1 __________________________________________________________________________ 2 SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff Montag, 06.05.2013 „Same, same, but different! - dasselbe in Grün Bearbeitungen“ (1) Gute alte Bekannte erkennt man doch sofort wieder! Oder? Es sei denn, sie erscheinen auf einmal verändert, in einem neuen Gewand. Genau darum geht’s in dieser Woche. Willkommen dazu! Musik 1 Track 1 Johann Sebastian Bach: Kantate BWV 29 „Wir danken dir, Gott“ 1. Sinfonia Accademia Bizantina Ottavio Dantone, Orgel + Leitung DECCA, 478 2718, LC00171 3:35 Prachtvoll eröffnet Musik von Johann Sebastian Bach diese SWR 2 Musikstundenwoche über musikalische Bearbeitungen. Heute wird es darum gehen, wie und warum Bach viele seiner Werke immer wieder neu eingekleidet hat. Dieses Stück kennen Sie – ganz bestimmt. Aber: Haben Sie es auch wieder erkannt im prunkvollen Ornat des Orchesters mit Pauken und Trompeten? Die Accademia Bizantina mit dem Organisten Ottavio Dantone als Leiter hat hier die Eröffnungs-Sinfonia gespielt aus Johann Sebastian Bachs Kantate Nr. 29 „Wir danken dir, Gott“. Bach hat diese Kantate 1731 komponiert. In Leipzig war ein neuer Stadtrat gewählt worden. Zu dessen Amtseinführung wurde ein Gottesdienst gehalten. Das ist der Anlass für diese Musik. Aber den Kern dieser Musik, die kaskadenhafte Melodie, diesen Kern hatte Bach schon gute zehn Jahre früher geschrieben und zwar für eine ganz andere Besetzung – weitaus bescheidener. Nämlich für Violine solo. 3 In seiner Zeit als Kapellmeister in Köthen hat Bach die Partita E-Dur für Solovioline komponiert. Und dort, im Köthener Schloss, hat knapp 300 Jahre nach der Komposition die Geigerin Midori Seiler dieses Werk aufgenommen. Hier nun das originale Preludio. Musik 2 Track 14 Johann Sebastian Bach: Partita E-Dur für Violine solo BWV 1006 1. Preludio Midori Seiler, Violine 3:38 BERLIN CLASSICS, 0016722 BC, LC06203 Absage Dieselbe Musik – aber grundverschieden in der klanglichen Anmutung! Bachs Partiten und Sonaten für Violine-Solo dürfte kein Gottesdienst– besucher in Leipzig 1731 gekannt haben. Diese Stücke sind zwar in einer wunderbaren Reinschrift von Bachs Hand überliefert. Gedruckt worden sind sie aber nicht, jedenfalls nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bach hat also schlicht einen Weg gefunden, wie er diese von ihm sicherlich besonders wertgeschätzte Musik aus seinen jungen Jahren in Köthen noch einmal wieder beleben konnte. Auch andere Sätze aus Violinsonaten & Partiten hat er bearbeitet – z.B. für Laute oder Cembalo. Aber diese Umarbeitung zum quasi konzertanten Satz ist besonders! Bach war ein Meister des musikalischen Recyclings. Wem das zu abfällig klingt, zu sehr nach Resteverwertung, der kann ja auch den etwas freundlicheren Begriff „upcycling“ verwenden. Dann wäre die Orchestersinfonia auf der Basis des Violinpräludiums sozusagen eine Veredelung. Ganz sicher hat Bach auch versucht, sich seiner vielen Pflichten als Thomaskantor durch „Synergien“ effizient zu entledigen. Warum sollte ein Stück von solcher Güte wie die E-Dur-Partita im Notenschrank vergilben? Hier liegt also der klare Fall vor, dass Bach ein Violinwerk für konzertierende Orgel und Orchester umgeschrieben hat. 4 Und nun beginnt die Spekulation: Sollte Bachs berühmtestes Orgelwerk vielleicht auch genau auf diese Weise entstanden sein? Musik 3 Track 10 