bei den übrigen Tagen fehlt der Artikel, vgl. GOLDSCHMIDTS Kommentar zur Übersetzung, 694. 349 Vgl. auch PesR 21,3. 350 STEMBERGER, Dekalog, 103. 348 113 sich sehr schwer damit getan haben sollen, dass die Verborgene nun plötzlich einem gewöhnlichen Menschen wie Mose anvertraut wurde (bShab 88b/89a). Warum wurden denn die Zehn Worte nicht schon bei der Erschaffung der Welt gegeben? Die Antwort auf diese Frage fanden die Weisen im ersten Gebot (Mechilta Bachodesch 5): »Ich bin der Ewige, dein Gott [der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus]«. Warum sind die zehn Worte nicht am Anfang der Thora gesagt worden? Sie (die Weisen) haben ein Gleichnis aufgestellt. Womit ist dies zu vergleichen? Mit einem, der in eine Stadt zog. Er sprach zu ihnen (den Bewohnern): Ich will über Euch König sein. Sie sprachen zu ihm: Hast du irgend etwas für uns getan, dass du über uns König sein willst? Was machte er? Er baute ihnen die Mauer, leitete ihnen den Wasserkanal zu, führte für sie Kriege. (Hierauf) sprach er: Ich will über euch König sein. Da sprachen sie zu ihm: Ja und ja! So führte Gott die Israeliten aus Ägypten, spaltete ihnen das Meer, liess ihnen das Manna herabkommen, liess ihnen den Brunnen emporsteigen, trieb ihnen die Wachteln zu, führte für sie den Krieg mit ʿAmalek. (Darauf) sprach er zu ihnen: Ich will über euch König sein. Da sprachen sie zu ihm: Ja und ja! Im ersten Gebot nennt Gott die Legitimation seines Anspruches gegenüber dem Volk Israel. Durch die Befreiung der Israeliten hat er überhaupt erst die Situation geschaffen, in der Israel eigenständige, gültige und freiwillige Entscheide fällen kann. Zwar hatte er das Gesetz schon zu Anbeginn der Welt geschaffen, aber er gab es den Menschen nicht als unumstössliche Schöpfungsordnung. Er wollte einen Bund mit den Menschen, der auf freiwilliger Entscheidung basierte. Mit der spektakulären Befreiung aus der Sklaverei und den verschiedenen Wundern der Versorgung in der Wüste sah Gott sich gerechtfertigt, dem Volk seine Königsherrschaft anzubieten. Auf diese Weise erklärten sich die rabbinischen Gelehrten, die das Zehnwort eigentlich am Anfang der Tora erwartet hätten, den Verzug der Dekalogoffenbarung. Die zehn Worte der Schöpfung und des Dekalogs wurden in ihrer Aussagekraft verglichen, in der Liturgie zahlensymbolisch gespiegelt und existentiell voneinander abhängig gemacht: Hätten die Israeliten die Zehn Gebote abgelehnt, hätte Gott auch die Schöpfung wieder rückgängig gemacht. Ihre Annahme durch das Volk vollendete, was seit der Erschaffung der Welt geplant war. Vor diesem rabbinischen Hintergrund muss die Offenbarung der Zehn Gebote und der übrigen Tora als Vervollständigung und Vollendung der Schöpfung bezeichnet werden.351 351 In diesem Sinne bezeichnet auch BROOKS (Spirit, 103) das Sinaiereignis nicht als Offenbarung, sondern als Schöpfung. 114 3.6 Die Bundestafeln Als Urkunde des Bundes mit den Israeliten überreichte Gott dem Mose zwei eigenhändig beschriebene steinerne Tafeln (Ex 31,18), die in der Bundeslade im Stiftszelt aufbewahrt wurden. Die Lade diente auch dann noch als mobiles Heiligtum (z.B. im Krieg), als Volk und Stiftshütte sesshaft geworden waren.352 Die letzte biblische Nachricht über die Bundeslade ist ihre Platzierung im neu gebauten Tempel des Salomo und ihr Sesshaftwerden darin.353 Unter den Tempelgeräten, die ins Exil getragen oder von Babylon zurückgebracht wurden, ist sie nicht aufgelistet. Aufgrund von Jer 3,16, wird angenommen, dass die Lade bereits gegen Ende des 1. Tempels nicht mehr im Gotteshaus stand.354 Rabbinische Quellen berichten, dass sie von Josia versteckt worden sei, damit sie nicht nach Babel verschleppt würde (ySot 8,3 22c). Wegen dieses Verstecks, welches im Tempel vermutet wurde, gab es immer wieder Spekulationen (ySheq 6,1 49c). Jedenfalls war die Lade zur Zeit des Zweiten Tempels nicht mehr vorhanden (mYom 5,2). Diese Tatsache gab den rabbinischen Auslegern viel Stoff zu Spekulationen über das Aussehen der Tafeln, über die Schrift und die Aufteilung der Zehn Gebote. Auch die Frage, wer Hersteller und Schreiber des ersten und zweiten Tafelsets war, wurde diskutiert, wobei wie immer der biblische Bericht als Grundlage diente. Dass er relativ knapp ist in seinen Informationen über die Bundestafeln, hat die Ausleger inspiriert. In Ex 24,12 ruft Gott den Mose zu sich auf den Berg, um ihm Steintafeln zu übergeben, die er mit seinen Weisungen und Geboten beschrieben hat. Einige Kapitel später lesen wir: »Mose kehrte um und stieg den Berg hinab, die zwei Tafeln der Bundesurkunde ( )לחת העדתin der Hand, die Tafeln, die auf beiden Seiten beschrieben waren. Auf der einen wie auf der anderen Seite waren sie beschrieben. Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht, und die Schrift, die auf den Tafeln eingegraben war, war Gottes Schrift (Ex 32,15f)«. Nachdem Mose die Tafeln kurz darauf beim Anblick des Goldenen Kalbes zerschmettert hatte, ging Gott anders vor. Die zweiten Tafeln musste Mose eigenhändig zurechthauen. Zwar versprach Gott, die Gebote wieder darauf zu schreiben (Ex 24,1), aber schliesslich war es Mose, der die Gebote beim zweiten Mal 352 2Sam 11,11; 15,23-24; 1Reg 2,26. 1Reg 8,6-9; 2Chr 5,7-10. 354 Vgl. GRINTZ, Ark, 468. 353 115 auf die Steintafeln schrieb (V. 28). Dies sind die biblischen Informationen, die den Rabbinen als Ausgangslage ihrer Exegese dienen konnten. 3.6.1 Material und Grösse der Tafeln Laut Bibel waren die Bundestafeln also aus Stein gehauen. Doch nicht alle Ausleger gaben sich mit der Schlichtheit dieses Materials zufrieden. Warum werden die Tafeln ein Gotteswerk genannt, wenn sie doch aus dem primitivsten Material überhaupt sind (im Vergleich zu Pergament oder Papyrus), gehauen und beschrieben, wie jeder Steinmetzgehilfe es könnte? Diese von JACOB gestellte Frage scheint auch die Gedanken der frühen Weisen zu widerspiegeln. Allerdings können die Antworten von JACOB und den Rabbinen unterschiedlicher nicht sein. Während JACOB das Werk und den Finger Gottes im Inhalt des Zehnworts findet, fanden die Weisen beides materialisiert in der Ausgestaltung der Tafeln.355 So wurde z.B. in ihrer Auslegung der einfache Stein zu Saphir, der dem Wert, den die Rabbinen den Tafeln zumassen angemessen erscheint. Der Edelstein war für seine extreme Härte bekannt.356 Mit seinem Gewicht hatte es gemäss Midrasch Tanchuma etwas Besonderes auf sich (TanW Ki Tissa 26): Observe how strong Moses was. R. Jehuda said: The tablets weighed as much as forty measures of wheat (seʾah) and were made of sapphire, yet they were like some small object in his hand. Auch der Jerusalemer Talmud gibt als Gewicht der Bundestafeln vierzig Sea an (yTaan 4,8 68c). Da Sea ursprünglich ein Getreidehohlmass war, hat es kein festgelegtes Gewicht, entspricht aber ca. 5-7 Litern.357 Die Tafeln waren demnach so schwer wie 200-300 l Getreide. Damit war allein die Tatsache, dass Mose die Tafeln locker tragen konnte, ein Wunder. Laut ShirR 5,19 konnten die Tafeln trotz des Saphirs auf wunderbare Weise zusammengerollt werden. Eine weitere Eigenschaft also, welche die Einzigartigkeit des Gotteswerkes unterstreicht. Auf dem Hintergrund des Saphirs ist schliesslich auch R. Jochanans Behauptung, dass Mose sehr reich gewesen sei, zu verstehen. Aus dem göttlichen Befehl »Haue dir zurecht (Ex 34,1)« schliesst er, dass Gott dem Mose die Abfälle, die bei der Herstellung der zweiten Tafeln anfielen, überlassen habe. Obwohl R. Jochanan das Material der 355 JACOB, Exodus, 610. Vgl. LEVY, Wörterbuch III, 548. 357 Ein Sea entspricht laut rabbinischen Angaben 7.3l, laut Josephus 4.8l. Beide Hohlmasse sind durch Funde belegt (Lu 84, Anhang, 3). 356 116 Tafeln nicht explizit erwähnt, wird aus seiner Auslegung klar, dass er auf den Saphir Bezug nimmt (bNed 38a). Die Grösse der Tafeln leiteten die Rabbinen von den Maßen der Bundeslade ab, in der sie aufbewahrt wurden. Die Lade war 2,5 x 1,5 x 1,5 Ellen gross (Ex 25,10; 37,1). Zwar sind sich die Ausleger nicht einig, ob die Bauelle zu sechs Handbreiten (R. Meir) oder die Geräteelle zu fünf Handbreiten (R. Jehuda) verwendet worden war, doch stimmen sie überein, dass die Länge der Tafeln sechs und die Breite drei Handbreiten gemessen haben (ySot 8,3 22c). Beide Rabbinen betonen, dass vier Tafeln - nämlich die ganzen und die zerbrochenen - in der Lade Platz fanden. Als Belegstelle dient Dtn 10,2: »Ich will auf die Tafeln die gleichen Worte schreiben wie auf die ersten, die du zerschmettert hast, und du sollst sie in die Lade legen«,358 welche die Rabbinen folgendermassen lesen: »…die du zerschmettert und in die Lade gelegt hast«.359 Wenn die Tafeln in der Lade liegen, bleibt je nach verwendeter Elle ein mehr oder weniger grosser Raum zwischen Tafeln und Lade. Aus den R. Jehuda: 1 Elle = 6 Handbreit 1 Elle = 5 Handbreit (Bauelle) (Geräteelle) 1 Fingerbreite R. Meir: ½ Handbreite 2 ½ Ellen 2 Handbreiten 2 ½ Ellen Massangaben des Talmuds können zwei Modelle gezeichnet werden: ½ Handbreite 2 Handbreiten 1½ Ellen 358 359 Eigene Übersetzung. Diese Lesart folgt der 11. Auslegungsregel des R. Eliezer. 117 ½ Handbreite 1½ Ellen Da R. Meir mit der grösseren Elle rechnet, bleibt ihm noch Platz für die Torarolle übrig, die laut Dtn 31,26 ebenfalls Platz in der Lade fand. Sie soll zwei Handbreiten gross gewesen sein. In seinem Modell könnte sie also sowohl längs als auch quer untergebracht werden, je nachdem wie man die Tafeln positioniert. In R. Jehudas Version findet keine Torarolle mehr Platz, obwohl er die Wände der Lade halb so dick berechnet wie R. Meir. Dafür lässt er an den beiden Längsseiten des Kastens je eine halbe Handbreite Platz zum besseren Herausnehmen der Tafeln. Die Parallelstelle in ySheq 6,1 49d überliefert die Diskussion zwischen R. Meir und R. Jehuda mit anderen Maßen. Nach ihr waren die Tafeln genau doppelt so gross, nämlich 6 x 6 Handbreiten und damit quadratisch.360 Wenn alle vier Tafeln in der Lade Platz finden sollten, mussten sie folglich übereinander gelegt werden. Die Dicke der Tafeln wird an anderer Stelle mit drei Handbreiten angegeben.361 3.6.2 Die Schrift und die Aufteilung der Gebote auf die Tafeln Nebst der Tafelgrösse war auch die Aufteilung der Gebote auf die beiden Tafeln Subjekt rabbinischer Auslegungen. Gemäss Ex 32,15 waren die Tafeln auf beiden Seiten beschrieben, was FREVEL als Moment der Vollständigkeit interpretiert.362 Über die genaue Verteilung der Gebote auf der Vor- und Rückseite der Tafeln macht die Bibel keine Angaben. Schon in tannaitischer Zeit gab es die Vorstellung, dass je fünf Gebote auf einer Tafel waren (MekhY Bachodesch 8): Wie wurden die Zehn Gebote gegeben? Fünf auf der einen Tafel und fünf auf der anderen Tafel. »Ich bin der Ewige, dein Gott« steht gegenüber von »Du sollst nicht morden« geschrieben. Das Geschriebene sagt aus, dass es jedem, der Blut vergiesst, angerechnet wird, als vermindere er das Abbild (Gottes). […] »Du sollst keine [anderen Götter haben neben mir]« steht gegenüber von »Du sollst nicht die Ehe brechen« geschrieben. Das Geschriebene sagt aus, dass es jedem, der Götzendienst tut, angerechnet wird, als breche er Gott gegenüber die Ehe. […]363 Im Weiteren werden auf diese Weise auch Gebot 3-5 mit 8-10 miteinander verknüpft. Die Mechilta stellt jeweils einen klaren Zusammenhang zwischen den zwei sich gegenüber stehenden Geboten fest. Die Worte auf gleicher Höhe sind inhaltlich in Abhängigkeit voneinander zu deuten, was der Ausleger im weiteren 360 Verbesserung in Ms Leiden von drei zu sechs Handbreiten, während Codex München drei angibt. Auch bBB 14a hat sechs, vgl. HÜTTENMEISTER, Sheqalim, 121 Anm. 82. 361 bNed 38a; bBB 14a; TanW Truma 10. 362 FREVEL, Grundgesetz, 23. 363 Eigene Übersetzung. 