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Lernen und Erinnern
Die Welt wird das, was wir hier sagen, wenig beachten und sich nicht lang daran erinnern…
Abraham Lincoln
9.1
9.1.1
9.1.2
9.1.3
9.2
9.2.1
9.2.2
9.2.3
9.2.4
etapherninderErforschung
M
desGedächtnisses –255
GrundlegendeKonzepteundDefinitionen
zumGedächtnis –255
DefinitionvonGedächtnis –257
FrüheGedächtnisforschung –258
rei-Komponenten-Modell
D
desGedächtnisses –259
SensorischesGedächtnis –260
Kurzzeit-(oderArbeits-)Gedächtnis –261
Langzeitgedächtnis –265
Kurzzeit-undLangzeitgedächtnis
imVergleich –267
9.3
erschiedeneFormendesLangzeitV
gedächtnisses –268
9.3.1
Explizites(deklaratives)undimplizites
(nichtdeklaratives)Gedächtnis –268
Z
weiFormendesdeklarativen
Gedächtnisses –269
ModelledesdeklarativenLangzeitgedächtnisses –271
9.3.2
9.3.3
9.4
PhysiologiedesGedächtnisses –272
9.4.1
9.4.2
Engramm –272
UntersuchungenamGehirnderRatte
undanPlanaria –273
BildgebendeVerfahren,EKPsundEKFs –274
KonnektionistischeBetrachtungsweise –275
9.4.3
9.4.4
9.5
Vergessen –275
9.5.1
9.5.2
VerletzungendesGehirns –275
TheoriedesSpurenzerfalls
(Fading-Theorie) –275
Verzerrungstheorie
(Distortions-Theorie) –276
Verdrängungstheorie –276
Interferenz-Theorie –277
VersagenbeimAbrufvonHinweis-
reizen –277
9.5.3
9.5.4
9.5.5
9.5.6
9.6
I mplikationenfürdenUnterricht:
Gedächtnis-undErinnerungs-
hilfen –278
9.6.1
9.6.2
9.6.3
9.6.4
Rehearsal(Wiederholung) –278
Elaboration –278
Organisation –278
SystemezurVerbesserung
desErinnerns –279
) )
Die alte Dame sagte, dass wir heute die Felswand hinaufklettern würden, dass meine
H
öhenangstkeineRollespiele,dasssiemirzeigenwürde,wohinichjedenFuß,jedeHand
setzenmüsse,dasssiemichführenwürdewieeineMutterihrKind.Sieüberhörtemeine
Protesteundsagte,dasssiedasneunteKapitelnuraufdemGipfelderKlippe,hochüber
demLand,erzählenwürde.
WirgingeninderMorgendämmerunglos,bevordieSonnedieLufterwärmthatte.Der
KaterlagzusammengerolltanderbesonntenSeitedergrößtenBirkeundbeobachtete
uns,währendwirunslangsamdieglatteFelswandhocharbeiteten.InnerhalbvonMinuten
waren meine Hände nass von Schweiß, meine Muskeln verkrampft vor Angst: Die alte
Damesagte,ichsolleaufpassen,genaudastun,wassietat,ichsollemeineHändeund
6
254
Kapitel9·LernenundErinnern
6
FüßeandieStellensetzen,dieihreHändeundFüßemirzeigten,undaufdasSeilvertrauen,
dasunswieeineNabelschnurverband.Sieerklärte,dassVertraueneinGedankesei,eine
Schlussfolgerung.Siesagte,ichmüssenurdaranglaubenundesseimein.
AberichkonntemeineAngstnichtunterdrücken,undalsichetwaaufHöhederjüngstenBirkeangelangtwar,konnteichnichtweiterkletternunddiealteDameließmichauf
denBodenherabundließdasSeilhinunterfallen,nutzlos,wieeinetoteSchlangezumeinenFüssen.Alsichmichumdrehte,ummichzurErholungandieBirkezulehnen,warder
Katerverschwunden,undalsichwiederzuderaltenDamehinaufsah,wiesiekletterte,
entdeckteichdenKater,derganzobenaufsiewartete,obwohlesgarnichtmöglichwar,
dassersoschnelldorthinaufgelangenkonnte.
DiealteDameklettertegeschmeidig,wieeinhaarloserAffe,machtekaumeinePause,
bissieschließlichobenbeidemKaterstand.ZumeinemErstaunenbedeutetesiemir,dass
ichihreWortenunaufzeichnensolle,unddannbegannsie,dieWortedesneuntenKapitels
sehrlautzurufen,alsoobesihrSpaßmache,dasssiedastunmusste.
IndiesemKapitel…
9
Hierkommtdas,wassieausdiesergroßenHöheherunterrief,währendichimfrühenMorgenzuhörte,zuweitentfernt,umFragenzustellen.
MeinKörperweiß,wiemanklettert,riefsie,underklärte,dassvielesvonihrem
WissenüberdasKletternaufeinerArtvonGedächtnisberuhe,dasmannicht
leichtinWortefassenkönne.DeshalbkannichIhnennichtsagen,wiemanklettertoderwiemanFahrradfährt.Sieerklärte,dassdasGedächtnisfürsolche
Handlungenimplizit sei,eskönnenichteinfachexplizitgemachtwerden.Sie
sagte,dasssieimGegensatzdazuganzeinfacherklärenkönne,wiemandie
QuadratwurzeleinervierstelligenZahlziehe.
DiesesKapitelbefasstsichmitdemmenschlichenGedächtnis,sagtesie.Es
betrachtetdieUnterschiedezwischenimplizitenundexplizitenErinnerungen.Es
erkundetdieerstaunlicheLeistungsfähigkeitdesmenschlichenGedächtnisses,es
zeigtaberauchseineMängelundGrenzenauf.WieJohnsonerklärte:»Wennwir
imZeugenstandstehen,könnenwirvorGottschwören,dieWahrheitzusagen,
dieganzeWahrheitundnichtsalsdieWahrheit.AberdasÄußerste,waswirwirklichtunkönnen,istdasauszulesen,wasvonunserenErinnerungenübrigist,die
unvermeidlichdurchdieZeitverändertwurden«(1992,S.233).
Lernziele
SagenSieIhrenLesern,sprachdiealteDame,dasssieverstehenwerden,wasall
diesbedeutet,wennsiediesesKapitelgelesenunddieInhaltegelernthaben–
vorausgesetzt,sieerinnernsichdaran.UndwennihrGedächtnisihnenguteDienste
leistet,werdensieinderLagesein,diefolgendenThemenselbstwiederzugeben:
4 Sensorisches,Kurzzeit-undLangzeitgedächtnis
4 ZweiArtenvonLangzeitgedächtnis
4 EreigniskorrelierteAktivitätimGehirn
4 TheorienzumVergessen.
AußerdemwerdensieeinenneuenTrickgelernthaben,wiemanalteLeutebeeindruckenkann.
9.1·MetapherninderErforschungdesGedächtnisses
9.1
Metaphern in der Erforschung
des Gedächtnisses
Wie ich schon mehrfach angemerkt habe, rief die alte
Dame von ihrem hohen Aussichtpunkt herunter, ist
Kognitionspsychologie eine Psychologie der Meta­
phern. Sie bemüht sich, die enorme Komplexität
menschlicher Kognition nicht so sehr zu verstehen,
indem sie ihre genauen Mechanismen erforscht und
ihre Strukturen und Funktionen darstellt, sondern
vielmehr indem sie die beeindruckendsten und nütz­
lichsten Metaphern benutzt, um sie zu beschreiben.
Am Ende wird der Wert einer Metapher aber weit­
gehend danach beurteilt, wie gut sie die Fakten wie­
dergibt. Daher basiert die Suche nach einer Metapher
auf Forschungsresultaten. Wenn die Psychologie ih­
ren Fakten nicht trauen kann, wie dann ihren Meta­
phern?
Man kann getrost wiederholen, dass Metaphern
für kognitive Themen wie das Gedächtnis keine be­
wegenden literarischen Redewendungen sind. Sie
sind nichts als Modelle – oft einfache Modelle. Sie
sagen nicht: »Aufmerksamkeit ist eine Jungfrau mit
Blumen in der Nase« oder »Gedächtnis ist ein alter
Elefant« oder »Motivation ist ein Engel mit grünem
Haar«. Die Metaphern der Kognitionspsychologie
sind stattdessen prosaische Metaphern. Sie sagen le­
diglich, dass Menschen sich verhalten, »als ob«, und
sie beschreiben dieses »als ob«. Das, erklären Oswick,
Keenoy und Grant (2002), sind die bequemen Ähn­
lichkeits­Metaphern. Sie elaborieren und erklären,
indem sie auf Ähnlichkeiten verweisen.
Über die Jahre hinweg wurde eine große Anzahl
verschiedener Metaphern zur Beschreibung des Ge­
dächtnisses benutzt – vielleicht ein Beleg dafür, was
für ein schwieriges Konzept es ist und wie unsicher
Psychologen sich ihrer Modelle waren. Der Index
von Draaismas Metaphors of Memory (2000) listet
bspw. etwa 43 verschiedene Metaphern für das Ge­
dächtnis auf. Verschiedene Denker haben uns ver­
sichert, das Gedächtnis sei wie eine Abtei mit vie­
len Räumen. Oder vielleicht gleicht es eher einem
Buch mit vielen Seiten, einem Inhaltsverzeichnis
und einem Index. Vielleicht ist es aber auch wie eine
Bibliothek, ein Spiegel, ein Webstuhl, ein Palast, eine
Kamera, eine Geldbörse, eine Schatztruhe, ein Ge­
wölbe, ein Weinkeller… und so weiter und so fort
(S. 240). In jüngerer Zeit hat natürlich die Compu­
255
9
ter­Metapher zunehmend an Popularität gewonnen.
Schließlich verfügen Computer über Speicher­ und
Abrufsysteme, zwei grundlegende Merkmale von Ge­
dächtnis. Aber wie wir in diesem Kapitel sehen wer­
den, wird die Computermetapher, ebenso wie all
unsere gebräuchlichen Metaphern, dem Reichtum
und der Komplexität des menschlichen Gedächtnis­
ses nicht wirklich gerecht.
9.1.1 Grundlegende Konzepte und
Definitionen zum Gedächtnis
Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernen sind un­
trennbar miteinander verbunden. Lernen ist eine
Veränderung des Verhaltens als Resultat von Erfah­
rung, Gedächtnis ist die Auswirkung von Erfahrung,
und beide werden durch Aufmerksamkeit verein­
facht. Anders ausgedrückt: Es gibt keinen Beleg für
Lernen, wenn nicht etwas im Gedächtnis geschehen
ist; ebenso impliziert etwas, das im Gedächtnis ge­
schieht, Lernen. Die Untersuchung des Gedächt­
nisses ist eigentlich eine andere Art, das Lernen zu
untersuchen.
Dennoch gibt es unter Psychologen keine ein­
hellige Meinung darüber, was Gedächtnis ist und
wie man es erforschen sollte. In der Geschichte der
Psychologie haben sich die Metaphern und Modelle
für das Gedächtnis oft verändert, und sie verändern
sich weiter – ebenso wie die Methoden, mit denen
das Gedächtnis untersucht wird.
FrüheUntersuchungenzuMenschen
mitaußergewöhnlichemGedächtnis
Wie Draaisma (2000) berichtet, war Leonard Euler
nicht nur ein Wunderkind, sondern auch ein Ma­
thematikgenie. Er hatte anscheinend die gesamte
Ilias auswendig gelernt und konnte sie bis zum Tage
seines Todes fehlerfrei rezitieren. Man sagt, dass er
eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, die ersten
sechs Potenzen für die Zahlen 0 bis 99 ausrechnete
und eine mentale Tabelle von mehr als 600 Zahlen
generierte, die er noch Wochen später gezielt abru­
fen konnte. Er schien sich an alles erinnern zu kön­
nen, was er je gehört oder gelesen hatte, sodass die
Blindheit, an der er in seinen letzten 15 Lebensjah­
ren litt, seine Arbeit kaum beeinträchtigte. In der
Mitte seines Arbeitszimmers stand ein großer, mit
256
9
Kapitel9·LernenundErinnern
. Abb. 9.1. DervonLuriabeschriebeneS.prägtesichdiese
Tabelleinnerhalbvon3Minutenvollständigeinundkonnte
danachausdemGedächtnisjedebeliebigeAnordnungvon
Zahlenabrufen,einschließlichder12vierstelligenZahlenin
denReihen,allevierstelligenDiagonaleninderMatrixoder
dieviervertikalenSpalten.Außerdemkonnteerdiegesamte
Matrixineineeinzige50stelligeZahlumwandelnunddiese
vortragen,fürdiesesKunststückbenötigteer1½min.Aus
»TheMindofaMnemonist:ALittleBookAboutaVastMemory«,
vonA.R.Luria,S.17.Copyright©1968byBasicBooks.NachdruckmitGenehmigungdesAutors
einer Tafel bedeckter Tisch, um den er herumwan­
derte und auf den er Formeln und Ideen aufzeich­
nete, die dann von seinen Schülern, zu denen auch
seine Söhne und Enkel gehörten, organisiert, nie­
dergeschrieben und ihm vorgelesen wurden. Das
Ergebnis war, dass er während der 15 Jahre seiner
Blindheit 335 wissenschaftliche Artikel veröffent­
lichte, meist in Mathematik und angewandter Na­
turwissenschaft.
Allerdings sind nicht alle Menschen mit außer­
gewöhnlichem Gedächtnis so gut angepasst und
so produktiv. Manche ungewöhnlichen Gedächtnis­
leistungen können trivial und nutzlos sein. Es gibt
bspw. sogenannte Idiot Savants – geistig retardierte
Menschen, die aber ein bemerkenswertes und sehr
spezifisches Talent besitzen, wie ein Mann, der sich
beim Vorbeifahren eines Güterzuges alle Serien­
nummern der Wagen merken konnte.
Dann ist da noch der gut dokumentierte Fall
eines Mannes, der von Luria (1968) beschrieben
wurde und der uns nur als S. bekannt ist. S. war ei­
gentlich ein normaler Mann, der als Musiker oder als
Journalist nicht sonderlich erfolgreich gewesen war,
der aber ein erstaunliches Gedächtnis besaß. Bei ei­
ner Gelegenheit präsentierte Luria S. die in .Abb.9.1
gezeigte Matrix mit 50 Zahlen. Nachdem er die Ta­
belle 3 Minuten lang angesehen hatte, reproduzierte
S. alle Zahlen fehlerfrei innerhalb von 40 Sekunden.
Auf Aufforderung rezitierte er jede der vierstelligen
Zahlen in den 12 Zeilen und die zweistellige Zahl in
der letzten Zeile – abermals ohne Fehler und in­
nerhalb von 50 Sekunden. Eine absolut bemerkens­
werte Eigenschaft seines Gedächtnisses war weniger,
dass er sich diese Tabellen so schnell einprägen
konnte, sondern dass er sie zu jedem beliebigen
späteren Zeitpunkt fehlerlos abrufen konnte. Sogar
Wortlisten, die er 16 Jahre zuvor gelernt hatte, konn­
te er fehlerfrei wiedergeben, ohne dass er zwischen­
zeitlich auch nur einmal aufgefordert worden war,
sich daran zu erinnern.
Wenn er nach mehreren Monaten oder Jahren
aufgefordert wurde, sich an etwas zu erinnern, war
der einzige Unterschied, dass er einige Minuten be­
nötigte, um die Erinnerung »wiederzubeleben«. Er
saß dann normalerweise mit geschlossenen Augen
da, berichtet Luria, und kommentierte vielleicht so:
»Jaja…. das war eine Serie, die Sie mir einmal gezeigt
haben, als wir in Ihrem Apartment waren… Sie sa­
ßen am Tisch und ich im Schaukelstuhl… Sie trugen
einen grauen Anzug und sahen mich etwa so an…
Nun, ich sehe, dass sie sagten…« (1968, S. 12).
Das Gedächtnis der meisten Menschen ist nicht
so phänomenal, wie die aus den ersten Experimen­
ten zum Gedächtnisabruf stammenden »Gedächt­
niskurven« eindrucksvoll illustrieren (die meisten
dieser Experimente wurden vom Pionier der Ge­
dächtnisforschung, Ebbinghaus (1885/1964), durch­
geführt). In .Abb.9.2 ist eine idealisierte Zusam­
menfassung dieser Kurven dargestellt. Das Auffal­
lendste an diesen Kurven ist: Menschen neigen dazu,
das Meiste, was sie lernen, unmittelbar nach dem
Lernen wieder zu vergessen. In den ursprünglichen
Experimenten von Ebbinghaus wurden Probanden
gebeten, eine Liste sinnloser Silben zu lernen – be­
deutungslose Kombinationen von Buchstaben wie
kiv, gur oder lev. Obwohl diese Probanden sofort
nach dem Lernen alle Silben erfolgreich abrufen
konnten, hatten sie innerhalb von 20 Minuten nor­
257
9.1·MetapherninderErforschungdesGedächtnisses
Abruf
hoch
niedrig
kurz
lang
Zeit
. Abb. 9.2. EineidealisierteGedächtniskurve,nachEbbinghaus(1885/1964)
malerweise mehr als 40% vergessen, innerhalb einer
Stunde mehr als die Hälfte. Gleichzeitig standen je­
doch die 20 oder 30% sinnloser Silben, an die sich
die Probanden einen halben Tag erinnert hatten,
auch nach einem Monat noch zum Abruf verfügbar.