00:00 – 1:11 // Johann Sebastian Bach: Toccata d-Moll BWV 565 Ton Koopman, Orgel ARCHIV PRODUKTION, 437 695-2, LC00113 1:11 Der Organist Ton Koopman mit dem Anfang von Bachs Toccata und Fuge d-Moll – so wie man dieses Stück kennt und liebt, gespielt auf der Orgel mit brausendem Effekt. Genau an dieser Stelle nun beginnt aber eine schlichte, zweistimmige Stelle, die wenig organistisch komponiert ist. Sie ist viel mehr typisch für die Geige: Ein a wird beständig wiederholt, wirkt dadurch wie ein Liegeton, eine untere Stimme. Um dieses a herum, das ein Geiger auf der leeren Saite spielen würde, bewegt sich die andere Stimme auf und ab, immer im Wechsel mit dem a: „Bariolage“ nennt man diese Spielweise – wörtlich bedeutet das „Farbmischung“. Musik 4 Track 10 Johann Sebastian Bach: Toccata d-Moll BWV 565 Ton Koopman, Orgel //1:12 – 1:26// 00:14 Und auch das nun folgende Akkordspiel der d-Moll-Toccata ist durchaus von der Geige her denkbar: Musik 5 Track 10 Johann Sebastian Bach: Toccata d-Moll BWV 565 Ton Koopman, Orgel //1:27 – 2:32// 01:05 5 Die geigentypischen Elemente in Bachs d-Moll-Toccata haben manchen Wissenschaftler, mehr noch einige Geiger, auf den Gedanken gebracht, Bachs berühmteste Orgelwerk könne ursprünglich ein Werk für SoloVioline gewesen sein. Damit stünde es in einer Reihe mit der berühmten Chaconne. Der niederländische Geiger Jaap Schröder hat sogar eine entsprechende „Rekonstruktion“ vorgelegt. Schröder zählt zur ersten Garde der Barockgeiger, hat mit Alte-Musik-Pionieren wie Frans Brüggen und Gustav Leonhard gespielt und war lange Jahre Konzertmeister der Academy of Ancient Music. Das verleiht seiner Idee Autorität. Und auch der Geiger und Dirigent Andrew Manze hat diesen Weg verfolgt und seine eigene Solo-Violin-Fassung von Bachs d-Moll-Toccata und Fuge herausgegeben. 1998 hat er sie eingespielt. Hören wir hier vielleicht das Original von Bachs Toccata und Fuge d-Moll? Musik 6 CD I / Track 6 Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 Andrew Manze, Violine HARMONIA MUNDI, HMX 2908096.97, LC07045 7:26 Die Idee ist verführerisch, und das Ergebnis klingt bestechend: Bachs Toccata und Fuge d-Moll auf der Violine – gespielt von Andrew Manze. Aber abgesehen von einigen geigentypischen Momenten in der Musik, gibt es keinen Beweis dafür, dass Bach das Orgelstück „Toccata und Fuge dMoll“ zuerst für Geige geschrieben haben könnte. Das Original ist die Orgelversion, die Violinbearbeitung bleibt eine reizvolle Spekulation. Geigerische Passagen in Tastenwerken gibt es in Bachs Werken häufiger: „Imitatione violinistica“, so nennt man diese musikalische Maskerade. Genau wie eine Geige auch etwa den Tonfall einer Trompete imitieren kann. Das Barockzeitalter liebte Verkleidung – auch musikalisch. 6 Und gerade bei Bach treffen wir das öfter an – auch in seinen Orgelbearbeitungen von Violinkonzerten aus der Feder seines Italienischen Kollegen Antonio Vivaldi. Bach hat diese Bearbeitungen angefertigt, um Vivaldis Concerto-Stil zu studieren, um ihn im wahrsten Wortsinn mit seinen Cembalistenhänden zu begreifen. Hier zuerst Vivaldis Original. Musik 7 CD I / Track 11 Antoni Vivaldi Concerto G-Dur op. 3, Nr. 3 aus: „L’estro armonico“ 1. Allegro Elizabeth Wallfisch, Violine Tafelmusik Baroque Orchestra Jeanne Lamon HARMONIA MUNDI, 88697190442, LC00761 2:07 Absage Der Berner Musikforscher Anselm Gerhard hat die