118 Verlauf des Textes für jedes Gebotspaar tut. Gemäss dieser Auslegung ist beispielsweise das Sechste Gebot eine Art Spezifikation des Ersten Gebotes und wer es übertritt, übertritt gleichermassen auch das Erste Gebot.364 Der Gedanke, dass es unmöglich ist, nur ein einziges der Zehn Gebote zu brechen, ist keine Eigenart dieser Auslegung, sondern auch an anderer Stelle überliefert.365 Nach der Mechilta sind Form und Inhalt des Zehnworts also nicht unabhängig voneinander, sondern die Form ergänzt den Inhalt: die gleichmässige Verteilung der Gebote auf die beiden Tafeln weist auf die Zusammenhänge zwischen den Geboten auf gleicher Höhe hin. In ySheq 6,1 49d werden noch weitere Meinungen tradiert. Neben der klassischen gewordenen Aufteilung in zwei Hälften gab es nämlich auch die Vorstellung, dass jede Tafel den ganzen Dekalog enthielt: Wie waren die Tafeln beschrieben? Rabbi Hananya-ben-Gamliel sagt: Fünf auf der einen Tafel und fünf auf der anderen Tafel. Das ist es, was geschrieben steht: »Er schrieb sie auf zwei Tafeln aus Stein« (Dtn 4,13) – fünf auf die eine Tafel und fünf auf die andere Tafel. Die Rabbanan aber sagen: Zehn auf der einen Tafel und zehn auf der anderen Tafel. Das ist es, was geschrieben steht: »Er verkündete euch seinen Bund, den er euch befohlen hat zu halten, die zehn Worte« (Dtn, 4,13) – zehn auf der einen Tafel und zehn auf der anderen Tafel.366 Rabbi Schimon-ben-Yochai sagte: Zwanzig auf der einen Tafel und zwanzig auf der anderen Tafel, denn es steht (zwei Mal) geschrieben: »Er schrieb sie auf zwei Tafeln aus Stein« (Dtn 4,13; 5,22(19)) – zwanzig auf die eine Tafel und zwanzig auf die andere Tafel. Rabbi Simai sagte: Vierzig auf der einen Tafel und vierzig auf der anderen Tafel: »Auf der einen wie auf der anderen Seite waren sie beschrieben« (Ex 32,15) – quadratisch.367 Bei der Multiplikation der Zehnzahl, die bis zu achtzig Geboten auf den Tafeln führt, handelt es sich nicht um mehr als zehn Gebote, sondern um das Wiederholen des Zehnworts. Gemäss diesen Auslegungen waren die beiden Tafeln jeweils identisch beschriftet und damit unabhängig voneinander. Hinter der doppelten Ausführung steht nicht etwa die Vorstellung eines Originals und seiner Kopie, sondern vielmehr die biblische Aussage, dass die Tafeln beidseitig beschrieben waren: Zehn Worte 364 Die Parallelstelle in PesR 21,15 weist konsequent einer Übertretung aus Gebot 6-10 die entsprechende aus 1-5 zu, während die oben zitierte Mechilta beim Gebot 2 und 4 in der entgegen gesetzten Richtung vorgeht. Die Verknüpfungen in der Mechilta sind gut nachvollziehbar, diejenigen in Pesikta Rabbati scheinen zum Teil konstruiert. 365 Vgl. Teil 2: 3.7. 366 Dies ist auch die Meinung R. Nechemjas in ShemR 47,6 dem jedoch Ex 34,29 als Belegstelle dient. 367 // ySot 8,3 22d; ShirR 5,19. 119 lassen sich jedoch numerisch nicht gleichmässig auf vier Seiten abbilden.368 Mit zwanzig Geboten pro Tafel meint R. Simon ben Yochai also zehn auf der Vorderseite und zehn auf der Rückseite. Ebenso scheint sich R. Simai unter vierzig Geboten je zehn pro Seite vorzustellen, wobei auch die Seitenwände der würfelförmigen Tafeln beschrieben waren. In symmetrischer Ausführung - angelehnt an Cant 4,5 und 5,14 – bilden die Tafeln in gewisser Weise auch die Körpersymmetrie des Menschen ab (MekhY Bachodesch 8). Die am häufigsten erwähnte Vorstellung war jedoch diejenige mit fünf Geboten pro Tafel.369 Während Philo und später die Kirchenväter bei der Aufteilung der Gebote auf die Tafeln in erster Linie auf den Inhalt achteten, legten die Rabbinen den Schwerpunkt auf die äussere Form. Die auf beiden Seiten beschriebenen Tafeln (Ex 32,15) führten die Ausleger noch in eine andere Interpretationsrichtung: Der Targum Pseudo-Jonathan erklärt beim zweiten Gebot, dass es beim Eingravieren auf die Tafeln von einer Seite zur anderen wechselte ()מן סטר לסטר. Wie aus bShab 104a zu entnehmen ist, steht dahinter die Vorstellung, dass die Schrift die Tafeln perforiert habe: Es ist ja nicht gleich: wenn man statt eines offenen ( )מein geschlossenes ( )םgebraucht, so geschieht dies zur Würdigung, denn R. Ḥisda sagte, das Mem und das Samech standen auf den Bundestafeln durch ein Wunder. […] Ferner sagte R. Ḥisda: Die Schrift der Bundestafeln konnte man von der Vorderseite und von der Rückseite lesen, wie zum Beispiel: nebub [hohl] und buben, behar [auf dem Berge] und raheb, saru [sind zurückgetreten] und uras. Das Wunder, auf das sich R. Chisda bezieht, bestand darin, dass die Mittelstücke der Buchstaben mem םund samech סnicht aus dem Stein heraus fielen, obwohl die Schrift die Tafeln perforierte. Dasselbe sagt R. Levi im Jerusalemer Talmud bezüglich des althebräischen ʿayins, welches wie ein Kreis oder ein auf der Spitze stehenden Dreiecks geschrieben wurde (yMeg 1,11 71c). Wenn ein Schreiber also anstatt eines offenen ein geschlossenes mem schreibt, so würdigt er damit das Wunder auf den Bundestafeln. Angesichts der die Tafeln durchdringenden Schrift versteht sich auch Rabbi Chisdas zweite Überlegung, dass man auf der Rückseite der Tafeln die Buchstaben in verkehrter Reihenfolge lesen konnte. Seine Wortbeispiele beziehen sich nicht auf das Zehnwort und dienen lediglich dazu, die perforierende 368 Einzig Josephus (Ant III 138) war der Ansicht, dass jede Tafelseite zweieinhalb Gebote trug. Vgl. MekhY Bachodesch 8; ShemR 47,6; PesR 21,2; TanB Ki Tissa 20; TanW Truma 10; ausserdem Philo (Decal 106) und Josephus (Ant III 101). 369 120 Schrift zu veranschaulichen.370 Die Erörterung der Beschriftung bis hin ins Detail ihrer praktischen Ausführung zeugt sowohl von der rabbinischen Sorgfalt beim Lesen der biblischen Texte, wie auch von der besonderen Faszination, die sie den Bundestafeln als einem Materie gewordenen göttlichem Wunderwerk entgegenbrachten. 3.6.3 Das Zerbrechen der Tafeln Während Mose auf dem Berg weilte, wo Gott ihm die Rechtsvorschriften gab, entwickelte sich im Lager der Israeliten eine Eigendynamik. Sie wollten weiterziehen, und weil Mose nicht vom Berg zurückkehrte, forderten sie Aaron auf, ihnen Götter zu machen, die die Führungsrolle auf dem Weg übernehmen könnten. So goss er mit der Hilfe des Volkes das Goldene Kalb (Ex 32, 1-6). Da schickte Gott den Mose hinunter ins Lager, weil er seinen Zorn auf das Volk richten wollte. Mose konnte den Ewigen vorerst besänftigen, indem er ihn an dessen Verheissungen gegenüber der Erzväter erinnerte.371 Als Mose jedoch mit den Bundestafeln hinabstieg, überwältigte auch ihn beim Anblick der Israeliten der Zorn (Ex 32,19): »Als Mose dem Lager näher kam und das Kalb und den Tanz sah, entbrannte sein Zorn. Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuss des Berges«. Die Vorstellung, dass Mose die wertvollen Tafeln mit dem Wort und der Handschrift Gottes mutwillig zerstört haben sollte, konnten die Rabbinen nicht akzeptieren. So fanden sie andere Erklärungen für diese Tat. In ShemR 46,1 wird z.B. betont, dass Mose die Tafeln erst zerbrach, nachdem die Schrift sich von ihnen gelöst hatte: Eine andere Auslegung: Die Schrift war von den Tafeln geflohen, darum hat er sie zerbrochen, wie es heisst (Dtn 9,16): »Ich sah und siehe, ihr hattet gegen den Ewigen, euren Gott, gesündigt«. Mose sah, dass die Israeliten gesündigt hatten und zerbrach die Tafeln. Gemäss diesem Midrasch waren die Tafeln bereits unbrauchbar geworden, als Mose sie zerbrach. Als das Essentielle, das Gotteswort, sich ablöste, verloren sie ihre Bedeutung und ihren Wert. Man könnte sagen: Mose hat die Tafeln zerschmettert, weil er sah, dass sie wertlos geworden waren. Er hat sich damit also nicht am Handwerk Gottes verschuldet. Eine andere Meinung, welche Mose ebenfalls 370 Vgl. Raschi zur Stelle. Laut ShemR 44,4 argumentierte Mose, dass das Übertreten der Zehn Worte durch das Volk Israel mit dem Bestehen der zehn Prüfungen durch Abraham aufgewogen, bzw. ersetzt werden könne. 371 121 entlastet, überliefert der Jerusalemer Talmud (yTaan 4,8 68c): Rabbi ʿEzra (sagte) im Namen von Rabbi Yehuda ben Rabbi Simon: Die Tafeln hatten ein Gewicht von 40 Seʾa, aber die Schrift (auf ihnen) trug sie. Als (nun) die Schrift davonflog, wurden sie schwer (in) den Händen des Mose; sie fielen hinab und zerbrachen. In dieser Version hat Mose noch weniger Anteil am Zerbrechen. Es lag nicht in seiner Macht, den Bruch zu verhindern, denn seine (scheinbare) Kraft war an die himmlische Schrift geknüpft. Wenn diese die Tafel fallen liess, war Mose gezwungen, dasselbe zu tun. Die fliehende Schrift ist ein wiederkehrender Topos in der rabbinischen Literatur, u.a. bei den Auslegungen von Prov 23,5: »Flüchtig ist er [der Reichtum]; schaust du nach ihm, ist er weg; plötzlich macht er sich Flügel«.372 Die Rabbinen geben keine explizite Erklärung, warum sie flieht. Zieht sie sich angesichts des Goldenen Kalbes vor der Sünde zurück, um ihre Heiligkeit zu wahren? Zeigt sich Gottes Zorn darin, dass er sein Wort im wahrsten Sinn des Wortes zurücknimmt? Ist das gleichbedeutend mit einem Bundesbruch? Das Zerschmettern der Tafeln wäre dann nur noch die materialisierte Konsequenz. Oder kehrt das Wort resigniert zu seinem Schöpfer zurück, weil es schon kurz nach seiner Entstehung überflüssig geworden ist? Oder im Gegenteil: offenbart das Bild der fliegenden Buchstaben, dass das göttliche Gebot (Schrift) unabhängig ist von der irdischen Manifestation (Tafeln): es existiert, ob es beachtet wird oder nicht? In bAZ 18a schildert der babylonische Talmud noch eine andere Begebenheit, bei der sich das Gotteswort von seinem Träger löst: R. Chanina ben Teradion, ein Tannaite der dritten Generation, wurde von den Römern in einer Torarolle verbrannt, weil er sich trotz Verbot mutig mit der Tora beschäftigt und öffentlich Versammlungen gehalten hatte. Als die Flammen bereits loderten, sprach er zum letzten Mal mit seinen Schülern: Seine Schüler sprachen zu ihm: Meister, was siehst du? Er erwiderte ihnen: Die Pergamentrollen verbrennen und die Buchstaben fliegen [in die Höhe]. Die beiden Situationen zeigen Parallelen: Während sich ein Gottestreuer (Mose/R. Chanina) mit der Tora auseinandersetzt, trachten andere (Israeliten/Römer) danach, ebendieses Gesetz nichtig zu machen indem sie in aller Öffentlichkeit brechen (Götzendienst/Mord). Die Schrift aber, die hier wie da das göttliche Gesetz symbolisiert, wird durch den Gesetzesbruch nicht zerstört, sondern löst sich von der 372 MMish 23,1; ARN 41. Nicht im Zusammenhang mit Prov 23,5: TanW Ki Tissa 26; bPes 87b. 122 irdischen Haftung auf Stein oder Pergament und fliegt gen Himmel. Samuel Bak, jüdisch-amerikanischer Maler und Überlebender des Holocaust, hat in vielen seiner auch als "Holocaust Paintings" bekannten Bilder das Zerbrechen des Gesetzes thematisiert. Die Parallelen zwischen Baks Bild mit dem Titel Othyoth ("Buchstaben") und den soeben zitierten rabbinischen Texten sind frappant. Nicht nur die abgelöste, fliegende Schrift, sondern auch die wüste, karge Umgebung erinnert an den Sinai: Abbildung 2: Othyoth von Samuel Bak Mit freundlicher Genehmigung der Pucker Gallery, Boston, MA Der Holocaust-Forscher LAWRENCE L. LANGER schreibt zu diesem Kunstwerk: Die Gesetzestafeln […] tauchen nun auf in königlicher, doch bröckelnder Pracht. Die Henker des Holocaust haben eine ihrer zentralen Lehren verletzt: "Du sollst nicht morden". In diesem Universum der Zerstörung haben die Zehn Gebote ihren Zusammenhalt verloren. Ihre Buchstaben fliegen aus ihrer Verankerung und schweben frei über dem unfruchtbaren Terrain darunter. Ein goldenes, in himmlischem Glanz leuchtendes Aleph krönt das Bild, doch nichts ist wirklich heil. Die Buchstaben sind losgelöst von ihrer ursprünglichen Reihenfolge, während das einzelne Aleph, א, uns daran erinnert, dass die Hälfte des göttlichen Namens, El, אל, fehlt.373 373 BAK, Landscapes, 71. 