Daher gilt: Obwohl das Meiste, was Menschen ler­
nen (zumindest insoweit es bedeutungslose Dinge
betrifft) sehr schnell vergessen wird, wird einiges an
Information doch über lange Zeiträume behalten.
Diese Eigenschaften des menschlichen Gedächtnis­
ses werden von den meisten aktuellen Theorien zu
Lernen und Vergessen wiedergespiegelt.
9.1.2 Definition von Gedächtnis
9
mentierte). Früheres Lernen, an das man sich nicht
bewusst erinnern kann, kann dennoch späteres Ver­
halten beeinflussen – z. B. wenn jemand eine lange
nicht gebrauchte und scheinbar vergessene Sprache
neu lernt. Ebenso wissen Amnestiker alle möglichen
Dinge, können sich aber nicht daran erinnern, sie
gelernt zu haben.
Goldblum (2001) unterscheidet zwei verschie­
dene Gedächtnisarten. Einerseits ist da das allge­
meine Wissen: Dinge die man relativ dauerhaft
weiß, wie den eigenen Namen, die Telefonnummer,
die Namen der Planeten, ein Gedicht, das man in
der Schule gelernt hat, wo man den letzten Urlaub
verbracht hat. Andererseits gibt es eine Vielzahl
von temporären Dingen, die man weiß – was man
z. B. heute zum Frühstück gegessen hat, wohin
man zum Essen gehen will, was man tun will, nach­
dem man dieses Kapitel zu Ende gelesen hat. Wie
Goldblum schreibt, eignen sich konnektionistische
Modelle, die auf der Annahme basieren, dass die
Wiederholung von Erfahrungen zu Veränderungen
in der Wahrscheinlichkeit führen, mit der Neuro­
ne sich gegenseitig aktivieren, zur Erklärung von
dauerhaften Erinnerungen. Aber diese Modelle ma­
chen keine Aussagen zu temporären Erinnerungen.
Wie wir in Kürze sehen werden, berücksichtigen
aktuelle Gedächtnismodelle verschiedene Arten von
Gedächtnis wie auch verschiedene Arten, Erin­
nerungen zu speichern sowie verschiedene Spei­
cherorte.
ErinnernundWissen
In der Alltagssprache bezieht sich der Begriff Ge­
dächtnis auf die Verfügbarkeit von Information und
impliziert, dass man imstande ist, vorher erworbene
Fertigkeiten oder Informationen abzurufen. Es setzt
ganz klar Lernen voraus; das heißt Gedächtnis erfor­
dert Veränderung. Die Computermetapher besagt,
dass Erinnern bedeutet, einen Abruf aus dem Spei­
cher vornehmen zu können.
Laut Hintzman (1990) ist es nicht überraschend,
dass das intuitive Verständnis von Gedächtnis for­
dert, eine Erinnerung, die das Verhalten beeinflus­
sen soll, müsse abrufbar sein.
Dies ist aber nicht richtig. Es gibt zahlreiche Bei­
spiele für ein Phänomen, das manchmal als implizites Gedächtnis (oder unbewusstes Gedächtnis)
bezeichnet wird (wie auch Freud überzeugend argu­
Erinnern, sagt Tulving (1989), ist nicht dasselbe wie
Wissen. Er erklärt, dass Bäume mit ihren Jahresrin­
gen genau wie Musikaufnahmen und Karteien ein
Gedächtnis besitzen, in gewissem Sinne etwas wis­
sen. Aber sie erinnern sich an nichts.
Um diese Konzepte zu erklären, schlägt Tulving
(2002) vor, dass Psychologen zwei unterschiedliche
Aspekte des Gedächtnisses beachten sollen: Speiche­
rung und Abruf. Bäume und Karteien verfügen über
einen Speicher für bestimmte Dinge; Menschen ver­
fügen über Speicher und Abruf. Um etwas abrufen
zu können, muss Speichern vorausgegangen sein,
weil Dinge, die nicht gelernt wurden, nicht abgeru­
fen werden können. Dennoch kann nicht alles, was
gespeichert wurde, auch abgerufen werden. Und es
gibt inzwischen Belege dafür, dass an Speicherung
258
Kapitel9·LernenundErinnern
und Abruf unterschiedliche Teile des Gehirns betei­
ligt sind (D’Esposito & Postle, 2002).
Aktuelle Gedächtnismetaphern benennen drei
verschiedene Arten der Speicherung: sensorische
Speicherung, Kurzzeit­ und Langzeit­Speicherung.
Sie benennen auch mindestens zwei verschiedene
Arten des Abrufs aus dem Speicher: episodisch und
semantisch. Später in diesem Kapitel werden diese
Begriffe erklärt und illustriert.
Vergessen
9
Wenn die Medaille des Lernens zwei Seiten hat, ist
Gedächtnis die eine, Vergessen die andere. Wie Ge­
dächtnis bezieht sich auch Vergessen sowohl auf
Speicherung als auch auf Abruf. Daher kann Verges­
sen, das einen Gedächtnisverlust impliziert, entwe­
der auf eine Unfähigkeit des Abrufs zurückzuführen
sein oder auf eine tatsächliche Veränderung oder
den Verlust physiologischer Effekte von Erfahrung.
Möglicherweise ist auch beides daran beteiligt.
9.1.3 Frühe Gedächtnisforschung
Man kann sagen, dass ein Mensch sich erinnert,
wenn Verhalten oder Reaktionen vorausgegangenes
Lernen reflektieren, unabhängig davon, ob dieser
Mensch sich bewusst an das Lernen selbst erinnern
kann. Wenn Ralph Schlangen aus dem Wege geht,
weil er mit drei Jahren ein furchteinflössendes Erleb­
nis mit einer Schlange hatte, ist es korrekt zu sagen,
dass diese frühe Erfahrung sein Verhalten verändert
hat – das bedeutet, er hat etwas über Schlangen ge­
lernt und erinnert sich daran. Dass er sich nicht
mehr bewusst an dieses Erlebnis erinnern kann, wi­
derspricht dieser Tatsache nicht. Die meisten frühen
Untersuchungen zum Gedächtnis befassten sich je­
doch mit bewusstem Abruf. Am häufigsten betrach­
teten sie die Fähigkeit oder Unfähigkeit von Men­
schen, Information wiederzugeben, die ihnen zuvor
präsentiert wurde.
Derartige Untersuchungen können zu unklaren
Resultaten führen, wenn die Probanden in der Ver­
gangenheit bereits ähnliche Dinge gelernt haben.
Dieses Problem kann man umgehen, indem man
Material verwendet, das für alle Probanden vollstän­
dig neu ist. Ebbinghaus (1885/1964) löste das Pro­
blem, indem er mehr als 600 sinnlose Silben erfand.
Eine Reihe von Jahren lang saß er regelmäßig an sei­
nem Schreibtisch und prägte sich Listen dieser sinn­
losen Silben ein, um danach seinen Abruf zu testen.
Die in einem Schaubild dargestellten Resultate die­
ser Experimente, mit Ebbinghaus als dem einzigen
Probanden, lieferten die ersten Gedächtniskurven.
Wie bereits angemerkt (und in .Abb.9.2 darge­
stellt), zeigen diese Kurven, dass der größte Teil des
vergessenen Materials sehr schnell verloren geht.
Gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass etwas, was
für einen längeren Zeitraum (z. B. 10 Tage) behalten
wird, auch nach deutlich längerer Zeit nicht verges­
sen wird (z. B. 40 Tage).
Die darauf folgende frühe Gedächtnisforschung
benutzte diese sinnlosen Silben weiterhin sehr häu­
fig in den verschiedensten experimentellen Situa­
tionen. Manchmal wurden diese Silben mit anderen
Silben zu Paaren zusammengestellt – oder bedeu­
tungsvolle Wörter wurden mit anderen Wörtern zu
Paaren kombiniert – und die Probanden mussten
lernen, was zusammengehörte. Dies wird als Paarassoziations-Lernen bezeichnet. In anderen Studien
wurden Probanden aufgefordert, Sequenzen von Sti­
muli zu lernen (dies wird als serielles Lernen be­
zeichnet).
In zahlreichen Studien lernten die Probanden
zwei verschiedene Gruppen von Material und muss­
ten dann die eine oder andere abrufen, wobei man
überprüfte, ob beim Abruf Interferenzen auftraten.
Dies traf häufig zu. Wenn früher Gelerntes mit dem
Abruf von später Gelerntem interferiert, spricht man
von proaktiver Interferenz (wobei sich proaktiv auf
eine Vorwärtsbewegung in der Zeit bezieht).
Wenn später Gelerntes den Abruf von früher
Gelerntem reduziert, spricht man von retroaktiver
Interferenz (.Tab.9.1 und 9.2). Wenn man eine
Sprache wie Französisch halbwegs lernt und später
versucht, eine verwandte Sprache, wie Spanisch, zu
lernen, stellt man wahrscheinlich fest, dass man sich
an französische Wörter erinnert, wenn man nach
den neu gelernten spanischen Wörtern sucht. Dies
ist ein Beispiel für proaktive Interferenz. Wenn man
Spanisch später beherrscht, fällt es einem möglicher­
weise schwer, sich an einige der französischen Wör­
ter zu erinnern, die man zuvor kannte. Das ist ein
Beispiel für retroaktiveInterferenz.
259
9.2·Drei-Komponenten-ModelldesGedächtnisses
9
. Tab. 9.1. TestvonretroaktiverInterferenz
ZeitlicherAblauf
Experimentalgruppe(A)
Kontrollgruppe(B)
1. LerneX
1. LerneX
2. LerneY
2. tueetwasvölliganderes
3. AbrufvonX
3. AbrufvonX
Anmerkung:NiedrigereWerteinGruppeAverglichenmitGruppeBverweisenaufdasAusmaß,indemdasLernenvonY
denAbrufvonXstört.
. Tab. 9.2. TestvonproaktiverInterferenz
ZeitlicherAblauf
Experimentalgruppe(A)
Kontrollgruppe(B)
1. LerneX
1. tueetwasvölliganderes
2. LerneY
2. LerneY
3. AbrufvonY
3. AbrufvonY
Anmerkung:NiedrigereWerteinGruppeAverglichenmitGruppeBverweisenaufdasAusmaß,indemXmitYinterferiert.
9.2
Drei-Komponenten-Modell
des Gedächtnisses
Einen wichtigen Beitrag der frühen Gedächtnisfor­
schung, neben den vielen Einzelbefunden, stellen
verschiedene, eng miteinander verwandte Modelle
zum Erinnern beim Menschen dar. Das bekannteste
stammt von Atkinson & Shiffrin (1968) und wird
manchmal als modalesModell (Baddeley, 1997) be­
Sensorisches Gedächtnis
Sensorischer
Input
Eindruck oder
Empfindung
zeichnet. Es trifft eine wichtige Unterscheidung zwi­
schen Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis
und einer dritten Komponente, die als sensorisches
Gedächtnis (oder sensorisches Register) bezeichnet
wird. Das modale Modell ist in .Abb.9.3. zusam­
mengefasst.
Man muss dabei bedenken, dass dieses Modell,
wie die meisten psychologischen Modelle, eine Me­
tapher ist. Als solche sagt es wahrscheinlich ebenso­
Kurzzeitgedächtnis
Aufmerksamkeit
Vergessen
.Abb. 9.3. DiedreiKomponentendesGedächtnissesim
ModellvonAtkinsonundShiffrin.DiesensorischeInformationgelangtzunächstinssensorischeGedächtnis.Vondort
auskannsieinsKurzzeitgedächtnis(auchalsArbeitsgedächtnisbezeichnet)gelangen,wosiesolangebspw.alsName,
WortoderBildverfügbarist,wiesiewiederholt(beachtet)
wird.AnteiledesMaterialsimKurzzeitgedächtniskönnen
Worte, Namen,
werden durch
Wiederholung
aufrecht erhalten
Arbeitsgedächtnis
Langzeitgedächtnis
Enkodierung
Konzepte
Abruf
Vergessen
danninFormvonKonzepten(Ideen)fürLangzeitspeicherung
kodiertwerden,woes,fallsnotwendig,füreinenAbrufins
KurzzeitgedächtniszurVerfügungsteht.Wichtigist,dass
diesedreiGedächtniskomponentennichtdreiunterschiedlicheOrteimGehirnoderanderenTeilendesNervensystems
beschreiben,sonderndieArtundWeise,wiewirGedächtnis
untersuchen
260
Kapitel9·LernenundErinnern
DasCocktailpartyPhänomen
9
viel über die Art und Weise, wie Psychologen das
Gedächtnis erforschen und darüber sprechen, wie
über das Gedächtnis selbst. Kurz gesagt, gibt es keine
bestimmte »Box« oder andere Struktur im mensch­
lichen Gehirn, die dem Kurzzeitgedächtnis, und kei­
ne andere, die dem Langzeitgedächtnis entspricht.
Es handelt sich nicht um physische Strukturen, son­
dern um Abstraktionen.1
9.2.1 Sensorisches Gedächtnis
Sensorisches Gedächtnis ist ein Begriff für die unmit­
telbaren, unbewussten Wirkungen von Stimuli. Es
lässt sich in den Cocktailparty-Experimenten illus­
trieren, die ihren Namen aus der Untersuchung von
Situationen bekommen haben, welche gesellschaft­
lichen Anlässen ähneln, in deren Gedränge viele Ge­
1
SehenSie,wasichmitMetaphernmeine,riefdiealteDame
vomFelshangherunter,wobeisieihreArmeweitausbreitete,alswollesieeinePredigtbeginnen–oderalswollesiein
die Luft springen und zu mir herabgleiten oder -tauchen.
Abernichtsdavonhattesievor.SehenSie,fragtesierhetorisch, dass dieses Gedächtnismodell ein weiteres Beispiel
dafürist,wieselektivMenschenvorgehen,wennsiezuerklärenversuchen,wasinder»BlackBox«istundwiesievon
dergeradeaktuellenMetaphergeleitetwerden?ImFalldes
spräche gleichzeitig stattfinden. Das Cocktailparty­
Phänomen beschreibt die Fähigkeit von Individuen,
ihre eigenen Gespräche fortzuführen, während sie
die anderen simultan ablaufenden Gespräche schein­
bar nicht zur Kenntnis nehmen. Wenn aber jemand
anderes im Raum ein interessantes Thema anspricht,
kann ihre Aufmerksamkeit sofort umschalten.
Dieses Phänomen zeigt, dass auch sensorische
Eindrücke, denen das Individuum keine Aufmerk­
samkeit schenkt, offenbar zumindest eine kurzzei­
tige Wirkung haben.
Cherry (1953) war einer der ersten, der dieses
Cocktailparty­Problem erforschte. In einer Studie
setzte er seinen Probanden Kopfhörer auf und gab
ihren beiden Ohren unterschiedliche Nachrichten
zu hören. Unter diesen Umständen schienen die
Probanden fähig zu sein, absichtlich auf den einen
oder den anderen Kanal zu achten.
Gedächtnisses waren die Erklärungen lange Zeit durch eine
Metapher geformt, die den menschlichen Geist als eine Art
vonKarteisystemansah,dasInformationeninlogischgeordneteKarteiensortierte–vondenenvielespäterverlorengingen. Eine andere Metapher sah den menschlichen Geist als
eineArtFilmkamera,diekontinuierlichallesaufzeichnet,was
sie erlebt. Eine aktuelle Metapher stellt das menschliche GedächtnisalseinInformationsverarbeitungssystemdar,dessen
SpeicherdurchdieArtderVerarbeitungbestimmtwird.
9.2·Drei-Komponenten-ModelldesGedächtnisses
In einer Abwandlung dieser Untersuchung ließ
Broadbent (1952) seine Probanden alles wiederholen,
was sie auf dem einen Ohr hörten, während sie es hör­
ten – ein als »Shadowing« (Beschatten) bezeichneter
Prozess. Mit diesem Ansatz entdeckte Broadbent, dass
die Probanden sich nicht daran erinnern können, was
sie auf dem anderen Ohr gehört haben. Als die Spra­
che, in der die Informationen auf das nichtbeachtete
Ohr gegeben wurden, von Englisch auf Deutsch um­
gestellt wurde, bemerkten die Probanden dies nicht
einmal. Moray (1959) stellte fest, dass Probanden sich
sogar bei 35maliger Wiederholung eines Wortes nicht
erinnern konnten, es gehört zu haben. Wenn aber der
Name des Probanden nur ein einziges Mal genannt
wurde, reichte dies oft aus, um eine Verlagerung der
Aufmerksamkeit zu bewirken. Wood und Cowan
(1995a, 1995b) replizierten diese Befunde später. Sie
stellten weiter fest, dass Probanden, die ihren Namen
auf dem nicht beachteten Kanal hörten, diesen Kanal
einige Zeit danach weiter zu überwachen schienen.
