Vollständige Studie

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Jan Böcken, Bernard Braun, Melanie Schnee,
Robert Amhof (Hrsg.)
Gesundheitsmonitor 2005
Die ambulante Versorgung aus Sicht
von Bevölkerung und Ärzteschaft
Disease-Management-Programme
in der gesetzlichen Krankenversicherung:
Unterschiede zwischen teilnehmenden und
nicht teilnehmenden Diabetikern
Bertram Häussler, Philipp Storz
Ausgangspunkt ± Die Einführung von Disease Management
Mit dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs wurde auch
die Einführung strukturierter Behandlungsprogramme (Disease-Management-Programmen) in die Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung zum 1. Januar 2002 beschlossen (§§ 137 f, g SGB V). Die
Einführung geschah mit dem Ziel, die Versorgung chronischer Volkskrankheiten zu verbessern. Es wurde davon ausgegangen, dass sich der
Gesundheitszustand der Patienten durch Disease-Management-Programme verbessern und das Auftreten von Komplikationen und Folgeerkrankungen vermeiden lässt. Auûerdem wurden Kosteneinsparungen
durch die Vermeidung von Komplikationen erwartet. Schlieûlich sollte
durch die Verankerung der Programme im Risikostrukturausgleich dieser um eine morbiditätsbezogene Komponente erweitert werden.
Die Disease-Management-Programme in der gesetzlichen Krankenversicherung sind grundsätzlich indikationsbezogen konzipiert. Gegenwärtig sind Programme für Diabetes Mellitus Typ 1, Diabetes Mellitus
Typ 2, Brustkrebs, koronare Herzkrankheit und chronisch-obstruktive
Atemwegserkrankungen formuliert. Einzelne Programme können zwischen Krankenkassen und Verbänden und Gruppen von Leistungserbringern in Form von Verträgen vereinbart werden, die der Zulassung
durch das Bundesversicherungsamt bedürfen. In der Praxis wurden Verträge auf der Seite der Leistungserbringer bisher vor allem mit kassenärztlichen Vereinigungen geschlossen. Zwar existiert eine Vielzahl von
Einzelprogrammen, insbesondere für Diabetes Mellitus Typ 2. Da diese
sich aber nur in Details unterscheiden, kann durchaus von »dem«
Disease-Management-Programm für Typ-2-Diabetes gesprochen werden.
In der vorliegenden Analyse stehen die Programme für Typ-2-Diabetes im Mittelpunkt, da bei weitem die meisten Einschreibungen
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auf Typ-2-Diabetiker entfallen, diese Programme zuerst angeboten
wurden und die Diabetes-Erkrankung damit den Musterfall für die
Disease-Management-Programme insgesamt darstellt. Im März 2003
haben die ersten Programme für Typ-2-Diabetiker begonnen. Im
Januar 2005 waren mehr als 1,3 Millionen gesetzlich Krankenversicherte in Disease-Management-Programme eingeschrieben, die
groûe Mehrheit davon Typ-2-Diabetiker (Bundesministeriums für
Gesundheit und soziale Sicherung 2005).
Kontroverse über die Einführung der Programme
Die Einführung der Disease-Management-Programme wurde nicht
nur durch die oben angesprochenen Erwartungen begleitet, sondern
auch durch zahlreiche Einwände. Von verschiedener Seite wurde
und wird auf unterschiedliche Probleme aufmerksam gemacht, von
denen hier nur die wichtigsten genannt seien:
· Einschränkung der Behandlung auf das Notwendigste durch entsprechende Leitlinien
· Benachteiligung von Patienten mit Erkrankungen, die nicht durch
Disease-Management-Programme abgedeckt sind, durch Kanalisierung der Finanzmittel (Seitz 2004)
· hoher bürokratischer Aufwand
· ungezielte Einschreibung durch Verteilung von Mitteln des Risikostrukturausgleichs nach dem Gieûkannen-Prinzip, dadurch ungenügende gesundheitliche Effekte
Ein wichtiger Anstoû für die Diskussion war die Analyse von Häussler und Berger (2004a), in der darauf hingewiesen wird, dass es für
Effektivität und Effizienz von entscheidender Wichtigkeit sei, dass
gerade diejenigen sich in die Programme einschrieben, die ein erhebliches Verbesserungspotenzial aufweisen. Dem wurde von Raspe,
Sawicki und Schmacke (2004) widersprochen. Die Kritiker leiten aus
den Ergebnissen einzelner klinischer Studien ab, dass auch die ungezielte Einschreibung von Diabetikern die Aussicht auf wesentliche
gesundheitliche Verbesserungen eröffne.