123 Das schwebende Aleph erinnert in seinem feurigen Glanz ebenfalls an die Feuerschrift der rabbinischen Sinaierzählungen. Auch die eigene Dynamik der Buchstaben und ihre Unabhängigkeit von den Tafeln sind deutlich. Ohne Kontext könnte das Bild als Illustration der frühjüdischen Texte verstanden werden. Weil es die Erfahrung der Erschütterung rechtlicher Grundfesten ausdrückt, ist seine Symbolik zeitlos. Das Existieren des Gesetzes bedeutet nicht unbedingt, dass es auch respektiert wird. Und das Brechen eines Gebotes beeinflusst das Gesetz an sich. Die auffallendste Gemeinsamkeit der rabbinischen Textbilder und Baks Bild ist das Fortbestehen des Gotteswortes (symbolisiert durch die goldenen Lettern), nachdem das irdische Gesetz (symbolisiert durch die Steintafeln) aufgehört hat zu existieren. Bei Bak scheinen die Tafeln von selbst in ihre Einzelteile zu zerfallen, als das Gesetz millionenfach übertreten wird. Oder zerbricht der Maler sie – sozusagen in den Fussstapfen des Mose – weil das Gesetz ohne seine Beobachter wertlos geworden ist? Neben der Interpretation mit der geflohenen Schrift wird Mose von den Rabbinen noch weiter entlastet. Von Resch Laqisch wird überliefert, dass Gott dem Mose im Nachhinein Dank aussprach fürs Zerbrechen der Tafeln (bShab 87a). Und der Jerusalemer Talmud (yTaan 4,8 68c) tradiert auch die Ansicht, dass das Zerbrechen im Auftrag Gottes geschah: Rabbi Yishmaʿel lehrte: Der Heilige, er sei gepriesen, sagte zu ihm, dass er sie zerbrechen solle, denn es heisst: »Ich will auf die (neuen Gesetzes)tafeln die Dinge schreiben, die (auch) auf den ersten Tafeln (standen) die du zerbrochen hast (Dtn 10,2)«. Laut einer weiteren Auslegung auf dem gleichen Blatt des Traktats Taaniyyot gab es sogar ein kurzes Kräftemessen zwischen dem Geber des Gesetzes und seinem Überbringer: Rabbi Schmuʿel bar Naḥman (sagte) im Namen von Rabbi Yonatan: Die Tafeln waren sechs Handbreit lang und drei breit. Mose hielt zwei Handbreit fest und der Heilige, er sei gepriesen, (ebenfalls) zwei, und in der Mitte (waren) zwei Handbreit frei. Als (nun) die Israeliten jene Tat, (die Verehrung des Goldenen Kalbes), taten, wollte der Heilige, er sei gepriesen, (die Tafeln) der Hand des Mose entreissen. Aber die Hand des Mose war stärker und entriss sie ihm. Darum lobt ihn am Ende die Schrift und sagt »Und mit all der starken Hand (Dtn 34,12)« – Friede soll sein über der Hand, die stärker war als meine. Gott wollte die Tafeln nach den Geschehnissen im Lager der Israeliten also wieder zurück haben, doch Mose überliess sie ihm nicht. Unklar bleibt, ob Gott die Tafeln 124 retten oder zerschmettern wollte. Das geschilderte Kräftemessen verdeutlicht jedoch die Position, die Mose einnahm. Wie auch der Dialog in Ex 32,7-14 zum Ausdruck bringt, machte Mose sich als Vertreter des Volkes zu dessen Verteidiger. Erst später, als er das Treiben der Israeliten mit eigenen Augen sah, entbrannte auch sein Zorn masslos. Die Übergabe der zweiten Tafeln verlief im Vergleich zur ersten sehr unspektakulär. Einzig Moses Antlitz trug danach den Glanz der Gottesanwesenheit auf sich (Ex 34,29-35). Der Midrasch Tanchuma (TanW Ki Tissa 31) vergleicht diese demütige Stille mit der ersten, lauten und feurigen Offenbarung und zieht daraus den Schluss, dass die öffentliche Übergabe den bösen Blick auf sich gezogen habe, worauf die Tafeln zerbrochen wurden. Diese singuläre Interpretation entlastet alle Beteiligten. Ob Mose in den Augen der Rabbinen nun unschuldig war oder zu Recht die Tafeln zerbrochen hatte – sie konnten ihm nachfühlen, wie er sich gefühlt haben musste, nachdem der erste Zorn verraucht war (ShemR 46,1): Er [Mose] fing nun an, sich wegen des Zerbrechens der Tafeln zu grämen. Da sprach Gott zu ihm: Gräme dich nicht wegen der ersten Tafeln, denn auf ihnen waren nur zehn Worte geschrieben, mit den zweiten Tafeln gebe ich dir Halachot, Midrasch und Aggadot. Das steht nun auch geschrieben (Hi 11,6): »Er tut dir kund die Verborgenheiten der Weisheit, denn doppeltes an Einsicht besitzt er« und nicht nur das allein, sondern du kannst dich versichert halten, dass ich dir deine Sünde verziehen habe, wie es heisst (V. 7): »Und wisse, dass Gott dir von deiner Schuld nachlässt«. Diese Auslegung führt uns zur nächsten Frage, ob sich die ersten von den zweiten Bundestafeln unterschieden. Eine erste Antwort findet sich in den Trostworten für Mose. Gott verspricht, die zweiten Tafeln noch besser zu machen als die ersten. Auch hier scheint er implizit zu sagen, dass Mose gut daran getan habe, sie zu zerbrechen. Rabbinischerseits handelt es sich um eine rückdatierte Legitimation. Mit diesem Midrasch legen die Rabbinen die Herkunft der mündlichen Tradition in Gottes Mund. Die zweifache Gabe der Gesetzestafeln forderte die Ausleger heraus, die Unterschiede der beiden Exemplare zu diskutieren. Auch hier gibt die Bibel einige Anhaltpunkte (Ex 34, 1.27f): 1 Weiter sprach der Herr zu Mose: Hau dir zwei steinerne Tafeln zurecht wie die ersten! Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, die du zerschmettert hast. […] 27 Dann sprach der Herr zu Mose: Schreib diese Worte auf! Denn aufgrund dieser Worte schliesse ich mit dir und mit Israel einen Bund. 125 28 Mose blieb dort beim Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte. Er ass kein Brot und trank kein Wasser. Er schrieb die Worte des Bundes, die zehn Worte, auf Tafeln. Grundsätzlich sollen die neuen Tafeln gleich sein wie die ersten. Der biblische Unterschied zwischen ihnen ist die Tatsache, dass Mose die zweiten selbst zurecht hauen musste, während die ersten ein Gotteswerk waren, das vollendet übergeben worden war. Was das Schreiben auf die Tafeln anbelangt, fallen beim Lesen von Ex 34 die Ungereimtheiten bezüglich des Schreibers auf.374 Während Gott in V. 1 verspricht, die von Mose gehauenen Tafeln nochmals zu beschreiben, beauftragt er in V. 27 Mose mit dem Aufschreiben der Gesetze, so dass Mose die zweiten Tafeln schliesslich von Anfang bis Ende selbst angefertigt hat. Das folgende Gleichnis von der fehlbaren Ehefrau erklärt, warum es sich dabei nur um ein scheinbar widersprüchliches Verhalten Gottes handelt (ShemR 47,6): Oder [Ex 34,27]: »Schreibe dir«. Gott sprach zu Mose: Die ersten Tafeln habe ich geschrieben, wie es heisst (Ex 31,18): »Geschrieben mit dem Finger Gottes«, aber die zweiten schreibe du, o dass ich es über mich gewinnen könnte, meine Hand daran zu legen! Gleich einem Könige, welcher ein Weib nahm und ihr den Ehevertrag von seinem eigenen Material zufertigte. Nach einiger Zeit liess sie sich etwas zu Schulden kommen und er stiess sie aus seinem Hause. Da kam ihr Brautführer und wollte sie mit dem Könige aussöhnen. Der König aber antwortete ihm: Ich bin bereits ausgesöhnt, den Ehevertrag aber fertige du ihr von deinem Material aus, o dass ich es über mich gewinnen könnte, meine Hand daran zu legen (meine Unterschrift darauf zu setzen)! Das ist es, was geschrieben steht (Dtn 10,2): »Und ich will auf die Tafeln schreiben«. Wie der von seiner Frau enttäuschte König, bringt Gott es nach Israels Treubruch nicht über sich, den Text des Bundes nochmals zu schreiben. Trotzdem ist er zum Neuanfang bereit und beauftragt seinen Stellvertreter, den Vertrag nochmals aufzusetzen. Damit das Dokument rechtsgültig ist, benötigt es aber seine Unterschrift, zu der er sich überwinden muss. Auf diese Signierung soll sich gemäss Gleichnis der Ewige bezogen haben, als er sagte: »ich will schreiben« (Ex 34,1; Dtn 10,2). Mit Ex 34,1 will Gott folglich sagen, dass er das, was Mose laut Ex 34,27f schreibt, beglaubigt. Das Königsgleichnis des enttäuschten Ehemannes wird im Zusammenhang mit der Neuanfertigung der Bundestafeln noch in weiteren Variationen erzählt, um einerseits Gottes Vergebung und andererseits seine 374 Zur Frage, wer in Ex 34,28 tatsächlich schreibt, vgl. auch die ausführliche Diskussion bei HIMBAZA, Décalogue, 31-42. 126 eingeschränkte Mitarbeit bei den neuen Bundestafeln darzulegen.375 Nicht alle Ausleger jedoch sehen in Gottes Strategie den Ausdruck seiner Enttäuschung. In DevR 3,14 (zu Dtn 10,1) muss Mose die zweiten Tafeln aus erzieherischen Gründen selber machen. Weil sie ihm anvertraut waren, als sie zu Bruch gingen, muss er nun Ersatz schaffen, wie es die gängige Rechtssprechung vorgibt. Was das Schreiben betrifft, finden wir in TanB Ki Tissa 20 eine ganz nüchterne Betrachtungsweise: »Und er schrieb auf die Tafeln« (Ex 34,28). Denn die ersten und die zweiten Tafeln waren gleich.376 Hier scheint gemeint zu sein, dass Mose die zweiten Tafeln selber schrieb, weil er ja wusste, was auf den ersten gestanden hatte. Er musste sie nur kopieren. So einfach machten es sich die Ausleger aber selten. Denn die Tatsache, dass es zwei Versionen des Zehnworts in der Heiligen Schrift gibt, verlangt nach einer Erklärung. Diese wird im folgenden Kapitel diskutiert. 3.6.4 Der Umgang mit der doppelten Überlieferung Die Rabbinen haben verschiedene Erklärungen für die Unterschiede zwischen den zwei Dekalogversionen der Bibel. Den Erklärungen ist gemeinsam, dass sie keiner der beiden Versionen den Vorzug geben und die Unterschiede nicht auf schriftstellerische Freiheit zurückführen, sondern darin einen Hinweis auf eine zusätzliche Bedeutung erkennen.377 Laut dem babylonischen Talmud (bBK 54b/55a) gibt Ex 20 den Text auf den ersten Tafeln wieder, während Dtn 5 dem Wortlaut der Gebote auf den zweiten Tafeln entspricht.378 Dies wird anhand der Unterschiede im 5. Gebot gefolgert: in der ExVersion (Ex 20,12) fehlt im Vergleich mit dem Dtn-Text (5,16) das Wort =( יטבgut gehen). Darin sieht R. Tanchum Gottes weise Absicht, das Wort nicht auf die für das Zerbrechen destinierten Tafeln zu schreiben, damit bei ihrem Bruch nicht etwa das Gute aus Israel verschwinde. Der Satz »damit es dir gut gehe« (Dtn 5,16) auf den zweiten Tafeln ist demzufolge nicht als Zusatz zu verstehen, sondern als Bestandteil der ursprünglich gesprochenen Gebote, der auf den ersten Tafeln weggelassen 375 Vgl. TanW Ki Tissa 24 (Perlengleichnis); DevR 3,17 (Gleichnis der nichtadligen Königin). Vgl. ShemR 47,6; MMish 23,1. 377 Laut der 10. Auslegungsregel von R. Eliezer sind Wiederholungen grundsätzlich für die Deutung zu verwenden, vgl. DOHMEN/STEMBERGER, Hermeneutik, 95. 378 Saadja Gaon (9./10. Jh.) dagegen vertrat die Ansicht, dass die beiden Versionen auf dem gleichen Tafelset (eine Version pro Tafel) standen, vgl. SARNA, Exodus, 108. 376 127 wurde, weil sie zerbrochen werden sollten.379 Dieses Verständnis geht auf die rabbinische Vorstellung von Gottes Art zu sprechen zurück. Wie er die Zehn Worte zuerst in einem einzigen Wort ausgesprochen habe,380 so habe Gott auch die unterschiedlichen Versionen des Dekalogs in einer einzigen Äusserung genannt. Am Beispiel des Sabbatgebotes, das in Ex mit »Gedenke« beginnt und in Dtn mit »Bewahre«, wird gezeigt, dass die Unterschiede nur differenzierte Hörarten – sozusagen verschiedene Klangfarben - desselben Gebots sind.381 Die Schrift der Bundestafeln unterliegt im Gegensatz zur göttlichen Stimme den irdischen Grenzen und kann jeweils nur eine einzige Bedeutung abbilden.382 Aufgrund dieser Eigenschaft der göttlichen Stimme folgerten die Rabbinen weiter, dass die beiden unterschiedlichen Versionen je einen Aspekt der gleichen Sache beleuchten (MekhY Bachodesch 7): »Gedenke« (Ex 20,8) und »Bewahre« (Dtn 5,12) – Gedenke davor, (d.h. bevor der Sabbat beginnt) und bewahre danach (d.h. nachdem der Sabbat zu Ende ist). Darum sagt man: "Man muss vom Profanen zum Heiligen hinzufügen", vergleiche es mit einem Wolf, der vor sich und hinter sich Unruhe verbreitet.383 Gemäss dieser Auslegung erweitern die beiden Verben den Einflussbereich des Sabbats auf die Tage davor und danach. Das Profane soll einen Abglanz des Heiligen erhalten. Die beiden unterschiedlichen Begründungen für den Sabbat (Schöpfung/Sklaverei) werden von den Rabbinen hingegen erstaunlicherweise nicht kommentiert.384 Auf ähnliche Weise wie im vierten Gebot erklären die Rabbinen auch die beiden Verben ( חמדverlangen) und ( אוהbegehren) im zehnten Gebot. Laut der Mechilta de-Rabbi Schimon bar Jochai (Epstein 153) werden zwei verschiedene Verben verwendet, um klarzumachen, dass es sich um zwei verschiedene Vergehen handelt, die separat bestraft werden. Woraufhin die Finessen näher definiert werden: Was ist Verlangen? Wenn jemand sagt: "Möge das, was meinem Nächsten gehört, mir gehören". Was ist Begehren? Das ist, wenn 379 Vgl. MELAMMED, Observe, 210. Vgl. S. 97. 