Moray fand auch heraus, dass wenn der Versuchsleiter
das Band stoppte, Probanden abrufen konnten, was
sie unmittelbar zuvor auf dem nichtbeachteten Ohr
gehört hatten (obwohl die Wahrscheinlichkeit eines
korrekten Abrufs mit längeren Zeitabständen stark
abfiel). Offenbar haben sensorische Ereignisse kurz­
zeitige Wirkungen, auch wenn man ihnen keine Auf­
merksamkeit schenkt. Diese Wirkungen definieren
das, was wir sensorisches Gedächtnis nennen.
Sensorisches Gedächtnis zeigt sich auch in den
Untersuchungen von Sperling (1963), in denen er
mit einem Tachistoskop (einem Instrument, mit
dem Stimuli blitzartig für Bruchteile einer Sekunde
dargeboten werden können), auf einem Bildschirm
drei Reihen von jeweils vier Buchstaben darbot. Un­
mittelbar nach der Darbietung hörten die Proban­
den einen von drei Tönen, der ihnen signalisierte,
welche der drei Reihen sie abrufen sollten. Unter
diesen Randbedingungen konnten sich die meisten
Probanden fast immer an alle vier Buchstaben der
betreffenden Reihe erinnern (die Genauigkeit des
Abrufs lag bei über 90%). Wenn die Probanden aber
aufgefordert wurden, sich an alle 12 Buchstaben zu
erinnern, so schafften sie es im Durchschnitt nur auf
4,5. Je länger der zeitliche Abstand zwischen Dar­
bietung der Buchstaben und der Frage danach war,
desto weniger konnten sich die Probanden erinnern.
Dieses Experiment illustriert sehr deutlich, dass eine
261
9
begrenzte Anzahl von Stimuli für eine sehr kurze
Zeit nach der Präsentation abrufbar bleibt, auch
wenn sie nicht beachtet werden. Diese Art des sen­
sorischen Gedächtnisses gleicht gewissermaßen ei­
nem Echo – so sehr, dass Neisser (1976) es als echo­
isches (für auditorische Stimuli) oder ikonisches (für
visuelle Stimuli) Gedächtnis bezeichnete.
9.2.2 Kurzzeit- (oder Arbeits-)Gedächtnis
Eine andere Annäherung an das sensorische Ge­
dächtnis ist der Hinweis darauf, dass es der bewuss­
ten Aufmerksamkeit vorausgeht, mit anderen Wor­
ten: Es ist etwas, das ohne Bewusstsein des Betref­
fenden auftritt. Wenn der Betreffende auf einen
Stimulus achtet (sich dessen bewusst wird), gelangt
dieser Stimulus in das Kurzzeitgedächtnis (KZG).
Sensorisches Gedächtnis ist ein Phänomen, das
nur Millisekunden dauert, Kurzzeitgedächtnis ist
dagegen ein Phänomen, das Sekunden dauert – nicht
Stunden, nicht einmal Minuten.
Insbesondere bezieht sich Kurzzeitgedächtnis
auf Bewusstsein und Abrufmöglichkeit für Informa­
tionen, die nicht mehr verfügbar sein werden, sobald
der Betreffende aufhört, sie zu wiederholen.
Goldblum (2001) nennt Kurzzeitgedächtnis temporäresGedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis ermög­
licht es Sekretärin Olga, eine Nummer in einem Te­
lefonbuch zu finden und sie zu wählen, ohne nach
dem Wählen der ersten Zahl die zweite, nach dem
Wählen der zweiten Zahl die dritte usw. nachschauen
zu müssen. Dass sie die Telefonnummer vergisst,
nachdem sie sie gewählt hat und sie daher erneut
nachschauen muss, wenn sie noch einmal wählen
muss, sind ebenfalls Merkmale des Kurzzeitgedächt­
nisses. Langzeitgedächtnis (LZG) wäre beteiligt,
wenn Olga vermutet, dass sie die Nummer wieder­
holt wählen wird und daher versucht, sie sich »ein­
zuprägen«, es wäre auch beteiligt, wenn die Symme­
trie und Poesie dieser Nummer ihr auffallen würden,
sodass sie am nächsten Tag feststellen würde, dass sie
sich noch daran erinnert.
EineklassischeUntersuchungzumKurzzeitgedächtnis
Eine der gebräuchlichsten frühen Techniken zur Un­
tersuchung des Kurzzeitgedächtnis wurde von Peter­
9
Kapitel9·LernenundErinnern
son und Peterson (1959) entwickelt: Hier wird Pro­
banden eine einzige sinnlose Silbe präsentiert und
sie werden gebeten, sie später wieder abzurufen. Der
unmittelbare Abruf ist normalerweise nahe bei 100%
(Fehler beruhen hauptsächlich darauf, dass die Silbe
nicht richtig verstanden wird). Größere Zeitabstän­
de zwischen der Darbietung des Wortes und seinem
Abruf führen zu höheren Fehlerraten, deren Aus­
maß von den zwischenzeitlich ablaufenden Aktivitä­
ten des Probanden abhängt. Wenn Probanden zwi­
schendurch nichts tun und wissen, dass sie die Silbe
später abrufen sollen, wiederholen sie sie normaler­
weise, um sicherzustellen, dass sie sich daran erin­
nern. Wenn die Probanden unmittelbar nach der
Darbietung der sinnlosen Silbe aber irgendeine an­
dere Aktivität ausführen sollen (z. B. im Takt eines
Metronoms rückwärts zählen), wird die Erinnerung
gestört. In der Studie von Peterson und Peterson
(1959) bspw. erinnerten sich die Probanden in 80%
der Fälle an die Silbe, wenn sie 3 Sekunden Zeit hat­
ten, sie zu wiederholen, aber nur in 60% der Fälle,
wenn sie dazu keine Gelegenheit hatten.
18 Sekunden nach der Darbietung des Stimulus
erinnerten sich die Probanden immer noch in 33%
der Fälle, wenn sie 3 Sekunden lang Gelegenheit
hatten, die Silbe zu wiederholen, aber nur in 14%
der Fälle, wenn sie dazu keine Gelegenheit hatten
(.Abb.9.4).
BegrenzteKapazität
Kurzzeitgedächtnis bedeutet aktuelle Verfügbarkeit
einer kleinen Anzahl von Items – eine Verfügbarkeit,
die bereits innerhalb von Sekunden nachlässt und
normalerweise innerhalb von 20 Sekunden (ohne
Wiederholung) verschwunden ist. Kurzzeitgedächt­
nis ermöglicht Lesern, die Worte, die sie gerade lesen
(oder schreiben), lange genug im Gedächtnis zu
behalten, um den Sinn des Ganzen zu verstehen. An­
ders ausgedrückt: Kurzzeitgedächtnis ist das, was
zu einem gegebenen Zeitpunkt bewusst ist. Wie
Baddeley (2002) erklärt, ist es eine Art von »Notiz­
block« für das Denken. Aus diesem Grund wird
Kurzzeitgedächtnis oft als Arbeitsgedächtnis be­
zeichnet.
Aus seinen Untersuchungen zum Kurzzeitge­
dächtnis schloss Miller (1956), dass die durchschnitt­
liche Kurzzeitgedächtnis­Kapazität eines Erwachse­
nen bei etwa sieben, plus oder minus zwei, Items
0.8
.80
Zeit zum Wiederholen
3 Sekunden
0 Sekunden
0.7
Anteil erinnerter Silben
262
0.6
.60
.48
0.5
0.4
.34
0.3
.25
0.2
.14
0.1
0
nach
3 Sekunden
nach
9 Sekunden
nach
18 Sekunden
. Abb. 9.4. AnteilsinnloserSilben,andiesichdieProbandeninderUntersuchungvonPetersonundPetersonkorrekt
erinnerten,inAbhängigkeitvonWiederholungundZeitabstandzwischenDarbietungundAbruf.Probandeninder
Gruppe,die0SekundenZeithatte,dieSilbezuwiederholen,
musstenunmittelbarnachderDarbietungderSilbebeginnen,voneinerdreistelligenZahlrückwärtszuzählen.Die
ProbandenderanderenGruppehattenvorBeginnderZählaufgabe3SekundenPause.Aus»Short-termRetentionof
IndividualVerbalItems«vonL.R.PetersonundM.J.Peterson,
1959,JournalofExperimentalPsychology,58,S.197
liegt. Miller zufolge gibt es etwa sieben Speicherplät­
ze im Kurzzeitgedächtnis – plus oder minus zwei.
Wenn diese gefüllt sind, ist kein Platz für weiteres,
bis ein oder zwei Speicherplätze wieder geleert sind,
was in Anbetracht der Eigenschaften des Kurzzeitge­
dächtnisses innerhalb von Sekunden geschieht.
Chunking(Gruppierung)
Die begrenzte Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses
stellt für die meisten Menschen kein großes Pro­
blem dar, sagt Miller (1956), weil die Items, die die
Speicherplätze füllen, keine Einzelinformationen
(bspw. eine Zahl oder ein Buchstabe) sein müssen.
Stattdessen können sie aus mehreren Items zu­
sammengesetzt sein – eine Gruppierung (chunking)
von Items sozusagen. Daher können die Speicher­
plätze des Kurzzeitgedächtnis mit sieben Buch­
staben oder mit sieben Wörtern gefüllt werden. Die
sieben Wörter stellen Gruppen von Informationen
dar, die weit ökonomischer (und wahrscheinlich
bedeutsamer) sind als sieben unzusammenhängen­
de Buchstaben. Miller erklärt Chunking, indem er
es analog zu einer Geldbörse mit Wechselgeld dar­
263
9.2·Drei-Komponenten-ModelldesGedächtnisses
stellt, die nur sieben Geldstücke aufnehmen kann
(das ist die Gedächtnismetapher »Wechselgeldbör­
se«). Wenn sieben Pennies in der Börse sind, ist sie
voll, sie könnte aber auch sieben Vierteldollar oder
sieben Dollar (oder sieben Tausenddollarscheine)
aufnehmen.
Phonologische
Schleife
(verbales Material)
BaddeleysArbeitsgedächtnismodell
Wie funktioniert also Arbeitsgedächtnis? Zur Erin­
nerung: Arbeitsgedächtnis ist nur ein anderes Eti­
kett für Kurzzeitgedächtnis. Baddeley und Hitch
(1974) stellen ein sehr interessantes, wenn auch et­
was kompliziertes Modell vor. Zunächst, so erklären
sie, wird eine Art von Kontrollprozess oder ­system
benötigt, das den gesamten Prozess überwacht. Sie
nennen dieses System die zentrale Exekutive. Zwei­
tens legt unser Wissen über die Funktionsweise des
Kurzzeitgedächtnis nahe, dass es mindestens zwei
andere Systeme geben muss, die aufgrund ihrer
Beziehung zu der zentralen Exekutive als unter­
geordnete Systeme bezeichnet werden. Diese bei­
den untergeordneten Systeme sind die phonologi­
sche Schleife und der visuell­räumliche Notizblock
(.Abb.9.5).
Die wichtigsten Funktionen der zentralen Exe­
kutive sind, (1) den Informationsfluss aus dem sen­
sorischen Speicher zu regulieren (also Information
der bewussten Aufmerksamkeit zugänglich zu ma­
chen), (2) Information für längerfristige Speiche­
rung zu verarbeiten und (3) Information aus dem
Langzeitspeicher abzurufen (Baddeley, 1997).
Die Hauptfunktionen der untergeordneten Sys­
teme bestehen darin, Information aufrechtzuerhal­
ten, damit sie für das Arbeitsgedächtnis verfügbar
bleiben. Die phonologische Schleife hält verbale In­
formationen wie Worte oder Zahlen aufrecht und
spielt eine wichtige Rolle beim Lernen neuer Wörter.
In ähnlicher Weise verarbeitet der visuell­räumliche
Notizblock hauptsächlich visuelles oder räumliches
Material (Gathercole & Baddeley, 1993).
Dieses Modell legt nahe, dass im Arbeitsgedächt­
nis zwei unterschiedliche und unabhängige Verar­
beitungsmodi existieren. Untersuchungen mit einem
von Baddeley und Kollegen entwickelten Doppelauf­
gabenparadigma liefern dafür experimentelle Unter­
sützung. Dabei werden Probanden bspw. aufgefor­
dert, eine visuell präsentierte Wortliste zu lernen
(eine Aufgabe für die zentrale Exekutive), während
Visuell-räumlicher
Notizblock
(visuelles Material)
9
Zentrale Exekutive
1) Kontrolle des Informationsflusses
aus den sensorischen Systemen
2) Verarbeitung für
Langzeitspeicherung
3) Abruf aus dem
Langzeitgedächtnis
Untergeordnete Systeme
. Abb. 9.5. DarstellungdesArbeitsgedächtnismodellsvon
BaddeleyundHitch.DiezentraleExekutivekontrolliertden
InformationsflussausdemsensorischenSpeicher,verarbeitet
ihn,fallsnotwendig,undsorgtfürdenAbrufausdemLangzeitspeicher.DieuntergeordnetenSystemehaltendassensorischeMaterialfürdenZugriffdurchdiezentraleExekutive
vorübergehendverfügbar
sie eine Sequenz von sechs oder weniger Zahlen be­
halten sollen (eine Aufgabe für ein untergeordnetes
System). Man sollte erwarten, dass zwischen diesen
Aufgaben starke Interferenzen auftreten. Aber nor­
malerweise gibt es dabei nur geringfügige Interfe­
renzen – nach Ansicht von Baddeley (1997) ein
deutlicher Hinweis darauf, dass die zentrale Exeku­
tive und die untergeordneten Systeme unterschied­
liche Prozesse darstellen.
Zusätzliche Hinweise darauf, dass auch die un­
tergeordneten Systeme auf verschiedenen Prozes­
sen beruhen, stammen aus Untersuchungen, die die
Hirnaktivität überwachen, während Probanden Ge­
dächtnisaufgaben durchführen. Diese Untersuchun­
gen verweisen darauf, dass separate Gehirnregionen
an den unterschiedlichen Aspekten von Arbeitsge­
dächtnis beteiligt sind (bspw. Henson, 2001).
Bezogen auf das modale Modell, wie es in
.Abb.9.3 dargestellt ist, repräsentiert Baddeleys Mo­
dell die Inhalte von sensorischem Gedächtnis und
von Arbeitsgedächtnis. Das Baddeley­Modell besagt
im Grunde, dass die untergeordneten Systeme die
Wirkungen sensorischer Stimulation aufrecht erhal­
ten (in einer Art von Schleife, wenn man so will),
damit die zentrale Exekutive auf sie zugreifen kann.
264
Kapitel9·LernenundErinnern
Wichtig in diesem Modell ist außerdem, dass eine
wesentliche Funktion der zentralen Exekutive im
Transfer von Material ins Langzeitgedächtnis sowie
auch im Abruf aus dem Langzeitgedächtnis besteht.
Diese Themen werden in einem späteren Abschnitt
zum Langzeitgedächtnis diskutiert.
Verarbeitungsebenen
9
Unterschiedliche Theorien erklären, weshalb das
Kurzzeitgedächtnis auf wenige Items begrenzt ist
und weshalb es zu Vergessen kommt. Die Zerfalls­
theorie (Decay Theory) besagt, dass Gedächtnis­
spuren im Laufe der Zeit schnell zerfallen (wenn sie
nicht kontinuierlich wiederholt werden). Die Ver­
schiebungstheorie (Displacement Theory) – im
Grunde eine Analogie zu Miller (1956) – sagt aus,
dass nur eine begrenzte Anzahl von Speicherplätzen
im Kurzzeitgedächtnis vorhanden ist, sodass neu
eintreffende Information alte Information daraus
verschiebt. Die Interferenztheorie, die der Verschie­
bungstheorie stark ähnelt, besagt, dass vorausge­
gangenes Lernen (und nicht später eintreffende In­
formationen) in gewisser Weise mit dem Kurzzeit­
gedächtnis interferiert.
Craik und Lockhart (1972) vertreten die Auffas­
sung, dass die Ursache von Informationsverlust aus
dem Kurzzeitgedächtnis in den Verarbeitungsebenen
liegt. Sie meinen, dass der Hauptunterschied zwi­
schen Kurzzeit­ und Langzeitgedächtnis in der Art
der Inputverarbeitung besteht. Ein einfacher Stimu­
lus wie ein Wort kann bspw. in Bezug auf sein physi­
kalisches Aussehen verarbeitet werden – eine sehr
niedrige, die sogenannte orthografische Verarbei­
tungsebene. Alternativ kann ein Wort aber auch im
Hinblick auf seinen Klang verarbeitet werden (ein
etwas tieferes, das sogenannte phonologische Verar­
beitungsniveau). Oder es kann in Bezug auf seine
Bedeutung verarbeitet werden (semantische Verar­
beitung – die tiefste Verarbeitungsebene). Craik
(1977) entwickelte Experimente, in denen Proban­
den Wortanalyseaufgaben durchführten, bei denen
sie Wörter auf verschiedenen Ebenen verarbeiten
sollten – wobei sie aber nicht wussten, dass sie sich
später an die Wörter erinnern sollten. Sie wurden
bspw. gefragt, ob ein Wort in Großbuchstaben ge­
schrieben war (niedrigste Verarbeitung: orthogra­
phisch), ob es sich auf ein anderes Wort reimte (mitt­
lere Verarbeitungsebene: phonologisch) oder ob es
dasselbe bedeutete wie ein anderes Wort (tiefste Ver­
arbeitungsebene: semantisch). Nicht überraschend
war, dass bei tieferer Verarbeitung der Anteil der
Wörter anstieg, an den sich die Probanden später
erinnerten.