Hypothese aufgestellt, dass Johann Sebastian Bach dieses und andere Vivaldi-Konzerte kennen lernte, als der Neffe seines Weimarer Dienstherrn diese in Amsterdam gedruckten Concerti op. 3 mit nach Hause brachte. Johann Ernst hatte nämlich in Utrecht studiert. Johann Ernst wollte sie natürlich auch hören. Da er aber die Hofkapelle seines Onkels nicht für sich spielen lassen durfte, hat Bach von den Concerti „Klavierauszüge“ angefertigt und für Johann Ernst gespielt – so jedenfalls die charmante These von Anselm Gerhard. Bach hat es aber nicht bei einer notengetreuen Transkription belassen. Er hat Vivaldi ein wenig „getuned“ – wie man heute sagen würde. Er hat den Violinpart mit cembalo-typischen Figuren angereichert. Und er hat den klaren Satz Vivaldis mit einigen kontrapunktischen Noten angefüttert. 7 Musik 8 Track 16 Johann Sebastian Bach (nach Antonio Vivaldi): Concerto F-Dur (nach op. 3, 3) 1. Satz: Allegro Vital Julian Frey, Cembalo DHM, 88697147182, LC00761 2:35 Der junge Schweizer Cembalist Vital Julian Frey mit einem Concerto-Satz von Antonio Vivaldi in der Tasten-Version von Johann Sebastian Bach. Durch die Bearbeitung von Vivaldi hat Bach genau studiert, nach welchen Prinzipien ein italienisches Concerto funktionierte: Das Grundprinzip war Kontrast, Kontrast zwischen Tutti und Solo, Kontrast zwischen den immer wieder kehrenden, eingängig formulierten Motti des Orchesters – den „Ritornellen“ – und den Solopassagen, die immer neue, verspielte Ideen vorstellen. Bach hat seine eigenen Concerti genau nach Vivaldis Muster angelegt. Und einmal hat er das „Concerto im italiänischen gusto“ zum Gattungs-Muster erkoren, indem er es 1735 in seiner „Clavier-Übung“ veröffentlichte. Besser bekannt ist es als „Italienisches Konzert“. Hier spielt Andreas Staier den langsamen Mittelsatz. Musik 9 CD III / Track 9 Puffer – auf Ende Johann Sebastian Bach: Italienisches Konzert F-Dur (Clavierübung II. Teil) 2. Satz: Andante Andreas Staier, Cembalo HARMONIA MUNDI, 05472-77306-2, LC 00761 4:22 Absage Das italienische Konzert ist ein originales Stück für Tasteninstrument. Es ist die kondensierte Idee eines Konzerts für Solo-Instrument und Orchester. Was also läge näher für einen Bearbeiter, daraus nun genau so ein Solokonzert zu machen? 8 Der italienische Cembalist Rinaldo Alessandrini hat genau das getan: Bachs Italienisches Konzert als Violinkonzert. Gerade im langsamen Satz erscheint die Melodie viel gesanglicher, wenn sie auf einer Geige gespielt wird. Solistin ist hier Francesca Vicari. Musik 10 Track 12 Johann Sebastian Bach: „Concerto im italiänischen gusto“ BWV 971 Fassung als Violinkonzert (Rinaldo Alessandrini) 2. Satz: Andante Francesca Vicari, Violine Concerto italiano Rinaldo Alessandrini 4:32 Absage Dieses Bearbeitungs-Verfahren ist legitim. Es setzt eine Praxis fort, die Bach selbst etliche Male vorgeführt hat. So hat Bach etwa viele seiner Solo-Konzerte aus der Zeit als Hofmusiker in Köthen für sein „Collegium musicum“ in Leipzig bearbeitet. Aus Violin- oder Oboenkonzerten hat er Cembalokonzerte gemacht. Aus Doppelkonzerten für zwei SoloInstrumente wurden Concerti für zwei Cembali – und so weiter. Heute sind die meisten von Bachs Konzerten nur in diesen eigenen Bearbeitungen als „Klavier“-Konzerte überliefert. Bach hat außerdem viele Konzertsätze als Arien in seinen Kantaten wieder verwendet. Bearbeitung war also eine