381 bRHSh 27a; bShev 20b; MekhY Bachodesch 7. Noch heute besingt das berühmte Sabbatlied Lecha dodi in der ersten Strophe den Zweiklang des vierten Gebotes: »"( שמור וזכור בדבור אחדbewahre« und »gedenke« in einer [einzigen] Äusserung"), vgl. MAGONET, Gebetbuch, 34f. 382 Die Mechilta nennt in Bachodesch 7 drei weitere Beispiele von Geboten, die an unterschiedlichen Stellen der Tora unterschiedlich formuliert zu finden sind. Auch sie sollen jeweils zusammen in einer einzigen Äusserung offenbart worden sein. 383 Übersetzung nach VAN LOOPIK, Mechilta, 116. 384 Der mittelalterliche Kommentator Maharal ist der Ansicht, dass die Begründungen nicht zur Diskussion hinzugezogen wurden, weil sie nichts am Wesen des vierten Gebots ändern, vgl. MELAMMED, Observe, 203f. 380 128 jemand unter Zwang unerreichbare Dinge zu erwerben trachtet. […] Woher weiss man, dass ein Mensch, der begehrt, schliesslich rauben wird? Es ist doch gesagt: »Begehren sie (Äcker), so rauben sie diese; und begehren die Häuser, so nehmen sie die. So unterdrücken sie einen Mann und sein Haus, den Menschen und sein Erbteil (Mi 2,2)«.385 Während das Verlangen den rein gedanklichen Wunsch umschreibt, führt das Begehren zur Tat. Da sich Begehren laut dieser Definition auf ein unerreichbares Objekt bezieht, bedeutet dessen Erwerb zugleich Raub. Die Unterschiede zwischen den beiden Versionen haben also den Zweck einer ergänzenden Verdeutlichung des Gemeinten. Ähnlich wird die Formulierung der letzten fünf Gebote in Ex und Dtn im Hinblick auf zwei Aspekte ausgelegt: In der Exodusversion stehen die Gebote unverbunden nebeneinander. R. Schimons Mechilta (Epstein 154) liest daraus, dass man an jedem einzelnen Gebot schuldig wird, sofern man es übertritt. Aus der DtnVersion, wo die Gebote jeweils mit der Konjunktion we verbunden sind, leitet sie ab, dass die fünf Gebote zusammenhängen und das Übertreten von einem schliesslich zum Übertreten aller andern führt.386 Die zitierten Texte machen klar, dass die unterschiedlichen Erklärungen sich nicht gegenseitig ausschliessen. Die Aussagen der rabbinischen Zitate können folgendermassen zusammengefasst werden: die ersten und die zweiten Bundestafeln enthielten je eine der beiden biblischen Dekalogversionen. Gott sprach beide Versionen zusammen in einer einzigen Äusserung. Die Unterschiede deuten auf die verschiedenen Aspekte des jeweiligen Gebotes hin oder verdeutlichen seinen Inhalt auf ergänzende Weise. Die Rabbinen spielen die beiden Versionen nicht gegeneinander aus, indem sie einer Version den Vorzug geben. Statt einem Harmoniebedürfnis zu folgen und die Versionen einander anzugleichen, stellen sich die Weisen den textlichen Ungleichheiten und sehen darin eine göttliche Absicht und einen erweiterten Bedeutungshorizont. Die Aufbewahrung beider Tafelsets, der zerbrochenen und der unversehrten, sowie der Umgang mit der Überlieferung beider Textversionen in der Bibel zeigen deutlich, dass laut rabbinischer Tradition die ersten Tafeln durch die zweiten nicht ersetzt sondern ihr Inhalt durch sie bekräftigt, verdeutlicht und in gewisser Weise auch vervollständigt wurde. 385 386 Übersetzung nach VAN LOOPIK, Mechilta, 151f. Zur Unmöglichkeit, nur ein einziges Gebot zu übertreten, vgl. auch Teil 2: 3.7. 129 3.6.5 Der Umfang des Textes auf den Tafeln Dass es die Zehn Gebote waren, die auf den Steintafeln niedergeschrieben wurden, wurde von den Rabbinen nie in Frage gestellt. In Ex 34,28 und Dtn 5,22 wird dieser Sachverhalt ja auch explizit tradiert. Zwischen der Offenbarung des Zehnworts, welche das Volk direkt von Gott vernahm und dem Entgegennehmen der ersten und zweiten Tafeln liegen jedoch zweimal vierzig Tage, die Mose auf dem Berg verbrachte, wo Gott ihm Rechtsvorschriften gab (Ex 24-31;34). Den Auslegern ist diese zeitliche Lücke nicht entgangen. Da Mose die Tafeln beide Male erst nach diesen vierzig Tagen erhielt, beziehungsweise fertig stellte, legten sie die Vermutung nahe, dass möglicherweise nicht nur das Zehnwort auf den Steinen stand. Eine solche Andeutung finden wir im Jerusalemer Talmud (ySot 8,3 22d) in der Auslegung eines Verses aus Hohelied: Ḥananya, der Brudersohn des Rabbi Yehoshuaʿ, sagt: Zwischen jedem einzelnen Gebot (standen) die genauen Angaben und Zeichen der (Tora). (»Seine Arme sind wie Stäbe aus Gold) gefüllt wie Tarschisch« (Cant 5,14) - wie das grosse Meer.387 Wenn Rabbi Schimʿon ben Laqish an diesen Schriftvers kam, pflegte er zu sagen: Schön hat mich Ḥananya, der Brudersohn des Rabbi Jehoschua, gelehrt: Wie bei dem Meer zwischen einer grossen Welle und der nächsten grossen Welle kleine Wellen sind, so waren zwischen jedem einzelnen Gebot die genauen Angaben [ ]דקדוקיהund Zeichen [ ]אותיותיהder Tora.388 Aus dem Kontext ist ersichtlich, dass es sich bei den grossen Wellen um die Zehn Gebote handelt. Schwieriger und umstritten hingegen ist die Interpretation der kleinen Wellen. Sind damit die übrigen Gebote der Tora gemeint,389 oder allerlei Zusatzinformationen zu den Geboten? Der Vergleich mit den grossen und kleinen Wellen könnte auf den ersten Blick als Bild für Philos Sicht von den über- und untergeordneten Geboten gelesen werden. Während URBACH dies für die rabbinische Zeit konsequent ablehnt,390 sieht AMIR in diesem Midrasch einen unklaren Widerhall einer gedanklichen Tradition, die nicht mehr richtig verstanden wurde, die aber wahrscheinlich auf Philo zurückgeht.391 387 STEMBERGER liest aus diesem Der Zusammenhang zum Meer wird über das Wort Tarschisch hergestellt, wohin Jona übers Meer vor Gott floh (Jona 1,3). 388 // ySheq 6,1 49d; BamR 3,16; ShirR 5,19. 389 So ROTHKOFF, Decalogue, 525; HACOHEN, Midreshe, 77. 390 Das philonische Konzept der Sonderstatus des Zehnworts erscheint laut URBACH (Sages I, 361f.) erst in späten Midraschim (ab 11.Jh.). 391 AMIR, Philon, 136. 130 Wellenvergleich immerhin, dass die gesamte Tora im Dekalog inbegriffen ist.392 So anschaulich die Interpretation der kleinen Wellen als die 613 Gebote der Tora wäre393 – sprachlich geht sie an der rabbinischen Aussage vorbei.394 Aufgrund der verwendeten Begriffe interpretiert YEHUDA die kleinen Wellen entweder als Hinweise zu den Betonungszeichen und der Masora, oder als Hinweise auf passende (mündliche) Halachot, die in der schriftlichen Form des Textes nicht erlaubt waren.395 Mit den genauen Angaben und Zeichen der Tora sind Detailinformationen gemeint, anhand derer die rabbinischen Gelehrten die mündliche Tora ableiteten. Der Midrasch soll betonen, dass auf den Tafeln neben den Zehn Worten auch die Basis für deren Interpretation gegeben wurde.396 Weil damit die Tafeln nicht mehr den Zehn Worten allein vorbehalten sind, sehen manche im Wellengleichnis auch eine Reaktion auf die "Behauptungen der Minim".397 Da sich die besagten Minim jedoch nicht gegen die mündliche Tora, sondern gegen die übrigen Gebote der schriftlichen Tora aufzulehnen schienen,398 scheint mir diese Meinung nicht plausibel.399 Der Fokus dieses Wellengleichnisses ist nicht auf Über- und Unterordnung gerichtet, und auch nicht auf die Gleichsetzung von Zehnwort und übriger Tora, sondern auf die Vollständigkeit der Offenbarung am Sinai. Dieser Midrasch macht somit keine Aussage über die Stellung des Zehnworts gegenüber den anderen Geboten der Tora. Targum Pseudo-Jonathan ist bezüglich des Inhalts der Bundestafeln grosszügiger, wie die Paraphrasierung von Ex 24,12 zeigt: And the Lord said to Moses, "Come up before me to the mountain and remain there, and I will give you the tables of stone where the rest of the words of the Law and the six hundred and thirteen commandments, which I wrote for their instruction, are intimated."400 Laut diesem schwer datierbaren, in seiner Endredaktion späten Targum enthielten die Tafeln also das ganze Gesetz, bestehend aus 613 Geboten.401 Auch nach Bereschit 392 STEMBERGER, Dekalog, 102. So ROTHKOFF, Decalogue, 525; EGO, Freiheit, 37. 394 Vgl. auch AMIR, Philon, 136. 395 YEHUDA, Aseret ha-dibberot, 273. 396 Vgl. SCHREINER, Dekalog, 22; URBACH, Sages I, 361. 397 So URBACH, Sages I, 361f. 398 Vgl. S. 87. 399 Bei ROTHKOFF (Decalogue, 525) hingegen, der die kleinen Wellen als die 613 Gebote versteht, macht der Hinweis auf die Behauptungen der Minim durchaus Sinn. 400 Die kursive Schrift markiert hier die targumischen Ergänzungen zum Bibeltext. 401 Der Targum kann in seiner finalen Form nicht vor dem 7./8. Jh. datiert werden, vgl. MAHER, Genesis, 11f. 393 131 Rabbati (11. Jh.) sind die 613 Gebote im Dekalog enthalten.402 Die Subordnung der bekannten Gebote und Verbote unter das Zehnwort wurde ja bereits von Philo vorgenommen, doch auf rabbinischer Seite sind die ʾAzharot von Rav Saadja Gaon (9./10. Jh.) die erste Systematik dieser Art.403 Saadja Gaon machte eine Auflistung der 613 Gebote der Tora. Die Zahl leitete er von der Anzahl Buchstaben des Dekalogs ab,404 womit der Dekalog zu einer Art Zusammenstellung aller Toragebote wurde. Seine Subordnung unter die einzelnen Gebote geschah jedoch nicht nach der Anzahl Buchstaben des jeweiligen Gebots. Dem ersten Gebot ordnete er beispielsweise achtzig Gesetze unter, während die Anzahl Buchstaben vierzig beträgt.405 Der Midrasch BamR 13,16 zu Num 7,20 (ca. 11. Jh.) übernahm diese Subordnung unter den Dekalog, wie auch die Begründung anhand der Buchstabenzahl. Die Zahl von 613 Geboten findet sich ja bereits in vorgaonäischer Zeit, doch gab es keinen systematischen Versuch einer Zuordnung von einzelnen Geboten zu den Geboten des Dekalogs – im Gegenteil, die Zehn Gebote wurden den 613 Geboten untergeordnet, indem sie in dieser Zahl mitgezählt wurden.406 Ein weiteres Beispiel für diese Auffassung ist R. Levi, der im Shemaʿ den Inhalt der Zehn Worte findet – nicht umgekehrt.407 In der Betrachtung des Dekalogs scheint sich in der nachtalmudischen Zeit also eine grundlegende Änderung vollzogen zu haben, so dass die Zehn Gebote den anderen Geboten übergeordnet wurden, während sie in vorgaonäischer Zeit als Teil des Ganzen zählten, der eher unter- als übergeordnet wurde.408 Trotz dieser späteren Überordnung blieb es jedoch für die Halacha belanglos, ob eins der anerkannten Gebote im Zehnwort enthalten ist oder nicht.409 402 Ed. Albek S. 8 (Daf 3). ʾAzharot sind Aufzählungen der Gebote und Verbote der Tora, die als liturgische Stücke für Schawuot als Fest der Offenbarung der Tora bestimmt sind, vgl. ELBOGEN, Gottesdienst, 217. Ob Saadja Gaon dabei aus philonischem Gut schöpft, lässt AMIR (Philon, 163) unbeantwortet. 404 Der textus receptus der BHS enthält in der Exodus-Version des Dekalogs 620 Buchstaben. BamR 13,16 deutet die sieben überzähligen Buchstaben auf die sieben Schöpfungstage und als Lehre, dass die ganze Welt nur dank der Tora geschaffen worden sei. HOSSFELD (Grundgesetz, 47f.) dagegen erklärt die sieben überzähligen Buchstaben mit plene-Schreibung. 405 Saadja Gaons Azharot zum Dekalog: DAVIDSON, Siddur, 191-216. 