Häussler und Berger (2004b) hielten entgegen, dass die Ergebnisse solcher Studien nicht umstandslos auf den Versorgungsalltag
übertragen werden könnten. Die in sorgfältig kontrollierten klinischen
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Studien gezeigten Resultate seien in der Praxis, auch in einem DiseaseManagement-Programm, nicht zu erreichen. Auûerdem schlössen die
Studien meist jüngere Patienten ohne erhebliche Komplikationen ein,
sodass über die Vielzahl der älteren Diabetiker (die nicht selten an
einer Reihe zusätzlicher Erkrankungen litten) auf Grund der Studien
keine Aussagen getroffen werden können. Daher, so Häussler und
Berger, müsste von viel geringeren tatsächlichen Effekten ausgegangen werden, was die Notwendigkeit eines zielgerichteten Einsatzes
von Disease-Management-Programmen erforderlich mache.
Fragestellung, Methode und Daten
Da die Wirkung der Programme grundsätzlich davon abhängt, welche chronisch kranken Patienten an ihnen teilnehmen (und welche
nicht), steht diese Frage im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Es wird gefragt, welche Diabetiker sich in die Programme
eingeschrieben haben, wie viele dies vorhaben sowie ob und auf welche Weise sich die eingeschriebenen Diabetiker von den nicht eingeschriebenen Diabetikern demographisch, in Bezug auf ihren Gesundheitszustand und ihr Gesundheitsverhalten unterscheiden.
Diese Fragen werden vor dem Hintergrund der möglichen Wirkungen der Programme gestellt, die zur Voraussetzung haben, dass
sich vorrangig die Patienten in Disease-Management-Programme
einschreiben beziehungsweise eingeschrieben werden, die auch von
den Programmen profitieren können (Häussler und Berger 2004a).
Wesentliche Determinanten dieses Verbesserungspotenzials auf individueller Ebene sind Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten
der Patienten. Ein schlechterer Gesundheitszustand birgt ein höheres
Risiko für Komplikationen und Folgeerkrankungen, sodass eine Versorgungsverbesserung hier von besonderer Bedeutung ist. Auch eine
Konzentration ungünstiger Risikofaktoren (wie etwa Rauchen, Bluthochdruck und Übergewicht) sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, diese Situation zu verbessern, sind dabei wichtige Gröûen.
Die vorliegende Auswertung basiert auf der Versichertenbefragung des Gesundheitsmonitors. Die Befragung vom Herbst 2004,
die der vorliegenden Analyse zu Grunde liegt, enthielt erstmalig auch
Fragen zu neuen Versorgungsformen, darunter den Disease-Management-Programmen.
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Unter den 1436 Befragten leiden nach eigenen Angaben insgesamt 85 Personen an Diabetes. Darunter sind sieben Befragte, die
nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind und
daher nicht an den Disease-Management-Programmen teilnehmen
können. Sie wurden deshalb nicht in die Auswertungen einbezogen.
Die Untersuchung bezieht sich demnach auf 78 Diabetiker. Auf
Grund der Altersstruktur dieser Befragten und der Verbreitung von
Typ-1- und Typ-2-Diabetes in der Bevölkerung kann angenommen
werden, dass es sich bei allen 78 Diabetikern um Typ-2-Diabetiker
handelt. Darunter sind elf Diabetiker, die auf die Frage nach einer
Teilnahme an Disease-Management-Programmen keine Antwort
gaben. Sie wurden in der Analyse als nicht Eingeschriebene behandelt.
Teilnahme an Disease-Management-Programmen
Einschreibung und zukünftig wahrscheinliche Einschreibung
Rund 31 Prozent aller befragten Diabetiker geben zum Zeitpunkt der
Befragung (Herbst 2004) an, in ein Disease-Management-Programm
eingeschrieben zu sein. Jüngere (unter 65-Jährige) sind mit 35 Prozent
häufiger eingeschrieben als ¾ltere (65 Jahre und älter) mit 26 Prozent.