Laut Craik kommt es im sensorischen Register
nicht zu Verarbeitung. Auf der Ebene des Kurzzeit­
gedächtnisses kommt es zu einer »flachen« Verarbei­
tung, Stimuli werden hauptsächlich aufgrund einer
Wahrnehmungsanalyse erkannt. Bei tieferer Verar­
beitung (z. B. Analyse, Organisation, Erkennung der
Bedeutung) wird Material ins Langzeitgedächtnis
transferiert und geht daher nicht unmittelbar ver­
loren. Das Vergessen aus dem Kurzzeitgedächtnis
resultiert also aus unangemessener Verarbeitung
(Cermak & Craik, 1979).
Die Überblicksarbeit von Nairne (2002) zu Un­
tersuchungen, die sich mit Vergessen aus dem Kurz­
zeitgedächtnis befasst haben, zeigt die potenzielle
Gültigkeit und Nützlichkeit von Craiks Erklärung
über die Verarbeitungsebenen auf. Laut Nairne sind
weder Zerfall der Gedächtnisspur noch mangelnde
Wiederholung sehr gute Erklärungen für die häu­
figsten Fälle von Vergessen aus dem Kurzzeitge­
dächtnis. Vergessen ist stattdessen häufig auf fehler­
hafte Abrufhinweise oder auf das Fehlen solcher
Hinweise überhaupt zurückzuführen. Wenn eine
Information wiederholt oder verarbeitet wird, er­
stellt der Lernende bestimmte Hinweise, die für den
späteren Abruf verwendet werden können. Wenn
diese Hinweisreize ermöglichen, dass der Abruf auch
nach mehr als ein paar Sekunden möglich ist, wird
angenommen, dass das Material für eine Speiche­
rung im Langzeitgedächtnis enkodiert worden ist.
Wahrscheinlich haben sich deshalb die meisten For­
scher nur wenig mit Vergessen aus dem Kurzzeitge­
dächtnis befasst, vermutet Groeger (1997). Schließ­
lich besteht die Funktion des Kurzzeitgedächtnisses
einfach darin, Informationen so lange aufrechtzuer­
halten wie nötig, um sie dann zu verwerfen. Wenn
Menschen nicht auf diese Art funktionieren würden,
dann würde ihr Langzeitgedächtnis wahrscheinlich
mit aller Art nutzloser Information vollgepackt, so­
dass der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis schwie­
riger wäre.
Informationsverlust aus dem Kurzzeitgedächtnis
wird dann zu einem signifikanten Problem, wenn
Krankheiten, Verletzungen oder Alterungsprozesse
265
9.2·Drei-Komponenten-ModelldesGedächtnisses
Mitte der 70er Jahre befassten sich aktuelle
kognitive Gedächtnismodelle hauptsächlich mit
visueller und verbaler Information. Seitdem ist
jedoch die Zahl der Forschungsarbeiten zum
olfaktorischen Gedächtnis dramatisch angestie­
gen. Diese Forschung zeigt, dass das Gedächtnis
für Gerüche einzigartig, vom Gedächtnis für
verbale oder visuelle Informationen unabhängig
und durch Interferenzen nicht störbar ist. In
einer sehr interessanten Studie füllten Goldman
und Seamon (1992) 14 Gerüche auf Flaschen
ab, von denen die Hälfte mit der Kindheit asso­
ziiert war (bspw. Späne angespitzter Farbstifte,
Play­Doh, Fingerfarbe, Schaumseife), die an­
dere Hälfte teilweise oder gänzlich mit Er­
wachsensein (Schokolade, Popcorn, Seifenspä­
ne, Zigarettentabak). Erwachsene erkannten
über 90% der kürzlich wahrgenommenen Ge­
rüche und mehr als drei Viertel der manchmal
sehr lange zurückliegend wahrgenommenen
Gerüche (.Abb.9.6). »Eine signifikante Erin­
nerung für Assoziationen zwischen Namen und
Gerüchen bleibt sogar über sehr lange Abruf­
intervalle erhalten«, folgern Goldman und
Seamon, »viel länger als alle anderen, die bisher
getestet wurden« (1992, S. 562).
das Kurzzeitgedächtnis so stark beeinträchtigen,
dass die spätere Verarbeitung leidet. Das geschieht
im Grunde dann, wenn Menschen vergessen, was sie
sagen wollten, nachdem sie damit begonnen haben.
Oder was sie als Nächstes schreiben wollten…
1. Langzeitgedächtnisistäußerststabil
An vieles von dem, woran Sie sich heute und
morgen erinnern, werden Sie sich auch in der
nächsten Woche und vielleicht sogar im nächs­
ten Jahr erinnern. Gesichter und andere Wahr­
nehmungsmuster, die Sie heute erkennen, wer­
den Sie auch morgen erkennen. Und die all­
gemeinen Informationen, die Sie aus Ihrer
Schulzeit behalten haben, werden Sie mit hoher
Wahrscheinlichkeit auch noch im nächsten Mo­
nat wissen (Jenkins, Burton & Ellis, 2002; Mag­
nussen, Greenlee, Aslaksen & Kildebo, 2003).
Tatsächlich sind manche Erinnerungen, z. B.
solche, die mit Geruch zu tun haben, erstaunlich
haltbar über die Zeit. Wie Annett (1996) an­
merkt, wird der Geruchssinn erst in jüngerer
Zeit systematisch und intensiv erforscht. Vor
Prozentsatz korrekter Zuordnungen
9.2.3 Langzeitgedächtnis
Vor den 50er Jahren befasste sich der größte Teil der
Gedächtnisforschung nicht mit den kurzlebigen und
instabilen Erinnerungen des Kurzzeitgedächtnisses,
sondern mit den stabileren, und – per definitionem
– langlebigeren Erinnerungen des Langzeitgedächt­
nisses. Den Nutzen einer Unterscheidung zwischen
LZG und KZG erkannten Psychologen erst Mitte der
50er Jahre.
Zwei weitere Veränderungen in der Gedächt­
nisforschung waren: (a) Statt sinnloser Silben und
Wortpaare wurde nun bedeutungsvolles Material
verwendet und (b) statt Gedächtnisspannen und
Interferenzeffekte zu messen, verlagerte sich der
Schwerpunkt auf die Untersuchung von Modellen zu
Langzeitspeicherung und Abruf.
Alles, woran ein Mensch sich erinnern kann und
was nicht gerade erst passiert ist, gehört zum Lang­
zeitgedächtnis. Daher befinden sich alle Erinnerun­
gen an Schulunterricht, Sprachkenntnisse und das
gesamte stabile Weltwissen im Langzeitgedächtnis.
Vier besonders wichtige Merkmale des Langzeitge­
dächtnisses werden im Folgenden illustriert.
9
100
90
80
92.81
87.04
87.08
77.45 78.67
74.21
70
60
50
40
30
20
10
0
kürzlich wahrgenommene Gerüche
früher wahrgenommene Gerüche
. Abb. 9.6. GenauigkeitderErinnerungankürzlichund
längerzurückliegendwahrgenommeneGerüche.Indieser
Untersuchungordneten3017-22jährigeStudenteninmindestenszweivondreiFällenGerüchekorrektbestimmten
Namenzu.Aus»VeryLong-TermMemoryforOdors:Retention
ofOdor-NameAssociations«vonW.P.GoldmanundJ.G.
Seamon,1992.AmericanJournalofPsychology,105,S.549563(Abbildung1,S.553).©1992BoardofTrusteesofthe
UniversityofIllinois.NachdruckmitGenehmigungderUniversityofIllinoisPress
266
Kapitel9·LernenundErinnern
Erinnerungen generierten, sagen Johnson und
Kollegen.
Die generative (oder konstruktive) Tendenz
des Gedächtnisses hat besonders wichtige Im­
plikationen für Rechtssysteme, die sich stark auf
Zeugenaussagen stützen. Untersuchungen von
Loftus, Feldman und Dashiell (1995) zeigen
bspw., dass sich Zeugen unter einer Vielzahl von
Randbedingungen an die Ereignisse wahrschein­
lich nur ungenau erinnern oder sich sogar an
Ereignisse erinnern, die gar nicht stattgefunden
haben.
2. Langzeitgedächtnisistgenerativ
»Gedächtnis«, schreiben Schacter, Norman und
Koutstaal, »ist keine buchstäbliche Reproduktion
der Vergangenheit, sondern stattdessen abhän­
gig von Konstruktionsprozessen, die wiederum
für Fehler, Verzerrungen und Illusionen anfäl­
lig sind« (1998, S. 290). Vorgefasste Meinungen
und Ansichten darüber, was zusammengehört,
sogenannte Schemata oder Skripte, beeinflus­
sen das Gedächtnis grundlegend. Diese Schema­
ta können Menschen dazu bringen, sich an
Dinge zu erinnern, die niemals geschehen sind
– mit anderen Worten: Erinnerungen zu generieren anstatt zu reproduzieren. Johnson, Brans­
ford und Solomon zeigten Probanden bspw.
diese Textpassage (1973, S. 203):
9
3. V
erständnisbeeinflusstdasLangzeitgedächtnis
Menschen erinnern sich oft an eine Bedeutung
– eine zentrale Idee. Wir erinnern uns nicht
so sehr an Einzelheiten als vielmehr an das
Wesentliche, erklären Koriat, Goldsmith und
Pansky (2000). Wenn Len z. B. eine Geschichte
hört und sie dann nacherzählt, erinnert er sich
normalerweise an den allgemeinen Ablauf –
die Situation und die Pointe. Wenn er die Ge­
schichte nacherzählt, erinnert er sich nicht an
jeden einzelnen Satz, an jede Pause und die
Gesten des ursprünglichen Erzählers. Stattdes­
sen generiert er seine eigene Geschichte, basie­
rend auf seinem Verständnis der gehörten Ge­
schichte.
Die Beziehung zwischen Verständnis und
Langzeitgedächtnis wird mit einer Untersuchung
von Piaget und Inhelder (1956) illustriert, in der
kleine Kinder Linien zeichneten, die die Wasser­
linie in geneigten Gefäßen anzeigen sollten. Ob­
wohl alle Kinder Flüssigkeiten in geneigten Glä­
sern oder Flaschen gesehen haben, geht aus ihren
Reproduktionen hervor, dass sie sich nicht wirk­
lich daran erinnern, wie dies aussieht (gezeigt in
.Abb.9.7). Erst nachdem Kinder verstehen,
dass der Wasserspiegel horizontal bleibt, erin­
nern sie sich korrekt.
John versuchte, das Vogelhaus zu reparieren. Er
schlug den Nagel ein, als sein Vater herauskam,
um ihm zuzuschauen und bei der Arbeit zu hel­
fen.
Später wurden den Probanden die oben gezeig­
ten beiden Sätze gezeigt, zusammen mit verschie­
denen anderen, z. B. dem folgenden:
John benutzte den Hammer, um das Vogelhaus
zu reparieren, als sein Vater herauskam, um ihm
zuzuschauen und bei der Arbeit zu helfen.
Die meisten Probanden waren überzeugt, die­
sen Satz gesehen zu haben und nicht die
beiden Sätze, die sie tatsächlich gesehen hat­
ten. Warum? Weil die Probanden, obwohl das
Wort Hammer in keinem der beiden ersten
Sätze erwähnt worden war, sich an die Idee des
Satzes klar erinnerten und auf Grundlage ihres
Wissens, dass man Hämmer dazu verwendet,
um Nägel einzuschlagen, das Wort in ihren
5 Jahre
7 Jahre
. Abb. 9.7. VonKinderneingezeichneteWasserspiegel.Man
beachte,dassdieKindernichtzeichnen,wassiegesehen
habenundworansiesicherinnern.SiezeichnendenWasser-
9 Jahre
spiegelerstdannrichtigein,wennsieverstandenhaben,dass
derWasserspiegelhorizontalverläuft
267
9.2·Drei-Komponenten-ModelldesGedächtnisses
fährt, dass man viel Geld in einer Lotterie ge­
wonnen hat.
4. A
nmancheDingekannsichderMenschleichtererinnern.
Wie wir gerade gesehen haben, wird bedeu­
tungsvolles Material leichter und über längere
Zeiträume in der Erinnerung behalten als weni­
ger bedeutungsvolles Material. Das Gedächtnis
für Gerüche scheint ebenfalls sehr dauerhaft zu
sein. Und wie Wynn und Logie (1998) aus ihren
Befragungen von 63 Erwachsenen über tatsäch­
liche Ereignisse in deren Leben schlossen, sind
persönliche Erinnerungen an reale Alltagserleb­
nisse bemerkenswert genau und verändern sich
über die Zeit auch wenig.
An besonders bemerkenswerte, wichtige
oder emotionale Ereignisse kann man sich auch
oft klarer und länger erinnern als an banalere
Ereignisse. Solche Ereignisse lösen manchmal
sogenannte Flashbulb Memories (Blitzlichterin­
nerungen) aus. Flashbulb Memories sind außer­
ordentlich lebhafte Erinnerungen an das erste
Gewahrwerden einer besonders emotionalen
Information. Solche Erinnerungen, erklärt Co­
hen (1996), enthalten normalerweise einen sehr
genauen Abruf der unmittelbaren Umstände, in
denen man diese Nachricht erstmals vernahm,
was man da gerade tat, wie man es erfuhr, was
man dabei fühlte, was als nächstes geschah, usw.
Flashbulb Memories sind manchmal Massen­
phänomene – wie beim Attentat auf Präsident
Kennedy in den Vereinigten Staaten oder dem
Tod von Prinzessin Diana in Europa. Sie können
aber auch persönlicher sein, z. B. wenn man er­
9
9.2.4 Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis
im Vergleich
Das Kurzzeitgedächtnis ist ein aktives Gedächtnis,
sagt Wickelgren: Es enthält, woran »man gegenwär­
tig denkt« (1981, S 46). Daher entspricht das Kurz­
zeitgedächtnis der Aufmerksamkeitsspanne, und
der wichtigste Unterschied zwischen Kurzzeitge­
dächtnis und Langzeitgedächtnis ist nicht, dass das
eine nur Sekunden anhält und das andere über lange
Zeiträume, sondern vielmehr, dass das eine unmit­
telbar bewusst ist und das andere nicht.
Zu weiteren Unterschieden zwischen Kurzzeit­
gedächtnis und Langzeitgedächtnis (zusammenge­
fasst in .Tab.9.3) gehört auch, dass das Kurzzeitge­
dächtnis als ein aktiv laufender Prozess leicht durch
äußere oder innere Ereignisse störbar ist. Im Gegen­
satz dazu ist das Langzeitgedächtnis eher passiv und
weniger störanfällig. Außerdem ist, wie wir gesehen
haben, das Kurzzeitgedächtnis in seiner Kapazität
wesentlich begrenzter, da es im Kern synonym zu
aktiver Aufmerksamkeit oder unmittelbarem Be­
wusstsein ist.
Schließlich erfolgt der Abruf aus dem Kurzzeit­
gedächtnis auch unmittelbar und automatisch – eine
kaum überraschende Tatsache, da das Abgerufene
entweder unmittelbar im Bewusstsein oder nicht
verfügbar ist. Der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis
. Tab. 9.3. DreiGedächtnisebenen
Sensorisch
Kurzzeit
Langzeit
Alternative
Bezeichnungen
Echoischesoderikonisches
Gedächtnis
PrimäresoderArbeitsgedächtnis
SekundäresGedächtnis
Dauer
Unter1Sekunde
Temporär,unter20Sekunden
Dauerhaft,unbegrenzt
Stabilität
Vorübergehend
Leichtstörbar
Nichtleichtstörbar
Kapazität
Begrenzt
Begrenzt(7+/-2Items)
Unbegrenzt
Allgemeine
Merkmale
Augenblicklicher,unbewussterEindruck,einevorübergehendeEmpfindungoder
Assoziation
WoraufwirunsereAufmerksamkeitausrichten;unmittelbares
Bewusstsein;aktiv;durchWiederholungaufrechtzuerhalten
AllunserWissen;passiv;Resultat
vonEnkodierung,Speicherung
undAbrufvonInformation
AusPsychologyforTeaching,10.Auflage,vonG.R.Lefrançois,S.175.Copyright©byWadsworth,Inc.Nachdruckmit
GenehmigungvonWadsworthPublishingCompany,Belmont,CA.
268
Kapitel9·LernenundErinnern
kann weit zögerlicher verlaufen, eine Suche erfor­
dern und Verzerrungen des ursprünglich Gelernten
enthalten.