406 Vgl. dazu ShirR 1,13 (zitiert S. 94). Die Zahl 613 bringt R. Simlai (um 200 n. Chr.) erstmals ins Spiel (bMak23b/24a). Im Gegensatz zu Saadja Gaon und BamR 13,16 wird die Zahl dort vom Zahlenwert der Tora (611) plus den zwei ersten der Zehn Worte abgeleitet. Die moderne Forschung geht davon aus, dass die Zahl mehr symbolischen als mathematischen Charakter hat, da aus einem ursprünglich homiletischen Konstrukt erst später eine reale Zahl geworden sei, vgl. COHEN, Taryag, 47. 407 Vgl. S. 73f. 408 Vgl. YEHUDA, Aseret ha-dibberot, 273f.; URBACH, Sages II, 845 Anm. 81 (Ende). 409 Vgl. AMIR, Philon, 134. 403 132 Die Frage nach dem Umfang der Offenbarung betraf nicht nur die Gebote auf den Steintafeln. Wie der folgende Text zeigt, diskutierten die Rabbinen den Umfang der Offenbarung am Sinai als Ganzes (SifDev § 2): »Es verkündigte Mose an ganz Israel« (Dtn 1,3). Hat denn Mose nur zehn Worte410 prophezeit? Woher [weiss man, dass dies] für alle Worte, die in der Tora stehen, gilt, für die durch Schluss vom Leichteren zum Schwereren abgeleiteten, für die [Vorschriften] über mutwillige und über unwillkürliche Sünden, für die summarischen und die Einzelvorschriften, für die Gesetze als ganze und ihre einzelnen Feinheiten? Es ist eine Belehrung, die da sagt: Mose verkündigte alles, was ihm J' für sie befohlen hatte. Ebenso zählt der babylonische Talmud im Traktat Berachot auf, was die Offenbarung am Sinai alles beinhaltete (bBer 5a): Ferner sagte R. Levi b. Ḥama im Namen des R. Simon b. Laqiš: Es heisst (Ex 24,12): »Ich will dir geben die Steintafeln, die Lehre und das Gebot, das ich geschrieben, um sie zu lehren«. »Die Tafeln«, das sind die zehn Gebote; »die Lehre«, das ist die Schrift; »das Gebot«, das ist die Mischna; »das ich geschrieben«, das sind die Prophetenbücher und die Hagiographen; um sie zu belehren«, das ist der Talmud. Dies lehrt, dass sie sämtlich dem Mose am Sinai überliefert wurden. Die Steintafeln bleiben in dieser Auslegung deutlich für den Dekalog reserviert. Doch die Offenbarung beinhaltet alles, was bis zur Zeit der Rabbinen schriftlich und mündlich tradiert wurde.411 Die rabbinische Literatur macht immer wieder – implizit oder explizit – deutlich, dass der Begriff der Offenbarung vom Sinai viel weiter zu fassen ist als die fünf Bücher Mose. Dennoch hat die fünfteilige "Tora des Mose" einen besonderen Platz, der auch in Dtn 31,26 zum Ausdruck kommt: 26 Als Mose damit zu Ende war, den Text dieser Weisung in eine Urkunde einzutragen, ohne irgend etwas auszulassen, befahl Mose den Leviten, die die Lade des Bundes des Herrn trugen: Nehmt diese Urkunde der Weisung entgegen, und legt sie neben die Lade des Bundes des Herrn, eures Gottes! Dort diene sie euch als Zeuge gegen euch. Unter der "Urkunde der Weisung" verstanden die Ausleger den Pentateuch. Beim Versuch, die Grösse der Tafeln anhand der Maße der Bundeslade zu bestimmen, haben R. Meir und andere Rabbinen darum auch bereits Platz für die Torarolle vorgesehen (BamR 13,19). Diese Einteilungen waren nicht unbestritten, da es auch 410 Ein einzelner Textzeuge hat hier »diese Worte« (Dtn 1,1), die übrigen haben עשר דברות, vgl. BIETENHARD, Sifre Deuteronomium, 13. 411 Vgl. SifDev § 313, wonach die Israeliten bereits bei der Verkündigung der Zehn Worte das Potenzial und Ausmass ihrer Auslegung erkannten. 133 die Ansicht gab, dass die Tora in einem Behältnis neben der Lade aufbewahrt wurde.412 Gemäss R. Jehuda hatte Mose ein solches extra dafür angefertigt.413 Die Diskussionen zeigen einerseits, dass die Steintafeln mit dem Dekalog und die übrige Tora als zwei eigenständige Volumen betrachtet wurden, was sich auch in ihrer materiellen Gestaltung ausdrückte. Andererseits zeigt die Aufbewahrung zusammen mit der Bundeslade ihr unbestrittenes Zusammengehören. Diese Nähe wurde durch die Positionierung der Schriftrolle innerhalb oder parallel zur Lade mehr oder weniger stark betont. Die Tafeln blieben jedoch – abgesehen von den schwer zu interpretierenden "kleinen Wellen" im Jerusalemer Talmud und einigen späteren Texten – dem Dekalog vorbehalten, obschon dieser nur als Teil der ganzen Offenbarung verstanden wurde. 3.7 Die Beziehungen der Gebote untereinander Die rabbinischen Erwähnungen des Zehnworts, in denen der Inhalt des Dekalogs Diskussionsgegenstand ist, bzw. in denen er in seiner Eigenschaft als Gesetz betrachtet wird, sind an einer Hand abzuzählen. Es handelt sich dabei um Diskussionen über die Beziehungen der Gebote untereinander. Als besonderes Charakteristikum des Zehnworts hoben die rabbinischen Gelehrten mehrfach hervor, dass es nicht möglich ist, nur ein einziges der Zehn Gebote zu brechen, ohne dass die anderen neun auf irgendeine Art und Weise involviert sind.414 So lesen wir zum Beispiel im Homilienmidrasch Pesikta Rabbati 21,14: R. Jakum sagte: Wer das Gebot »Du sollst nicht begehren« übertritt, ist wie einer, der [alle] Zehn Gebote übertritt.415 Im anschliessenden Kontext wird der Zusammenhang zwischen dem genannten Gebot mit den anderen neun Geboten hergestellt und erklärt. Die Übertretung der übrigen Gebote kann dabei ein Umstand oder eine Folge des verbotenen Begehrens sein. Während einige dieser Zuordnungen einleuchtend sind, scheinen andere eher konstruiert. Auch Gelehrtenschüler erkannten solche Zusammenhänge zuweilen nicht ohne Hilfe, wie das folgende Beispiel aus Midrasch BamR 9,12 zeigt: 412 bBB 14ab; ySheq 6,1 49d. ySheq 6,1 49d. 414 Vgl. auch MekhY Bachodesch 8 (zitiert S. 118), wo die Ansicht vertreten wird, dass jeweils die zwei Gebote auf gleicher Höhe nicht einzeln gebrochen werden können. 415 Eigene Übersetzung. In PRE 52 wird die gleiche Aussage in Bezug auf das 5. Gebot gemacht. 413 134 Die Schüler des R. Huna, des Vaters von R. Acha, fragten: Unser Lehrer hat uns gelehrt: Der Ehebrecher und die Ehebrecherin übertreten die Zehn Gebote, gegen neun wissen wir es (dass sie dagegen handeln), aber betreffs des Sabbatgebotes wissen wir es nicht. […(Sie erklären die neun und fordern dann eine Antwort von R. Huna, der daraufhin antwortet)]: Das will ich euch sagen. Zuweilen hat ein Priester eine Frau und ein ehebrecherischer Israelit wohnt ihr bei, und sie gebiert einen Sohn und man denkt, dass es der Sohn des Priesters sei, und es steht jener Sohn auf und versieht den Tempeldienst und bringt als solcher Ganzopfer am Sabbath dar, (er ist aber nicht Priester,) folglich entweiht er den Sabbath.416 Dieser Fall bezüglich des Sabbatgebots wirkt sehr konstruiert. Doch der dahinter stehende Grundgedanke ist klar ersichtlich: eine Gesetzesübertretung kommt selten allein. So wie eine Lüge weitere Lügen provoziert, wird jedes missachtete Gebot zu weiteren Übertretungen führen. Andererseits gibt es Gebote, die so stark miteinander verbunden sind, dass es gar nicht möglich ist, nur eines davon zu brechen. In Sifre zu Numeri wird dieses Verständnis in extremer Form und auch reziprok vertreten (SifBam Schelach 5): Die Schrift zeigt [damit] an: Jeder der sich zum Götzendienst bekennt, leugnet den zehn Geboten ab, dem, was Mose geboten wurde, dem, was den Propheten geboten wurde und dem, was den Vätern geboten wurde. Jeder aber, der dem Götzendienst ableugnet, bekennt sich zur gesamten Tora. Die Reduzierung des Zehnworts und der ganzen schriftlichen und mündlichen Tora auf das Zweite Gebot wird vom Ausleger reziprok angewendet: so wie das Brechen dieses Gebotes alle anderen bricht, so bringt die Einhaltung dieses einzigen Gebots das Bekenntnis zur ganzen Tora mit sich. Eine solch exkludierende, bzw. inkludierende Haltung wird bei den anderen zitierten Beispielen nicht vertreten. BROOKS stellt zwar in anderem Zusammenhang fest, dass die Rabbinen im Jerusalemer Talmud, sofern sie überhaupt eines der Zehn Gebote auslegen, eine starke Tendenz zeigen, die jeweilige Übertretung mit Götzendienst gleichzusetzen und damit auf das Zweite (und indirekt auf das Erste) Gebot zurückzuführen.417 Die soeben zitierten Beispiele zeigen jedoch, dass die Übertretung verschiedener Zehngebote die Rolle einer "Anfangs- oder Hauptsünde" einnehmen konnte. Auch wäre es nicht gerechtfertigt, aus diesen Zitaten wichtigere und weniger wichtige Gebote abzuleiten. Die drei Gebote, die den Rabbinen als Beispiel dienen – Du sollst 416 417 // TanB Naso 4; TanW Naso 2. BROOKS, Spirit, 46f. 135 nicht begehren, nicht ehebrechen, keine anderen Götter anbeten – sind exemplarisch zu verstehen und eignen sich bestimmt besser für das Darlegen des rabbinischen Grundgedankens als z.B. "Ehre Vater und Mutter". Eine Wertung unter den Zehn Worten wagen die Weisen nur ansatzweise zu machen. Im Zusammenhang mit dem Eid, der vor Gericht zu sprechen ist, diskutieren die Weisen in bShev 39a das dritte Gebot und sein Gewicht: Der Meister sagte: Man spricht zu ihm: Wisse, dass die ganze Welt erbebte, als der Heilige, gepriesen sei er, sprach: »du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht freventlich aussprechen«. Aus welchem Grunde: wollte man sagen, weil dies am [Berge] Sinaj gesprochen wurde, so wurden ja da alle zehn Gebote gesprochen, und wollte man sagen, weil dies am strengsten sei, so ist dies ja nicht der Fall!? […] Vielmehr, aus dem hier aufgeführten Grunde: Bei allen in der Tora genannten Sünden heisst es: er vergibt, und bei dieser heisst es: er vergibt nicht.418 Die Lehre des babylonischen Meisters über das Erdbeben bei der Verkündung des dritten Gebots verlangt eine Begründung. Eine höhere Priorität des Dritten Gebots wird deutlich verneint. Das schliesslich akzeptierte Argument seiner Unsühnbarkeit wird im anschliessenden Kontext jedoch ebenfalls wieder relativiert.419 Bereits innerhalb des "Mikrokosmos" der Zehn Gebote erkennen wir hier den Widerstand, der sich bei den Weisen regte, wenn Gebote gegeneinander aufgewogen wurden. Die Scheu, Gesetze zu bewerten ist tief verwurzelt, denn ihr steht die Anmassung gegenüber, Anordnungen Gottes mit dem menschlichen Geist nachvollziehen und begründen zu können.420 Vielmehr betonen die Rabbinen Zusammenhänge und Interaktionen zwischen den einzelnen Geboten des Dekalogs und damit auch deren Unzertrennlichkeit. Angesichts der Häufigkeit der Zehnworterwähnungen in den rabbinischen Werken und den filmreifen Schilderungen rund um ihre Offenbarung am Sinai, scheinen die wenigen Texte, die sich mit dem Inhalt des Dekalogs auseinandersetzen auffallend einsam und etwas farblos. Sie erwecken den Eindruck, dass die inhaltliche Besonderheit des Zehnworts weit hinter der Bedeutung eingestuft wurde, die dem Dekalog als Symbol und Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel zukommt. 418 Vgl. auch SifDev § 328: "Alles verzeiht der Heilige, g.s.er!, (aber) die Entweihung seines Namens bestraft er sofort." 