Berücksichtigt man nur die Antworten der aktuell nicht Eingeschriebenen auf die Frage »Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie in
nächster Zeit die Möglichkeit eines Disease-Management-Programms
Abbildung 1: Disease-Management-Programme: Einschreibung der Diabetiker
nach Alter
Alle Angaben in Prozent
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nutzen?«, so geben weitere zwölf Prozent der Befragten insgesamt
dies als »sehr wahrscheinlich« oder »wahrscheinlich« an.
Bekanntheitsgrad der Programme
Auf die Frage »Haben Sie bereits einmal von strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke, beispielsweise für Diabetiker, Asthmatiker, Herz-Kreislauf-Kranke und Brustkrebspatienten
gehört?« antworteten lediglich 65 Prozent der Diabetiker mit »Ja«.
Der Bekanntheitsgrad der Disease-Management-Programme variiert
nur wenig nach Alter: 63 Prozent der unter 65-Jährigen und 69 Prozent der älteren Diabetiker haben von Disease-Management-Programmen gehört. Auch die gegebenenfalls weniger mobilen Patienten kennen also zu gut zwei Dritteln die Disease-Management-Programme.
Dieser Wert bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück, da im
Herbst 2004 praktisch alle Krankenkassen entsprechende Programme
aufgelegt und intensive Werbung für die Einschreibung betrieben
haben.
Zu erwartende Ausschöpfungsquote
Im Herbst 2004 war nach den Ergebnissen dieser Befragung eine Teilnahmequote von 31 Prozent zu verzeichnen. Zusätzlich hatten weitere
zwölf Prozent der befragten Diabetiker eine Einschreibung erwogen.
Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass in der Zwischenzeit
der Bekanntheitsgrad und dadurch die Einschreibung noch geringfügig erhöht werden konnten, ist davon auszugehen, dass die Ausschöpfungsquote des Programms für Typ-2-Diabetiker nicht über 50 Prozent
hinausgehen wird. Geht man von rund 2,7 Millionen Typ-2-Diabetikern in der gesetzlichen Krankenversicherung aus (Häussler und
Berger 2004a), so liegt die aktuellen Einschreibezahl von 1,3 Millionen Versicherten etwa bereits in dieser Gröûenordnung.
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Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten von
eingeschriebenen und nicht eingeschriebenen Diabetikern
Selbst eingeschätzter Gesundheitszustand
Unter den Eingeschriebenen schätzen 54 Prozent ihren Gesundheitszustand als »ausgezeichnet«, »sehr gut« oder »gut« ein. Unter den
nicht Eingeschriebenen sind dies lediglich 43 Prozent. Die Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes ± erfahrungsgemäû ein guter
Hinweis auf den tatsächlichen Gesundheitszustand ± ist damit bei
den Eingeschrieben besser als bei den nicht Eingeschriebenen.
Abbildung 2: Selbst eingeschätzter Gesundheitszustand von Teilnehmern und
Nicht-Teilnehmern
Alle Angaben in Prozent
Begleiterkrankungen
Die Eingeschriebenen leiden in geringerem Maûe an chronischen
Begleiterkrankungen als die nicht Eingeschriebenen. Dies gilt für
eine Reihe von kardio-vaskulären und zerebro-vaskulären Erkrankungen wie Durchblutungsstörungen des Herzens und des Gehirns,
einer gegebenen Herzschwäche oder einem erlittenen Herzinfarkt
oder Schlaganfall (Abbildung 3), die von den Befragten angegeben
wurden. Die meisten dieser Erkrankungen können auch als makroangiopathische Spätkomplikationen der Diabetes-Erkrankung aufgefasst werden. Nur eine Bluthochdruckerkrankung geben die Eingeschriebenen häufiger als die nicht Eingeschriebenen an (71 Prozent
gegenüber 52 Prozent).