9.3
Verschiedene Formen
des Langzeitgedächtnisses
Eine wichtige Einsicht aus der Gedächtnisforschung
ist die allmähliche Erkenntnis, dass Langzeitgedächt­
nis nicht einheitlich ist, sondern aus verschiedenen
Komponenten besteht. Zahlreiche Forscher und
Theoretiker haben verschiedene Etiketten als Meta­
phern für diese Komponenten vorgeschlagen. Zu
den nützlichsten und am häufigsten erforschten ge­
hören das implizite und das explizite Gedächtnis
(Davis, 2001).
9
gen an den letzten Geburtstag oder was man letztes
Jahr zu Weihnachten getan hat.
»Die wesentliche Unterscheidung«, sagen Squire,
Knowlton und Musen, »ist die zwischen bewusstem
Gedächtnis für Fakten und Ereignisse und ver­
schiedenen Formen nichtbewussten Gedächtnisses«
(1993, S. 457). Eine Methode, sich den Unterschied
zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis
klarzumachen, bezieht sich auf den Unterschied
zwischen Wissenund Erinnern, sagen Rovee­Collier,
Hayne und Colombo (2001). An explizite Erinne­
rungen kann sich der Mensch erinnern; d. h. er kann
sie ins Bewusstsein rufen (explizit machen). Im
Gegensatz dazu können implizite Erinnerungen, ob­
wohl sie Dinge enthalten, die man weiß (bspw. Fahr­
radfahren) nicht erinnert und verbalisiert werden.
Das bedeutet, sie können nicht explizit gemacht
werden.
9.3.1 Explizites (deklaratives) und
PhysiologischeBelege
Wie wir bereits gesehen haben, kann Wissen entwe­
der explizit oder implizit sein. Als der Tausendfüßler
gefragt wurde, wie er es schafft, auf seinen vielen Bei­
nen so elegant zu laufen, woher er immer weiß, wel­
ches er als nächstes bewegen muss, stellte er erstaunt
fest, dass er über dieses Problem nie wirklich nach­
gedacht hatte. Daher versuchte er darüber nachzu­
denken, wie er lief, und das arme Ding war am Ende
hoffnungslos verwirrt und völlig verknotet, nur weil
es versuchte bewusst so zu laufen, wie es das immer
getan hatte.
Erinnerungen von Menschen daran, wie man
geht, wie man sich auf einem Fahrrad aufrecht hält,
wie man einen Home Run schlägt oder wie man
beim Eislauf einen dreifachen Lutz macht, sind im­
plizite Erinnerungen – auch als nichtdeklarative
Erinnerungen bezeichnet, weil sie nicht einfach ab­
gerufen und in Worte gefasst werden können (also
nicht »deklariert« werden können).
Im Gegensatz dazu sind die Erinnerungen an
Namen und Adressen von Menschen, ihre Telefon­
nummern und den Namen ihres Hundes explizite
Erinnerungen – auch als deklarativ bezeichnet, weil
sie in Worte gefasst werden können (sie können »de­
klariert« werden). Andere Beispiele sind Erinnerun­
Am Beispiel von Amnestikern, die häufig intensiv
von Psychologen untersucht wurden, kann man den
Unterschied zwischen implizitem und explizitem
Gedächtnis besonders deutlich illustrieren. Viele
Amnestiker haben große Teile ihres deklarativen
(expliziten) Gedächtnisses verloren, sie haben oft
vergessen, wer sie sind, wo sie zur Schule gingen,
welchen Beruf sie hatten, wer ihre Ehepartner, Kin­
der, Eltern und Freunde sind usw. Dennoch ver­
fügen sie noch über viele implizite Erinnerungen
bezüglich motorischer Fertigkeiten und anderer
Dinge.
Wie Keane et al. (1997) demonstrierten, zeigen
Amnestiker in einfachen Gedächtnisexperimenten
gute Leistungen beim impliziten Gedächtnis, wäh­
rend ihr Abruf expliziten Lernens gestört ist, was
nicht überraschend ist. Ebenso schneiden Alzhei­
mer­Patienten (eine Krankheit, die mit schweren
Gedächtniseinbußen verbunden ist) relativ gut in
Tests des impliziten Gedächtnis ab, obwohl sie schwe­
re Beeinträchtigungen in Aufgaben zum expliziten
Gedächtnis zeigen (Monti, Gabrieli, Wilson, Beckett,
Grinnell et al., 1997). Wie Hintzman (1990) berich­
tet, können Amnestiker interessanterweise klassisch
konditioniert werden. Dieser Befund ist ein Beleg
für implizites oder nichtdeklaratives Gedächtnis. In
diesen Fällen können sie sich jedoch meistens nicht
an den Konditionierungsvorgang selbst erinnern,
implizites (nicht deklaratives)
Gedächtnis
9.3·VerschiedeneFormendesLangzeitgedächtnisses
was auf die Schwäche des deklarativen Gedächtnis­
ses verweist.
Wie wir später in diesem Kapitel sehen werden,
liefern Untersuchungen der Hirnaktivität gesunder
Probanden, genau wie Untersuchungen von Men­
schen mit Hirnschäden, überzeugende Belege dafür,
dass an implizitem und explizitem Gedächtnis un­
terschiedliche Teile des Gehirns beteiligt sind (bspw.
Broadbent, Clark, Zola & Squire, 2002).
9.3.2 Zwei Formen des deklarativen
Gedächtnisses
Untersuchungen an Amnestikern verweisen auch auf
eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Formen
des deklarativen Gedächtnisses. Da ist z. B. der Fall
K.C., ein Mann, der mit 30 Jahren mit seinem Motor­
rad aus einer Kurve getragen wurde und einen schwe­
ren Gehirnschaden mit einer dauerhaften Amnesie
davontrug (Tulving, Schacter, McLachlan & Mosco­
vitch, 1988). K.C. ist nicht imstande, sich irgendetwas,
das er in der Vergangenheit jemals getan, gesehen
oder gefühlt hat, bewusst ins Gedächtnis zu rufen. Er
kann sich nicht daran erinnern, je etwas erlebt oder
getan zu haben. Tulving schreibt: »K.C. weiß, dass
seine Familie ein Sommerhaus besitzt, er weiß wo es
liegt, er kann den Ort auf einer Karte von Ontario
zeigen, und er weiß, dass er dort Sommer und
Wochenenden verbracht hat. Aber er erinnert sich
an keine Gelegenheit, zu der er in dem Haus war
und an kein einzelnes Ereignis, das dort stattgefun­
den hat« (1989, S. 363). K.C. erinnert sich an alle
möglichen politischen, geographischen und musi­
kalischen Dinge. Er kann sich so gut erinnern, dass
seine gemessene Intelligenz im Normalbereich liegt,
und wenn man mit ihm redet, bemerkt man viel­
leicht nicht einmal, dass etwas nicht stimmt. Aber er
erinnert sich an keine einzige persönliche Episode
seines Lebens.
SemantischesundepisodischesGedächtnis
Es gibt mindestens zwei unterschiedliche Formen
von deklarativem Langzeitgedächtnis, behauptet
Tulving (1989, 2002). Einerseits ist da das stabile
Weltwissen, z. B. abstraktes Wissen, Wissen zum
Verständnis und zur Verwendung von Sprache,
Wissen über Prinzipien, Gesetze und Fakten, Wis­
269
9
sen über Strategien und Heuristiken. Dies sind
Beispiele für semantisches Gedächtnis. Die Belege
zeigen, dass das semantische Gedächtnis bei K.C.
erhalten ist.
Andererseits ist da Wissen, das aus persönlichen
Erinnerungen an Ereignisse besteht, die das Indivi­
duum erlebt hat. Hierbei handelt es sich nicht um
abstrakte Erinnerungen (wie bspw. Regeln und Prin­
zipien), sondern um spezifische, an eine Zeit und
einen Ort gebundene Erinnerungen. Es sind auto­
biographische Erinnerungen, an denen immer eine
Person an einem Ort zu einer bestimmten Zeit be­
teiligt ist. Diese Erinnerungen, die durch K.C.s
Amnesie zerstört wurden, werden als episodisches
Gedächtnis bezeichnet.
Tulving argumentiert, dass diese beiden Formen
von Gedächtnis sich ausreichend unterscheiden, um
ihre separate Behandlung zu rechtfertigen. Er nimmt
an, dass sich die Art der Speicherung in den beiden
Gedächtnisformen deutlich unterscheiden könne,
ebenso wie die Art, wie erinnert und wie vergessen
wird. Das episodische Gedächtnis scheint bspw.
weitaus anfälliger für Verzerrungen oder Vergessen
zu sein als das semantische: Menschen tun sich be­
trächtlich schwerer, sich daran zu erinnern, was sie
vor drei Tagen zum Frühstück gegessen haben als
sich an ein Gedicht oder einen Namen zu erinnern,
den sie in der Grundschule lernten.
Laut Tulving (1989) ist das episodische Gedächt­
nis vom semantischen Gedächtnis abhängig. Wenn
Georgina sich an das Erlebnis des morgendlichen
Frühstücks erinnert, kann sie sich auch an eine Viel­
zahl abstrakter Dinge erinnern, die mit dem Essen,
mit Frühstück, mit Küchen oder Restaurants zusam­
menhängen. Im Gegensatz dazu scheint das seman­
tische Gedächtnis auch unabhängig oder sogar in
Abwesenheit von episodischem Gedächtnis arbeiten
zu können. Daher kann K.C. wissen, wie man Schach
spielt – und wissen, dass er weiß, wie man Schach
spielt – ohne eine Erinnerung daran zu haben, je­
mals eine Partie Schach gespielt zu haben. In Tul­
vings Worten: »Es ist einem Individuum möglich,
Fakten zu wissen, ohne sich zu erinnern, sie gelernt
zu haben, es ist aber nicht möglich, sich an etwas zu
erinnern, ohne zu wissen, was es ist, woran man sich
erinnert« (1989, S. 365).
Tulving (2002) erklärt, dass episodisches Ge­
dächtnis eng mit einem subjektiven Zeitempfinden
270
Kapitel9·LernenundErinnern
Empfindung
9
Momentaner
sensorischer Eindruck,
hält Bruchteile
von Sekunden an,
unbewusst
Kurzzeitgedächtnis
Aufmerksamkeitsspanne, hält Sekunden
oder Bruchteile von
Sekunden an
Langzeitgedächtnis
Hält Minuten
oder Jahre an
Langzeitgedächtnis
Enthält alle relativ
dauerhaften Auswirkungen von Erfahrung
Explizites Gedächtnis
(auch: deklaratives
Gedächtnis)
Implizites Gedächtnis
(auch: nichtdeklaratives
Gedächtnis)
potenziell bewusst,
abrufbare Information
unbewusst, nicht verbalisierbare Wirkungen von Lernen,
wie motorische Fertigkeiten
oder klassisch konditionierte
Reaktionen
Beispiel: Einen dreifachen
Salto machen
Autobiographisches
Gedächtnis
Semantisches Gedächtnis
Stabiles, abstraktes Wissen,
das Sprache, Prinzipien,
Fakten, Strategien zugrunde
liegt
Beispiel: Wissen, dass die
Pyrenäen Frankreich und
Spanien trennen
Persönliches, episodisches
Wissen, Erinnerung daran,
wie man selbst Dinge tut
Beispiel:
Sich erinnern, wie man
seine Großmutter mit Milch
bekleckerte
. Abb. 9.8. EinModelldesGedächtnisses.ForscherbeschreibenverschiedeneAspektedesGedächtnisses,diesich
inBezugaufdasbeteiligteMaterialunddieArt,wiedas
Materialgelerntundabgerufenwird,unterscheiden.Unter-
suchungenzuGedächtnisstörungenbeiAmnestikernsowie
bildgebendeUntersuchungendesGehirnsliefernHinweise
darauf,dassunterschiedlicheTeiledesGehirnsandenverschiedenenFormendesGedächtnissesbeteiligtsind
9.3·VerschiedeneFormendesLangzeitgedächtnisses
verbunden ist.2 Wenn Menschen sich an besondere
Episoden ihres Lebens erinnern, erinnern sie sich
auch an eine bestimmte Zeit und an einen Ort. K.C.,
dessen episodisches Gedächtnis bei seinem Unfall
verlorengegangen ist, hat auch jeden Sinn für persön­
liche Zeit verloren. Obwohl er das Konzept Zeit ver­
stand und darüber so gut wie jeder Gesunde disku­
tieren konnte, hatte er kein Empfinden für subjektive
Zeit. In Tulvings Worten: »Die Beeinträchtigung be­
trifft nicht nur die Vergangenheit, sie erstreckt sich
auch in die Zukunft. Auf die Frage des Untersuchers
kann er (K.C.) nicht sagen, was er später am Tage tun
wird, oder am Tag danach oder zu irgendeinem Zeit­
punkt seines weiteren Lebens. Er kann sich seine Zu­
kunft genauso wenig vorstellen, wie er sich an seine
Vergangenheit erinnern kann« (2000, S. 14).
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen
Formen des Langzeitgedächtnisses werden in .Abbildung9.8. dargestellt.
9.3.3 Modelle des deklarativen
Langzeitgedächtnisses
Eine frühe Metapher für das Langzeitgedächtnis
stellt den Geist als eine Art Filmkamera dar (kom­
plett ausgestattet mit Audio, Video, Geruch, Tast­
sinn, Geschmack usw., Koffka, 1935). Dieses Modell
sieht Gedächtnis als eine vollständige, sequenzielle
Aufzeichnung von Erfahrungen, aus denen Men­
schen die isolierten Stücke von Information abrufen,
die im Laufe der Zeit noch verfügbar sind.
Hierbei handelt es sich um ein nichtassoziatives
Gedächtnismodell.
2
IhreintelligenterenLeserkönntenhiereinekleineAbschweifungwünschen,sagtediealteDame,unterbrachihrenVortrag
undwiesmichan,denRekorderauszuschalten.Siemöchten
sichvielleichtetwasZeitnehmen,umüberZeitnachzudenken.VielleichtsolltensieStephenHawkingsA Brief History of
Time (1996; dtsch. Eine kurze Geschichte der Zeit) lesen. Aber
vielleicht wäre das zu schwierig. Besser wäre es vielleicht,
wennsieüberdievonTulving(2002)vorgeschlageneMöglichkeitnachdenken,dasskeinnichtmenschlichesTierjemalsfähigist,übersubjektiveZeitnachzudenken.Weilepisodische
ErinnerungendieFormeiner»mentalenReisedurchdiesubjektiveZeit«haben,sindsievoneinerbestimmtenArtvonBewusstsein (autonoetisch genannt) begleitet, über das Tiere
vermutlichnichtverfügen.HarpazschreibtunterBezugnahme
aufdiesenVorschlag»Dasistschrecklichdumm.BiseinTier
genugIntelligenzbesitzt,umBewusstseinzuhaben,kannes
271
9
Nahezu ohne Ausnahme sind zeitgenössische Mo­
delle des Langzeitgedächtnisses assoziativ. Das bedeu­
tet, sie gründen auf der Annahme, dass alle Informa­
tionen im Gedächtnis in vielfältiger Weise assoziiert
sind. Wenn man also im Gedächtnis nach einer Infor­
mation »sucht«, erzeugt man nicht zufällig eine lange
Sequenz unzusammenhängender Reaktionen, son­
dern man nähert sich der gesuchten Information über
ein Netzwerk zusammenhängender Informationen.3
Assoziationistische Modelle des Langzeitgedächt­
nisses sind im Kern kognitive Modelle. Es ist nicht
überraschend, dass sie häufig eine Vielzahl abstrak­
ter Konzepte verwenden, wie Bruners Kategorien
und Kodiersysteme, Piagets Schemata, Hebbs Zellverbände oder Phasensequenzen oder andere Ab­
straktionen wie Knoten (s. bspw. Wickelgreen, 1981).
Aber Knoten,Kategorie,Schema,Zellverband und
verwandte Begriffe sind einfach nur Metaphern. Sie
beschreiben keine tatsächlichen Strukturen. Sie sind
Metaphern für das, was im »Geist« repräsentiert
werden kann. Ihr einziges definierendes Attribut be­
steht darin, dass sie repräsentieren.
Ein Knotenmodell (node model) mentaler Re­
präsentation sagt bspw. nur aus, dass Menschen Wis­
sen durch Repräsentationen (Knoten genannt, ob­
wohl sie auch irgendeinen anderen Namen haben
könnten) abbilden, die auf vielfältige, kaum verstan­
dene Weise miteinander in Beziehung stehen. In
.Abb.9.9 wird eine mögliche Darstellung eines klei­
nen Ausschnittes eines Knotenmodells gezeigt.
Die Nützlichkeit eines Knotenmodells für das
menschliche Gedächtnis liegt darin, dass es die asso­
ziationistischen Merkmale des Gedächtnisses her­
perdefinitionemkeinepisodischesGedächtnisbesitzen.Sogarwennesdastut,mussesnochintelligentgenugsein,mit
unsdarüberzudiskutieren,damitwirdaserfahren«(2003).