419 Die Diskussion über die Vergebung der Übertretung des dritten Gebots war verbreitet und die Meinungen geteilt, vgl. MekhY Bachodesch 7; bYom 86a. 420 Vgl. z.B. die Diskussion zur Gebetsformel "über ein Vogelnest erstreckt sich dein Erbarmen" in bBer 33b. 136 4 Das Zehnwort in Symbolik und Gimatria Fast überall wo die Zahl Zehn in der Schrift vorkommt, sahen die Ausleger in ihr einen Hinweis auf die Zehn Gebote. Ein typisches Beispiel sind die Auflistungen der Weihgaben, welche die zwölf Stämme für das Heiligtum spendeten (Num 7). Der Midrasch Rabba deutet die Angaben alle symbolisch. So wird die »goldene Schale von zehn Schekel Gewicht, gefüllt mit Räucherwerk« aufgrund ihres Gewichts als Hinweis auf die Zehn Gebote verstanden (BamR 13,19), das darin enthaltene Räucherwerk als die 613 Gebote (BamR 13,16). Ebenso sollen die Brautgeschenke, die Abrahams Knecht bei der Brautschau für Isaak bei sich hatte, einen Hinweis auf das Zehnwort enthalten haben: die beiden Armreife aus zehn Schekel Gold, die er Rebekka überreichte, werden als Symbole für die beiden Bundestafeln mit den Zehn Geboten gedeutet (BerR 60,6; ShirR 4,26). Auch den Steuern oder Geldstrafen gaben die Ausleger symbolische Bedeutungen. Die Steuer fürs Heiligtum betrug laut Ex 30,13 einen halben Schekel für einen Erwachsenen. Dieser Betrag, welcher zehn Gera entspricht, wurde den rabbinischen Quellen zufolge festgesetzt, weil Israel die Zehn Gebote übertreten hat.421 Ähnlich wird das Opfer von 1/10 Epha Gerstenmehl, das ein Mann mitbringen musste, wenn er seine des Ehebruchs verdächtigte Frau zum Priester brachte, auf das Übertreten des Zehnworts gedeutet (BamR 9,13; 9,44). PesR 21,17 ordnet die Zehn Gebote den Zehn Plagen in Ägypten zu, BamR 14,11 hingegen listet eine ganze Reihe von Zehnzahlen auf, darunter die Schöpfungsworte, die Himmelssphären, verschiedene Geschlechterfolgen und das Zehnwort selbst. Dies zeigt, dass die Zehn Gebote nicht das einzige Zehnermass waren und rückt gleichzeitig die Symbolik ins rechte Licht: das Spiel mit den Zahlen war in der Auslegung äusserst beliebt und die symbolisierten Elemente oft austauschbar. Wenn wir von Zahlenspielen sprechen, ist auch die Gimatria, das Berechnen der Zahlenwerte von hebräischen Wörtern, zu erwähnen. Der Buchstabe yod ( )יmit dem Zahlenwert 10 kann gimatrisch z.B. als Zehnwort gedeutet werden.422 Eine der schönsten gimatrisch-poetischen Auslegungen zum Dekalog finden wir in PesR 21,6 zum Wort ʾanochi ()אנכי, welches als Sonderform des allgemein üblichen ʾani 421 ySheq 2,4 46d; TanB Ki Tissa 7; TanW Ki Tissa 10; PesK 2,12; PesR 10,10. Dies wurde z.B. bei den Erzväternamen Jakob und Isaak so gemacht (BerR 53,7; TanW Schemot 4) oder beim Klagewort ʾecha (EkhaR 1,1). 422 137 hervorsticht.423 Die Rabbinen lesen dort das erste Wort des Dekalogs ( )אנכיals Akrostichon von: (אנא נתתי כתבתי עשרת הדברות )=י Ich gab und schrieb die Zehn Gebote oder von: (אנא נהוריך כלילך יונתי תקבלון עשרת דברייא )=י Ich bin dein Licht, deine Krone, deine Taube - wenn ihr die Zehn Worte annehmt Last but not least zeigen Zahlensymbolik und Gimatria, dass die Zehn Worte integraler Bestandteil des rabbinischen Denkens waren. Im Gegensatz zu den meisten weiter oben besprochenen Texten kommen die symbolischen Auslegungen ohne Verbindungen zum Sinaikontext aus. Die Dominanz der Zehnzahl überdeckt in diesem Fall die traditionellen Aspekte des Zehnworts und schafft neue Bezüge: hier gelten die Zehn Worte als einstiger Begleiter der Erzväter und als wertvoller Schatz, auf den die Heilige Schrift verschlüsselt hinweist. Die Deutungen von Steuern und Geldstrafen auf das Zehnwort dagegen assoziieren dessen Eigenschaft als Gesetz. Durch seine Zehnzahl wurde der Dekalog zum Mass vieler Dinge. Die Vorstellung, dass die Zehn Worte bereits in der Zeit der Erz- und Stammesväter symbolisch angekündigt wurden, verleiht ihnen ausserdem eine Immanenz in der Geschichte Israels, die – wie weiter oben dargelegt – schon vor der Schöpfung begann. 423 // TanB Jitro 15. 138 Teil 3: 1 Rückblick und Ausblick Zusammenfassung In der vorliegenden Arbeit wird die rabbinische Rezeption des Zehnworts untersucht. Der Fokus liegt einerseits auf der Art und Weise der rabbinischen Thematisierung des Dekalogs und andererseits auf dessen Besonderheit und Stellung innerhalb der Tora. Als Quellen dienen rabbinische Texte, die das Zehnwort namentlich erwähnen oder sich zum Zehnwort als Ganzes äussern. Die Ergebnisse der einzelnen Teile der Untersuchung wurden bereits innerhalb der Arbeit, jeweils am Schluss der jeweiligen Subkapitel, vorgelegt. Die folgende Zusammenfassung soll diese Ergebnisse in den grösseren Zusammenhang bringen und zu einem Gesamtbild vereinen. Obwohl die Detailergebnisse die Grundlage für diesen Überblick darstellen, werden sie hier nicht noch einmal einzeln genannt, sondern im Hinblick auf die in der Einleitung gestellten Fragen präsentiert. Der zum Thema dieser Untersuchung hinführende erste Teil der Arbeit über Grundlagen und frühe Rezeptionen liefert – seiner Bestimmung nach – nur einen indirekten Beitrag zu den Resultaten. Von den darin dargestellten Zugängen zum Dekalog sind jedoch die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug zum rabbinischen Zugang zu erwähnen. Durch ihre Fokussierung auf die Doppelüberlieferung des Dekalogs und die daraus resultierenden Problemstellungen hat die bibelwissenschaftliche Forschung eine ganz andere Richtung eingeschlagen als die rabbinischen Ausleger, die sich auf die Ereignisse rund um die Sinaioffenbarung konzentrieren. Während die Bibelwissenschaft an der historischen Einordnung des Textes und an einer exakten Einteilung in Zehn Gebote interessiert ist, verlieren die rabbinischen Weisen keinen Gedanken daran, sondern richten ihr Augenmerk auf die Details der Offenbarung wie die Stimme Gottes oder die Bundestafeln, welche bibelwissenschaftlich keine weitere Beachtung finden. Ähnliche Fragestellungen in Bezug auf die Adressaten des Zehnworts und die Bedeutung der Unterschiede zwischen den beiden Versionen führen in den beiden Auslegetraditionen zu gänzlich unterschiedlichen Antworten. Indem Philo und Josephus den Rabbinen gleich die direkte Offenbarung der Zehn Worte durch Gott selbst betonen, zeigen sich deren zeitliche sowie kulturelle Nähe zum rabbinischen Judentum. Da beide hellenistischen Autoren den Dekalog nicht wörtlich zitieren, fällt eine Auseinandersetzung mit den Feinheiten des Wortlauts bei ihnen hingegen weg. 139 Während Philos Betrachtung des Offenbarungsgeschehens stark an die rabbinische erinnert, wird in seiner Subordnung aller Toragebote unter den Dekalog eine dem rabbinischen Verständnis fremde Sicht des Gesetzes deutlich. Die samaritanische Dekalogrezeption, die textliche Abweichungen vom masoretischen Text beinhaltet und das Zehnwort als Mezuza-Text auf Steindekaloge schrieb, zeigt damit trotz der klaren Prägung durch das mosaische Gesetz eine eigenständige und vom rabbinischen Judentum unabhängige Auslegungstradition. Das Neue Testament schliesslich erwähnt das Zehnwort nicht wörtlich, doch zeigen die Zitate aus der zweiten Hälfte des Dekalogs dessen Verwendung als Pars pro Toto für die Tora. Dies und die von Jesus im Doppelgebot der Liebe ausgedrückte inhaltliche Verwandtschaft zum Shemaʿ bringen zwei gemeinsame Elemente der neutestamentlichen und rabbinischen Dekalogtraditionen zum Ausdruck. Die Rolle, die das Zehnwort bei den Rabbinen einnimmt, soll zuerst anhand der Art seiner Thematisierung in der rabbinischen Literatur gedeutet werden. Das Studium der weit über hundert Zehnworterwähnungen zeigt, dass die Begegnung mit dem Zehnwort die rabbinische Auslegung über die Jahrhunderte begleitete. Es gibt kein grosses Werk der rabbinischen Literatur, das sich nicht in irgendeiner Form zu diesem Text geäussert hat. Aus der Art und Weise der Thematisierung des Zehnworts in diesen Quellen lassen sich drei wichtige Beobachtungen festhalten: Erstens der Umstand, dass das Zehnwort ausser in der Mechilta und in der Pesikta Rabbati nirgends expliziter Gegenstand rabbinischer Auslegung ist. Gewöhnlich wird es durch Assoziation (vgl. Auslegungsregeln) ins Spiel gebracht, wenn im Diskussionszusammenhang einer seiner zahlreichen Aspekte zur Sprache kommt, wie z.B. die Zehnzahl, das Morgengebet, die Bundestafeln, ein göttliches Wunder, die Sinaioffenbarung, Gottes Art zu reden oder wenn ein Gebot ausgelegt wird, das dem Zehnwort entstammt. Es ist also nicht Anlass der Diskussion, sondern lediglich ergänzender Teil davon. Die zweite auffallende Beobachtung ist die Kontextualisierung der Zehn Worte im Sinaigeschehen, die – abgesehen von den Liturgiediskussionen und den symbolischen Erwähnungen – praktisch ausnahmslos ist. Gegenstand der Diskussionen sind die direkte Offenbarung durch Gottes eigene Stimme, die materielle Ausgestaltung des Zehnworts in Form steinerner Tafeln und die wunderbaren Ereignisse, die damit einhergingen. Dies stellt einen klaren Gegensatz zur christlichen Rezeption dar, die den Dekalog nicht nur thematisch, sondern auch bezüglich der Formulierungen (Verkürzung) von der Sinaioffenbarung 140 gelöst hat. Der konsequente Sinaibezug erscheint schliesslich noch intensiver durch die Tatsache, dass in diesen Texten der Inhalt der Zehn Worte kaum thematisiert wird. Wie diese dritte Beobachtung zeigt, wird inhaltlich auf das Zehnworts höchstens vergleichend eingegangen, sei es bei der Diskussion über die Beziehung der Gebote untereinander, zu anderen Toratexten oder zwischen den beiden Dekalogversionen. Selbst in der Mechilta, wo das Zehnwort explizit Gegenstand der Auslegung ist, drehen sich die Kommentare mehrheitlich rund um die Sinaierlebnisse. Die Fokussierung auf die äussere Form verdrängt die Tatsache, dass es sich beim Dekalog um ein Gesetz handelt. Die rabbinischen Dekalogtraditionen zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Zehnwort auf ganz unterschiedlichen Arten stattfand. Die Auslegungstraditionen zu Tafeln und Schrift können einer technisch-künstlerischen Ebene zugeordnet werden, während andernorts mit eher literarischem Interesse der grammatikalische Wechsel der Person nach dem zweiten Gebot sowie die unterschiedlichen Dekalogversionen in Ex und Dtn diskutiert werden. Die Texte geben auch Einblick in theologische Ansichten der rabbinischen Gelehrten. So finden wir beispielsweise immer wieder betont, dass Israel die Zehn Gebote freiwillig auf sich nahm. Das persönliche Du der Anrede bringt ausserdem zum Ausdruck, dass die Gottesbeziehung nicht in der Verantwortung des Volkes, sondern des einzelnen Menschen liegt. Eng damit verbunden ist wiederum die Erwählung Israels, die ganz klar eine gegenseitige war: Nachdem Gott sein Volk aus Ägypten befreit hatte, erwählte Israel am Sinai seinen Gott, indem es seine Tora bedingungslos und vertrauensvoll entgegennahm. Der Dekalog ist zudem Teil und Vollendung der Weltschöpfung: er bewahrte die bestehende Schöpfung vor der Rückkehr ins Chaos und ist damit Existenzbedingung der Welt sine qua non. Den Geltungsbereich des Zehnworts betrachten die Rabbinen auf drei verschiedenen Ebenen: 1) persönlich 2) bezogen auf Israel und 3) bezogen auf die ganze Welt. Seine Offenbarung im Niemandsland der Wüste soll Besitzansprüche wie auch die Reduzierung auf Israel unterbinden. Die Rabbinen betonen die Annahme des Zehnworts, nicht dessen Einhaltung. Beim einstigen Gericht wird das Zehnwort als Massstab und Zeuge für und gegen seine Be- und Verfolger stehen. Zusammen mit den symbolischen Vergleichen mit Goldschmuck und -geschirr erheben die Texte das Bild eines wertvollen, persönlichen Geschenkes, dessen Gabe für Israel eine Ehre darstellt. In dieser Grundauffassung des Dekalogs als Geschenk und Ausdruck der Gottesbeziehung unterscheidet sich das rabbinische 141 Judentum grundlegend von der christlichen Auffassung des Dekalogs als Inbegriff des göttlichen Gesetzes überhaupt. Das Studium der rabbinischen Quellentexte zeigt, dass das Zehnwort trotz seiner verlorenen liturgischen Stellung immer noch ein besonderes Ansehen geniesst. Einen Hinweis gibt uns ja bereits die rabbinische Bezeichnung ʿaseret ha-dibberot. Die im Gegensatz zur biblischen Bezeichnung grammatikalisch weibliche Form hebt das Bezeichnete vom Regulären ab. Es handelt sich um ganz bestimmte Zehn Worte, und sie waren bereits zu jener Zeit zum stehenden Begriff geworden. Im Gegensatz zu den zahlreichen biblischen Begriffen für gesetzliche Weisungen,424 betont dibberot nicht die Eigenschaft des Gesetzes, sondern der göttlichen Offenbarung.425 Daraus allein lässt sich zwar noch kein Schluss auf eine umfassendere Sonderstellung ziehen,426 die Hervorhebung sprachlicher Art wird jedoch in den Quellen in Bezug auf zwei weitere Aspekte bestätigt. Der erste Aspekt betrifft die direkte Offenbarung: Im Gegensatz zur übrigen Tora wurden die Zehn Worte als direkte, auditiv vernehmbare Äusserung Gottes verstanden, wobei die Beschreibung ( בדבור אחדin einer einzigen Äusserung), den überirdischen Charakter des Sprechers betont. Eine weitere Besonderheit des Dekalogs ist seine konkrete, in Stein festgehaltene Form. Keine andere Offenbarung wurde dem Volk Israel schriftlich gegeben, ohne den Umweg über einen menschlichen Schreiber zu machen. Die ausführlichen rabbinischen Beschreibungen zu Schrift, Material und Anfertigung der Bundestafeln sind ein weiteres Zeugnis für die Einmaligkeit dieses materiellen Dokumentes. Aussergewöhnlich erscheinen in der Literatur der Rabbinen auch die Dramatik und ganz besonders die Detailtreue, mit der das Ereignis der Gabe des Zehnworts ausgelegt wird. Das Erstaunliche daran ist aus heutiger Sicht, dass die besondere Stellung des Dekalogs nie auf seinen Inhalt bezogen wird. Dieser scheint vielmehr fast sekundär zu sein. Den Zehn Geboten wird in der rabbinischen Literatur also eine Sonderstellung beigemessen, die einzig und allein in der Art und Weise ihrer Offenbarung begründet ist. Was die Stellung des Zehnworts innerhalb der Tora betrifft, zeigen die Texte, dass die Rabbinen nicht immer klar zwischen Dekalog und übrige Tora unterschieden. Besonders in den tannaitischen Midraschim (Mechilta) wird das Zehnwort (ähnlich 424 Vgl. z.B. CHINITZ, Ten terms, 113-119. Vgl. die Herleitung des Begriffs auf S. 65. 