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Abbildung 3: Häufigkeit von Begleiterkrankungen bei eingeschriebenen und
nicht eingeschriebenen Diabetikern
Alle Angaben in Prozent
Verhaltensbezogene Risikofaktoren
Raucher (tägliches oder gelegentliches Rauchen) und Patienten mit
Übergewicht (Body-Mass-Index gröûer als 25) sind in der Gruppe der
Eingeschriebenen häufiger vertreten als in der Gruppe der nicht eingeschriebenen Diabetiker. Demgegenüber ist der Anteil derjenigen,
Abbildung 4: Häufigkeit verhaltensbezogener Risikofaktoren bei eingeschriebenen
und nicht eingeschriebenen Diabetikern
Alle Angaben in Prozent
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die keinen Sport treiben, bei den nicht eingeschriebenen Diabetikern
höher.
Unter den Eingeschriebenen lag der Anteil derjenigen, die angaben, den Versuch gemacht zu haben, ihr Gesundheitsverhalten in
den vergangenen zwölf Monaten zu verändern, bei rund 33 Prozent,
unter den nicht Eingeschriebenen bei rund 26 Prozent.
Einschreibequoten verschiedener Krankenkassen
Die Einschreibequoten bezüglich einiger groûer gesetzlicher Krankenkassen und Kassenarten zeigen, dass die Einschreibung nur in
geringem Maûe nach Kassenzugehörigkeit der Patienten variiert
(zwischen 24 und 30 Prozent). Diese Prozentwerte sind aufgrund der
kleinen absoluten Werte für die einzelnen Kassen und Kassenarten
(mit Ausnahme der AOK alle < 12) allerdings mit besonderer Vorsicht
zu betrachten.
Fazit
Die Ergebnisse zeigen, dass Diabetiker, die zusätzlich an weiteren
schwerwiegenden Erkrankungen wie einer Herzinsuffizienz, einer
Durchblutungsstörung des Herzens oder einem zurückliegenden
Herzinfarkt oder Schlaganfall leiden, weniger häufig in die Programme eingeschrieben sind als Diabetiker, die keine dieser Erkrankungen aufweisen. Sie sind auûerdem im Mittel jünger und schätzen
ihren Gesundheitszustand besser ein als diejenigen, die nicht eingeschrieben sind.
Die Erkenntnis bezüglich der relativ geringeren Belastung der Eingeschriebenen durch Begleiterkrankungen, die auch für die Versorgungskosten sehr bedeutend sind, stimmt mit einer anderen aktuell
von uns durchgeführten Untersuchung überein (Häussler et al.
2005). Dort wird gezeigt, dass die eingeschriebenen Diabetiker in
erheblich geringerem Umfang Leistungen in Anspruch nehmen als
die nicht eingeschriebenen Diabetiker. Daraus kann geschlossen werden, dass sich die Eingeschriebenen durch einen deutlich geringeren
Schweregrad der Erkrankung auszeichnen als die nicht Eingeschriebenen. Folge dieses Selektionsprozesses ist, dass die Verteilungswir39
kung des durch Disease-Management-Programme gesteuerten Risikostrukturausgleichs nur sehr gering ausfällt (Häussler et al. 2005).
Dies könnte Folge einer Einschreibepraxis sein, bei der »Masse vor
Klasse« geht, die durch die Verbindung zwischen Einschreibung und
Risikostrukturausgleich induziert wird. Im Sinne einer deutlichen
Steigerung der gesundheitlichen Effekte wäre jedoch zu fordern, dass
gerade auch die schwerer Erkrankten eingeschrieben werden. Die
Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass unter den Eingeschriebenen der Anteil derjenigen gröûer ist, die sich durch ungünstige
Verhaltensweisen auszeichnen. Dies ist als ein günstiges Zeichen zu
werten.
Für die Zukunft wäre zu wünschen, dass die Programme eine verstärkte Ausrichtung am jeweiligen Risiko- und Schädigungsbild der
Patienten erfahren und insbesondere für schwerer Erkrankte und für
Hochrisiko-Patienten gesonderte Programme aufgelegt würden, die
dann allerdings eine wesentlich intensivere Betreuung erhalten
müssten, als dies gegenwärtig der Fall ist.
Bei der Interpretation der berichteten Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass auf Grund der relativ kleinen Stichprobe Zufallschwankungen das Ergebnis beeinflusst haben könnten und das Ausmaû möglicher Spätschäden der Diabetiker nicht erfasst wurde. Die
Analysen geben dennoch deutliche Hinweise auf ungünstige Selektionsprozesse. Daher sollten die Wirkungen der Programme auch weiter sorgfältig beobachtet werden.
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