3 Die alte Dame sagte, vielleicht solle sie als NebenbemerkungfürdiescharfsinnigenLeserdaraufhinweisen,dassdas
Assoziationskonzeptfürdiemeistenfrüheren,behavioristischenTheorien,dieindenerstenKapitelndiesesBerichtes
beschriebenwurden,fundamentalsei.Sieerklärte,dassvieledieserTheoriensichbspw.damitbeschäftigten,wieAssoziationenzwischenStimulusundReaktionendurchWiederholungundBelohnungbeeinflusstwerden.Siesagte,dass
Assoziationen auch im Bereich der Kognitionspsychologie
sehr wichtig seien. Aber Kognitionstheoretiker befassten
sichmehrmitdenAssoziationenzwischenIdeen(Konzepten) und wie diese durch Bedeutung beeinflusst würden.
Dannfuhrsiefort,ausihrenNotizenvorzulesen.
272
Kapitel9·LernenundErinnern
Schuhe
Mein Schreibtisch
Meine Jackentasche
Kleidung
Hemd
Himmel
Wasser
e
Ort
Cross
Parker
Schaeffer
Waterman
ge
Fü
l
Bl
au
eD
in
ler
e
Ding
Schreibmaschinen
Tastaturen
Federn
Bleistifte
Papier
9
iben
chre
S
zum
Getränke
Guys blauer
Füller
Computer
Bildschirme
. Abb. 9.9. EinModelleinerMetapher.DieKnotentheorie
nimmtan,dasswirAbstraktionen(Bedeutungen,Assoziationen,Kerninhalte)erinnernundnichtEinzelheiten.Daherist
»GuysblauerFüller«hieralseinKnotenbeschrieben,einge-
bettetineinkomplexesNetzwerkvonAbstraktionen(bspw.
»blaueDinge«),vondenenjedeauchinVerbindungmit
vielenanderenKnotensteht,diehiernichtgezeigtsind
vorhebt. Man beachte weiterhin, dass Modelle des
LZG im Grunde Informationsverarbeitungs­Model­
le sind. Als solche haben sie viel über die an Ge­
dächtnis beteiligten Prozesse mitzuteilen (wie Auf­
merksamkeit, Wiederholung, Organisation). Es ist
daher nicht überraschend, dass die meisten Kogni­
tionstheoretiker Lernen und Gedächtnis nicht mehr
als separate Themen behandeln.
spezifische und dauerhafte Spur im Gedächtnis zu­
rückbliebe. Der Trick ist, diese Spur zu finden, die
manchmal als Engramm bezeichnet wird. Wie Wolf­
gram und Goldstein (1987) sagen, ist die physika­
lische Basis des Gedächtnisses vielleicht weniger
eine Spur (oder ein Engramm) als vielmehr ein Code
– dessen Geheimnisse die wahre Natur des Erin­
nerns enthüllen würden. Auf der Suche nach diesem
Code oder dieser Spur sind einige faszinierende Un­
tersuchungen entstanden.
9.4
Physiologie des Gedächtnisses
LashleysRatten
Lernen und Erinnern bewirken gewisse Veränderun­
gen im Gehirn, wie wir in 7Kap.5 gesehen haben.
Für ein Verständnis von Lernen und Gedächtnis
wäre Wissen über die genaue Art und den Ort dieser
Veränderungen nützlich.
9.4.1 Engramm
Die ersten Gedächtnisforscher dachten, dass es sinn­
voll wäre, wenn für jede erinnerte Erfahrung eine
Karl Lashley (1924) war davon überzeugt, dass Er­
fahrungen spezifische Engramme im Gehirn hinter­
lassen, und er war fest entschlossen, sie zu finden.
Wie wir in 7Kap.5 sahen, trainierte Lashley Ratten
darin, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden. So­
bald eine Ratte das Labyrinth gut kannte, entfernte
er systematisch winzig kleine Teile ihres Gehirns
und fertigte genaue Aufzeichnungen über die ent­
fernten Teile an. Dann setzte er die Ratte wieder in
das Labyrinth. Er war sicher, dass er schließlich ge­
nau das richtige Teilchen herausschneiden würde,
9.4·PhysiologiedesGedächtnisses
woraufhin die Ratte sich nicht mehr werde erin­
nern können wie man sich im Labyrinth zurecht­
findet.
Aber das funktionierte nicht. Egal welchen Teil
des Gehirns Lashley entfernte – solange er die Tiere
dabei nicht tötete oder die Operation zu körperlichen
Einschränkungen führte – die Ratten liefen weiterhin
durch das Labyrinth (wenn auch immer langsamer).
Er war schließlich zu der Schlussfolgerung gezwun­
gen, dass Erinnerungen über das Gehirn verteilt sind
und sich nicht nur an einer Stelle befinden.
Nach Lashleys Tod führte einer seiner engen
Mitarbeiter, R. Thompson, die Suche nach dem En­
gramm weiter. Er schlussfolgerte ebenfalls, dass Er­
innerungen an vielen Stellen im Gehirn lokalisiert
sein können (Thorne, 1995). Spätere Untersuchun­
gen zeigten aber, dass diese Forscher der Wahrheit
vielleicht näher waren, als viele ihrer Zeitgenossen
glaubten. Poldrack und Poldrack (2003) fassen bspw.
Forschungsergebnisse zusammen, die zeigen, dass
während des Lernens multiple Gedächtnissysteme
oft zeitgleich aktiv sind. Sie nehmen an, dass in man­
chen Fällen ein Wettbewerb zwischen diesen Syste­
men besteht, sodass die Schädigung eines Systems
das Lernen tatsächlich verbessert.
PenfieldsPatienten
Der Gehirnchirurg Wilder Penfield (1969) glaubte,
einen Weg gefunden zu haben, menschliche Erinne­
rungen aufzuspüren und zu lokalisieren, als er im
Verlauf von Gehirnoperationen die Gehirne einiger
seiner Patienten stimulierte, während diese bei vol­
lem Bewusstsein waren. Geringe Stimulationen,
über winzige Elektroden vermittelt, schienen sehr
lebhafte und detaillierte Erinnerungen an zurück­
4
WissenSieeigentlichirgendetwasüberdieHeisenberg’sche
Unschärferelation,riefdiealteDamemirausheiteremHimmelzu.AberbevorichauchnurüberdieAntwortnachdenkenkonnte,hattesiebereitsmitihrerErklärungbegonnen:
WiedieHeisenbergscheUnschärferelationausderQuantenmechanikabgeleitetistunddasssiebesagt,dassfürkeinen
ZustandeinesbeliebigenSystemsjemalsalledynamischen
Variablen gleichzeitig und genau gemessen werden können.DannsagtesiefüreinelangeZeitnichtsmehr,beobachtetenurdenSteinadler,deraufeinerwirbelndenMasse
aufsteigenderLuftschwebte;undichdachteschon,ichhättedenwesentlichenPunktnichtbegriffen,alssiewiederzu
redenbegann.Sieerklärte,dassdiesePlanaria-Studiengute
BeispielefürdieNotwendigkeitvonReplikationindenHu-
273
9
liegende Erlebnisse auszulösen. Eine sorgfältigere
Überprüfung ergab jedoch später, dass diese Erin­
nerungen nicht sehr verlässlich waren: Ein Patient,
der detailliert einen Besuch in einem Holzlager be­
schrieb, war in Wirklichkeit niemals dort gewesen.
Squire (1987) nimmt an, dass Penfields Patienten
wahrscheinlich fantasierten, Erinnerungen konstru­
ierten oder sogar halluzinierten.
9.4.2 Untersuchungen am Gehirn
der Ratte und an Planaria
Eine Untersuchungsreihe an den Gehirnen von Rat­
ten (Krech, Rosenzweig & Bennett, 1960, 1962, 1966)
schien zu demonstrieren, dass Lernen spezifische,
messbare chemische Veränderungen in den Rat­
tenhirnen bewirkt. Die gefundenen Veränderungen
erwiesen sich allerdings als sehr global und wenig
informativ. Außerdem konnten diese Untersuchun­
gen kaum je repliziert werden und werden allgemein
als ungültig angesehen (Johnson, 1992).
Auch McConnell (1962, 1976) berichtet über
Untersuchungen, die zu zeigen schienen, dass die
Konditionierung von Planaria (Plattwürmern), sich
in Reaktion auf ein Licht zusammenzurollen, bei
diesen dauerhafte chemische Veränderungen aus­
löste, die man auf andere Planaria übertragen konn­
te, indem man die konditionierten Würmer zerhack­
te und an untrainierte Würmer verfütterte. Anderen
Forschern gelang es aber nicht, diese Resultate zu
replizieren, und McConnell wurde später beschul­
digt, die Bedeutung seiner Planariastudien »über­
trieben« zu haben und ein »Popularizer« zu sein
(s. bspw. McKeachie, 1997; Rilling, 1996).4
manwissenschaften seien. Sie sagte, dass es einfach zu viele
Variablen gäbe, die Humanwissenschaftler in ihren Untersuchungennochnichtkontrollierenkönnen.Siesagte,Wissenschaftler hätten immer noch nicht gelernt, wie sie mit den
konfundierenden Effekten ihrer eigenen Untersuchungsprozeduren umgehen sollten, obwohl sie inzwischen immerhin
anerkennen würden, dass diese Effekte existierten. Und das,
sagte sie, dieses Phänomen, das ist die Heisenberg’sche Unschärferelation.Diesebedeute,kurzgefasst,dassForscherfast
immer einen beachtlichen, aber nicht immer beachteten EffektaufihreeigenenUntersuchungenhätten.–Ich wollteprotestieren, sagen, dass das gar nicht so klar sei, sie um eine
nochmaligeErklärungbitten,abersiewandtesichschonwiederihrenNotizenzu.
274
Kapitel9·LernenundErinnern
9.4.3 Bildgebende Verfahren,
Störungen. In vielen dieser Studien werden bspw.
auditorische Stimuli wie Wörter oder Töne verwen­
det. Normalerweise zeigen diese Untersuchungen,
Obwohl die exakte Physiologie des Gedächtnisses dass EKPs auf verbales Material in beiden Hemis­
immer noch nicht entdeckt ist, wiesen frühe Studien phären auftreten, aber stärker und lokalisierter im
an Amnestikern und an Hirngeschädigten darauf linken Temporallappen (bspw. Gottselig et al., 2004).
hin, dass an verschiedenen Gedächtnisarten unter­
EKP­ und EKF­Untersuchungen haben wieder­
schiedliche Hirnregionen beteiligt sind. Jüngere Stu­ holt Anomalien bei verschiedenen geistigen Störun­
dien konnten sich die neuen bildgebenden Verfah­ gen, z. B. bei Schizophrenie, gefunden (bspw. Guil­
ren zunutze machen, die es Forschern ermöglichen, lem et al., 2003). Der übliche Befund ist eine verneurologische Funktionen an normalen Patienten ringerte EKP­Amplitude bei Schizophrenen. Eine
zu untersuchen und nicht nur an solchen, die an verringerte EKP­Amplitude wurde auch bei gestör­
Hirnverletzungen oder Amnesie leiden. Wie wir in ter Persönlichkeitsentwicklung und bei Lernstörun­
7Kap.5 sahen, entdeckt das EEG(Elektroenzepha- gen gefunden (Greenham, Stelmack & van der Vlugt,
logramm) neurologische Aktivität, indem tatsächli­ 2003).
che elektrische Entladungen, die neuronale Aktivität
Forschungsarbeiten, die einige dieser neuen Tech­
im Gehirn begleiten, überwacht und gemessen wer­ niken verwenden, zeigen, dass Verletzungen be­
den. Die Positronemissionstomographie(PET) ent­ stimmter Hirnregionen (insbesondere Bereiche des
deckt Veränderungen im Blutfluss, die mit neuro­ Temporallappens) mit Verlust des deklarativen LZG
naler Aktivität in Zusammenhang stehen, indem die zusammenhängen (Mayes, 2000). Im Gegensatz
Verteilung radioaktiver Partikel, die in den Blutstrom dazu scheint das nichtdeklarative Gedächtnis mit
injiziert werden, gemessen wird. Und funktionelle anderen Strukturen des Gehirns, wie dem Neokor­
Magnetresonsanztomographie (fMRT) ist sensitiv tex, der Amygdala und dem Zerebellum, in Verbin­
für äußerst geringfügige Veränderungen in den Ma­ dung zu stehen. Tulving folgert (1989) aus seinen
gnetfeldern, die das Oxygenierungsniveau des Blutes Untersuchungen an K.C. ebenfalls, dass episodisches
Gedächtnis auf intakte Frontallappen angewiesen
widerspiegeln.
ist, semantisches deklaratives Gedächtnis jedoch
nicht. Die emotionalen Aspekte des Gedächtnisses
EreigniskorreliertePotenzialeundFelder
Wenn EEG­Ableitungen durchgeführt werden, wäh­ scheinen eng mit der Amygdala verbunden zu sein
rend ein Mensch (oder ein Tier) einem spezifischen (Rolls, 2000). Man beachte jedoch: Der Großteil der
Stimulus ausgesetzt wird, kann man dabei elektri­ Belege zeigt, dass menschliches Lernen – und daher
sche Aktivität im Gehirn entdecken, die in unmittel­ auch Gedächtnis – selten nur mit einem Ort im Ge­
barem Zusammenhang zu diesem Stimulus steht. hirn assoziiert ist. Sogar so einfache Lernvorgänge
Diese Aktivität wird als ereigniskorreliertes Poten­ wie klassische Konditionierung des Lidschlagre­
zial (EKP) bezeichnet. Verwandt mit EKPs sind er­ flexes bedingen Aktivität und Veränderungen in
eigniskorrelierte Felder (EKFs), die Veränderungen verschiedenen Gehirnstrukturen (Kress & Daum,
im Magnetfeld messen, welche aus dem Fluss elek­ 2003).
Broadbent und Kollegen (2002) stellen fest, dass
trischer Ströme zwischen Nervenzellen resultieren.
Diese Veränderungen können in einem Magneten­ viele Details der Physiologie und Neuroanatomie
zephalogramm (MEG) aufgezeichnet werden, wobei von Lernen weiterhin unbekannt sind. Die neuen
das Magnetfeld am Schädel gemessen wird, obwohl bildgebenden Verfahren, die die Untersuchung nor­
dieses Feld nur ein Milliardstel der Stärke des Erd­ maler Gehirne ermöglichen, haben jedoch bereits
magnetfeldes besitzt (Roth, Ford, Pfefferbaum & sehr viel zum Verständnis sowohl normaler wie
anomaler Gedächtnisfunktionen beigetragen. Wahr­
Elbert, 1995).
EKPs und EKFs gehören heute zu den am häu­ scheinlich werden die Metaphern mit zunehmen­
figsten untersuchten Variablen bei der Untersuchung dem Wissensstand genauer. Mit der Zeit könnte die
von Lernen und Gedächtnis, aber auch bei Unter­ Psychologie sogar weg von der Metapher hin zu ei­
suchungen von Lernschwierigkeiten und mentalen ner genauen Beschreibung gelangen.
EKPs und EKFs
9
275
9.5·Vergessen
9.4.4 Konnektionistische
Betrachtungsweise
Die gegenwärtige kognitive Metapher für das Ge­
dächtnis bezieht sich weniger auf die gröbere Phy­
siologie von Gehirnstrukturen als vielmehr auf die
Neuroanatomie und die Organisation von Neuro­
nen. Diese Sichtweise sieht Lernen und Gedächtnis
– wie in 7Kap.8 ausgeführt – als durch Verände­
rungen auf der Ebene des Neurons bedingt. Diese
Veränderungen spiegeln sich im Arrangement der
Assoziationen zwischen Neuronen (mit anderen Wor­
ten: in neuronalen Netzwerken). Eine solche Be­
trachtungsweise erinnert in vielfacher Hinsicht stark
an Donald Hebbs Aussagen zur Bahnung der Leit­
fähigkeit zwischen Neuronen durch wiederholtes
Feuern. Wie wir gesehen haben, gibt es inzwischen
Belege für eine biochemische Basis von Hebbs Theo­
rie – Belege dafür, dass in den Rezeptoren von Neu­
ronen chemische Veränderungen auftreten, wodurch
die folgende neuronale Übertragung gebahnt wird.
Aber Psychologen wissen immer noch nicht genau,
was geschieht, wenn Menschen lernen und sich er­
innern. Wissen sie mehr über das Vergessen?
9.5
Vergessen
Die übliche Verwendung des Begriffs Vergessen
meint die Unfähigkeit, etwas ins unmittelbare Be­
wusstsein zu rufen. Natürlich beweist Vergessen
keinen kompletten Verlust aus dem Gedächtnis, im­
pliziert dies nicht einmal. Viele Dinge werden von
Menschen implizit gelernt (wie einen Stein hüpfen
zu lassen), aber die zugrundeliegenden Erinnerun­
gen können nicht leicht in Symbole überführt oder
bewusst überprüft werden. Auch besteht die Mög­
lichkeit, dass etwas, an das man sich nicht erinnern
kann, gar nicht verlorengegangen ist, sondern nur
nicht abgerufen werden kann. Vielleicht ist es später
abrufbar – wie ein störrischer Name, der einem auf
der Zunge liegt – vielleicht auch nicht.
Auf die Frage, warum sich Menschen nicht er­
innern können, wurden viele Antworten vorge­
schlagen.