426 Vgl. dazu BEN-CHORIN (Tafeln, 15), der das Verlassen des traditionellen Sprachgebrauchs als Beweis für die "alle Normen durchbrechende Autorität" des Dekalogs sieht. 425 142 wie im Neuen Testament) als Pars pro Toto für die Tora verwendet. Diese Verwendung darf jedoch nicht mit einer Zusammenfassung der Tora verwechselt werden! Inhaltlich wurde der Dekalog von den Rabbinen auch in anderen Toratexten wie der Schöpfungsperikope, dem Shemaʿ oder Lev 19 wieder gefunden. Wie das Wellengleichnis zeigt, wurde das Zehnwort als Teil der 613 Gebote diesen nicht über- sondern zugeordnet. Eindeutige Versuche, alle Gebote den einzelnen Worten des Dekalogs unterzuordnen, gab es – mit Ausnahme von Philo – erst ab gaonäischer Zeit. Trotz dieser Beiordung gibt es im rabbinischen Gedankengut auch Anzeichen, dass die Zehn Worte dennoch für die Gelehrten eine Art von Grundgesetz darstellten. Es kam z.B. die Frage auf, warum die Beschneidung nicht im Dekalog enthalten ist, obwohl sie als grundlegendes Zeichen für die Volks- und Gotteszugehörigkeit galt. Auch die Tatsache, dass eine Erklärung gesucht wurde, warum die Zehn Gebote nicht am Anfang der Tora stehen, sowie der wiederholte rabbinische Wunsch, den Dekalog an den Anfang des Morgengebets zu stellen, zeigen, dass den Rabbinen ein besonderer Platz für den Dekalog durchaus angemessen erschien. Die Rabbinen gingen aber nie soweit, den Dekalog als Naturgesetz zu bezeichnen, wie Philo es tat. Wie ist nun die im Liturgieausschluss zutage tretende Polemik gegen den Dekalog vor dem Hintergrund des in dieser Untersuchung dargelegten Gesamtbildes der rabbinischen Zehnwortrezeption zu werten? Die wenigen Texte zur Liturgiediskussion zeigen eine Ambivalenz gegenüber dem Zehnwort, die in der übrigen rabbinischen Literatur so nicht spürbar ist: das Zehnwort nimmt im rabbinischen Denken eindeutig eine Sonderstellung innerhalb der Tora ein. Ist diese offenbarungstechnisch definierte Besonderheit eine Folge der ketzerischen Behauptungen, dass nur der Dekalog Tora vom Sinai sei? Haben die Minim das Interesse der Rabbinen vom Inhalt des Dekalogs abgelenkt und damit die rabbinische Theologie über Jahrhunderte wesentlich beeinflusst? Die Art und Weise der rabbinischen Thematisierung des Zehnworts weist meines Erachtens klar in eine andere Richtung. Die Abwesenheit einer Dekalogorientierung in der Struktur des religionsgesetzlichen Systems (Mischna und Talmud) einerseits und die wiederholte Verwendung des Zehnworts als Pars pro Toto für die Tora andererseits deuten darauf hin, dass der Dekalog nicht in der Funktion eines übergeordneten Gesetzes Teil des Morgengebetes war, sondern als Repräsentant für die Tora, deren Gebote sich der Israelit täglich in Erinnerung ruft und die Ausdruck der Beziehung zwischen Israel 143 und seinem Gott ist. Die Rabbinen konnten jüdische Traditionslinien, die den Dekalog wie Philo als Hauptgesetze begriffen gerade deshalb erfolgreich unterbinden, weil das Zehnwort kein ordnendes Prinzip darstellte. Ebenso war der Ausschluss des Zehnworts aus der Morgenliturgie und den Tefillin möglich, weil er inhaltlich keine Sonderstellung hatte und als Pars pro Toto der Tora auch durch das Shemaʿ repräsentiert werden konnte. Die Zurückdrängung war und blieb eine formale, keine inhaltliche.427 Der Ausschluss des Zehnworts aus dem Morgengebet und aus den Tefillin blieb zwar in Kraft, doch sein Platz in der Liturgie wurde ihm von den Rabbinen nicht vollständig aberkannt. Durch die Umdeutung von Schawuot als Fest der Offenbarung am Sinai, wiesen sie dem Dekalog erneut einen Platz im Gottesdienst zu. Statt der täglichen Rezitation wurde seine Lesung Teil des Festaktes an Schawuot. Damit betonten die rabbinischen Weisen wiederum in unmissverständlicher Klarheit seinen eigentlichen Platz und seine Sonderstellung im Kontext der Sinaioffenbarung. Die vorliegende Untersuchung kommt zur abschliessenden These, dass die Zehn Worte vom Sinai auch aus rabbinischer Sicht eine Besonderheit innerhalb der Tora darstellen. Im Gegensatz zur traditionellen christlichen Deutung, die sich auf den Inhalt der Zehn Worte beruft, beruht die Sonderstellung laut rabbinischer Literatur auf der Art und den Umständen ihrer Offenbarung. Sie kann deshalb auch nur in diesem Kontext erklärt und verstanden werden. Obwohl die Besonderheit des Dekalogs auch in der heutigen Bibelwissenschaft nicht mehr losgelöst vom biblischen Kontext erklärt wird, setzt die rabbinische Kontextualisierung des Zehnworts in der Sinaioffenbarung dabei andere Schwerpunkte. Die Rabbinen sehen die Gabe der Zehn Worte in jeglicher Hinsicht als Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel. Am deutlichsten erkennbar wird dies in den Schilderungen der direkten Offenbarung durch die göttliche Stimme sowie der Tafeln als himmlisches Wunderwerk auf irdischem Stein. Der Inhalt der Zehn Worte tritt dabei in den Hintergrund. So lässt sich auch die Tatsache erklären, dass der Dekalog trotz seiner Eigenschaft als Gesetzestext und trotz der religionsgesetzlichen Orientierung der rabbinischen Literatur nicht die Halacha, sondern die Aggada – also den nichtgesetzlichen, narrativen Teil dieser Literatur – geprägt hat. Abgesehen von Raschis Talmudkommentar im Hochmittelalter und die wohl in den meisten Fällen 427 Vgl. auch SCHREINER, Dekalog, 21. 144 auf ihn zurückführbaren modernen Behauptungen, gibt es keinerlei Hinweise, dass die Änderung im Morgengebet die Reaktion auf ein christliches Dekalogverständnis war. Die Identifizierung der Minim in bBer 12a/yBer 1,8 3c mit frühen Christen ist daher als "Gerücht" zu werten, welches sich auch in der wissenschaftlichen Welt mit erstaunlicher Hartnäckigkeit hält, ohne je durch stichhaltige Beweise belegt worden zu sein. Die unterschiedliche Gewichtung des Dekalogs in Judentum und Christentum ist darum nicht als jüdische Reaktion auf christliche Vorstellungen zu werten, sondern vielmehr als Ausdruck zweier unterschiedlicher Traditionslinien, die von verschiedenen Welt-, Geschichts- und Gottesbildern geprägt wurden. Von einer eigenständigen rabbinischen Dekalogtradition zeugen auch die – abgesehen von einem Nachhall in der Morgengebetsfrage – fehlende Polemik gegen eine Sonderstellung des Dekalogs einerseits und die nicht einmal ansatzweise vorhandene Dekalogstruktur beim Aufbau des jüdischen Religiongesetzes andererseits. Aufgrund dieser Ergebnisse verliert der Ausschluss des Zehnworts aus dem jüdischen Morgengebet seine Brisanz und seine Relevanz für die christlich-jüdische Beziehung. Für den Dialog zwischen Judentum und Christentum jedoch sollen die Ergebnisse dieser Arbeit neue Impulse liefern. Als Beispiel sei hier die christliche Reduzierung des Dekalogtextes auf die eigentlichen Imperative genannt. Während die damit einhergehende Verallgemeinerung die weltweite Bekanntheit der Zehn Gebote erst ermöglichte, bewirkte sie zugleich die Auffassung vom Dekalog als repressivem Befehlstext. Das daraus hervorstechende »Du sollst nicht…« assoziiert bei vielen Hörern einen autoritären Gott, der lediglich gebietet und verbietet. Während die weltweite Bekanntheit der Zehn Worte auch aus jüdischer Sicht erfreulich ist, hat die Art ihrer christlichen Verkündigung als Befehl eines autoritären Gottes die Identifizierung des Einzelnen mit den Werten der hebräischen Bibel wohl eher erschwert. Durch das Belassen des ursprünglichen Textes und die Einbettung in die eigene Geschichte drängt sich in den rabbinischen Texten »Ich bin der Ewige, dein Gott…« in den Vordergrund und erinnert so an die Befreiung aus der Sklaverei und die freiwillige Akzeptanz des Gesetzes. Da moralisches und ethisches Handeln nicht erzwungen werden kann, ist die jüdische Betonung der Beziehung zwischen Gott und Mensch, die der Verpflichtung auf Regeln und Gesetze vorausgehen muss, gerade für die christliche Dekalogkatechese von grosser Wichtigkeit und unschätzbarem Wert. 145 2 Ausblick Mit einem kurzen Ausblick ins 20./21. Jh. soll das rabbinische Bild des Zehnworts abgerundet werden. Anhand von drei blitzlichthaften Einblicken in die moderne jüdische Wahrnehmung des Zehnworts wird nach möglichen Spuren und Auswirkungen der rabbinischen Dekalogrezeption gefragt. Die Beispiele sind den Bereichen Symbolik, Liturgie und Religionsphilosophie entnommen. Die Gebotstafeln wurden laut SARFATTI im Judentum weder in der griechischrömischen Periode noch im Mittelalter als Symbol verwendet. Zum ersten Mal erscheinen sie in dieser Funktion auf einem italienischen Toraschrein im 15. Jahrhundert. Das Christentum hingegen benutzte die Gesetzestafeln bereits mehrere hundert Jahre vorher als Symbol für das Judentum.428 Statt die im Talmud erwähnte quadratische oder rechteckige Form übernahm die jüdische Welt die christliche Darstellung in Form eines Diptychons. Wie SARFATTI zeigt, wurde diese Darstellung als zwei aneinander liegende, oben abgerundete Rechtecke im Verlauf der Zeit zu einem nahezu sakrosankten Standard, so dass im 19./20. Jh. manche Leute meinten, diese Darstellung beruhe auf der Halacha.429 Heute sind die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten in Synagogen auf der ganzen Welt zu sehen. Sie schmücken den Toraschrein, dessen Vorhang (parochet), Torarollen und deren Kronen oder Synagogenportale wie in Basel (vgl. Abb. unten). Die gleichzeitige Verwendung des Symbols in Judentum und Christentum zeugt nicht nur von der gegenseitigen Beeinflussung der beiden Religionen, sondern auch von der Haltung des Judentums gegenüber dem Zehnwort: laut EGO wurden die Tafeln, nachdem man nicht mehr gezwungen war, gegen eine Verabsolutierung des Dekalogs anzukämpfen, zu einem der bedeutendsten Symbole des Judentums überhaupt.430 Die Situation des Zehnworts in der jüdischen Liturgie wurde im Verlauf der Arbeit bereits besprochen. Sie hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. BREUER zeigt jedoch anhand der beiden Kantillationssysteme des Dekalogs und ihrer Verwendung im sephardischen bzw. aschkenasischen Ritus, dass die Vorbehalte der Rabbinen gegenüber dem liturgischen Platz des Zehnworts auch in kleinen Details noch 428 So z.B. als Accessoire, das figürliche Darstellungen der Synagoge in der Hand hielten oder als Stoffabzeichen, welches englische Juden im 13. Jh. unter Henri III. auf ihren Kleidern tragen mussten, vgl. SARFATTI, Symbol, 402f. 429 SARFATTI, Symbol, 383-418. 