gängige Methode in der „Werkstatt“ des Thomaskantors. Und nicht nur bei ihm. Wiederverwertung war Gang und Gäbe in der Zeit des Barock. Erst das 20. Jahrhundert war begierig, die „Ur-Fassung“ das „Original“ zu ermitteln oder wieder herzustellen. Aus Besonderheiten der Melodiebildung, aus Tonarten und auch aus dem Tonumfang der Solostimme eines Klavierkonzerts kann man rückschliessen, welches wohl das ursprüngliche Soloinstrument gewesen sein könnte. Und so sind heute längst Oboe d’amore-Konzerte, Doppelkonzerte für Violine und Oboe und 9 viele mehr ganz selbstverständlich im Repertoire der Solisten – als „Rekonstruktionen“. Der Fagottist Sergio Azzolini hat auf diese Weise ein Fagottkonzert von Bach „rekonstruiert“. Er hat in Bachs Concerti systematisch nach Formulierungen gesucht, deren Idiomatik typisch für das Fagott ist. Dabei ist er sogar auf einen Satz gestoßen, der große Ähnlichkeiten mit einem Fagottkonzert von Bachs Zeitgenossen Johann Friedrich Fasch aufweist. Gute Argumente dafür, dass dieser Satz durchaus als Fagottkonzertsatz von Bach geschrieben sein könnte... Musik 11 Track 5 Johann Sebastian Bach Fagottkonzert 1. Satz (nach BWV 169) Sergio Azzolini, Fagott & Leitung Kammerakademie Potsdam SONY, 88697483972, LC06868 8:05 Absage In einer Zeit, die noch keine Konservierung von Musik auf Tonträgern kannte, die aber auch ebenso wenig erfasst war von dem Bedürfnis nach einer immer neuen, originellen Musik, in einer solchen Zeit war das Bearbeiten eines Satzes eine ideale Möglichkeit, einmal geschriebene Musik erneut zu beleben. Dass Bach dabei nicht wahllos vorging, sondern im Gegenteil sehr planvoll, das soll zum Schluss dieser SWR 2 Musikstunde der Eingangschor aus der Leipziger Ratswahlkantate „Wir danken dir, Gott“ illustrieren. Am Ende hören also Sie keine Bearbeitung, sondern das Original. Diesen archaisch gehaltenen Satz hat Bach beinahe zwanzig Jahre später in seiner h-Moll-Messe noch einmal verwendet, also in seinem größten Chorwerk, dessen Reinschrift er kurz vor seinem Tod abgeschlossen hat. An zwei Stellen, also besonders herausgehoben, erscheint der Chorsatz: Als „Gratias agimus tibi“ und dann noch einmal als „Dona nobis pacem“ zum Schluss der „Großen Messe“. Manchem Bach-Verehrer hat es nicht geschmeckt, dass fast die ganze h-Moll-Messe auf diese Art im 10 „Parodieverfahren“ entstanden ist, dass Bach sie also nicht original und neu komponiert hat. Parodie bedeutet nicht etwa Karikatur oder ein Lustigmachen, wie es der heutige Sprachgebrauch nahelegt. Parodie bedeutet bei Bach (und auch bei anderen vor ihm) eine Umtextierung von Musik. Manchmal wechselt die Musik mit dem neuen Text auch die Sphäre von Weltlichen ins Geistliche oder umgekehrt. Anders bei diesem Chorsatz: Er war schon in der Leipziger Ratswahlkantate ein Dankgebet: „Wir danken dir, Gott“. „Gratius agimus tibi“ in der h-Moll-Messe bedeutet genau dasselbe – nur auf Latein. Was wir aus der h-Moll-Messe gut kennen, das hat Bach aber schon deutlich früher komponiert, das ist also eine Bearbeitung. Bei Bach zeigen solche Bearbeitungen vor allem zweierlei: Bach war ein pragmatischer Komponist. Und er hielt seine Stücke für zeitlos – was sie bis heute sind, bearbeitet wie original. Musik 12 Track 14 Johann Sebastian Bach „Wir danken dir, Gott“ BWV 29 2. Chor: „Wir danken dir, Gott“ Bach-Collegium Japan Ltg.: Massaki Suzuki BIS, 1981, LC 3:11