9
9.5.1 Verletzungen des Gehirns
Hirnverletzungen beeinträchtigen das Gedächtnis
wahrscheinlich, weil sie die normalen Gehirnfunk­
tionen stören. Amnesie – ein totaler oder partieller
Ausfall des Gedächtnisses – ist eine mögliche Folge
einer Hirnverletzung, obwohl sie auch andere Ursa­
chen haben kann, wie Krankheit, emotionale Stö­
rung oder Trauma.
Weil manche Gehirnareale mehr als andere an
bestimmten Arten von Gedächtnis beteiligt sind,
kann eine Hirnverletzung auch zur ausschließlichen
Beeinträchtigung des episodischen Gedächtnisses
führen – wie im Falle von K.C. Obwohl der Patient
nicht in der Lage ist, sich an persönliche Erlebnisse
zu erinnern, sind bei ihm allgemeinere Informatio­
nen erhalten. In anderen Fällen kann alle alte Infor­
mation verloren gehen, einschließlich des Wissens
um die persönliche Identität.
Eine Form von Amnesie beinhaltet einen voll­
ständigen Gedächtnisausfall für alle Erfahrungen vor
der Amnesie, berichtet Brown (2002). Weit verbreite­
ter jedoch ist eine Form partieller Amnesie, wobei
der Gedächtnisverlust vorwiegend die neueren und
weniger die älteren Erinnerungen betrifft. Brown
nimmt dies als Hinweis, dass Langzeiterinnerungen
mit der Zeit stärker vergessensresistent werden.
9.5.2 Theorie des Spurenzerfalls
(Fading-Theorie)
Eine Hirnverletzung ist eine ungewöhnliche Ursache
für Vergessen, es gibt weitaus verbreitetere Ursachen.
Eine Möglichkeit ist bspw., dass Menschen einige
Dinge einfach vergessen, weil Zeit vergeht – dass die
vom Lernen hinterlassenen Spuren oder Verände­
rungen mit der Zeit weniger klar erkennbar sind.
Belege für diese Fading­Theorie entstammen der
Beobachtung, dass Menschen sich an aktuellere Er­
eignisse oft besser erinnern als an länger zurück­
liegende. Clara wird sich in diesem Augenblick an
die meisten Kleidungsstücke erinnern können, die
in ihrem Schrank hängen, aber sie würde nicht so gut
abschneiden, wenn sie alles beschreiben sollte, was
vor 6 Jahren in ihrem Schrank hing (es sei denn, sie
war damals im Gefängnis). Wenn sie aber regelmä­
ßig im Geiste durchgegangen ist, was zu diesem Zeit­
276
9
Kapitel9·LernenundErinnern
punkt in ihrem Schrank war, würde sie wahrschein­
lich viel besser abschneiden. Dinge, die man sich
gelegentlich ins Gedächtnis ruft, sind gegenüber
dem vermutlich angreifenden Zahn der Zeit weitaus
resistenter als niemals abgerufene Dinge. Jeder Ab­
ruf ist eine Art Übung und eine Gelegenheit zum
Neulernen (Altmann & Gray, 2002).
Huang (1997) berichtet über eine Einzelfallstu­
die zum Gedächtnisverlust über den Zeitverlauf mit
einem 55­jährigen Professor, der sich an die Namen
von Studenten in Kursen, die er vor 26,5 Jahren oder
vor 6 Monaten unterrichtet hatte, erinnern sollte. Es
ist nicht überraschend, dass eine enge Beziehung
zwischen der Zeit und der Abrufgenauigkeit be­
stand, worin sich schnelles frühes Vergessen, gefolgt
von langsamerem Vergessen, spiegelte.
Es sollte angemerkt werden, dass Psychologen
die Fading­ oder Zerfalls­Theorie mehrheitlich nicht
für sehr nützlich oder genau halten. Diese Psycho­
logen weisen darauf hin, dass die Zeit an sich nicht
stärker Vergessen verursacht, als sie die Erosion von
Bergen, das Schmelzen von Gletschern oder das
Rosten von Metall verursacht. Andere Dinge, die
im Verlauf der Zeit geschehen, verursachen diese
Veränderungen. Diese anderen Dinge könnten mit
nachlassender Effizienz von Gehirnfunktionen zu
tun haben, wie EKP­ und EKF­Untersuchungen zei­
gen. Friedman (2003) geht davon aus, dass insbe­
sondere die Frontallappen stark an altersbedingten
Veränderungen in der Lern­ und Erinnerungsfähig­
keit beteiligt sind.
9.5.3 Verzerrungstheorie
(Distortions-Theorie)
Bereits beschriebene Untersuchungen zeigen, dass
vieles, was aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen
wird, verzerrt ist. Die Verzerrungstheorie geht davon
aus, dass sich Menschen bei der Suche in ihrem
Gedächtnis an Hauptideen und Abstraktionen erin­
nern, an die Kernaussage der Geschichte, aber nicht
an die Details. Später generieren sie die Details, wo­
bei das Original oft verzerrt wird. Zur Erinnerung:
In der Untersuchung von Johnson, Bransford und
Solomon (1973) waren Probanden überzeugt, einen
Satz bereits zu kennen, den sie nie zuvor gesehen
hatten, einfach weil er passte.
Wie Loftus (1979) anmerkt, sind Augenzeugen
bemerkenswert unzuverlässig und leicht in die Irre
zu führen. In einer Untersuchung zeigte sie ihren
Probanden einen Film, in dem ein Sportwagen in
einen Unfall verwickelt wurde. Danach wurden den
Probanden Fragen gestellt, wie sie einem Unfallzeu­
gen wahrscheinlich gestellt werden. Einige wurden
gefragt: »Wie schnell fuhr der Sportwagen, als er auf
der Landstraße an der Scheune vorbeikam?« Ande­
re wurden einfach gefragt: »Wie schnell fuhr der
Sportwagen auf der Landstraße?« An der Straße war
keine Scheune zu sehen gewesen. Dennoch war spä­
ter in ihrer Antwort auf die Frage, ob sie eine Scheu­
ne im Film gesehen hatten, etwa ein Fünftel der
Probanden, denen die erste Frage gestellt worden
war, sicher, sie hätten sie gesehen. Weniger als 3%
der zweiten Gruppe glaubten, sie hätten eine Scheu­
ne gesehen.
9.5.4 Verdrängungstheorie
Eine Vergessenstheorie basiert auf der Freud’schen
Annahme, dass Individuen manchmal angstauslö­
sende oder traumatische Erlebnisse verdrängen (also
unbewusst vergessen). Dies kann z. B. dann vor­
kommen, wenn ein Erwachsener Schwierigkeiten
hat, sich an kindliche Traumata wie sexuellen Miss­
brauch zu erinnern. Die meisten hoch traumati­
schen (äußerst negativen) Erfahrungen werden je­
doch nicht vergessen. Eine Studie von Porter und
Birt (2001) zeigte sogar, dass 306 erwachsene Teil­
nehmer traumatische Ereignisse mit etwa der glei­
chen Genauigkeit und Detailtreue berichten konn­
ten wie sehr positive Erlebnisse.
Weil unbewusste Verdrängung nur bei seltenen,
hoch emotionalen und äußerst negativen Erfahrun­
gen auftritt, hat die Verdrängungstheorie als allge­
meine Erklärung für Vergessen nur begrenzten Wert.
Dennoch zeigen Untersuchungsergebnisse, dass es
Probanden zumindest teilweise gelingt, bestimmte
Informationen zu vergessen, wenn sie explizit da­
zu aufgefordert werden (Lehman, McKinley­Pace,
Wilson & Slavsky, 1997). Verdrängung bezieht sich
jedoch auf nicht beabsichtigtes Vergessen. Bewusstes
Vergessen – oder wahrscheinlicher: bewusstes Nicht­
Lernen – dürfte sich deutlich von nichtbeabsichtig­
ter Verdrängung unterscheiden.
9.5·Vergessen
9.5.5 Interferenz-Theorie
Eine gut bekannte Theorie des Vergessens nimmt an,
dass neues Lernen mit dem Abruf von bereits Ge­
lerntem (retroaktiveInterferenz) oder dass bereits
Gelerntes mit dem Abruf von neu Gelerntem (proaktiveInterferenz) interferieren kann. Diese beiden
Interferenz­Arten haben sich als konsistentes Phä­
nomen in Untersuchungen zum Langzeitgedächtnis
(oft mit sinnlosen Silben) erwiesen. In diesen Unter­
suchungen führte das Lernen einer zweiten Wort­
liste, nachdem bereits eine erste gelernt wurde, zu
(a) größeren Problemen beim Erinnern der ersten
Liste (retroaktive Interferenz) und (b) zu verstärk­
ten Schwierigkeiten beim Lernen der zweiten Liste
(proaktive Interferenz). Auch beim Sprachenler­
nen wurde Interferenz intensiv erforscht. Isurin und
McDonald (2001) fanden bspw. signifikante Hin­
weise auf Interferenzen zwischen der ersten und der
zweiten Sprache. Nicht überraschend ist, dass die
Interferenzen bei ähnlicheren Wörtern stärker sind
und dass sie mit zunehmender Vertrautheit mit der
zweiten Sprache nachlassen.
Laut Wixted (2004) werden beim Vergessen auf­
grund von Interferenz neue Erfahrungen einfach
nicht »konsolidiert« – die neurologischen Verände­
rungen, die der Erinnerung zugrundeliegen, finden
nicht statt. Bis zur Konsolidierung einer Erinnerung
ist diese für die interferierenden Auswirkungen
gleichzeitig stattfindender geistiger Aktivität und
gleichzeitiger Ausbildung anderer Erinnerungen
sehr anfällig. Wie Wixted meint, ist dies der Grund
dafür, dass Schlaf und sogar manche Drogen das Ge­
dächtnis für kürzlich Gelerntes oft verbessern. Im
Endeffekt haben Schlaf und Drogen wie z. B. Alko­
hol die Wirkung, konkurrierende geistige Aktivität
zu minimieren.
Glücklicherweise scheint Interferenz eher in La­
borsituationen als im alltäglichen Leben von Men­
schen aufzutreten. Obwohl Menschen gelegentlich
durch Konkurrenz zwischen Dingen, an die sie sich
erinnern wollen, verwirrt werden können, scheint
doch zu gelten, dass sie weiterhin alle möglichen
Dinge lernen können, ohne zunehmend stärker an
den Auswirkungen von Interferenz zu leiden.
Die Tatsache, dass die Resultate von Laborunter­
suchungen zum Gedächtnis sich nicht immer im
wirklichen Leben widerspiegeln, hat zu einer manch­
277
9
mal sehr leidenschaftlich geführten Kontroverse
zwischen Psychologen geführt. Einige, wie Neisser
(1978), argumentieren, dass Laboruntersuchungen
keine wesentlichen Resultate erbracht haben, und
dass Forscher das Alltagsgedächtnis unter lebens­
nahen Bedingungen untersuchen sollten. Andere,
wie Banaji und Crowder (1989), sagen, dass die Wis­
senschaft die experimentelle Kontrolle benötigt, um
generalisierbare Resultate zu produzieren. Wieder
andere, wie Tulving, behaupten, dass die Diskussion
überflüssig sei und dass sie die Wissenschaft nicht
voran bringen werde: »Es gibt keinen Grund anzu­
nehmen, dass es nur eine richtige Methode gibt, das
Gedächtnis zu untersuchen« (1991, S. 41).
9.5.6 Versagen beim Abruf
von Hinweisreizen
Wie bereits zu Anfang angemerkt, vergessen Men­
schen vielleicht nicht wirklich, sondern können sich
einfach nur nicht erinnern. Dass etwas nicht erin­
nert werden kann, ist kein guter Beweis dafür, dass
es tatsächlich aus dem Gedächtnis verschwunden ist;
es kann auch einfach bedeuten, dass es nicht zugäng­
lich ist. In den Worten von Howe und O’Sullivan
(1997) könnte es sich eher um ein Abruf­ als um ein
Speicherproblem handeln.
Tulving (1974) berücksichtigt diese Möglichkeit
in seiner Beschreibung von zwei Formen des Ver­
gessens. Eine Art von Vergessen, erklärt er, beinhal­
tet lediglich eine Unfähigkeit des Abrufes – ein Ver­
sagen beim Abruf von Hinweisreizen. Er nimmt an,
dass diese Art des Vergessens auf einen Mangel an
angemessenen Hinweisreizen für den Abruf zu­
rückzuführen ist. Viele Forscher (z. B. White, 2002)
gehen davon aus, dass dies eine der häufigsten Ur­
sachen für Vergessen ist. Die Schwierigkeit beim
Nicht­Erinnern, erklärt er, hängt mit einer Un­
fähigkeit zusammen, das Item von anderen Mög­
lichkeiten zu unterscheiden – und dies zum ZeitpunktdesErinnernsundnichtzumZeitpunktdes
Lernens.
Eine zweite Art von Vergessen beinhaltet tat­
sächliche Veränderungen der Gedächtnisspur selbst
und wird daher als spurabhängig bezeichnet. Die
fünf zuvor beschriebenen Möglichkeiten (Hirnver­
letzung, Fading, Interferenz, Verzerrung und Repres­
278
Kapitel9·LernenundErinnern
sion) beziehen sich hauptsächlich auf spurabhängi­
ges Vergessen.
Bei deklarativem (bewusstem, explizitem) Mate­
rial scheint der Abruf bei Vorhandensein bestimm­
ter Hinweisreize einfacher zu sein. Tulving (1989)
berichtet bspw., dass die effektivsten Hinweisreize
solche sind, die zu dem geforderten Abruftyp pas­
sen. In Untersuchungen, in denen Probanden sich
an die Bedeutung von Wörtern erinnern sollen, sind
Hinweisreize, die die Bedeutung betonen, am besten
geeignet. Wenn Probanden aber nach der Schreib­
weise oder dem Klang von Wörtern gefragt werden,
sind Hinweisreize, die die Laute (Phoneme) oder die
Buchstaben in den Wörtern betonen, am besten. An­
dere Hinweisreize und ­strategien, mit denen das
Gedächtnis signifikant verbessert werden kann, sind
verschiedene wohlbekannte Gedächtnisstützen.
9
9.6
Implikationen für den
Unterricht: Gedächtnisund Erinnerungshilfen
Ein wesentliches Ziel des Unterrichts ist es, Lang­
zeiterinnerungen zu schaffen. Und glücklicherweise
scheint die allgemeine Ansicht, dass Schüler kurz
nach ihren Prüfungen vieles von dem, was sie gelernt
haben, wieder zu vergessen beginnen, nicht zuzu­
treffen. Zwar unterstützen zahlreiche Untersuchun­
gen diese Auffassung, aber es handelt sich bei den
meisten dieser Untersuchungen um Laborexperi­
mente, wie Semb und Ellis (1994) betonen. In diesen
Untersuchungen wird das Material normalerweise
innerhalb einer Sitzung präsentiert und gelernt, die
Erinnerung wird zu verschiedenen späteren Zeit­
punkten getestet. In Schulen aber haben Schüler
meist mehr als eine Gelegenheit zum Lernen. Das
Material wird zu verschiedenen Zeiten und auf
unterschiedliche Weise präsentiert, wobei oft viel­
fältige Präsentationsmodi genutzt werden (wie Fil­
me, Computer, Demonstrationen, Bücher usw.). In
Sembs und Ellis’ Überblicksstudie von 62 Untersu­
chungen zum Langzeitabruf von Schulwissen fan­
den sich beeindruckende Belege für signifikante
Langzeiterinnerungen. Daher scheint eine der wich­
tigsten Implikationen von Gedächtnisforschung und
­theorie für den Unterricht die augenfällige Erkennt­
nis zu sein, dass Wiederholungen über die Zeit, mit
einer Vielfalt von Präsentations­ und Lernmethoden,
weitaus effektiver sein könnte als die einmaligen
Prozeduren, wie sie in Laboruntersuchungen zum
Lernen üblich sind.
Wichtig ist sicherlich auch, die verschiedenen
Strategien zu systematisieren und solche zu verwen­
den, deren Wirksamkeit für die Verschiebung von
Material vom Kurzzeit­ ins Langzeitgedächtnis von
der Psychologie bewiesen wurde. Die wichtigsten
dieser Strategien – Wiederholung (Rehearsal), Ela­
boration und Organisation – sind gleichzeitig die
wichtigsten kognitiven Prozesse beim Lernen.
9.6.1 Rehearsal (Wiederholung)
Rehearsal bedeutet Wiederholung (ihr Name ist
Greta; ihr Name ist Greta; Greta; Greta; Greta…).
Wie zuvor beschrieben, ist Rehearsal die wichtigste
Methode, um Informationen im Kurzzeitgedächtnis
zu erhalten. Es ist auch eine Methode, durch die In­
formation ins Langzeitgedächtnis überführt wird.
9.6.2 Elaboration
Elaboration bedeutet, etwas zu erweitern, etwas hin­
zuzufügen. Elaboration kann beinhalten, dass man
das zu lernende Material mit geistigen Bildern asso­
ziiert oder dass man neues Material in Beziehung zu
bereits gelerntem Material setzt. Bradshaw und An­
derson (1982) baten ihre Probanden sich den Satz
»Der dicke Mann las das Schild« einzuprägen. Die­
jenigen, die den Satz zu »Der dicke Mann las das
Schild, das vor dem Betreten des Eises warnte« ela­
boriert hatten, zeigten bessere Abrufleistungen als
diejenigen, die nicht elaboriert hatten.