430 EGO, Freiheit, 41 146 mitschwingen. So verwendet der aschkenasische (=west/osteuropäische) Ritus bei der Rezitation des Dekalogs im Rahmen der gewöhnlichen Wochenabschnittlesung die gleiche Kantillation wie bei der übrigen Tora. An Schawuot hingegen, wenn das Zehnwort als Teil der Festliturgie rezitiert wird, kommt das Kantillationssystem zum Zug, welches das Zehnwort von seinem Kontext abhebt.431 In modernen jüdischen Reformgemeinden wiederum ist das Zehnwort fester Bestandteil der Bar/Bat-MizwaFeier geworden, die ausserdem oft an Schawuot als Fest der Offenbarung der Tora gefeiert wird. Überhaupt scheint sich das Reformjudentum in seiner Haltung gegenüber dem Dekalog dem christlichen angenähert zu haben.432 Wie die amerikanische Produktewerbung Einladungskarten, personalisierten rund um Briefmarken die Bar-Mizwa-Feier mit und Süssigkeiten den mit Gesetzestafeln zeigt, wird das Zehnwort in besonderer Weise mit diesem Tag in Verbindung gebracht. Abbildung 3: Dekalog am Basler Synagogenportal 431 432 BREUER, Dividing, 326-330. Vgl. PETUCHOWSKI, Stimme, 14. 147 Ob als Schmuck für den Toraschrein oder als Symbol am Fest der Übernahme der 613 Gebote durch jüdische Jugendliche – die symbolischen und liturgischen Bräuche zeigen das Zehnwort nicht als Zusammenfassung des Gesetzes, sondern als Pars pro Toto für die Tora. In diesem Dekalogverständnis lebt die rabbinische Rezeption bis heute fort. MARTIN BUBER, der grosse jüdische Religionsphilosoph des 20. Jahrhunderts, legt in seinen Äusserungen zum Charakter des Zehnworts als Gesetz besonderes Gewicht auf mögliche Fehlinterpretationen. So bemerkt er in seinem Werk über Moses: "Wir verfehlen das Wesentliche, wenn wir den Dekalog als den »Katechismus der Hebräer in mosaischer Zeit«433 verstehen. Ein Katechismus […] ist […] teils in der dritten Person, als eine Reihe von Aussagen, teils in der ersten, als eine Reihe von Bekenntnissen, abgefasst. Die Seele des Dekalogs aber ist sein »Du«; hier wird weder ausgesagt noch bekannt, sondern geboten, […]. Vermöge seines »Du« bedeutet der Dekalog die Erhaltung der göttlichen Stimme."434 In seiner kurzen Schrift Was soll mit den Zehn Geboten geschehen? Antwort auf eine Rundfrage435 äussert er sich zur "Vermoralisierung und Verjurisierung der Zehn Gebote" durch die Gesellschaft. Auch in dieser Stellungnahme BUBERS spiegelt sich die rabbinische Haltung gegenüber dem Zehnwort wieder, die den Kontext der Sinaioffenbarung, – die persönliche Du-Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Angesprochenen – nicht nur voraussetzt, sondern zur eigentlichen Kern der Offenbarung macht. Aus diesem Kontext folgert BUBER auch die begrenzte Tauglichkeit des Zehnworts als gesellschaftliches Gesetz: das gesprochene Wort "ist mit keiner auf der Ebene der zuverlässigen Kausalität sich auswirkenden Vollstreckungskraft ausgestattet. […] Wer ihn (sc. den Schöpfer) verworfen hat, den trifft kein Blitzschlag". Diese Freiwilligkeit bezeichnet er als "die Situation des »Glaubens«", der "das Wagnis schlechthin" sei. Die Gesellschaft aber, der die Glaubensfrage als Grundlage zu unsicher ist, versuche "mathematisch-übersichtlich zu regeln, was Gott so zu regeln verschmäht hat". BUBER verlangt deshalb, solche Übertragungen aus der Religion (persönliche Imperativ-Rede) in die Moral (unpersönliche Satzung) als Plagiat zu deklarieren, nicht als Zitat des Dekalogs. Um auch noch eine moderne christliche Dekalogrezeption zu Wort kommen zu 433 BUBER bezieht sich hier auf die von Gressmann verwendete Bezeichnung. BUBER, Moses, 190f. 435 BUBER, Werke II, 897-899. 434 148 lassen, sei zum Schluss dieses Ausblicks aus dem Vorwort des Katholischen Erwachsenenkatechismus zitiert, dem die Zehn Gebote als Grundlage dienen: "Die Zehn Gebote, die nach alter Überlieferung im Katechismus entfaltet und auf die heutige Lebenswirklichkeit der Christen übertragen werden sind zunächst Gottes Gabe, bevor sie für uns zur Aufgabe werden."436 Diese Erklärung kann und soll als Hinweis auf ein christliches Dekalogverständnis gewertet werden, das sich dem jüdischen, bzw. dem rabbinischen wieder nähert, indem es im Zehnwort zuallererst eine Gabe erblickt. 436 Katechismus, 5. 149 Quellenregister Mit Ausnahme des Jerusalemer Talmuds (Halacha und Blatt nach Ed. Krotoschin) und des Midraschs Sifre Deuteronomium (nach Übersetzung Bietenhard) richten sich die Kapitel-, Blatt- oder Abschnittsangaben nach der Judaic Classics Library (CD-Rom). Quellenangaben, die mit Asterisk (*) versehen sind, enthalten das Stichwort עשרת הדברותnicht. Der Vollständigkeit halber sind Texte, die das Stichwort zwar enthalten, aufgrund mangelnder Aussagekraft für die Studie jedoch nicht verwendet wurden, am Ende des Registers aufgelistet. Targum CN Ex 20,2f* TPsJ Ex 20,2f.* TPsJ Ex 24,12* 94 94, 120 131 Gottes Reden Gottes Reden Bundestafeln Mischna mTam 5,1 mAv 5,6* mTaan 4,6* mYom 5,2* 45, 70, 71, 72 113 91 115 Liturgie Analogie zur Schöpfung Bundestafeln Bundestafeln Jerusalemer Talmud yBer 1,8 3c ySheq 2,4 46d ySheq 6,1 49c* ySheq 6,1 49d* ySheq 6,1 49d ySheq 6,1 49d* yTaan 4,3 68a yTaan 4,8 68c* yTaan 4,8 68c* yMeg 1,11 71c* yMeg 4,2 75a ySot 8,3 22c* ySot 8,3 22d ySot 8,3 22d* ySot 8,3 22d* 72f., 73, 78, 84, 89, 145 137 115 118, 130, 134 119 91f. 112 124 116, 122 120 112 115, 117 119 130 92 Liturgie Symbolik und Gimatria Bundestafeln Bundestafeln Bundestafeln Feuer Analogie zur Schöpfung Bundestafeln Bundestafeln Bundestafeln Liturgie Bundestafeln Bundestafeln Bundestafeln Feuer Babylonischer Talmud bBer 5a bBer 11b bBer 12a bShab 86b bShab 87a* bShab 88a* bShab 88a* bShab 88b* bShab 88b/89a* bShab 104a* bPes 87b* bYom 4b bRHSh 27a* bRHSh 32a bTaan 28b bMeg 21b bNed 38a* bBK 54b/55a* bBB 14ab* bMak 23b/24a* 133 71 71, 78, 84, 86, 89, 145 90 124 103 113 98 113f. 120 122 90 128 112 90 112 116f., 118 127 118, 134 94, 132 Bundestafeln Liturgie Liturgie Zeitpunkt Bundestafeln Empfangen der Offenbarung Analogie zur Schöpfung Gottes Reden Analogie zur Schöpfung Bundestafeln Bundestafeln Zeitpunkt Bundestafeln Analogie zur Schöpfung Zeitpunkt Analogie zur Schöpfung Bundestafeln Bundestafeln Bundestafeln Gottes Reden 150 bShev 20b* bShev 39a bHor 8a* bTam 32b 128 136 94 72 Bundestafeln Beziehungen der Gebote untereinander Gottes Reden Liturgie Halachische Midraschim MekhY Hashira 8 MekhY Wajassa 1 MekhY Bachodesh 4* MekhY Bachodesh 4* MekhY Bachodesch 4 MekhY Bachodesh 5 MekhY Bachodesh 5* MekhY Bachodesch 7* MekhY Bachodesch 8 MekhY Bachodesch 9 MekhSh (Epstein 153)* MekhSh (Epstein 154)* SifBam Schelach 5 SifDev § 2 SifDev § 34/35 SifDev § 313 SifDev § 343* SifDev § 343* SifDev § 343* 97 98 92 102 97 114 106, 107, 108 128 118, 120, 134 102 128f. 129 135 44, 133 80 133 95, 99 106, 109 93 Gottes Reden Gottes Reden Feuer Empfangen der Offenbarung Gottes Reden Analogie zur Schöpfung Empfangen der Offenbarung Bundestafeln Bundestafeln Empfangen der Offenbarung Bundestafeln Bundestafeln Beziehungen der Gebote untereinander Bundestafeln Liturgie Bundestafeln Gottes Reden Empfangen der Offenbarung Feuer Midrasch Rabba BerR 53,7 BerR 60,6 ShemR 5,9* ShemR 29,9* ShemR 44,4 ShemR 46,1 ShemR 47,6* ShemR 47,6 WaR 23,3 WaR 24,5 BamR 9,12 BamR 9,13 BamR 9,44 BamR 11,7 BamR 13,16 BamR 13,19 BamR 14,11 DevR 3,14* DevR 3,17* ShirR 1,13 (Cant 1,2)* ShirR 2,6 (Cant 2,2) ShirR 2,16 (Cant 2,5)* ShirR 2,17 (Cant 2,5)* ShirR 4,26 (Cant 4,13) ShirR 5,19 (Cant 5,14) EkhaR 1,1 137 137 98 113 121 121, 125 126 119, 120, 127 103f. 35, 74 134f. 137 137 97f. 130, 132, 137 133, 137 137 127 127 94, 100, 132 104 91 90 137 93, 116, 119, 130 137 Symbolik und Gimatria Symbolik und Gimatria Gottes Reden Analogie zur Schöpfung Bundestafeln Bundestafeln Bundestafeln Bundestafeln Empfangen der Offenbarung Liturgie Beziehungen der Gebote untereinander Symbolik und Gimatria Symbolik und Gimatria Gottes Reden Bundestafeln, Symbolik und Gimatria Symbolik und Gimatria Symbolik und Gimatria Bundestafeln Bundestafeln Gottes Reden Empfangen der Offenbarung Feuer Zeitpunkt Symbolik und Gimatria Bundestafeln Symbolik und Gimatria Homilienmidraschim TanB Jitro 15 TanB Jitro 17* TanB Ki Tissa 7 138 100 137 Symbolik und Gimatria Gottes Reden Symbolik und Gimatria 151 TanB Ki Tissa 20 TanB Kedoschim 3* TanB Naso 4 TanB Naso 34 TanB Schofetim 8 TanW Lech Lecha 20 TanW Schemot 4 TanW Jitro 11 TanW Jitro 16 TanW Truma 10 TanW Ki Tissa 10 TanW Ki Tissa 24 TanW Ki Tissa 26* TanW Ki Tissa 31 TanW Ki Tissa 31* TanW Kedoschim 3 TanW Naso 2 TanW Naso 30 TanW Schofetim 9 PesK 2,12 PesR 10,4 PesR 10,10 PesR 11,3 PesR 21,2* PesR 21,3* PesR 21,4* PesR 21,6 PesR 21,12 PesR 21,14 PesR 21,15* PesR 21,16 PesR 21,17 PesR 22,5* PesR 23,9 PesR 40,7 120, 127 74 135 103 104 88 137 98 91 118, 120 137 127 116, 122 90 125 74 135 103 104 137 103 137 105 106, 109f., 120 113 100 137f. 100 134 119 112 137 95 88 105 Bundestafeln Liturgie Beziehungen der Gebote untereinander Empfangen der Offenbarung Empfangen der Offenbarung Liturgie (Beschneidung) Symbolik und Gimatria Gottes Reden Feuer Bundestafeln, Symbolik und Gimatria Symbolik und Gimatria Bundestafeln Bundestafeln Zeitpunkt Bundestafeln Liturgie Beziehungen der Gebote untereinander Empfangen der Offenbarung Empfangen der Offenbarung Symbolik und Gimatria Empfangen der Offenbarung Symbolik und Gimatria Empfangen der Offenbarung Empfangen der Offenb., Bundestafeln Analogie zur Schöpfung Gottes Reden Symbolik und Gimatria Gottes Reden Beziehungen der Gebote untereinander Beziehungen der Gebote untereinander Analogie zur Schöpfung Symbolik und Gimatria Gottes Reden Liturgie (Beschneidung) Empfangen der Offenbarung Andere Auslegungsmidraschim und Haggadawerke AgBer 17 87f. MMish 23,1 122, 127 MShem 31,3 105 MTeh 17,4 105 PRE 52 134 SEZ 22,1 105 SOR 5,4 90 Liturgie (Beschneidung) Bundestafeln Empfangen der Offenbarung Empfangen der Offenbarung Beziehungen der Gebote untereinander Empfangen der Offenbarung Zeitpunkt Sammelwerke und Midrasch genannte Kommentare437 BerRbti (Ed. Albek S. 8, Daf 3) 131f. LeqT Wa'etchanan 9ab 101 Yalq Korach 16 (Levin-Ep. I, S. 502) 87 Bundestafeln Gottes Reden Liturgie Nicht verwendete Quellen: yMeg 3,8 74b, bYom 4a, bYom 53b, MekhY Bachodesch 3, BerR 58,8, BerR 65,18, BerR 70.9, ShemR 29,4, ShemR 29,9, ShemR 30,19, ShemR 42,8, BamR 14,9, ShirR 1,11, ShirR 1,28, ShirR 4,22, EkhaZ 1,31, TanW Re'e 5, PesK S I, 22, PesR 12,5, PesR 20,1, PesR 21,1, PesR 21,2, PesR 21,9, PesR 24,5, MShem 27,6, MMish 11,2, MTeh 5,5, SER 23,3, PRE 44. 437 Die Werke dieser Kategorie gehören nicht zum Umfang der untersuchten Literatur, vgl. Anm. 212. Sie fanden darum nur sporadisch Eingang in vorliegende Untersuchung. 152 Bibliographie Rabbinische Literatur: Textausgaben AgBer = Aggadat Bereshit, ed. S. Buber, Kraukau 1903 (Nachdr. Jerusalem 1970). b = Talmud bavli. Mevoʾar, meturgam u-menuqqad, ed. A. Steinsaltz, Jerusalem 1973-. BerR, ShemR, WaR, BamR, DevR, ShirR, EkhaR = Midrash rabba ha-mevoʾar, hrsg. von Machon ha-midrash ha-mevoʾar, 17 Bde., Jerusalem 1983-1999. BerRbti = Midraš Berešit rabbati. Ex libro R. Mosis Haddaršan, collectus e codice pragensi cum adnotationibus et introductione, ed. C. Albek, Jerusalem 1940 (Nachdr. Jerusalem 1967). CN = Neophyti 1. Targum palestinense. MS de la Biblioteca Vaticana, ed. A. Díez Macho, 6 Bde., Madrid 1968-1979. JCL = The CD-ROM Judaic Classics Library. Deluxe Edition, Chicago 1991-1999: Institute for Computers in Jewish Life & Davka Corporation. LeqT = Midrasch Leqach Tov, ed. S. Buber, 2 Bde., Wilna 1880 (Nachdr. Israel o.J.). m = Mishnayot mevoʾarot, ed. P. 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