9.6.3 Organisation
Organisation bedeutet, Material in einem System
anzuordnen. Chunking – das zu lernende Material
in verwandte Gruppen anordnen – ist ein Beispiel
für Organisation. Das bewusste Organisieren von
Texten mit Titeln und Untertiteln ist ein weiteres
Beispiel. Eine grundlegende Annahme der Kogni­
tionspsychologie lautet, dass Menschen eine natür­
9.6·ImplikationenfürdenUnterricht:Gedächtnis-undErinnerungshilfen
liche Tendenz aufweisen, nach Beziehungen zu su­
chen – Ähnlichkeiten und Unterschiede zu ermitteln
(also zu kategorisieren und Konzepte zu erwerben).
9.6.4 Systeme zur Verbesserung
des Erinnerns
Verschiedene Systeme, die speziell zur Verbesserung
von Gedächtnisleistungen entwickelt wurden, basie­
ren auf diesen Strategien; demgemäß betonen diese
Strategien Methoden der Organisation und der Ela­
boration, außerdem Methoden zur Nutzung von Hin­
weisreizen. Laut Belleza (1996) erfordern viele dieser
Strategien beträchtliche Fertigkeiten und Übung.
Forschungsergebnisse zeigen, dass sie in einer Viel­
falt von Situationen nutzbringend eingesetzt werden
können – z. B. bei Schülern mit Lernschwierigkeiten
(Bulgren, Schumaker & Deshler, 1994), aber auch
bei normalen Schülern (Richardson, 1995).
ReimeundkleineMerksätze
Zu diesen Gedächtnisstützen (oder mnemonischen
Hilfen) gehören Akronyme (Hinweisreize, die aus
Buchstaben bestehen) wie NATO oder UNO. Ein
anderes Beispiel ist das Akrostichon, dies sind Sätze
oder Ausdrücke, in denen der erste Buchstabe jedes
Wortes für etwas anderes steht. Das Akrostichon
»Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unsere Neun
Planeten« benennt die Namen der Planeten in ihrer
Reihenfolge des Abstands von der Sonne (Merkur,
Venus, Erde, Mars, usw.). Gedächtnisstützen dieser
Art liefern leicht abrufbare Hinweisreize und stellen
eine Form von Elaboration und Organisation des
Materials dar.
DasLoci-System
Komplexere Mnemotechniken verwenden norma­
lerweise visuelle Vorstellungen, die von Menschen
weit besser erinnert werden können als die meisten
geschriebenen oder gesprochenen Wörter (Kosslyn,
Behrmann & Jeannerod, 1995). Als man Probanden
10.000 Bilder jeweils sehr kurz zeigte und danach
einige dieser Bilder in Paaren zusammen mit ande­
ren Bildern vorführte, die in der ersten Präsentation
nicht enthalten waren, erkannten über 90% die Bil­
der korrekt (Standing, 1973). Als Bahrick, Bahrick
und Wittlinger (1975) ihren Probanden aus Jahr­
279
9
büchern entnommene Fotos ihrer früheren Klassen­
kameraden zeigten, erkannten sie nach 2 Monaten
etwa 90% und auch 15 Jahre später nicht nennens­
wert weniger. Die menschliche Fähigkeit zur Erken­
nung visueller Stimuli ist bemerkenswert.
Mnemonische Systeme, die auf visueller Vor­
stellung basieren, bieten spezielle Methoden, mittels
derer mentale Bilder visuell mit anderen, leicht zu
erinnernden Bildern verbunden werden können.
Viele dieser Systeme sind sehr alt und dabei sehr wir­
kungsvoll. Das Loci­System bspw. ist mehr als 2.000
Jahre alt (Hermann, Reybeck & Gruneberg, 2002).
Der Lernende muss dabei nur ein starkes visuelles
Bild des zu erinnernden Items erstellen und dies in
eine vertraute Umgebung, wie einen Raum in einem
Haus, platzieren. Das zweite Item wird dann eben­
falls visualisiert, in einen anderen Raum gestellt, das
dritte könnte in den Flur gestellt werden, usw. Beim
Abruf der Items muss der Proband dann nur im
Geiste die Räume des Hauses »durchwandern« und
versuchen, all die Items zu visualisieren, die er dort­
hin gestellt hat. Versuchen Sie es mal mit der Ein­
kaufsliste – es funktioniert.
DasphonetischeSystem
Ein Gedächtnissystem, das oft von professionellen
Gedächtniskünstlern verwendet wird und mit dem
man Großmütter garantiert beeindrucken kann, ist
das von Higbee (1977) beschriebene phonetische
System. Der erste Schritt beim Lernen des phone­
tischen Systems besteht darin, starke visuelle As­
soziationen zwischen Zahlen und Konsonanten zu
bilden. Traditionell bedienen sich die Assoziationen
des visuellen Erscheinungsbildes der Konsonanten.
Daher ist die 1 ein t (weil es einen Abwärtsstrich
hat), die 2 könnte ein n sein, die 3 ein m, die 4 ein
q usw.
Sobald Sie eine Zahl mit jedem Konsonanten
assoziiert haben (Vokale zählen nicht), können sie
ein Wort für jede Zahl bilden – sagen wir mal von 1
bis 25. Die Zahl 12 könnte bspw. »tin« sein, die Zahl
21 »nut« [Nuss]. Bilden Sie nun ein starkes visuelles
Bild, mit dem sie jedes dieser Worte mit seiner Zahl
verbinden. Lernen Sie diese intensiv, üben Sie sie
und fordern Sie dann Ihre Großmutter heraus, Ihnen
25 Items zu zeigen oder zu benennen. Während sie
diese Items auf einen Zettel schreibt und durchnum­
meriert, schließen Sie Ihre Augen und verbinden ein
280
Kapitel9·LernenundErinnern
Bild von jedem mit dem entsprechend nummerier­
ten visuellen Bild.
Wenn Ihre Großmutter fertig ist, sind Sie auch
bereit: »Soll ich sie vorwärts oder rückwärts aufsa­
gen?« Aber sie ist eine verschlagene alte Dame und
hegt daher den Verdacht, dass Sie einen Trick ken­
nen, die 25 Items in eine Reihenfolge zu bringen. Da­
her versucht sie, Sie hereinzulegen: »Was war das 21.
Item, das ich genannt habe?« Vor Ihrem frisch trai­
nierten inneren Auge sehen Sie Ihre »Nuss«, die Sie
mit der Aussage Ihrer Großmutter verknüpft haben:
»Das ist der Ofen im alten Haus«, sodass Sie nun die
Nuss rotglühend auf dem Ofen liegen sehen. Sie ant­
worten: »Das 21. Item? Nun, das ist der alte Ofen in
dem anderen Haus, der, in den Du die Katze einge­
sperrt hast.« Und Ihre Großmutter ist beeindruckt.
Zusammenfassung
9
1. VerschiedeneMetaphernwurdenalsVergleicheundBeschreibungendesmenschlichen
Gedächtnissesherangezogen,wobeidieComputermetapherbesonderspopulärgeworden
ist.EinigeaußergewöhnlicheGedächtniskünstler(wieEulerundLuriasProbandS.)sind
zuerstaunlichenAbrufenausdemLangzeitgedächtnisimstande,aberimGegensatzzum
ComputerzeigtdasmenschlicheGedächtnis
schnellenanfänglichenVerlustvonInformationen.
2. GedächtniswirdnormalerweiseüberdieVerfügbarkeitvonInformationdefiniert(ErinnerungoderAbrufbarkeit);einigeGedächtnisaspektesindjedochnichtbewusst(d.h.,sie
sindimplizitundnichtexplizit).Nichtalles,
wasgespeichertwird,kannauchabgerufen
werden.Ebbinghaus,derdieerstenwissenschaftlichenUntersuchungendesGedächtnissesdurchführte,wobeiersinnloseSilben
benutzte,wareinPionierderGedächtnisforschung.
3. VergessenbezeichnetdieUnfähigkeit,InformationeninsBewusstseinzurufen,undkann
entwedermitSpeicherdefiziten(Verlustvon
Gedächtnisspuren,möglicherweiseaufgrund
vonZerfalloderInterferenzen)odermitErinnerungsdefiziten(Unfähigkeit,Informationen
abzurufen)zusammenhängen.Proaktive(vorwärtsgerichtete)oderretroaktive(rückwärts
gerichtete)InterferenzensindoftanVergessenbeteiligt.
4. DasmodaleModelldesGedächtnissesbeschreibteinenProzess,derausKurzzeit-und
Langzeitgedächtnisbesteht.EinedritteStufe,
manchmalsensorischesRegistergenannt,
6
beschreibtdiemomentanenEffekteeiner
S timulation(undwirdmanchmalalsechoisches
oderikonischesGedächtnisbezeichnet).UntersuchungenzumCocktailparty-Effektillustrieren
diesesPhänomen.Darinwirddemonstriert,dass
auchnichtbeachtetesMaterialfürBruchteile
einerSekundeverfügbarbleibt.
5. DasKurzzeitgedächtnis(KZG)hältnurSekundenan(seltenlängerals20Sekunden),essei
denn,esfindetkontinuierlichRehearsalstatt
(indiesemFallkanndieInformationinsLangzeitgedächtnisüberführtwerden).KZGbezieht
sichimKernaufdieaktuelleVerfügbarkeiteiner
geringenAnzahlvonItems(siebenplus/minus
zwei)undwirdalsaktivesoderArbeitsgedächtnisbezeichnet,umdieÄhnlichkeitzuunmittelbarerAufmerksamkeitoderBewusstseinhervorzuheben.SeineKapazitätkanndurchChunking
–alsodurchGruppierungverwandterItems–
gesteigertwerden.
6. BaddeleysModelldesKurzzeitgedächtnisses
(Arbeitsgedächtnisses)beschreibtzweiSysteme:einSystemderexekutivenKontrolle,das
sichmitderSteuerungdesInformationsstroms
insundausdemArbeitsgedächtnisbefasst,und
zweiSubsysteme(diephonologischeSchleife
unddervisuell-räumlicheNotizblock),dieauditorischesodervisuellesMaterialaufrechterhalten,damitdasexekutiveSystemdaraufzugreifenkann.
7. VergessenausdemKZGkannmitZerfall(VerlustvonGedächtnisspuren),mitVerdrängung
(ErsetzenaltenMaterialsdurchneuesaufgrund
begrenztenSpeicherplatzes),mitInterferenzen
(vorausgegangenesLerneninterferiertmit
neuemLernen)odermitdenVerarbeitungs-
9.6·ImplikationenfürdenUnterricht:Gedächtnis-undErinnerungshilfen
281
6
ebenen(ModellvonCraikundLockhart)in
Zusammenhangstehen.
8. Langzeitgedächtnis(LZG)sollaufeinige
dauerhaftestrukturelleundchemischeVeränderungenimGehirnzurückzuführensein.
DagegensindankurzzeitigemAbrufwahrscheinlichnurtemporäreelektrische/chemischeVeränderungenbeteiligt.Diesentspricht
imKernHebbsTheorie.
9. DasLangzeitgedächtnisistsehrstabil(insbesonderefürBilderundGerüche),generativ
undnichtnurreproduktiv,wirddurchVerständnisbeeinflusstundistfüreinigeItems
besseralsfürandere(solcheItems,diebeeindruckender,bedeutungsvolleroderemotionalersind,wodurchmanchmalFlashbulb
Memoriesentstehen).
10. EinVergleichvonKurzzeitgedächtnisund
Langzeitgedächtniszeigt,dassKZGeinaktiver,
kontinuierlicherProzessist,derleichtdurch
paralleleAktivitätenstörbarundinseiner
Kapazitätbeschränktist.ImGegensatzdazu
istLZGeherpassiv,nichtleichtdurchlaufende
Aktivitätenstörbarundgrundsätzlichinseiner
Kapazitätunbegrenzt.DerAbrufausdemKZG
istentwederunmittelbaroderautomatisch
oderfindetgarnichtstatt;derAbrufausdem
LZGkannbeträchtlichlangsamerseinund
mehrSucheerfordern.
11. Z
udenSystemendesLangzeitgedächtnisses
gehörtdasexplizite(deklarative)Gedächtnis,
daspotenziellbewusste,abrufbareInformationenenthältunddasimplizite(nichtdeklarativeoderprozedurale)Gedächtnis,das
unbewusste,nichtverbalisierbareEffekte
vonLernenenthält(wiedasLernenmotorischerFertigkeitenoderklassischeKonditionierung).UntersuchungenanAmnestikern
undMenschenmitHirnverletzungensowie
annormalenGehirnenmittelsbildgebenderVerfahrenwiePETundfMRTzeigen,dass
denverschiedenenGedächtnissystemen
unterschiedlicheGehirnregionenzugrundeliegen.
6
12. Dasdeklarative(abrufbare)Gedächtnisbesteht
ausdemsemantischenunddemprozeduralen
Gedächtnis.DassemantischeGedächtnisenthältallgemeine,stabile,abstrakteFaktenund
Prinzipien(bspw.Sprachen-oderWeltwissen).
DasepisodischeGedächtnisenthältprivates
Wissen,dassseinerNaturnachzeitbezogenist
undanbestimmtepersönlicheEreignissegeknüpftist(daherautobiographischesGedächtnis).
13. EinigefrüheGedächtnismodellewarennichtassoziationistisch(KoffkasAnsichteinerkontinuierlichenAufzeichnung,wieaufeinemVideoband);aktuelleModellebetonendemgegenüberAssoziationenzwischendeneinzelnen
GedächtnisitemsundbenutzenhäufigSchema-
oderKnotenmodelle–wobeieinKnotenoder
Schemajeweilseinfachdasist,wodurcheine
Ideerepräsentiertwird.
14. ZudenhistorischenEpisodenbeiderSuche
nachderPhysiologiedesGedächtnissesgehören:LashleysLäsionenvonRattengehirnen
(erfanddasEngrammnicht);PenfieldsStimulationenderGehirneseinerPatienten(ihreErinnerungenwarenmöglicherweiseeherPhantasien
oderHalluzinationenalsspezifischeErinnerungen);UntersuchungenderGehirnevoninangereicherterUmgebungaufgewachsenenRatten
(dieVeränderungenwarenallgemeinund
ungenau);dasVerfütternundInjizierenvon
trainiertenPlattwürmernanuntrainiertePlattwürmer(dieUntersuchungenlassensichkaum
replizierenundscheinen–30Jahrespäter–
nirgendwohingeführtzuhaben);UntersuchungenderGehirnevonAmnestikern(dieeine
DifferenzierungzwischenverschiedenenSystemendesLangzeitgedächtnissesunterstützen
unddaraufhinweisen,dassandiesenSystemenverschiedeneGehirnregionenbeteiligt
sind);dieEntwicklungkonnektionistischer
Modelle(diebehaupten,dassErinnerungen
inMusternvonNeuronenabgelegtsind
undnichtinspezifischenVeränderungenvon
Einzelneuronen).
9
282
9
Kapitel9·LernenundErinnern
6
15. DieaktuelleGedächtnisforschungverwendet
häufigAufzeichnungenvonElektroenzephalographen(EEG)undMagnetenzephalographen
(MEG).EEG-AufzeichnungenliefernEchtzeitAufzeichnungenübersogenannteereigniskorreliertePotenziale(EKPs),Veränderungen
imelektrischenPotenzialvonNervenzellen,
währenddiesefeuern.MEG-Aufzeichnungen
liefernparalleleHinweiseaufVeränderungen
imMagnetfeldamSchädelwährendneuronalerAktivität–diesewerdenalsereigniskorrelierteFelder(EKFs)bezeichnet.EKPsundEKFs
tretennormalerweiseinReaktionaufspezifischeexternaleStimulationaufundgestatten
Forschern,diegenauenbeteiligtenGehirnregionenzuidentifizieren.
16. VergessenkannmanchmalausHirnverletzungenresultieren,manchmalauseinemschlecht
beschriebenenFading-Prozess.Zusätzlich
kannVergessenwahrscheinlichauchausVerzerrungenresultieren,dieauftreten,weildasErinnertemeisteherabstraktistundweilMenschen
Erinnerungenehergenerierenalsrekonstruieren,wennsieversuchen,sichzuerinnern.AndereErklärungenfürVergessensind:dieVerdrängungstheorie(unüblichundamehesten
fürsehrnegativbesetzteemotionaleEreignisse
anwendbar),dieInterferenz-Theorie(proaktive
undretroaktiveInterferenz)undVersagenbeim
AbrufvonHinweisreizen(Fehlengeeigneter
Hinweisreize,umGelerntesabzurufen).
17. LernenundErinnernkannoftdurchRehearsal,
ElaborationundOrganisationverbessertwerden.Gedächtnisstrategiensindunteranderem:
ReimeundähnlicheStrategiensowiespezielle
Mnemotechniken(Gedächtnisstützen),die
extensivaufvisuelleVorstellungensetzen(das
Loci-SystemunddasphonetischeSystem).
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